FINE Das Weinmagazin, 67. Ausgabe - 04/2024
Hauptthema: SAAR Egon Müller – Scharzhof: Rekorde mit Riesling Weitere Themen dieser Ausgabe EDITORIAL Tradition und Säure in Weiß und Rot WASSER Staatl. Fachingen: Genuss aus der Tiefe MITTELRHEIN Mehr Ruinen als Romantik? ZU GAST Junge Sommeliers: Studiengäste aus Mauritius CHAMPAGNE Lallier: R wie reizvoll CHAMPAGNE Fürs frohe Fest: Champagner in der Magnum WEIN & SPEISEN Jürgen Dollase isst im Münchner Restaurant Jan GLAS Zalto »Balance«: Ein Kelch für Charakterweine SAAR Martin Foradori Hofstätter in Deutschland DAS GROSSE DUTZEND Erwin Sabathis Pössnitzberg Alte Reben WEIN & ZEIT Weinbau in der Steiermark von 1873 bis 1945 TOSKANA Biondi-Santi: Brunello unter dem Mikroskop TOSKANA Castello di Vicarello: Der Rote aus dem Luxushotel DIE PIGOTT-KOLUMNE Österreichs Kunst des Blaufränkisch GENIESSEN Gereifter Rahmtaler aus der Bergkäserei Oberei INTERVIEW Jason Smith, General Manager von Schrader Cellars ELSASS Die Maison Trimbach und ihr Clos Sainte Hune ABGANG Ein Vorbild hat Geburtstag
Hauptthema: SAAR Egon Müller – Scharzhof: Rekorde mit Riesling
Weitere Themen dieser Ausgabe
EDITORIAL Tradition und Säure in Weiß und Rot
WASSER Staatl. Fachingen: Genuss aus der Tiefe
MITTELRHEIN Mehr Ruinen als Romantik?
ZU GAST Junge Sommeliers: Studiengäste aus Mauritius
CHAMPAGNE Lallier: R wie reizvoll
CHAMPAGNE Fürs frohe Fest: Champagner in der Magnum
WEIN & SPEISEN Jürgen Dollase isst im Münchner Restaurant Jan
GLAS Zalto »Balance«: Ein Kelch für Charakterweine SAAR Martin Foradori Hofstätter in Deutschland
DAS GROSSE DUTZEND Erwin Sabathis Pössnitzberg Alte Reben
WEIN & ZEIT Weinbau in der Steiermark von 1873 bis 1945
TOSKANA Biondi-Santi: Brunello unter dem Mikroskop
TOSKANA Castello di Vicarello: Der Rote aus dem Luxushotel
DIE PIGOTT-KOLUMNE Österreichs Kunst des Blaufränkisch
GENIESSEN Gereifter Rahmtaler aus der Bergkäserei Oberei
INTERVIEW Jason Smith, General Manager von Schrader Cellars
ELSASS Die Maison Trimbach und ihr Clos Sainte Hune
ABGANG Ein Vorbild hat Geburtstag
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EGON MÜLLER – SCHARZHOF
INBEGRIFF DES RIESLINGS
Mittelrhein Zwischen den Welten Champagner Toskana Elsass
Mehr Ruinen Martin Foradori Hofstätter 24 Magnums Biondi-Santi und Der Clos Sainte Hune
als Romantik? in Südtirol und an der Saar für die Festtage Castello di Vicarello der Maison Trimbach
FINE
STAATL. FACHINGEN 24 JUNGE SOMMELIERS 46 ZALTO »BALANCE« 78
CHAMPAGNE LALLIER 52 MAGNUM-CHAMPAGNER 58 ERWIN SABATHI 92
BIONDI-SANTI 104 CASTELLO DI VICARELLO 114
SCHRADER CELLARS 128
6 FINE 4 | 2024 INHALT
DAS WEINMAGAZIN 4|2024
MITTELRHEIN 28
EGON MÜLLER – SCHARZHOF 12
9 FINE EDITORIAL _________________ Tradition und Säure in Weiß und Rot
12 FINE SAAR _______________________ Egon Müller – Scharzhof: Rekorde mit Riesling
24 FINE WASSER ____________________ Staatl. Fachingen: Genuss aus der Tiefe
28 FINE MITTELRHEIN ______________ Mehr Ruinen als Romantik?
46 FINE ZU GAST ___________________ Junge Sommeliers: Studiengäste aus Mauritius
52 FINE CHAMPAGNE _______________ Lallier: R wie reizvoll
58 FINE CHAMPAGNE _______________ Fürs frohe Fest: 24 Champagner in der Magnum
72 FINE WEIN & SPEISEN ___________ Jürgen Dollase isst im Münchner Restaurant Jan
MARTIN FORADORI HOFSTÄTTER 84
78 FINE GLAS _______________________ Zalto »Balance«: Ein Kelch für Charakterweine
84 FINE SAAR _______________________ Martin Foradori Hofstätter in Deutschland
92 FINE DAS GROSSE DUTZEND ___ Erwin Sabathis Pössnitzberg Alte Reben
98 FINE WEIN & ZEIT ________________ Weinbau in der Steiermark von 1873 bis 1945
104 FINE TOSKANA __________________ Biondi-Santi: Brunello unter dem Mikroskop
114 FINE TOSKANA __________________ Castello di Vicarello: Der Rote aus dem Luxushotel
122 FINE DIE PIGOTT-KOLUMNE _____ Österreichs Kunst des Blaufränkisch
126 FINE GENIESSEN ________________ Gereifter Rahmtaler aus der Bergkäserei Oberei
128 FINE INTERVIEW _________________ Jason Smith, General Manager von Schrader Cellars
MAISON TRIMBACH 134
134 FINE ELSASS _____________________ Die Maison Trimbach und ihr Clos Sainte Hune
146 FINE ABGANG ___________________ Ein Vorbild hat Geburtstag
INHALT
FINE 4 | 2024 7
LIEBE LESERINNEN,
LIEBE LESER,
welche Rebsorte die spannendste sei, über diese Frage können Weinfreunde nächtelang diskutieren.
Wir Deutschen mögen da voreingenommen sein, doch der Riesling ist zweifellos ganz
vorn dabei. Dass er in dieser FINE-Ausgabe eine Hauptrolle spielt, wird Sie also hoffentlich
nicht stören.
