Mit Ritalin leben - E-cademic
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Rolf Haubl / Katharina Liebsch (Hg.)<br />
<strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong>® <strong>leben</strong><br />
ADHS-Kindern eine Stimme geben<br />
Vandenhoeck & Ruprecht
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
© 2010 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts<br />
Herausgegeben von<br />
Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl<br />
Reihe 2<br />
Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog<br />
Herausgegeben von<br />
Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl<br />
und Stephan Hau<br />
Band 13<br />
Rolf Haubl/Katharina Liebsch (Hg.)<br />
<strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
ADHS-Kindern eine Stimme geben<br />
© 2010 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2
Rolf Haubl /Katharina Liebsch (Hg.)<br />
<strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
ADHS-Kindern eine Stimme geben<br />
<strong>Mit</strong> 11 Abbildungen<br />
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Vandenhoeck & Ruprecht<br />
© 2010 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />
Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über<br />
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ISBN 978-3-525- 45186-1<br />
eISBN 978-3-647-45186-2<br />
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/<br />
Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A.<br />
Internet: www.v-r.de<br />
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Printed in Germany.<br />
Satz: process media consult GmbH<br />
Druck & Bindung: l Hubert & Co, Göttingen<br />
© 2010 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
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Inhalt<br />
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Rolf Haubl und Katharina Liebsch<br />
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Rolf Haubl<br />
Psychodynamik medikalisierter Beziehungen . . . . . . . . . . . . . 16<br />
Tanja Brand<br />
»Ha, jetzt stell ich die Fragen!« Beziehungsdynamik in der<br />
Interviewführung mit Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />
Elke Salmen<br />
Gegenübertragungen als Hilfe des Verstehens. Eine<br />
Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />
Eva Sänger<br />
»Dann arbeiten die Männchen da drin, dass ich dann weiß,<br />
dass ich nicht sofort hinschlagen soll«. Vorstellungen<br />
medikamentierter Jungen über die biomedizinische<br />
Wirkungsweise von Medikamenten gegen AD(H)S . . . . . . . . 80<br />
Sebastian Jentsch<br />
Beziehungsgestaltung unter Medikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 96<br />
Erica Augello<br />
»Schule« in den Aussagen medikamentierter Jungen . . . . . . . . 107<br />
Sarah Kirsch und Maria Wischnewski<br />
Medikation als Aufgabe geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung 118<br />
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6 Inhalt<br />
Eva Sänger<br />
Biomedizinisches Wissen zur AD(H)S in Kinderzeichnungen 124<br />
Daniela Otto<br />
Vom Zappelphilipp zum Normalo? AD(H)S-Symptomatik,<br />
Diagnose und Medikation als Stigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150<br />
Inge Schubert<br />
»Und nachts, da arbeiten die Männchen im Kopf«.<br />
Affektkontrolle und Männlichkeitsvorstellungen bei<br />
ADHS-medikamentierten Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159<br />
Katharina Liebsch<br />
Passung und Anpassung. Zur Herstellung von Zugehörigkeit<br />
und Teilhabe durch AD(H)S-Medikation . . . . . . . . . . . . . . . . 185<br />
Rolf Haubl und Katharina Liebsch<br />
Medikament und Medikation: Eine Typologie positiver und<br />
negativer Repräsentanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204<br />
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210<br />
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Rolf Haubl und Katharina Liebsch<br />
Einführung<br />
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Schätzungen zufolge zeigen 3 – 5 % der Kinder und Jugendlichen<br />
eines jeden Jahrgangs eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit oder<br />
ohne Hyperaktivität (AD[H]S) mit den Leitsymptomen einer Unkonzentriertheit,<br />
Impulsivität und motorischen Unruhe (Biederman,<br />
2005). Über keine Diagnose der Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie<br />
und -psychotherapie ist in den letzten Jahren weltweit so viel, so<br />
heftig und so kontrovers diskutiert worden wie über die AD(H)S –<br />
und das gleichermaßen in der fachlichen und außerfachlichen Öffentlichkeit.<br />
Obgleich die AD(H)S inzwischen als eine genetisch bedingte<br />
chronische hirnorganische Krankheit gilt, verstummen die<br />
kritischen Stimmen nicht, die diese biomedizinisch-psychiatrische<br />
Deutung in Zweifel ziehen (Timimi, 2002, 2005).<br />
In der Kritik steht nicht zuletzt die Behandlung der Kinder mit<br />
Psychopharmaka, am häufigsten mit dem Wirkstoff Methylphenidat,<br />
den Präparate wie <strong>Ritalin</strong>, Medikinet oder Concerta enthalten (Pelz,<br />
Banaschewski u. Becker, 2008). Ein Großteil der Kinder mit einer<br />
AD(H)S-Diagnose bekommen solche Präparate – als Bestandteil<br />
einer multimodalen Therapie, wie sie heute Standard sein sollte<br />
(Remschmidt, 2005), oder aber ohne anderweitige Förderung. Bezogen<br />
auf den Lebenslauf erfolgen die meisten Verordnungen für das<br />
Alter zwischen neun und zwölf Jahren. Insgesamt liegt die Zahl der<br />
medikamentös behandelten Kinder und Jugendlichen weltweit bei<br />
über zehn Millionen. Während die Medikamente 1993 lediglich in<br />
13 Ländern eingesetzt wurden, sind es inzwischen weit mehr als<br />
fünfzig Länder.<br />
Gleich, wo man sich in dieser leidenschaftlich, oft sogar feindselig<br />
geführten Kontroverse auch positioniert, eines verbindet die Kon-<br />
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trahenten: Sie versäumen oder vermeiden es, den betroffenen Kindern<br />
und Jugendlichen eine eigene Stimme zu geben. Anders als es die<br />
Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen fordert (Liebel,<br />
2007), erhalten sie kein oder nur ein begrenztes <strong>Mit</strong>spracherecht,<br />