Der Saar-Winzer Egon Müller IV. ist gewissermaßen Weltmeister. Zumindest hat er den
bislang teuersten aller Rieslinge hervorgebracht: 22 Flaschen seiner 2003er Trockenbeerenauslese
vom Scharzhofberg wurden 2015 für 12 000 Euro netto versteigert – pro Stück! Man
ahnt, dass die Käufer sie eher als Vermögenswerte geplant hatten als zum baldigen Genuss in
geselliger Runde, aber Müllers edelsüße Meisterwerke (vielleicht kommt mal ein trockener
2023er dazu) können und sollen ja schließlich jahrzehntelang lagern. Als unser Autor Stephan
Reinhardt die aktuellen Scharzhofberger zu probieren bekam, begegnete ihm neben Kräuteraromen
eine überaus markante Säure, die Egon Müller bildkräftig als »Eisenfaust ohne Samthandschuh«
beschrieb.
Wer die IV hinter dem Vornamen führt, ist nicht der erste seines Fachs in der Familie. Noch
weit älterer Riesling-Adel residiert im elsässischen Hunawihr. Seit 1626 machen die Trimbachs
Wein, inzwischen in der 13. Generation, und ihr grandioser Clos Sainte Hune ist seit genau
100 Jahren auf dem Markt. Obwohl sie aus Überzeugung ihr Monopollagen-Monument stets
trocken ausbauen, hat es mit den Scharzhof-Größen mehr als bloß die Rebsorte gemein – ein
paar Jahrzehnte im Keller darf man ihm schon gönnen.
Als große Riesling-Region galt einst auch der Mittelrhein. Inzwischen ist er Deutschlands
kleinstes Anbaugebiet, und vielerorts sieht man in der Nachbarschaft der Loreley nur mehr verfallene
Weinbergterrassen. Das Welterbe Oberes Mittelrheintal steckt laut der Winzerin Julia
Lambrich in einem »Teufelskreis«: Hohe Preise würden regionale Kunden abschrecken, niedrige
Preise lassen Weinfreunde anderswo an der Qualität zweifeln. Manch eine lohnende Entdeckung
hat Paul Kern auf der Reise am Fluss entlang dennoch gemacht – und vielleicht spricht sich
ja doch herum, dass erstklassige Rebberge für Start-ups hierzulande nirgendwo günstiger zu
haben sind. Wer könnte eine solche Hoffnung besser verkörpern als ein experimentierfreudiges
Idealisten-Pärchen, das klaglos in Kauf nimmt, dass in die sonnige Steillage bloß ein Fußweg
quer über die Bahnschienen führt?
Tradition und markante Säure, diese Verbindung gibt es auch in Rot. Vier Jahrzehnte lang
war »Dottore« Franco Biondi Santi bei jeder Sangiovese-Lese in Montalcino als Erster am
Start, um seinem Brunello die Eleganz zu sichern – sein Urgroßvater hatte diesen Weintyp
1888 erstmals herausgebracht. Vor acht Jahren hat die EPI Holding das Gut mit dem Stammsitz
Tenuta Il Greppo übernommen, doch die französischen Investoren legen Wert darauf, den Stil
zu bewahren und nur die Rahmenbedingungen zu perfektionieren. Etwas anderes wäre unter
den misstrauischen Blicken von Brunello-Fans in aller Welt wohl auch kaum möglich.
Nun kommen erst einmal die Feiertage, und Treffen im Familienkreis bieten willkommene
Gelegenheiten, um mal wieder größere Flaschen zu öffnen. Lassen Sie sich durch unsere bunte
Auswahl von 24 Champagner-Magnums anregen – oder probieren Sie charaktervolle Neuheiten
wie zum Beispiel Vintage 2006 Plénitude 2 oder Vintage 2015 von Dom Pérignon, die uns bei
ihrer Präsentation in Barcelona stark beeindruckt haben. Im neuen Jahr wird uns dieses Haus,
in dem sich zuletzt allerhand getan hat, noch ausführlicher beschäftigen. Bis dahin aber erst
einmal: Guten Rutsch!
Ihre Chefredaktion
EDITORIAL
FINE 4 | 2024 9
FINEAUTOREN
KRISTINE BÄDER Als Winzertochter aus Rheinhessen freut sie sich über die positive Entwicklung ihrer
Heimatregion, wo sie ein eigenes kleines Wein projekt pflegt. Eine besondere Beziehung hat die stu dierte Germanistin
und ehemalige Chefredakteurin des FINE Weinmagazins zu den Weinen aus Portugal.
DANIEL DECKERS Die Lage des deutschen Weins ist sein Thema – wenn er nicht gerade als Politikredakteur
der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« über Gott und die Welt zur Feder greift. An der Hochschule Geisenheim
lehrt Daniel Deckers Geschichte des Weinbaus und -handels. In seinem Buch »Wein. Geschichte und Genuss«
beleuchtet er durch mehr als 3000 Jahre die Rolle dieses unschätzbaren Kulturguts als Spiegel der Zeitläufte.
JÜRGEN DOLLASE hat sich schon als Rock musiker und Maler verdingt; als Kritiker der kulinarischen Landschaft
ist er heute eine feste Instanz. Viel beachtet sind seine Bücher über die Kunst des Speisens: Bei Tre Torri
erschien zuletzt seine »Geschmacksschule«; das visionäre Kochbuch »Pur, präzise, sinnlich« widmet sich der
Zukunft des Essens.
PATRICIA ENGELHORN ist Schweizerin, genauer gesagt Tessinerin, hat viele Jahre in Florenz gelebt und
dann als Freelance-Journalistin jahrzehntelang häufig und gern aus dem Koffer. Thematisch ist sie vorwiegend
in der Kunst-, Design- und Hotelszene unterwegs, genießt aber auch Ausflüge in die Welt der Weine.
URSULA HEINZELMANN Die Gastronomin und gelernte Sommelière schreibt für die »Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung«, die Magazine »Efflee« und »Slow Food« sowie Bücher übers Essen und Trinken.
Ihr Buch »China – Die Küche des Herrn Wu« (erschienen bei Tre Torri) liefert tiefe Einblicke in die vielfältige
Kochkunst der Chinesen.
PAUL KERN Im Campingurlaub mit dem Sohn ei nes Weinjournalisten probierte Paul Kern Große Gewächse
aus dem Emaillebecher. Es folgten ein Weingutspraktikum in Südafrika, eine Kochausbildung in ei nem Zweisternerestaurant
und ein Studium der Weinwirtschaft in Geisenheim. Nun schreibt er über Wein und Gastronomie
für diverse Magazine und Führer.
STEFAN PEGATZKY Der promovierte Germanist kam 1999 nach Berlin und erlebte hautnah, wie sich
die Metropole von einer Bier- zur Weinstadt wandelte. Er schreibt regelmäßig über Wein und Genuss, steuerte
zur Tre-Torri-Reihe »Beef!« den Band »Raw. Meisterstücke für Männer« bei und bereicherte die »Gourmet
Edition – Kochlegenden« um Titel zu Hans Haas, Harald Wohlfahrt und Marc Haeberlin.
STUART PIGOTT Seit der 1960 in London geborene studierte Kunsthistoriker und Maler im Wein – dem deutschen
zumal – sein Lebensthema fand, hat er sich mit seiner unkonventionellen Betrachtungsweise in den Rang
der weltweit geachteten Autoren und Kritiker geschrieben. Sein Buch »Planet Riesling« erschien bei Tre Torri.
PAULA REDES SIDORE suchte eigentlich nur Stoff für ihren Master-Abschluss in Creative Writing, doch
aus dem Sommerjob bei einem Weingut im US-Staat Virginia wurde unerwartet ein Beruf. Heute arbeitet die
amerikanische Autorin, Übersetzerin und gelernte Sommelière für die Webseite jancisrobinson.com, ist Mitgründerin
des »TRINK Magazine« und schreibt für Zeitschriften auf beiden Seiten des Atlantiks über Wein und Essen.
STEPHAN REINHARDT Sein Weg von der Theaterwissenschaft zum Weinjournalismus führte über die
»Süddeutsche Zeitung«, den »Feinschmecker«, den »Weinwisser« und »Vinum«. 2012 erschien sein Buch
»The Finest Wines of Germany«, 2014 holte ihn Robert Parker ins Team des »Wine Advocate«, für den Stephan
Reinhardt bis heute arbeitet. Er schreibt außerdem für »The World of Fine Wine« und ist Weinkolumnist der
»Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«.
VERLEGER UND HERAUSGEBER
Ralf Frenzel
r.frenzel@fine-magazines.de
CHEFREDAKTION
info@fine-magazines.de
ART DIRECTOR
Guido Bittner
TEXTREDAKTION
Boris Hohmeyer,
Katharina Harde-Tinnefeld
AUTOREN DIESER AUSGABE
Kristine Bäder, Daniel Deckers,
Jürgen Dollase, Patricia Engelhorn,
Ursula Heinzelmann, Paul Kern,
Stefan Pegatzky, Stuart Pigott,
Paula Redes Sidore, Stephan Reinhardt,
Rainer Schäfer
FOTOGRAFEN
Guido Bittner, Rui Camilo, Leif Carlsson,
Johannes Grau, Marco Grundt,
Alex Habermehl, Christof Herdt,
Thomas Pirot
GRÜNDUNGSCHEFREDAKTEUR
Thomas Schröder (2008–2020)
VERLAG
Tre Torri Verlag GmbH
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65191 Wiesbaden
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RAINER SCHÄFER wuchs in Oberschwaben auf und lebt seit drei Jahrzehnten in Hamburg, wo er über die
Dinge schreibt, die er am meisten liebt: Wein, gutes Essen und Fußball, stets neugierig auf schillernde Per sönlichkeiten,
überraschende Erlebnisse und unbekannte Genüsse.
Die FINE-Charta mit den Regeln, nach denen wir
verkosten und bewerten, finden Sie im Internet unter
fine-magazines.de/die-fine-weinbewertung/
Titelfoto: 2023 Scharzhofberger Kabinett von ALEX HABERMEHL
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10 FINE 4 | 2024 IMPRESSUM
12 FINE 4 | 2024 SAAR
EGON IV.
MAN MERKT ES EGON MÜLLER IV. NICHT IMMER AN, ABER ER HAT
SPASS AM LEBEN UND DARAN, DIE TEUERSTEN DEUTSCHEN WEINE
IN ALLE WELT ZU VERKAUFEN. VIELLEICHT KOMMT DEMNÄCHST
ZU SEINEN LEGENDÄREN EDELSÜSSEN SAAR-RIESLINGEN VOM
SCHARZHOFBERG NACH LANGER ZEIT EIN TROCKENES PENDANT
HINZU – DER JAHRGANG 2023 IST VIELVERSPRECHEND
Von STEPHAN REINHARDT
Fotos ALEX HABERMEHL
Diese Geschichte von und mit Egon Müller IV. vom Scharzhof an der Saar beginnt am Tag vor der Katastrophe.
»Es soll Frost geben heute Nacht, minus zwei bis drei Grad«, sage ich, als ich am späten Abend des 21. April
2024 das Weingut am Fuße des walförmigen Scharzhofbergs verlasse. »Wenn es trocken bleiben würde, dann
könnten die Reben sogar minus drei Grad Celsius überstehen«, erwidert Müller, mit dem ich am Tag die 2023er
und noch so einige Schätze verkostet habe, »aber jetzt regnet es wieder, und wenn es feucht ist, dann ist ein
Grad unter Null schon zu viel. Es wird also Schaden geben.«
Er sagt das ohne jede Aufregung, so, als würde nur Regen
kommen. »Man kann eh nichts dagegen tun«, ergänzt er.
Kerzen? »Man könnte im Verbund mit anderen Besitzern
im Scharzhofberg Stroh verbrennen oder Öfen oder auch Kerzen
anzünden. Aber dann kommt irgendjemand dahergelaufen und
spricht von umweltschädlichen Einflüssen. Kerzen müssen zudem
in Wannen aufbewahrt werden, sodass man einen extra Lagerraum
dafür bräuchte. Dabei hat man in meiner Kindheit sogar
noch alte Autoreifen gesammelt und im Weinberg verbrannt…«
Das ist lange her, Egon Müller ist diesen Sommer 65 Jahre alt
geworden. So wenig wie an seinem Jubeltag hing jedoch noch nie
in den Reben, jedenfalls nicht vor der Ernte. »Nur zehn, maximal
20 Prozent der Menge, die wir sonst geerntet hätten, sind noch
da«, sagt er bei einer neuerlichen Begehung des Scharzhofbergs
Anfang August: »Andererseits weiß man ja nicht, wie das Jahr
ohne den Frost verlaufen wäre. Vielleicht kam der Schaden ja einfach
nur früh. Später wäre ein anderer Schaden auch nicht besser
gewesen. Wir werden auch 2024 Trauben lesen im Scharzhofberg.«
Den kultiviert er wie einen Garten, ebenso die in Teilen
langfristig gepachtete Wiltinger Braune Kupp, deren Rieslinge
bis heute mit dem historischen Etikett des Guts Le Gallais auf
den Markt kommen: ohne Maschinen, dafür mit einem antiken,
»Klickklack« genannten Pflug, der mit einem wie auf einem
Stand-up-Board stehenden Mitarbeiter mit der Seilwinde nach
oben gezogen und wieder herabgelassen wird. Achteinhalb Hektar
besitzt Müller im Scharzhofberg, darunter einen prominenten
Block, der zwischen 1895 und 1905, also zur Glanzzeit des Mosel-
Rieslings, in Einzelpfahlerziehung angelegt wurde und bis heute
SAAR FINE 4 | 2024 13
GENUSS
AUS DER TIEFE
GUTEN WEIN SOLLTE STETS EIN GUTES WASSER BEGLEITEN. GANZ
OBEN DABEI IST HIERZULANDE STAATL. FACHINGEN. SELBST WENN
ES NICHT SEIT 1742 ALS HEILWASSER GESCHÄTZT WÜRDE, WÄRE SEIN
ELEGANTER MINERALISCHER GESCHMACK ÜBERZEUGEND GENUG.