obgleich ihr Leben von den Entscheidungen der Erwachsenen gravierend<br />
und dauerhaft beeinflusst wird.<br />
Deshalb haben wir vom Frühjahr 2007 bis Herbst 2008 als Kooperation<br />
des Sigmund-Freud-Instituts mit dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften<br />
der Johann Wolfgang Goethe-Universitätin<br />
Frankfurt am Main und finanziell unterstützt von der Lotte-Köhler-<br />
Stiftung ein empirisches Forschungsprojekt durchgeführt, das in einer<br />
interdisziplinär zusammengesetzten Forschungsgruppen untersucht,<br />
was Jungen im Alter von sieben bis 14 Jahren selbst über ihre Diagnose<br />
und ihrer Medikation denken.<br />
Forschungsgruppe<br />
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
8 Rolf Haubl und Katharina Liebsch<br />
Das Projekt ist als Lehrforschung konzipiert gewesen. In diesem<br />
Typus von Forschung sind in die Forschungsgruppe neben den in<br />
Forschung erfahrenen Projektleiter/-innen und den Nachwuchswissenschaftler/-innen<br />
auch Studierende integriert. 1 Studierenden bietet<br />
dieser Forschungstypus eine intensive Lehrbeziehung in einer Kleingruppensituation,<br />
wie sie in sonstigen Seminaren in der Regel nicht<br />
entstehen kann. Die Leiter/-innen stellt Lehrforschung vor besondere<br />
Herausforderungen, da sie bei den Studierenden nicht auf erprobte<br />
Qualifikationen zurückgreifen können, vielmehr müssen sie nicht<br />
selten dafür sorgen, dass im Verlauf des Projekts erst die notwendigen<br />
Qualifikationen erworben werden. Genau darin liegt aber auch eine<br />
Chance, denn der erhöhte Reflexionsbedarf beugt blinden Flecken<br />
vor, die bei allzu großer Routine leicht entstehen.<br />
Das vorliegende Buch, das die bisherigen Publikationen (Haubl,<br />
2007, 2008, 2009; Haubl u. Liebsch, 2008a, b, 2009a, b) flankiert, ist<br />
Ausdruck dieser Philosophie. Deshalb enthält es neben professionell<br />
1 An der Arbeitsgruppe waren Erica Augello, Simon Dechert, Sebastian<br />
Jentsch, Sarah Kirsch, Armin Nikodemus, Daniela Otto, Dr. Eva Sänger, Elke<br />
Salmen, Dr. Inge Schubert, Benjamin Vogt und Maria Wischnewski beteiligt.<br />
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geschriebenen Beiträgen auch Beiträge von Studierenden, die sich mit<br />
einer Darstellung der Ergebnisse ihrer Teilprojekte erstmals einer<br />
interessierten Öffentlichkeit publizistisch präsentieren. Wir hoffen,<br />
dass alle Beiträge zusammengenommen beredtes Zeugnis für den<br />
fruchtbaren und befriedigenden Forschungsprozess ablegen, der er<br />
gewesen ist.<br />
Stichproben<br />
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Einführung 9<br />
Im Verlauf des Projektes sind sechzig Interviews durchgeführt worden.<br />
Die Kontakte mit den Jungen kamen über verschiedene Aufrufe<br />
und über Hörensagen zustande, wobei geregelt war, dass sich die<br />
Eltern bei uns melden mussten, wenn sie an der Untersuchung teilnehmen<br />
wollten. Wir sind nicht offensiv an sie herangetreten, um so<br />
viel Freiwilligkeit wie möglich zu gewährleisten. Die teilnehmenden<br />
Eltern, bis auf wenige Ausnahmen die Mütter, haben wir gebeten, uns<br />
nur zuzusagen, wenn sie das Einverständnis ihrer Kinder erhalten, sich<br />
interviewen zu lassen. Vor Ort ist das Einverständnis der Jungen dann<br />
noch einmal eingeholt worden. Hätten sie es nicht gegeben, wären die<br />
Interviewer/-innen wieder gegangen. Um die Kinder nicht unnötig zu<br />
verunsichern, haben alle Interviews in vertrauten Umgebungen<br />
stattgefunden: die meisten im Elternhaus, etliche in der Schule.<br />
Als erkennbare Motivation der Mütter, uns zu unterstützen, ergab<br />
sich: mehr wissenschaftliches Wissen über die AD(H)S und deren<br />
medikamentöse Behandlung zu erlangen, nicht selten verbunden mit<br />
der Hoffnung, Wege für zukünftige Generationen zu finden, um auf<br />
Psychopharmaka verzichten zu können. Und spezieller: Die einen<br />
wollten sich bestätigen lassen, dass sie richtig handeln, wenn sie ihren<br />
Kindern Tabletten geben, oder dass sie gar keine andere Wahl haben,<br />
wenn sie den Familienfrieden und die Zukunftschancen ihres<br />
Nachwuchses retten wollen; die anderen suchten eine Gelegenheit,<br />
um ihre Ambivalenzen darzustellen. In allen Fällen war es den Müttern<br />
sehr wichtig, das sichere Gefühl zu haben, dass wir sie wegen der<br />
Medikation ihrer Jungen nicht vorverurteilen.<br />
Eine Bedingung für das Interview war, mit den Kindern alleine zu<br />
sprechen und auch nachher die Eltern nicht darüber zu informieren,<br />
was gesprochen worden ist. Manche Eltern haben damit Schwierig-<br />
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keiten gehabt. Lieber wäre es ihnen gewesen, bei dem Interview dabei<br />
zu sein, einige aus der Befürchtung heraus, ihre Kinder könnten etwas<br />
Falsches sagen, wobei »falsch« gelegentlich »kritisch gegenüber den<br />
Eltern« meinte. Auch gab es Eltern, die sich sorgten, ob nicht während<br />
des Interviews die Wirkung des Medikaments nachlassen könnte und<br />
dann kein Gespräch mehr möglich sei. In einem Fall bot die Mutter<br />
sogar eine Nachdosierung an.<br />
Interviewführung<br />
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
10 Rolf Haubl und Katharina Liebsch<br />
Die Interviews sind als themenzentrierte Interviews konzipiert worden.<br />
Themenzentriert heißt: Es wird vorab eine Liste von Themen<br />
entwickelt, die der Interviewer alle abarbeiten soll, aber in einer<br />
Reihenfolge, die sich nach der Relevanzstruktur des jeweils interviewten<br />
Jungen richtet:<br />
– Wie erlebt er selbst sein symptomatisches Verhalten?<br />
–Hält er sich für krank?<br />
– Auf welche Ursachen führt er selbst sein symptomatisches Verhalten<br />
zurück?<br />
– Von wem hat er welche Informationen über seine AD(H)S und das<br />
Medikament, das er einnimmt, erhalten?<br />
– Wie verarbeitet er diese Informationen?<br />
– Was verspricht er sich selbst von der Einnahme des Medikaments?<br />
– Wie erlebt er dessen Wirkung und Nebenwirkungen?<br />
– Wie integriert er seine Medikation in seinen familiären und schulischen<br />
Alltag?<br />
– Was bedeutet es für sein Selbstverständnis, auf das Medikament<br />
angewiesen zu sein?<br />
Die Interviewdauer ist sehr unterschiedlich gewesen: von zwanzig<br />