AN DER QUELLE IM LAHNTAL TUN DIE BETREIBER, WAS SIE KÖNNEN,
DAMIT DAS DIE NÄCHSTEN JAHRHUNDERTE AUCH SO BLEIBT
Von STEFAN PEGATZKY
Fotos GUIDO BITTNER
Als unsere Vorfahren noch mehr Wein als Wasser tranken, müssen die ersten abgefüllten
Mineralwässer erstaunliche Wirkungen ausgelöst haben. Der Oranien-Nassauische
Geheime Regierungsrat Jakob Friedrich Eberhard wurde ganz euphorisch, als er Mitte
des 18. Jahrhunderts über die gerade entdeckte Brunnenquelle in Fachingen schreiben
sollte. Laut seinen Versen mischte er das Wasser mit etwas Wein, und »auf einmal
plötzlich, stieg mit Rauschen und mit Wallen, | Ein Schwarm von Bläsgen auf umspielend
kleine Ballen … | Und glücklich, so vermischt, entdeckte ferner sich,| Daß dieser neue
Tranck nun dem Champagner glich.«
Zwar mochte wohl nicht jeder an solch ein
Naturwunder glauben, aber dass Wein und
Fachinger Mineralwasser eine glückliche
Verbindung eingehen, haben schon früh auch Mediziner
erkannt. In der »Beschreibung des gemeinnützigen
Fachinger Mineralwassers und seiner heilsamen
Wirckungen« des Arztes Moritz Gerhard
Thilenius von 1791 heißt es: »Mit jedem Wein, be -
son ders aber mit Rheinwein (...) erfrischt, hebt es
die (…) Muskel- und Nerven-Kräfte augenschein lich,
ist es wahre Herzstärkung. Wer viel und rasch ge -
stärkt seyn will, der trinke es mit altem Rhein- oder
Burgunder-Weine, wer blos, aber innigst gelabt seyn
will, mit Moselweine, oder Bleichard.«
Bei Johann Wolfgang von Goethe vermochte die
Kombination von Fachinger Wasser und Wein sogar
kreative Kräfte zu wecken. 1817 schrieb der Dichter
an seine Schwiegertochter Ottilie: »Die nächsten
vier Wochen sollen Wunder leisten. Hierzu wünsche
aber mit Fachinger Wasser und weißem Wein vorzüglich
begünstigt zu werden, das eine zu Befreyung des
Geists, das andere zu dessen Anregung.« Wer argwöhnt,
dass sich damaliger und heutiger Geschmack
doch merklich unterschieden, sei auf den Wassertest
der »Süddeutschen Zeitung« vom April 2024 verwiesen.
Zur modernen Variante Fachinger Medium
notierte da die zertifizierte Wasser-Sommelière
Diane Plattner: »Wow, wahnsinnig mineralisch und
richtig aromatisch im Nachgeschmack. (…) Ohne
langes Überlegen gibt es von mir die Bestnote.« Kein
Wunder, dass Staatl. Fachingen (das »Staatlich« im
Markennamen wird stets abgekürzt) seit Jahrzehnten
intensiv die Nähe zu Kulinarik und Wein, aber auch
zur Kaffee- und Teekultur sucht. So kam es etwa in
den 1990er-Jahren zur Partnerschaft des Unternehmens
mit dem Verband Deutscher Prädikats- und
Qualitätsweingüter (VDP) unter der Präsidentschaft
von Michael Prinz zu Salm-Salm.
Um das Geheimnis des Fachinger Wassers zu
ergründen, sind wir an seinen Ursprungsort gereist.
Leicht kommt man nicht in den Betrieb hinein. Die
Sicherheitsschleuse, die aufwendige Prozedur beim
Ausstellen des Besucherausweises – so etwas kennt
man von Weingütern nicht. Aber schnell begreift der
Gast, dass zwar »reiner Wein« eher eine Metapher ist,
»reines Wasser« hingegen ganz und gar nicht. Staatl.
Fachingen, dessen Heilwasser als freiverkäufliches
Arzneimittel gilt, muss GMP-konform arbeiten, also
nach den strengen Good-Manufacturing-Practice-
Standards. Teile der Abfüllanlage, erfahre ich, entsprechen
einem Reinraum für die Produktion steriler
Arzneimittel. Hier ist die Luftqualität vergleichbar
mit der auf einer Intensivstation.
Solch hypermoderne Laborverhältnisse hatte
ich im wildromantischen unteren Lahntal nicht er -
war tet, eher eine mehr oder weniger unberührte
Natur und eine stolze Traditionspflege. Immerhin
zählt sich Staatl. Fachingen, das 1742 als Gründungsjahr
nennt, zu den ältesten eingetragenen Marken
überhaupt, und das Wasser beherrschte das Leben
der Lahn-Anwohner an der Diezer Pforte seit jeher.
Das hat sich nicht zuletzt in den alten Orts- und Ge -
markungsnamen der Region niedergeschlagen. Im
Wort Fachingen, so meinen Sprachforscher, stecke
ein althochdeutsches Wort für »Sumpf«; andere füh -
ren den Namen auf spezielle Wehre zurück, die im
frühen Mittelalter zum Fischfang benutzt wurden.
Das »vortreffliche Sauerwasser« soll
schon früh geschätzt worden sein
Jedenfalls lauten am Ostufer der Kehre der beiden
Lahnschleifen, an die sich der heutige Ort Fachingen
schmiegt, die Flurnamen Ober- und Unterau, was
so viel wie feuchte Niederung bedeutet. An dieser
Stelle, wo der Reiserbach in die Lahn mündet, gab
es zudem eine Quelle, die Anwohner schon früh
als »vortreffiches Sauerwasser« geschätzt haben
sollen. Ausgerechnet durch die Heilung der Verdauungsbeschwerden
eines Schiffers aus Köln soll dann
1740 das Wasser aus Fachingen »entdeckt« und
24 FINE 4 | 2024 WASSER
WASSER
FINE 4 | 2024 25
52 FINE 4 | 2024 CHAMPAGNE
Kellermeister
Dominique Demarville
R WIE REIZVOLL
DAS CHAMPAGNERHAUS LALLIER IST FÜR SEINE R-KOLLEKTION
BEKANNT: DIESE RÉFLEXION-CHAMPAGNER SOLLEN JEWEILS DEN
CHARAKTER EINES JAHRGANGS WIDERSPIEGELN. JÜNGST IST DER
R.021 HERAUSGEKOMMEN, ERSTMALS BEGLEITET VON EINEM ROSÉ
Von PATRICIA ENGELHORN
Fotos LEIF CARLSSON
Die Pressoria ist ein interaktives Museum mit großartiger Terrasse und Blick in die Weinberge. Untergebracht in
der ehemaligen Pommery-Kelterei in Aÿ soll es alle Sinne seiner Besucher ansprechen und ihnen so den Prozess
der Champagnerherstellung näher bringen. Für einen noch milden Herbstabend hat der Sternekoch Thibaut
Spiwack, normalerweise im Pariser Restaurant Anona am Herd, die Museumsküche übernommen. Auch für
ihn gilt der multisensorische Ansatz: Er soll den gut 50 geladenen Gästen ein Menü servieren, das perfekt zum
Champagner passt. Ein leichtes Spiel, möchte man sagen, was passt schon nicht zu Champagner? Aber ganz so
einfach ist es nicht, denn es geht hier nicht um die gastronomische Begleitung irgendeines Champagners. Die
Gerichte sollen vielmehr die Eigenheiten des neuen Réflexion R.021 Brut von Lallier bestmöglich zur Geltung
bringen. Das in Aÿ ansässige Champagnerhaus ist der Gastgeber der Soiree.
Aÿ zählt zu den nur 17 Grand-Cru-Orten Frankreichs.
Das 5000-Einwohner-Städtchen mag nicht so berühmt
sein wie die benachbarten Champagner-Hochburgen
Épernay und Reims, doch der malerische Ortskern erfreut mit
historischen Fachwerk- und Backsteinbauten, der gotischen
Kirche Saint-Brice aus dem 15. Jahrhundert und ungezählten
Namensschildern, die auf die Stammsitze von mehr oder weniger
bekannten Champagnerhäusern hinweisen. Beim Bauernmarkt
werden jeden Freitag auf dem Rathausplatz lokale Käsesorten verkauft
wie der samtige Brillat-Savarin und der würzige Chaource,
dazu Obst und Gemüse, lokaler Honig und die staubtrockenen
Biscuits roses de Reims, eine Art pinke Löffelkekse, die früher
in den Champagner getunkt wurden, was heute kein Mensch
mehr tut. Baguettes, Eclairs, Torten und Quiches gibt es in der
Boulangerie-Pâtisserie von Patrick Baillet, die zu den besten des
Landes gehört. Einen Café au lait kann man gleich nebenan auf der
kleinen Terrasse des Café du Midi trinken, ein Glas Champagner
in der schicken Weinbar La Frigousse auf der anderen Seite.
Nur ein paar Schritte weiter führt die schmale Rue Paul Bert
zu einer eleganten Villa mit schmiedeeisernem Tor, »Champagne
Lallier« steht gut sichtbar auf der vanillefarbenen Fassade.
Früher hatte die Champagnermarke ein schlichtes Lagerhaus
als Hauptquartier, der heutige Bau wurde erst in den 1990er-
Jahren über den labyrinthischen Stollen eines Kreidekellers aus
CHAMPAGNE
FINE 4 | 2024 53
SÜDTIROLS
TAKTGEBER
MARTIN FORADORI HOFSTÄTTER HAT IN SEINEN ENTSCHEIDUNGEN
IMMER WIEDER EIN UNTADLIGES GEFÜHL FÜRS TIMING BEWIESEN,
OB BEIM FAMILIENGUT J. HOFSTÄTTER IN TRAMIN ODER BEI ZUKÄUFEN
WIE DR. FISCHER AN DER SAAR UND MASO MICHEI IM TRENTINO
Von PAULA REDES SIDORE
Fotos CHRISTOF HERDT
Gepflegt und gut gekleidet, strahlt der renommierte Südtiroler Winzer Martin Foradori Hofstätter bei seinem
Besuch in der Wiesbadener FINE-Redaktion zeitlose Eleganz aus. Deutsch mag seine Muttersprache sein, doch
ein angeborenes Gespür für italienischen Stil ist offensichtlich. Seine braune Lederjacke trägt er lässig offen,
seine schwarz gerahmte Brille sitzt tadellos. Er lehnt seine große, schlanke Gestalt an den modernen Bürotisch,
als wäre der eine verwitterte Picknickbank in einer seiner Weinlagen in den Bergen, umgeben von der
Natur und den kupferfarbenen Beeren seiner jahrzehntealten und hoch geschätzten Gewürztraminer-Reben.
Darüber hinaus wirkt Hofstätter wie ein Sinnbild der Ruhe
und Gelassenheit. Dabei verwaltet er Weingüter in Südtirol,
im Trentino und an der Saar und hat sich zum Interview
bereit erklärt, nachdem er gerade aus Ockfen gekommen ist,
um kurze Zeit später weiter nach Paris und im Anschluss daran
nach New York zu reisen. Jede Formulierung, jede Bewegung
scheint mit der nächsten verbunden zu sein, perfekt synchronisiert,
fast achtsam in einem präzisen Timing. Hofstätter trägt
weder eine Uhr, noch scheint er auf eine Uhr zu achten, ganz so,
als gäbe ein Metronom in seinem Inneren den Takt vor.