Minuten bis über eine Stunde. Viele der Jungen haben sich viel länger<br />
konzentrieren können als erwartet. Bei wenigen haben wir im<br />
Nachhinein den Eindruck, dass sie überfordert gewesen sind. Die<br />
Meisten haben das Interview nicht nur pflichtschuldig absolviert,<br />
sondern es erkennbar genossen, so viel Aufmerksamkeit von einem<br />
Erwachsenen für ihre Gedanken und Gefühle zu erhalten.<br />
Auf das Vorhaben, qualitative Interviews mit Kindern zu führen,<br />
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Einführung 11<br />
haben wir uns in der Forschungsgruppe vorbereitet: zum einen durch<br />
eine Aufarbeitung der Forschungsergebnisse über die kognitive Entwicklung<br />
von Kindern, insbesondere was ihre Krankheitskonzepte<br />
betrifft (Johnson u. Wellman, 1982; Lohaus, 1993; Dreher u. Dreher,<br />
1999); zum anderen durch den Einsatz von Interviewer/-innen, die<br />
im Umgang mit Kindern geübt sind. Aufgrund der großen Variationsbreite<br />
des kognitiven Entwicklungsstands bei gleichaltrigen Kindern<br />
ist das Wissen um eine altersgemäße Kompetenz nur annäherungsweise<br />
hilfreich. Als sehr viel wichtiger hat sich die Feinfühligkeit<br />
der Interviewer/-innen erwiesen, ihre Interviewführung flexibel den<br />
aktuellen Verständigungsmöglichkeiten anzuschmiegen.<br />
Die Erwachsenen haben eine freundliche und bestätigende Haltung<br />
gegenüber den Kindern eingenommen: Die befragten Jungen<br />
werden als Experten ihrer selbst und ihrer Lebenswelt angesprochen.<br />
Deshalb erklären ihnen die Interviewer/-innen, dass die Erwachsenen<br />
noch viel zu wenig wissen, was betroffene Kinder über die AD(H)S<br />
und deren medikamentöse Behandlung denken. Sie, die Erwachsenen,<br />
müssen deshalb dumme Fragen stellen und die Kinder bekommen<br />
Gelegenheit, ihnen alles zu sagen, was sie ihnen sagen möchten.<br />
Da es für Kinder generell nicht leicht ist, handlungsentlastet zu<br />
sprechen, bedarf es auf Seiten der Interviewer/-innen einer großen<br />
Toleranz für assoziierte körperliche Bewegungen. Sie dürfen sie nicht<br />
als störend markieren, sondern müssen sie als notwendige Bedingung<br />
des Gesprächsverhaltens der Kinder akzeptieren. Hilfreich ist eine<br />
Interviewführung, die spielerische Ablenkungen und Pausen erlaubt.<br />
Auch der Einsatz von Zeichnungen, deren Anfertigung die Kinder<br />
durch lautes Denken begleiten, hat sich bewährt. Alles in allem haben<br />
die Interviewer/-innen viel Haltearbeit zu leisten gehabt.<br />
Forschungen, in denen qualitative Interviews mit Kindern<br />
durchgeführt werden, gestalten sich schwieriger als bei Jugendlichen<br />
und Erwachsenen, weil die Kompetenz, einem Fremden eigene Erfahrungen<br />
zu berichten, noch nicht voll entwickelt ist (Heinzel, 1997;<br />
Fuhs, 2000). Deshalb ist die Bereitschaft des erwachsenen Interviewers,<br />
sich auf eine Statusumkehr einzulassen, eine wichtige Voraussetzung<br />
für ein erfolgreiches Interview: Während es üblicherweise<br />
die Erwachsenen sind, die Kindern die Welt erklären, verlangt es die<br />
besondere Interviewsituation, eine Atmosphäre herzustellen, welche<br />
die Kinder davon überzeugt, dass sie die Wissenden sind. Es ist kei-<br />
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neswegs selbstverständlich, dass dies gelingt (Fuhs, 1999). So sollen<br />
sich die Fragen der Interviewer/-innen an die Sprache und den<br />
Kommunikationsstil der Kinder anpassen, ohne Kindlichkeit zu<br />
imitieren. Vor allem sind sie knapp und präzise zu stellen. Hinzu<br />
kommt, sich als Erwachsener klar zu machen, dass Kinder, je jünger sie<br />
sind, umso kürzere und stärker kontextgebundene Antworten geben,<br />
als es Jugendliche und Erwachsene tun, auch dann, wenn die Kinder<br />
gebeten werden, ihre Erfahrungen frei zu erzählen. <strong>Mit</strong> zunehmendem<br />
Alter und zunehmender narrativer Kompetenz ändert sich das, so<br />
dass die Interviewer/-innen weniger zu strukturieren brauchen<br />
(Bouke, Schülein, Büscher, Terhorst u. Wolf, 1995).<br />
Auswertung<br />
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
12 Rolf Haubl und Katharina Liebsch<br />
Die Auswertung der Interviews erfolgt fallrekonstruktiv. Sie werden<br />
transkribiert und anschließend sowohl vertikal als auch horizontal<br />
interpretiert. Während sich die vertikale Interpretation jedes einzelne<br />
Interviewtranskript unter zusätzlicher Berücksichtigung der szenischen<br />
Beobachtungen, die eine Interviewerin oder ein Interviewer vor,<br />
während und nach der Durchführung des Interviews gemacht und<br />
protokolliert hat, sinnverstehend vornimmt, vergleicht die horizontale<br />
Interpretation die verschiedenen Interviewtranskripte. Dabei<br />
werden die Äußerungen der Jungen über die Interviews hinweg zu<br />
folgenden hermeneutischen Feldern gebündelt:<br />
– Vorstellungen über die eigene Person (Selbstbild),<br />
– Vorstellungen über die eigene Familie und die familiären Beziehungen<br />
(Familienbild),<br />
– Vorstellungen über die Schule (Schulbild),<br />
– Geschlechtsrollenvorstellungen (Männer- und Frauenbild),<br />
– Normalität und Devianz (Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen),<br />
– Emotionsregulation,<br />
– (phantasmatische) Bedeutung des Medikaments,<br />
– zentrale Kategorien des jeweiligen individuellen Denksystems<br />
(Leit- und Verdichtungsbegriffe),<br />
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Einführung 13<br />
– Erzählmuster (<strong>leben</strong>sgeschichtliche Transformation: vor der Medikation,<br />
seit der Medikation und in Zukunft).<br />
Nachdem die ersten Interviews von der ganzen Forschungsgruppe<br />
durchgearbeitet worden sind, um ein Verständnis der einzelnen hermeneutischen<br />
Felder zu entwickeln, das alle teilen, wird für alle<br />
weiteren Interviews ein sparsameres Verfahren angewendet: Jedes<br />
<strong>Mit</strong>glied der Forschungsgruppe arbeitet alleine eine Reihe der Interviews<br />
durch, die es selbst nicht geführt hat, und erstellt eine Gesamtinterpretation,<br />
rubriziert nach den verschiedenen hermeneutischen<br />
Feldern. Jede dieser Gesamtinterpretationen wird von einem<br />
anderen <strong>Mit</strong>glied der Forschungsgruppe, das das Interview ebenfalls<br />