Bei anderen würde diese Form der Umsichtigkeit vielleicht
aufgesetzt oder reserviert wirken, doch bei ihm ist es, als schwebe
er über den Dingen. Der Winzer sieht aus wie jemand, der sich
keine Sorgen darüber macht, dass der Sand durch das Stundenglas
des Lebens rieselt: zeitlos jugendlich mit bloß ein paar silbernen
Strähnen in seinem gestutzten Bart und vollen Haar, stilvoll
akzentuiert durch das dezente silberne Armband an seinem
Handgelenk. Umso überraschender seine Antwort auf die Frage,
was ihn ausbremsen würde: »Die Zeit steht im Weg. Es ist alles
so schnell geworden – es betriff uns ja alle.«
Dabei hat es die Zeit gut gemeint mit Martin Foradori
Hofstätter, der als Besitzer des Weinguts J. Hofstätter im norditalienischen
Tramin zu Ruhm gelangt ist. Er repräsentiert die
vierte Generation seiner Familie, die in Südtirol Wein erzeugt,
mit einem Portfolio, das die Lagen Barthenau, Steinraffer und
Kolbenhof umfasst und damit die Wiegen für einige der begehrtesten
Weine der Gegend. Sein 2020 verstorbener Vater Paolo
Foradori ist auch als Vater des Südtiroler Pinot Nero alias Blauburgunder
bekannt geworden. Doch trotz diesem beneidenswerten
Stammbaum weicht Hofstätter aus, wenn das Gespräch
auf die Frage nach einer identitätsstiftenden Rebsorte kommt,
die als Aushängeschild der Region dienen könnte.
Stattdessen betont er, nach seinem Empfinden funktioniere
Südtirol am besten, wenn es seine komplexe Terroirvielfalt ausdrücke.
»Ich weiß, das mag oft verwirrend sein, wenn man nach
Südtirol kommt, weil uns eine Leitsorte fehlt«, sagt Hofstätter
84 FINE 4 | 2024 SAAR
SAAR FINE 4 | 2024 85
DANIEL DECKERS
Abbildung: »Bericht über die steiermärkische Landes-Obst- und Weinbauschule bei Marburg a. d. Drau«, 1882
OPFER
POLITISCHER UMTRIEBE
WEINBAU IN DER STEIERMARK VON 1873 BIS 1945
Das Jahr 1873 hat in Europas Geschichte nicht viele Spuren hinterlassen. Zwar lag der Deutsch-Französische Krieg erst zwei Jahre
zurück, doch überließen die deutschen Besatzungstruppen nach der vorzeitigen Zahlung der letzten Reparationen die junge Dritte
Republik schon Ende September wieder sich selbst. Unvergessen sollte dieser Krieg aber nicht bleiben: Wenige Wochen zuvor war in
Berlin die Siegessäule als »Nationaldenkmal der Einigungskriege« eingeweiht worden. Der Plural im Namen jenes weithin sichtbaren
Monuments war nicht zufällig gewählt. Er sollte die Erinnerung daran wachhalten, dass es mehrerer Waffengänge bedurft hatte, um die
Voraussetzungen für die Gründung eines deutschen Nationalstaats unter Führung Preußens zu schaffen. Der kurze Deutsch-Deutsche
Krieg im Sommer 1866 mit der Niederlage Österreich-Ungarns gehörte dazu. Der Eindruck, dem erstarkenden Preußen nichts entgegensetzen
zu können, war jedoch nicht die einzige Schmach für den Kaiserstaat. Was nördlich der Alpen die deutschen Einigungskriege
waren, das waren im Süden die Unabhängigkeitskriege Italiens. 1866 hatte die Habsburgermonarchie zwar kein Territorium an
den Norddeutschen Bund verloren, wohl aber Venetien und die Lombardei an das junge Königreich Italien.
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WEIN & ZEIT LIII
Abbildung: »Das Weinland«, Nummer 3, 1937
Keine zehn Jahre später also herrschte wieder
Frieden in Europa, und nichts deutete
darauf hin, dass dieses neue Gleichgewicht
der Mächte bald wieder aus dem Lot geraten sollte.
Im europäischen Weinbau indes war zu Beginn
der 70er-Jahre an Frieden nicht mehr zu denken, obwohl
auf der Weltausstellung 1873, die nach Paris
und London zum ersten Mal in Wien stattfand, ausgerechnet
die politischen Rivalen Deutschland und
Frankreich zeigten, welchen Genuss ihre fine wines
mittlerweile bereiten konnten.
Nicht, dass in den Weinbergen von Sizilien bis
an die Saale und von Bordeaux bis in den Kaukasus
Krieg ausgebrochen wäre. Aber die Reben, die in
Europa seit unvordenklichen Zeiten kultiviert worden
waren, um Kelter- oder Tafeltrauben hervorzubringen,
hatten es seit Kurzem mit einem Gegner
zu tun, dem sie offenbar nichts entgegenzusetzen
hatten. Ab der Mitte der 60er-Jahre hatte man im
Süden Frankreichs beobachtet, wie gesunde Rebstöcke
mit einem Mal zu verkümmern begannen und
nach wenigen Jahren abstarben. Nicht mehr die eine
oder andere Ernte war gefährdet wie seit Ende der
40er-Jahre durch Oidium tuckeri, den Echten Mehltau.
Der neue, ebenfalls aus Amerika eingeschleppte
Schädling bedrohte den Weinbau insgesamt und
damit die Existenzgrundlage von Millionen Menschen
in ganz Europa.
Allerdings war Frankreich weit weg, und in Österreich-Ungarn
hatte man andere Sorgen als die
Furcht vor einem neuerlichen Seuchenzug. Weder
konnte die stolze Doppelmonarchie bei den Wissenschaften
vom Wein mit Frankreich und Deutschland
mithalten noch bei den Weinen selbst. Denn
während Rheinweine international in hohem Ansehen
standen und in einem Atemzug mit den besten
französischen Crus genannt wurden, genossen
aus Österreich-Ungarn nur die Erträge der Rebgärten
von Tokay und seiner Umgebung eine vergleichba
re Reputation. Aber diese Weine stammten aus
der ungarischen Reichshälfte und waren Dessertweine,
keine Speisenbegleiter wie die Rotweine aus
Frankreich und die Weißweine aus Deutschland.
Alle anderen Erzeugnisse aus den Weiten Ungarns
oder den Kronländern, die sich von Böhmen über
Niederösterreich und die Alpen bis an die Adria und
an die österreichisch-italienische Grenze zwischen
dem Trentino und Venetien erstreckten, waren dem,
was Franzosen und Deutsche auch in Wien präsentierten,
buchstäblich nicht gewachsen.