nicht geführt hat und auch das Interviewtranskript nicht kennt, auf<br />
interpretatorische Evidenz hin gegengelesen. Interpretationspassagen,<br />
die nicht als evident erscheinen, werden markiert und mit Verständnisfragen<br />
versehen. Diese Verständnisfragen versucht der Interpret<br />
dann in einem zweiten Durchgang durch das Interviewtranskript zu<br />
beantworten, was dazu führt, dass er seine Interpretation überarbeitet.<br />
Nur noch diejenigen Fälle, bei denen Interpret und Gegenleser den<br />
Eindruck gewinnen, eine Verständigung sei nicht möglich, werden<br />
der ganzen Forschungsgruppe übergeben, die in besonderen Sitzungen<br />
versucht, die kontroversen Lesarten zu klären. Auf diese Weise<br />
entsteht im Laufe der Zeit ein Korpus von sechzig als gültig anerkannten<br />
Einzelinterpretationen, die dann vergleichend weiter interpretiert<br />
werden können. Eines der Ziele ist eine typologische Reduzierung<br />
des Korpus.<br />
Im Unterschied zu pädagogischen oder psychotherapeutischen<br />
Forschungsansätzen geht es uns nicht darum, Empfehlungen zu erarbeiten,<br />
wie die AD(H)S effektiver zu behandeln ist. Vielmehr steht<br />
im <strong>Mit</strong>telpunkt unseres Interesses, welchen subjektiven Sinn die<br />
Jungen ihren Erfahrungen mit ihrer »Störung« mehr oder weniger<br />
bewusst geben. Dabei gehen wir in unserer Rekonstruktion von der<br />
Vorannahme aus, dass dieser Sinn überwiegend keine idiosynkratische<br />
Schöpfung ist, sondern aus sozialen Repräsentationen (Moscovici,<br />
1981) hervorgeht: Die betroffenen Kinder und Jugendlichen<br />
erhalten ihre Informationen von Erwachsenen, seien es medizinische<br />
Laien oder Experten. Sie müssen sich deren Deutungen aneignen,<br />
wobei manche von ihnen sie gehorsam zu übernehmen versuchen,<br />
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andere sie eigensinnig umarbeiten, nach Maßgabe dessen, was sie<br />
verstehen, aber auch danach, was sie nicht akzeptieren wollen.<br />
Dass uns die sechzig interviewten Jungen ihr Vertrauen geschenkt<br />
und Einblick in ihre Innenwelt gewährt haben, dafür danken wir<br />
ihnen sehr.<br />
Literatur<br />
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
14 Rolf Haubl und Katharina Liebsch<br />
Biederman, J. (2005). Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A selective<br />
overview. Biological Psychiatry, 57, 1215–1220.<br />
Bouke, D., Schülein, F., Büscher, H., Terhorst, E., Wolf, D. (1995). Wie Kinder<br />
erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer<br />
Fähigkeiten. München: Fink.<br />
Dreher, E., Dreher, M. (1999). Konzepte von Krankheit und Gesundheit in<br />
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(Hrsg.), Klinische Entwicklungspsychologie (S. 623–653). Weinheim:<br />
PVU.<br />
Fuhs, B. (1999). Die Generationenproblematik in der Kindheitsforschung. Zur<br />
methodischen Relevanz von Erwachsenen-Kind-Verhältnissen. In: M.-S.<br />
Honig, A. Lange, H. R. Leu (Hrsg.), Aus der Perspektive von Kindern? Zur<br />
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Fuhs, B. (2000). Qualitative Interviews mit Kindern. Überlegungen zu einer<br />
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Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive<br />
(S. 87–103). Weinheim: Juventa.<br />
Haubl, R. (2007). Krankheiten, die Karriere machen: Medizinalisierung und<br />
Medikalisierung sozialer Probleme. In C. Warrlich, E. Reinke (Hrsg.), Auf der<br />
Suche. Psychoanalytische Betrachtungen zum AD(H)S (S. 159–187). Gießen:<br />
Psychosozial-Verlag.<br />
Haubl, R. (2008). Die Aufmerksamkeits- und/oder Hyperaktivitätsstörung als<br />
kulturgeschichtliches Phänomen. Psychotherapie Forum, 16, 85 – 91.<br />
Haubl, R. (2009). Medikamentierte Wut. Wie Jungen mit einer AD(H)S um<br />
Selbstkontrolle ringen. Forum der Psychoanalyse, 25: 255–268.<br />
Haubl, R., Liebsch, K. (2008a). <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong>. Zur Bedeutung der ADHS-<br />
Medikation für die betroffenen Kinder. Psyche – Z Psychoanal., 62 (7), 673–<br />
693.<br />
Haubl, R., Liebsch, K. (2008b). Psychopharmakologisches Enhancement: Der<br />
Gebrauch von <strong>Ritalin</strong> in der Leistungsgesellschaft. sozialer sinn, 9 (2), 173–<br />
195.<br />
Haubl, R., Liebsch, K. (2009a). »Wenn man teufelig und wild ist.« Funktion und<br />
© 2010 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
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Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Einführung 15<br />
Bedeutung von <strong>Ritalin</strong> aus der Sicht von Kindern. In R. Haubl, F. Dammasch,<br />
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(S. 129–163). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.<br />
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Rolf Haubl<br />
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Psychodynamik medikalisierter Beziehungen<br />
Konsensuskonferenzen in der Medizin tragen das zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt verfügbare Wissen über eine Krankheit zusammen,<br />
um Empfehlungen zu formulieren, wie sie erfolgreich diagnostiziert<br />
und therapiert werden kann. Für die Aufmerksamkeitsund/oder<br />
Hyperaktivitätsstörung bei Kindern und Jugendlichen<br />
haben entsprechende Bemühungen dazu geführt, einen aufwendigen<br />
Diagnoseprozess zu verlangen, der die gesamte Lebenswelt der auffälligen<br />
Kinder und Jugendlichen in die Beobachtung einbezieht und<br />
Vorsicht walten lässt, um Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität<br />
nicht vorschnell als Symptome einer psychischen Störung<br />
zu beurteilen (Remschmidt, 2005). Ein solcher Aufwand ist nicht<br />
zuletzt deshalb notwendig, weil die Symptomdiagnose einer AD(H)S<br />
auf Urteilen sozialer Wahrnehmung beruht, die immer Normalitätsvorstellungen<br />
enthalten, die unterschiedlich ausfallen können.<br />
Eine andere Möglichkeit der Objektivierung gibt es nicht. Was die<br />
Therapie der AD(H)S betrifft, so gilt es inzwischen als Behandlungsstandard,<br />
sich nicht auf die Verordnung von Medikamenten zu<br />
beschränken, weil eine solche Beschränkung die Ätiologie der Symptome<br />
ignoriert. Wenn eine Medikation nach sorgfältiger Prüfung<br />
indiziert erscheint, sollte sie gegebenenfalls von psychotherapeutischen,<br />
psychoedukativen, ergotherapeutischen, logopädischen, pädagogischen<br />
oder anderen geeigneten nichtmedikamentösen Unterstützungen<br />
flankiert werden. Ohne eine solche Flankierung wird den<br />
Betroffenen die Entwicklung eines angemessenen Selbstverständnisses<br />
vorenthalten.<br />
Die Empfehlungen der Konsensuskonferenzen versuchen zu verhindern,<br />
dass Kinder und Jugendliche therapiert werden, deren<br />
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Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Psychodynamik medikalisierter Beziehungen 17<br />
AD(H)S-Diagnose nicht sicher ist, und dass Kinder und Jugendliche<br />
mit einer sicheren Diagnose lediglich Medikamente und keine multimodale<br />
Therapie erhalten. Wie weit diese Standards in der Praxis<br />
tatsächlich erfüllt werden, ist nicht systematisch untersucht. Unter<br />
den sechzig Jungen, mit denen wir in unserer Untersuchung gesprochen<br />
haben, erhält der größte Teil ausschließlich Medikamente.<br />
Gelegenheitsbeobachtungen lassen vermuten, dass Diagnose und<br />
Therapieindikation in unbekannt vielen Fällen laxer als empfohlen<br />
ausfallen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer der Gründe mag<br />
der Druck sein, der von Eltern ausgeht, die sich auf eine medikamentöse<br />
Behandlung ihrer Kinder beschränken wollen, weil sie –<br />
mehr oder weniger bewusst – einen Kurzschluss ziehen, der sie von<br />
Schuldgefühlen entlastet: Medikamente bestätigen ihre Vorstellung,<br />
dass die AD(H)S eine genetisch bedingte hirnorganische Störung ist,<br />
für die sie keine Verantwortung tragen. Dagegen haben sie nichtmedikamentöse,<br />
vor allem psychotherapeutische Maßnahmen im Verdacht,<br />
sie dafür verantwortlich zu machen, dass ihre Kinder sich<br />
auffällig verhalten (Pozzi, 2002). Anders gelagert sind Fälle, in denen<br />
Eltern mit unauffälligen Kindern nach den Medikamenten fragen,<br />
weil sie deren Leistung steigernde Wirkung für den schulischen Erfolg<br />
ihres Nachwuchses nutzen möchten. Darüber, wie Ärzte mit solchen<br />
Fällen umgehen, ist wenig bekannt. Die Diskussion um eine »Wunsch<br />
erfüllende Medizin« (Buyx, 2008) legt allerdings nahe, sie in der<br />
Versuchung zu sehen, zu schnell von den Diagnose- und Therapiestandards<br />
abzurücken.<br />
Mag sein, dass unterschiedliche ärztliche Professionen unterschiedlich<br />
anfällig sind. So ist einer US-amerikanischen Untersuchung<br />
zu entnehmen, dass sich Pädiater im Vergleich mit Kinder- und<br />
Jugendlichenpsychiatern ungleich schneller bereit finden, Kinder und<br />
Jugendliche mit einer AD(H)S-Diagnose medikamentös zu behandeln<br />
(Salmon u. Kemp, 2002).<br />
<strong>Ritalin</strong>: Von der Therapie zum Enhancement<br />
Rekonstruiert man die Geschichte der AD(H)S-Diagnose (Rothenberger<br />
u. Neumärker, 2005; Reh, 2008), dann fällt auf, dass in<br />
gewisser Weise die Medikation der Diagnose vorausging. Bereits<br />
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Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
18 Rolf Haubl<br />
<strong>Mit</strong>te des 20. Jahrhunderts ist in den USA mit Methylphenidat<br />
experimentiert worden. Überhaupt sind die Jahre zwischen 1950<br />
und 1960 eine erste Blütezeit der Psychopharmakologie gewesen,<br />
was sich an einer rasanten Vermehrung von Präparaten ablesen lässt,<br />
die damals auf den US-amerikanischen Markt kamen. Diese Präparate<br />
haben die Hoffnung begründet, nach und nach alle psychischen<br />
Krankheiten bessern, wenn nicht gar heilen zu können. Als<br />
Methylphenidat seine Zulassung unter dem Markennamen <strong>Ritalin</strong><br />
erhält, wird es zunächst am häufigsten als Antidepressivum für Erwachsene<br />
eingesetzt. Eine überzeugende Indikation ist das aber nie<br />
gewesen. Dann entdeckt man, eher beiläufig, dass <strong>Ritalin</strong>, obgleich<br />
ein Psychostimulanz, die Wirkung hat, Kinder und Jugendliche, die<br />
unkonzentriert, impulsiv und hyperaktiv sind, zu »normalisieren«.<br />
Die Betroffenen haben zwar ganz verschiedene Diagnosen, alle<br />
reagieren aber annährend gleich auf das Medikament. Deshalb<br />
werden sie schließlich unter der Bezeichnung AD(H)S zu einer<br />
einzigen Diagnose zusammengefasst.<br />
Es trifft den Punkt, wenn <strong>Ritalin</strong> in diesem Zusammenhang als<br />
»Lackmustest« für AD(H)S beschrieben wird (Diller, 1998, S. 112):<br />
»Eine positive Reaktion [eines mit <strong>Ritalin</strong> behandelten Kindes] bedeutet,<br />
dass es ADHS ›hat‹.« Lange Zeit gilt dieses Verfahren als<br />
gültiger Beweis. Dessen Aussagekraft wird aber bereits Ende der<br />
1960er Jahre erschüttert, als der Nachweis erfolgt, dass auch unauffällige<br />
Kinder und Jugendliche auf gleiche Weise von der Einnahme<br />
des Medikaments profitieren (Conners u. Eisenberg, 1963). Es folgt<br />
eine Reihe von Untersuchungen, die diesen Effekt bestätigen. Zu<br />
einer neuerlichen Dekonstruktion der Diagnose hat diese Erkenntnis<br />
aber nicht geführt. Im Gegenteil: Obgleich widerlegt, bleibt der Beweis<br />
weiterhin in Geltung und fördert Forschungen über die neurochemische<br />
Wirkung von Methylphenidat. Diese Forschungen bringen<br />
die – inzwischen ebenfalls modifizierte – Theorie eines Dopaminmangels<br />
auf (Hüther, 2008). Populär wird sie, weil sie den<br />
vermeintlichen Mangel an diesem Neurotransmitter nach dem Modell<br />
eines Insulinmangels erklärt, was für Laien eine hohe Evidenz hat<br />
und es ihnen als <strong>leben</strong>sbedrohlich erscheinen lässt, auf <strong>Ritalin</strong> zu<br />
verzichten.<br />
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Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Psychodynamik medikalisierter Beziehungen 19<br />
Soziokulturelle Unterschiede im Gebrauch von <strong>Ritalin</strong><br />
Nimmt man an, dass alle Kinder und Jugendlichen, die Medikamente<br />
gegen eine AD(H)S einnehmen, den Standards entsprechend diagnostiziert<br />
und indiziert sind, dann müsste man, eingedenk genetischer<br />
Theorien der AD(H)S, geringfügige soziodemografische und<br />
nationale Unterschiede erwarten dürfen, es sei denn, man würde, was<br />