Eine Enquete-Kommission befand:
Österreichs Rebbau war rückständig
Schwarz auf weiß hatte man den deprimierenden
Befund nicht nur auf den Menükarten des Adels und
der Wirtschaftsbürger. Zum Beginn des Jahres 1873
hatte eine Enquete-Kommission auf Geheiß des
k. k. Ackerbauministeriums eine Vielzahl von Gründen
dafür ausgemacht, dass Weine aus Österreich-
Ungarn im Export nicht mithalten konnten. An erster
Stelle: Rückständigkeit auf dem Gebiet des Weinbaus
wie auch der Kellerwirtschaft. Der Mangel an
Konkurrenzfähigkeit stand im Hintergrund eines
1872 zum Gründungsdirektor
der Obst- und
Weinbau schule in Marburg
an der Drau berufen, dem
heutigen Maribor, prägte
Hermann Goethe als Lehrer,
Forscher und Autor die
Ampelographie seiner Zeit
weiteren Projekts. Im Nachgang zum siebten Internationalen
Statistischen Kongress, der 1869 in Den
Haag abgehalten worden war, sollte eine »Weinproductions-Statistik
für die im Reichrathe vertretenen
Königreiche und Länder« erarbeitet werden. Bei dieser
Gelegenheit wollte die k. k. Statistische Centralkommission
»die bedeutenden Lücken ausfüllen in
der Kenntnis über die Lage der weinbautreibenden
Bevölkerung, die Pflege des Rebstockes und den Zustand
der Kellerwirthschaft, welche in den einzelnen
weinbautreibenden Ländern Oesterreichs so grundverschieden
sind«. Nur anhand dieser Daten könne
die Regierung »mit der nöthigen Heranbildung der
weinbautreibenden Bevölkerung zu den rationellen
Betrieben der Rebcultur und der Kellerwirthschaft
die Grundlage für den die Lebensfrage unseres
Weinbaues bildenden Weinexport schaffen«.
Für das Kronland Steiermark südlich der Alpen,
das über »die günstigsten Bedingungen zum Anbaue
aller Culturpflanzen« verfügte, las sich der
Blick in die Zukunft so: »Hauptsächliches Augenmerk«
müsse man auf die »Beseitigung jenes bunten
Gemisches von Rebensorten der schlechtesten
Gattung und verschiedensten Reifezeit« richten.
Denn bei aller Wertschätzung im Einzelfall sei nicht
zu bestrei ten, »dass die Weine im Allgemeinen den
Anforderungen, die man an ein von der Natur so bevorzugtes
Weinland zu stellen berechtigt ist, nicht
ganz entsprechen«. Das jedoch werde sich bald
ändern, denn in Marburg an der Drau – dem heuti gen
Maribor – entstehe eine reich dotierte Lehr anstalt,
»die in ihren den Anforderungen der Neuzeit entsprechenden
Anlagen vollkommener Rebenpflanzungen
zur Nachahmung aneifern«, zur »Verbreitung
nützlicher Kennt nisse im Weinbaue und der
Weinbereitung bei tragen« und den »Sinn für den
Fortschritt« im Landvolk erwecken werde.
Das neuartige Konzept, Schule und Versuchsanstalt
miteinander zu verbinden, sollte ein Mann
namens Hermann Goethe umsetzen. Der 1837 in
Naumburg geborene Obst- und Weinkundler hatte
sein akademisches und praktisches Handwerkszeug
nicht in Österreich oder Ungarn erworben, sondern
in Württemberg, Sachsen, Baden und dem seit 1866
preußischen Hessen-Nassau. Am 1. Februar 1872
trat Goethe in Marburg jenen Dienst an, der ihn zu
einem der führenden Rebbau-Wissenschaftler seiner
Generation werden ließ und seine Wirkungsstätte
für zehn Jahre zur bedeutendsten Weinbauschule
in Mitteleuropa.
Auf dem ersten Internationalen Önologenkongress,
der aus Anlass der Weltausstellung
für Anfang Oktober1873 nach Wien einberufen
worden war, wurde auf Betreiben Goethes
eine Internationale Ampelographische Commission
eingesetzt, deren aus verschiedenen Ländern stammende
Mitglieder fast zehn Jahre lang quer durch
Europa unterwegs gewesen waren, um sich der vergleichenden
Analyse von Traubenarten zu widmen.
Goethes eigene Bedeutung für die Geschichte der
Ampelograhie lässt sich anhand seiner vielen Publikationen
ermessen. Deren wichtigste, der »Atlas der für
den Weinbau Deutschlands und Österreichs werthvollsten
Traubensorten«, wurde 1876 mit der Lieferung
des 14. und 15. Heftes abgeschlossen. Welche
Arbeit darin steckte, ließ bereits der kleingedruckte
Teil des vollen Titels erkennen: »… mit genauer
Beschreibung der Eigenschaften, Cultur-Methoden
und des Schnittes, der Anforderungen an Lage
und Boden und Angabe des Vorkommens, der Verbreitung,
der Literatur-Citate, der Synonyme etc.« –
all das ergänzte jeweils eine Abbildung der Rebe.
Am Atlas mitgewirkt hatte Hermann Goethes sechs
Jahre jüngerer Bruder Rudolf. Der hatte eine ähnliche
Laufbahn eingeschlagen und leitete mittlerweile im
Rang eines Direktors die Kaiserliche Obstbauschule
Grafenburg bei Brumath im neuen Reichsland Elsass.