aber unhaltbar ist, verschiedene Genpools unterstellen. Die festgestellten<br />
Unterschiede sind aber alles andere als geringfügig, wofüresin<br />
den USA, der »<strong>Ritalin</strong>-Nation« (DeGrandpre, 1999) schlechthin, auf<br />
die 85 % des weltweiten Verbrauchs an Methylphenidat entfallen<br />
(UNINCB, 1999), gute Belege gibt.<br />
Zunächst lassen sich markante soziodemografische Unterschiede<br />
benennen (Olfson, Gameroff, Marcus u. Jensen, 2003). So wird in<br />
Hawaii nur ein Fünftel der Menge an <strong>Ritalin</strong> pro Kopf verbraucht, die<br />
in den Staaten mit dem höchsten Verbrauch, das sind die Staaten des<br />
mittleren Westens, zu Buche schlägt. Werden die Verbrauchszahlen<br />
nach Stadt und Land aufgeschlüsselt, sind Verschreibungen auf dem<br />
Land seltener als in der Stadt. Und ethnisch betrachtet, wird in<br />
afroamerikanischen oder hispanisch-amerikanischen Familien (Zito,<br />
Safer, dos Reis, Gardner, Boles u. Lynch, 2000; Buermeister, Canino,<br />
Bravo, Ramirez, Jensen, Chavez, 2003) nur die Hälfte der Menge<br />
verbraucht, die weiße Familien mit demselben ökonomischen Status<br />
verbrauchen. Alles in allem belegen die verfügbaren Statistiken eine<br />
<strong>Ritalin</strong>-Konzentration in der weißen städtischen mittleren und oberen<br />
<strong>Mit</strong>telschicht. Allerdings nimmt der Verbrauch auch in den unteren<br />
Schichten signifikant zu.<br />
Im Vergleich mit den USA gehörte Deutschland bislang zu den<br />
gemäßigten Ländern (UNINCB, 2005). Den neuesten Berichten des<br />
Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte sind jedoch<br />
unglaubliche Steigerungsraten zu entnehmen: So hat der Verbrauch<br />
zwischen 1993 und 2006 von 34 auf 1221 Kilogramm zugenommen<br />
(zit. n. Spiegel-online 22/2007). Eine solche Steigerungsrate lässt<br />
selbst dann, wenn man Unterversorgung in Rechnung stellt, kaum<br />
einen anderen Schluss zu als den, dass eine Ausweitung von Diagnose<br />
und/oder Indikation stattgefunden hat.<br />
Einzurechnen sind dabei auch Verordnungen für Kinder im Vorschulalter<br />
(Rappley, Mullen u. Alvarez, 1999; Kratochvil, Grenhill,<br />
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Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
20 Rolf Haubl<br />
March, Burke u. Vaughan, 2004). Zwar erachten viele Kliniker die<br />
Diagnostizierung einer AD(H)S zu einem so frühen Zeitpunkt als<br />
höchst problematisch (Sonuga-Barke, Daley u. Thompson, 2003),<br />
weil die normalen entwicklungspsychologischen Schwankungen von<br />
Aufmerksamkeit, Affektkontrolle und motorischer Aktivität erheblich<br />
sind (Sonuga-Barke, Auerbach, Campbell, Daley u. Thompson,<br />
2005), die Grenzziehung ist aber alles andere als unantastbar. So wird<br />
berichtet, dass in den USA die Rate der Erstverschreibungen bei unter<br />
Fünfjährigen zwischen 2000 und 2003 um 50 % gestiegen ist (zit. n.<br />
Moynihan u. Cassels, 2005, S. 79). Auch in Deutschland wird man<br />
mit einem großen Dunkelfeld rechnen müssen. Gerade, wenn man<br />
einen hirnorganischen Erklärungsansatz favorisiert, ist aber maximale<br />
Vorsicht geboten. Denn die Neuroplastizität des menschlichen Gehirns<br />
ist in den ersten sechs Lebensjahren besonders ausgeprägt (Sterr,<br />
2008). Welche Auswirkungen eine kontinuierliche Zufuhr von Methylphenidat<br />
auf die neuronale Entwicklung hat, bleibt ungewiss.<br />
Enthemmung des <strong>Ritalin</strong>gebrauchs<br />
Eine Ausweitung der Diagnose erfolgt schleichend über die Veränderung<br />
der Beobachtungskriterien, die der Symptomdiagnose zugrunde<br />
liegen. Verändern sich die Kriterien, zieht das eine Veränderung<br />
der Anzahl diagnostizierter Kinder und Jugendlicher nach sich.<br />
So stellt eine US-amerikanische Untersuchung fest, dass zwischen<br />
1980 und 1987 die Kriterien so verschoben worden sind, dass 50 %<br />
der Kinder und Jugendlichen, die 1980 noch als unauffällig gelten<br />
duften, 1987 als gestört zu diagnostizieren waren (Searight u.<br />
McLaren, 1998). Eine vergleichbare Ausweitung der Diagnose findet<br />
eine deutsche Untersuchung: Zwischen 1980 und 1994 sind aufgrund<br />
veränderter Kriterien 60 % mehr AD(H)S-Diagnosen gestellt<br />
worden (Baumgaertel, Wolraich u. Dietrich, 1995). Aber es wird<br />
nicht nur die Diagnose ausgeweitet, gleichzeitig kommt eine Verschreibungspraxis<br />
für Psychostimulanzien in Gang, die sich von der<br />
Diagnose löst (LeFever, Dawson u. Morrow, 1999; Angold, Erkanli u.<br />
Egger, 2000).<br />
Zwar haben die Anstrengungen des Medizinsystems zugenommen,<br />
einer inflationäre Diagnostizierung der AD(H)S entgegenzuwirken,<br />
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Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Psychodynamik medikalisierter Beziehungen 21<br />
gleichzeitig muss aber auch mit gegenläufigen Interessen gerechnet<br />
werden. So ist der Pharmaindustrie an einer Ausweitung der Diagnose<br />
gelegen, weil das ihre Profite steigert. Um das zu erreichen, wird<br />
systematisch versucht, vor allem besorgte Eltern für eine Medikation<br />
ohne aufwendige Diagnostik und Therapieindikation zu gewinnen.<br />
Ihnen wird glauben gemacht, dass medikamentenkritische Stellungnahmen<br />
unverantwortlich seien, weil sie ihren Kindern die bestmögliche<br />
Behandlung verweigerten (Moynihan u. Cassels, 2005,<br />
Kap. 4).<br />
In einer der ersten Kritik der ausufernden Verschreibungspraxis<br />
von <strong>Ritalin</strong>, die eine öffentliche Debatte über diese Praxis anmahnt,<br />
zitiert der Autor (Maynard, 1970) einen Kinderarzt mit Worten, die<br />
etwas von dem moralischen Druck ahnen lassen, unter die man die<br />
Eltern setzen will:<br />
»Wir wissen, dass diese Kinder erfolgreich werden. Sie gewinnen<br />
mehr Selbstvertrauen. […] Sie sind definitiv glücklicher.<br />
Eine meiner Mütter kam von einem Meeting nach Hause<br />
und fand die Hausaufgaben ihres Kindes auf dem Tisch vor.<br />
Und das Kind hatte einen Zettel geschrieben, auf dem stand:<br />
›Ich danke Dir Mutter, ich fühle mich sehr viel glücklicher‹.«<br />
Diese Szene, die der Arzt beschreibt, ist wie aus der Pharmawerbung<br />
und stammt vielleicht auch daher. Sie unterstellt eine harmonische<br />
Konvergenz zwischen den Wünschen der Kinder und den Interessen<br />
der Erwachsenen, die aber gerade nicht vorausgesetzt werden kann (zu<br />
Unterschieden in der Symptomwahrnehmung: Klassen, Miller u.<br />
Fine, 2006; und in der wahrgenommenen Medikamentenwirkung:<br />
Efron, Jarman u. Baker, 1998; McNeal, Roberts u. Barone, 2000).<br />
Denn primär sind es die Erwachsenen, die ein bestimmtes Verhalten<br />
der Kinder als nicht tolerierbar definieren, und nicht die Kinder.<br />
Zudem lehnen sie eine medikamentöse Behandlung spontan eher ab,<br />
selbst dann, wenn sie ansonsten auch mit den Behandlungszielen ihrer<br />
Eltern übereinstimmen (Traywick, Lamson, Diamond u. Carawan,<br />
2006; Sleator, Ullmann u. von Neumann, 1982).<br />
Wie selbstverständlich stehen in der beschriebenen Szene eine<br />
Mutter und ihr Sohn im <strong>Mit</strong>telpunkt. Es sind die Mütter, an die sich<br />
die Pharmawerbung wendet. Und auch in der Fachliteratur kommen<br />
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Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
22 Rolf Haubl<br />
Väter so gut wie nicht vor. – »Ist schon das Kind als ›Patient‹ vorbestimmt,<br />
dessen Mutter sich wegen seines Verhaltens sorgt, das eine<br />
Normtabelle als durchschnittlich bestimmt?« (Eisenberg, 1971,<br />
S. 374). Auch in dieser empört tönenden rhetorischen Frage findet<br />
die weitgehend unreflektierte Erfahrung ihren Niederschlag, dass es<br />
innerhalb der Familie die Mutter ist, der die gesellschaftliche Anpassung<br />
ihrer Kinder obliegt und damit auch das Monitoring der<br />
Medikamente, die dieser Anpassung dienen (Singh, 2004).<br />
Zumindest für die USA gibt es Hinweise, dass der Siegszug von<br />
<strong>Ritalin</strong> zur Medikation von unaufmerksamen, impulsiven und hyperaktiven<br />
Kindern und Jugendlichen auch etwas mit dem eigenen<br />
Medikamentengebrauch der Frauen zu tun gehabt hat. Denn bevor<br />
<strong>Ritalin</strong> in den USA zu einem AD(H)S-Medikament geworden ist,<br />
sind bereits zahllose US-Amerikanerinnen daran gewöhnt gewesen,<br />
Antidepressiva zur alltäglichen Stimmungsaufhellung einzunehmen,<br />
darunter auch <strong>Ritalin</strong>, das ja zunächst als Antidepressivum galt.<br />
Folglich mag es sein, dass Mütter, »selbst daran gewöhnt, Psychopharmaka<br />
bei vergleichsweise gewöhnlichen Probleme zu gebrauchen,<br />
sich leichter damit getan haben, <strong>Ritalin</strong> für die Probleme ihrer<br />
Söhne zu akzeptieren« (Singh, 2002, S. 592).<br />
Psychopharmaka in der Erwachsenenkultur<br />
Die Bereitschaft, »gestörte« Kinder und Jugendliche psychopharmakologisch<br />
zu therapieren oder Psychopharmaka für ein Leistungssteigerung<br />
»normaler« Kinder und Jugendlicher einzusetzen, hängt<br />
nicht zuletzt von der Praxis ab, die in der jeweiligen Erwachsenenkultur<br />
besteht, Psychopharmaka als Enhancement (Juengst, 1998) zu<br />
gebrauchen (Hoberman, 2008). Für Deutschland hat in diesem Zusammenhang<br />
der DAK-Gesundheitsreport 2009 interessante Daten<br />
vorgelegt (DAK, 2009).<br />
Der Report geht der Frage nach, ob zutrifft, was in den Massenmedien<br />
bereits als gegeben behauptet wird: Dass immer mehr Arbeitnehmer/-innen<br />
verschreibungspflichtige Psychopharmaka einnehmen,<br />
nicht aus therapeutischen Gründen, sondern weil sie eine<br />
Steigerung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit und damit eine Verbesserung<br />
ihrer beruflichen Erfolgsaussichten erwarten. Der Report<br />
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Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Psychodynamik medikalisierter Beziehungen 23<br />
spricht von einem »Doping am Arbeitsplatz«. Um eine empirisch<br />
fundierte Antwort auf diese Frage zu geben, hat die DAK Arzneimitteldaten<br />
ausgewertet, Experten befragt und Einstellungen in der<br />
Bevölkerung ermittelt.<br />
Die gute Nachricht zuerst: Insgesamt betrachtet stützen die Befunde<br />
nicht die Annahme, dass psychopharmakologisches Enhancement<br />
bereits ein weit verbreiteter Tatbestand wäre. Es sind 1 – 5 % der<br />
Erwerbstätigen im Alter von zwanzig bis fünfzig Jahren, die sich nach<br />
eigenen Angaben auf verschiedenen Wegen die entsprechenden Medikamente<br />
besorgen, um sie als Enhancer einzusetzen. Dagegen die<br />
schlechte Nachricht: Nahezu jeder Fünfte nennt mindestens eine<br />
Person, die derart handelt, was im Vergleich mit den Selbstaussagen<br />
ein ungleich größeres Dunkelfeld vermuten lässt. Immerhin sagt auch<br />
mehr als jeder Fünfte von sich, er habe die Erfahrung gemacht, dass<br />
ihm von Familienmitgliedern oder Kolleg/-innen schon einmal<br />
empfohlen worden sei, seine kognitiven Leistungen auf diese Weise zu<br />
steigern. So gesehen mag die soziale Akzeptanz für die Einnahme<br />
psychopharmakologischer Enhancer größer sein als die Bereitschaft,<br />
sie tatsächlich einzusetzen. Dafür spricht auch die weit verbreitete<br />
Meinung, die entsprechenden Medikamente seien nicht sicher genug.<br />
Im Umkehrschluss könnte das heißen, dass die Verringerung oder<br />
Maskierung von unerwünschten Nebenwirkungen die Medikationsbereitschaft<br />
erhöht.<br />
Da die Pharmaindustrie daran arbeitet, Medikamente zu produzieren,<br />
die sich wie Nahrungsergänzungsmittel konsumieren lassen,<br />
ist mit einem weiteren Anstieg von Erwerbstätigen zu rechnen, die<br />
sich nicht länger nur auf ihre individuellen Fähigkeiten verlassen –<br />
zumindest solange nicht, wie der Konkurrenzdruck unter ihnen<br />
weiter steigt. Eine solche Steigerung hält der Report aber für wahrscheinlich<br />
und kritisiert den daraus resultierenden erzwungenen<br />
Raubbau der Erwerbstätigen an ihrer Gesundheit mit ungewöhnlich<br />
scharfen Worten. Denn die als Enhancer eingesetzten Anxiolytika<br />
(44 %), Antidepressiva (35 %) und Psychostimulanzien (13 %) sind<br />
vor allem bei langfristiger Einnahme niemals frei von unerwünschten<br />
Nebenwirkungen, und sei es nur die unerwünschte Nebenwirkung,<br />
die Abhängigkeit von einem Medikament in ein Selbstbild autonomer<br />
Lebensführung, wie sie die moderne Gesellschaft als Ideal vorgibt,<br />
integrieren zu müssen.<br />
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Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
24 Rolf Haubl<br />