Ebenfalls im Jahr 1876 veröffentlichte Hermann
Goethe ein Werk, welches als erste Frucht seiner
Arbeit als k.k. Geschäftsführer der Internationalen
Ampe lo graphischen Commission gelten kann. Hinter
dem Titel »Ampelographisches Wörterbuch« verbarg
sich eine »alphabethische Zusammenstellung
und Beschreibung der bis jetzt bekannten Traubenvarietäten
Deutschlands, Frankreichs, Griechenlands,
Italiens, Österreichs, des Orients, der Schweiz,
WEIN & ZEIT FINE 4 | 2024 99
Gutsdirektor Federico
Radi und Geschäftsführer
Giampiero Bertolini
BRUNELLO
UNTERM MIKROSKOP
104 FINE 4 | 2024 TOSKANA
MIT DER ÜBERNAHME VON BIONDI-SANTI DURCH FRANZÖSISCHE
INVESTOREN HAT VOR ACHT JAHREN IN MONTALCINO EINE NEUE
EPOCHE BEGONNEN – UND MIT IHR EIN BALANCEAKT ZWISCHEN
TRADITION UND ERNEUERUNG: UM DER WIEGE DES BRUNELLO
IHREN RANG ZU SICHERN, MÜSSEN IHRE EIGENHEITEN ANALYSIERT
WERDEN, BIS HIN ZUR MIKROBIOLOGIE JEDES EINZELNEN FASSES
Von RAINER SCHÄFER
Fotos MARCO GRUNDT
TOSKANA
FINE 4 | 2024 105
128 FINE 4 | 2024 INTERVIEW
»ALLES BEGINNT
MIT DER TRAUBE«
WAS SCHRADER CELLARS IN OAKVILLE KELTERT, ZÄHLT ZU DEN
GEFRAGTESTEN ROTWEINEN KALIFORNIENS. WIR HABEN GENERAL
MANAGER JASON SMITH IN LONDON GETROFFEN, DEM WICHTIGSTEN
MARKT FÜR NAPA-CABERNET AUSSERHALB DER USA. IM INTERVIEW
SPRICHT SMITH ÜBER DIE KNAPPHEIT DER SCHRADER-WEINE,
DAS STREBEN NACH PERFEKTION UND DIE ZUKUNFTSSTRATEGIE
DER MUTTERGESELLSCHAFT CONSTELLATION BRANDS
Von PAUL KERN
Fotos MARCO GRUNDT
Jason Smith ist ein bodenständiger Mann. Eigentlich wollte er Koch werden, ehe er sich während der Studienzeit am Culinary Institute
of America noch mehr in den Wein als ins Kochen verliebte. Zum Mittagessen vor dem Interview bestellt er Puligny-Montrachet, erzählt
von der Lese und von seinen Kindern. Wie nahbar dieser Master Sommelier auftritt, lässt fast vergessen, welch einem önologischen
Riesen er vorsteht. »Auf meiner Visitenkarte«, sagt er, »steht einfach General Manager Schrader Cellars. Das ist am einfachsten zu
erklären.« Daneben wacht er aber als Vice President von Constellation Brands Icon Portfolio auch über die Marken und Güter Double
Diamond, To Kalon Vineyard Company, Mount Veeder Winery, Lingua Franca, Booker, My Favorite Neighbor und Harvey & Harriet,
kurz: über alle Premium-Weinmarken mit Ausnahme von Robert Mondavi, das zwar ebenfalls zu der Aktiengesellschaft gehört, aber
als mengenmäßig größte Marke einen eigenen Vizepräsidenten beschäftigt.
Schrader Cellars wiederum hat eher klein
angefangen, genau genommen mit 0,0 Hektar.
Gegründet wurde die Kellerei in Oakville von
Fred »Sparky« Schrader, der sich zunutze machte,
dass man im Napa Valley der 90er-Jahre erstklassige
Trauben nicht zwangsläufig selbst anbauen musste,
sondern sie von spezialisierten Produzenten kaufen
konnte. 2017 setzte sich Fred Schrader dann zur
Ruhe und gab Schrader Cellars in die Hände von
Constellation Brands. Seither bewirtschaftet das Gut
einige der besten Parzellen im To Kalon Vineyard.
FINE Wie verrückt muss man eigentlich sein, um den
besten Cabernet Sauvignon der Welt machen zu wollen?
Jason Smith Man muss vor allem nach Perfektion
streben, auch wenn man weiß, dass man nie perfekt
sein wird. Wir versuchen, uns stetig weiterzuentwickeln
und auch an kleinen Stellschrauben zu
drehen. Das wird vielleicht im Glas nicht immer
sofort offensichtlich, aber wenn man zehn Kleinigkeiten
verbessert, kann man einen Wein schon auf
ein anderes Level bringen. Wir messen uns weniger
mit anderen als mit uns selbst und wollen uns ständig
steigern. Dafür brauchen wir natürlich zuerst einmal
die bestmögliche Lage, und der To Kalon Vineyard
gehört sicher zu den Top-Ten-Weinberglagen der
Welt. Alles beginnt mit der Traube, und dann schauen
wir, dass unser Kellermeister Thomas Rivers Brown
es im Keller nicht vermasselt (lacht).
INTERVIEW FINE 4 | 2024 129
FINE DAS WEINMAGAZIN 1|2025 erscheint
im März 2025
… voraussichtlich mit diesen Themen: CHAMPAGNER Neues von Dom Pérignon
BORDEAUX Die Châteaux Montrose und Tronquoy in Saint-Estèphe sowie die
unterschätzten Châteaux der Familie Gonfrier in und um Cadillac ELSASS Verkostung
des Clos Sainte Hune der Maison Trimbach NAHE Gut Hermannsberg –
100 Prozent Große Lagen LUXEMBURG Domaine Alice Hartmann, Domaine
Henri Ruppert und Château Pauqué TOSKANA Die Tenuta di Trinoro von Vini
Franchetti im Val d’Orcia und Isole e Olena im Chianti Classico WEIN & SPEISEN
Jürgen Dollase isst bei Cornelia Fischer im Restaurant Überfahrt am Tegernsee
WEIN & ZEIT Die Steiermark seit dem Zweiten Weltkrieg KOLUMNEN von
Ursula Heinzelmann und Stuart Pigott
1| 2025 Deutschland € 20 Österreich € 21,00 Italien € 24,50 Schweiz chf 35,00 Benelux € 22,90
144 FINE 4 | 2024
4 197772 520006 01
CHAMPAGNE
DOM PÉRIGNON
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FINE 4 | 2024 145
FINEABGANG
EIN VORBILD HAT
GEBURTSTAG
Einer der bedeutendsten Rieslinge der Welt ist 100 geworden: Gerade
hat die Maison Trimbach ihren 2019er Clos Sainte Hune vorgestellt
und damit das Jubiläum gefeiert. Dazu möchte ich über das Porträt in
dieser Ausgabe hinaus als Ex-Sommelier und Zeitzeuge gratulieren, denn
ohne diesen großartigen Wein sähe es in deutschen Rebbergen und Kellern
heute wohl anders aus.
Als ich ab 1983 die Weinkarte der Ente vom Lehel zusammenstellte, war
der Clos Sainte Hune das leuchtende Beispiel dafür, was ein Riesling sein
konnte. Er beeindruckte uns mit seiner Fülle von Aromen und seiner Wucht,
vor allem aber: Er war trocken. Das machte ihn zu einem wunderbaren
Speisenbegleiter in einer Zeit, in der man Wein hierzulande eher nach dem
Essen als zum Essen trank. Mit diesem Geschmacksbild als Maßstab konnten
wir Winzern verdeutlichen, wohin der Weg aus der Sicht anspruchsvoller
Restaurants führen musste und dann ja auch geführt hat. Heutige Produzenten
könnten sich für den Anstoß zu dieser Entwicklung gegenüber der
Gastronomie manchmal ein bisschen dankbarer und loyaler zeigen, doch das
nur nebenbei. Für die Geschichtsbücher aber sei festgehalten: Das deutsche
Weinwunder hatte seine Wurzeln im Elsass.
Ihr Ralf Frenzel
Verleger und Herausgeber
146 FINE 4 | 2024 ABGANG