Psychostimulanzien als Konkurrenzvorteil<br />
Wenn Erwachsene »Mind-Doping« betreiben, um im Konkurrenzkampf<br />
bessere Chancen zu haben, ist mit ähnlichen Effekten auch bei<br />
Heranwachsenden zu rechnen, zumal dann, wenn Kindheit und Jugend<br />
nicht länger Schutzräume und Moratorien sind, sondern immer<br />
mehr Kinder und Jugendliche unter einem vergleichbaren Leistungsdruck<br />
stehen wie ihre Eltern. So hatten in einer US-amerikanischen<br />
Untersuchung (McCabe, Knight, Teter u. Wechsler, 2005),<br />
an der über 10.000 Studierende an 119 Colleges teilnahmen, 4,1 %<br />
der Studierenden im letzten Jahr und 2,1 % der Studierenden im<br />
letzten Monat nach eigenen Angaben verschreibungspflichtige Psychostimulanzien<br />
eingenommen, ohne dafür eine medizinische Indikation<br />
zu haben. Mehr noch: Der Gebrauch der Stimulanzien als<br />
psychopharmakologische Enhancer variiert mit der Wettbewerbsorientierung,<br />
die in den Herkunftsmilieus der Studierenden besteht:<br />
So geben 1,3 % der Studierenden aus wenig kompetitiven Milieus,<br />
4,5 % der Studierenden aus durchschnittlich kompetitiven Milieus<br />
und 5,9 % der Studierenden aus sehr kompetitiven Milieus an, zu<br />
entsprechenden Medikamenten gegriffen zu haben.<br />
Dieser Befund unterstreicht die Befürchtungen des referierten<br />
DAK-Gesundheitsreports: Eine Verbreitung der Wettbewerbsorientierung<br />
könnte die Hemmschwelle senken, sich psychopharmakologischer<br />
Enhancer als Konkurrenzvorteil zu bedienen. Tritt diese Situation<br />
ein, ist über kurz oder lang mit einem indirekten Enhancement-Zwang<br />
zu rechnen: Wer mithalten will, muss »Mind-Doping«<br />
betreiben. Schärfer formuliert: Nicht nur diejenigen, die einen<br />
Konkurrenzvorteil anstreben, müssen »dopen«, sondern bereits diejenigen,<br />
die sich vor einem Konkurrenznachteil zu schützen suchen.<br />
Unterstellt, dass es keinen psychopharmakologischen Enhancer gibt,<br />
der ohne negative Nebenwirkungen ist, dann entsteht auf diese Weise<br />
die ethisch kaum legitimierbare gesellschaftliche Nötigung, sich selbst<br />
mehr oder weniger gravierend zu schädigen.<br />
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Erfolgserwartungen<br />
Rolf Haubl / Katharina Liebsch, <strong>Mit</strong> <strong>Ritalin</strong> <strong>leben</strong><br />
Psychodynamik medikalisierter Beziehungen 25<br />
Die Verschiebung einer Einnahme von Psychostimulanzien aus dem<br />
Bereich der Therapie in den Bereich des psychopharmakologischen<br />
Enhancements wird nicht zuletzt durch Leistungsversprechen begünstigt.<br />
Anders als in Europa werden solche Versprechen in den USA<br />
sehr viel expliziter formuliert. So kann man in entsprechenden<br />
Sachbüchern lesen, dass <strong>Ritalin</strong> die geistige Leistung von College-<br />
Anwärtern so weit verbessere, dass auch viele von denen, die die<br />
Aufnahmetests ansonsten nicht bestehen würden, diese Hürde problemlos<br />
nehmen (Gazzaniga, 2005). In Anbetracht der Vollmundigkeit<br />
solcher Versprechen wären wissenschaftliche Untersuchungen<br />
zu erwarten, die sie stützen. Die aber fehlen. Dennoch lassen sich<br />
Wirkungserwartungen feststellen, die dazu führen können, sich eine<br />
Medikation zu erschleichen, indem etwa interessierte Studierende die<br />
bekannten AD(H)S-Symptome zu simulieren versuchen und damit,<br />
wie eine kanadische Untersuchung zeigt (Harrison, Edwards u. Parker,<br />
2007), selbst Experten ziemliches Kopfzerbrechen bereiten.<br />
Ob und unter welchen Bedingungen die Einnahme von <strong>Ritalin</strong><br />
tatsächlich zu einer Verbesserung kognitiver Leistungen führt, ist eine<br />
offene Frage. So gibt es Untersuchungen, die belegen, dass die Verabreichung<br />
von Methylphenidat zwar nicht die kognitiven Leistungen<br />
steigert, aber diejenigen, die das Medikament eingenommen haben,<br />
glauben lässt, ihre Leistungen hätten sich verbessert (Bray, Cahill,<br />
Oshier, Peden, Theriaque, Flotte u. Stacpoole, 2004). Eine solche<br />
Fehlwahrnehmung mag unterschiedliche Folgen haben: Man vertraut<br />
der Substanz und übersieht, dass sie nur die Möglichkeit verbessert,<br />
eine bessere Leistung zu erbringen, ohne sich aber für die Realisierung<br />
dieser Möglichkeit anzustrengen, was zu keiner verbesserten Leitung<br />
führt. Oder aber die Überschätzung erzeugt einen Motivationsschub,<br />
der dann tatsächlich zu einer besseren Leistung führt.<br />
Skepsis ist auch angebracht, wenn es um den schulischen Erfolg<br />
geht, der medikamentös herbeigeführt werden soll. Eine groß angelegte<br />
Untersuchung (Barbaresi, Kabuic, Coligan u. Weaver, 2007)<br />
bestätigt dies. Die Kinder in dieser Untersuchung haben die Medikamente<br />
im Durchschnitt fast drei Jahre eingenommen. Die medikamentös<br />
behandelten Kinder schneiden in Lesetests etwas besser ab<br />
als Kinder mit einer nicht behandelten AD(H)S. Ihre Fehlzeiten sind<br />
© 2010 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2
Vandenhoeck & Ruprecht<br />
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts<br />
9 783525 451861<br />
Über keine Diagnose ist in den letzten Jahren so<br />
viel und so kontrovers diskutiert worden wie über<br />
ADHS bei Kindern. Obgleich die Störung als eine<br />
genetisch bedingte hirnorganische Krankheit gilt,<br />
verstummen die Stimmen nicht, die diese medizinisch-psychiatrische<br />
Diagnose in Zweifel ziehen.<br />
Doch was alle Beteiligten versäumen, holt dieses<br />
Buch nach: den betroffenen Kindern eine eigene<br />
Stimme zu geben. In Interviews geben 60 Jungen<br />
darüber Auskunft, wie sie es in Familie und Schule<br />
selbst er<strong>leben</strong>, als ADHS-Kind diagnostiziert worden<br />
zu sein und täglich <strong>Ritalin</strong>® nehmen zu sollen.<br />
Die Herausgeber<br />
Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, Diplom-Psychologe und<br />
Germanist, lehrt Soziologie und psychoanalytische<br />
Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt/<br />
Main und ist Direktor des Sigmund-Freud-Instituts<br />
in Frankfurt/Main.<br />
Prof. Dr. phil. Katharina Liebsch ist Professorin für<br />
Soziologie mit dem Schwerpunkt für Familien- und<br />
Jugendsoziologie an der Universität Frankfurt/Main.<br />
www.v-r.de