RILKE MINIATUREN
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BERND BRÄUER
RILKE
RAINER MARIA
ABER WEIL
HIERSEIN
VIEL IST …
Miniaturen zu Werk und Leben Rainer Maria Rilkes
BERND BRÄUER
RILKE
RAINER MARIA
Miniaturen zu Werk und Leben Rainer Maria Rilkes
Inhaltsverzeichnis:
Januar Seite 3
Worpswede Seite 7
Februar Seite 9
März Seite 13
April Seite 17
Das Briefwerk Seite 21
Mai Seite 23
Juni Seite 27
Juli Seite 31
Blick auf Goethe Seite 35
August Seite 37
September Seite 41
Der Weinliebhaber Seite 45
Oktober Seite 47
November Seite 51
Dezember Seite 55
Über das Werk
Zum 150. Geburtstag von Rainer Maria Rilke, geboren
am 04. Dezember 1875 in Prag, erscheint
das vorliegende Büchlein:
Rilke. Miniaturen zu Werk und Leben.
Angelegt als Jahreskalender, jeweils mit vier Seiten
für jeden Monat, wird ein Rilke-Lebensjahr in
kurzen, bedeutsamen biographischen Daten vorgestellt.
Daran schließt sich ein Ereignis mit Datum
aus dem jeweiligen Monat anderer Jahre
an. Dazu ein Gedicht aus Rilkes Lyrik sowie Auszüge
aus seinem umfangreichen Briefwechsel
mit Dichtern, Malern, Verlegern, Schauspielern,
Kunstmäzenen seiner Zeit. Ein Photo, meistens
das einer Landschaft mit einem Rilke-Gedicht,
vollendet die Monatspräsentation.
Bereichert wird die Schrift durch vier kurze thematische
Beiträge:
Rilke: der Kunstkritiker, der Briefeschreiber, der
Weinliebhaber, der Blick auf Goethe.
Impressum: 2025
Texte und Photos: Dr. Bernd Bräuer, Gelenau
www.berndbraeuerverlag.de
Lektor: Ullrich Bräuer-Müller, Gelenau
Technische Erstellung: Daniel Meyer, Mildenau
Druck: Druckerei Gebrüder Schütze GbR, Wolkenstein
www.druckerei-schuetze.de
1902
Rilke lebt mit seiner Frau Clara in Westerwede bei Bremen;
Auflösung des Wohnsitzes im Oktober 1902.
Oskar Zwintscher, der Maler aus Sachsen, portraitiert Rilke.
Das Manuskript WORPSWEDE über die Maler der
Künstlerkolonie wird fertig.
Gedichtband Das Buch der Bilder erscheint.
August 1902 bis Juni 1903 Aufenthalt in Paris.
Das Buch über den Bildhauer Rodin entsteht.
Rilke in Westerwede, 1902
JANUAR
Aus: MIR ZUR FEIER 1899
3
03 1893
Rilke sendet dem Verlag Cotta sein Gedichtbuch Leben und Lieder.
Du mußt das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und laß dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken läßt.
RILKE an STEFAN ZWEIG 1907:
Sie werden es mir nicht mißdeuten, wenn ich,
in aller Aufrichtigkeit, eingestehe, daß mein Auge
auf Kreise nicht eingestellt ist: ich sehe sie nicht,
so sehr bin ich davon erfüllt, daß es sich immer
und überall um die Einzelnen handelt.
4
15 1909
Rilke schickt seine Frühen Gedichte mit Erläuterungen an seinen Verleger Anton Kippenberg.
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
In Mir zur Feier waren viele Verse, in denen der Sinn
aufflog vom Wort, um ganz dem Rhythmus,
dem Gesang die Stelle zu geben,
Gedichte, die gehört werden wollen,
wie ein Lied und nicht durchforscht auf ihren Sinn.
Stefan Zweig über Rilkes „Neue Gedichte“, 1908
5
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.
RAINER MARIA RILKE: WORPSWEDE
Die weltweit berühmte Worpsweder Künstlerkolonie,
nach dem einst kleinen Moordorf
Worpswede bei Bremen benannt, ist zum Ende
des 19. Jahrhunderts durch die Kunstmaler Fritz
Mackensen, Otto Modersohn und Hans am Ende
gegründet. Bald erweitert sich ihr Kreis durch
Fritz Overbeck, Carl Vinnen und Heinrich Vogeler.
Alle in bedeutenden Kunst-Akademien in
Deutschland ausgebildet.
Ihr großer künstlerischer Erfolg beginnt auf der
Internationalen Kunstausstellung 1895 in München
– 50 Gemälde, Aquarelle und Radierungen
der Künstlervereinigung werden präsentiert und
gefeiert. Dazu Goldmedaille I. Classe für Fritz
Mackensen und Verkauf eines Landschafts-Gemäldes
von Otto Modersohn an die Neue Pinakothek
in München.
Rainer Maria Rilke kommt auf Einladung von
Heinrich Vogeler, den er in Florenz kennengelernt
hat, im Sommer 1900 nach Worpswede. Er
wohnt auf Vogelers Barkenhoff, lernt die Maler
der Worpsweder Künstlerkolonie kennen, bereichert
deren geistiges und kulturelles Zusammenleben
nicht zuletzt durch das Vorlesen seiner Gedichte,
durch seine Erzählungen.
Von 1910 bis August 1902 lebt Rilke mit seiner Frau
Clara Westhoff und seiner Tochter Ruth in Westerwede,
ein Dorf, wenige Kilometer von Worpswede
entfernt. Hier entsteht seine Monographie Worpswede,
Einzelportraits über die Kunstmaler Mackensen,
Modersohn, Overbeck, am Ende und Vogeler
– eingeleitet mit einem umfangreichen Text zur Geschichte
der Landschaftsmalerei. Worpswede, eine
Auftragsarbeit, die der Dichter im Mai 1902 erarbeitet
und fertigstellt; sie erscheint erstmals 1903
im 1835 gegründeten Verlag Velhagen & Klasing.
Diese Schrift befördert nicht nur den weiteren Erfolg
der Worpsweder Künstler, sondern begründet
wohl auch Rilkes Ruf als excellenten dichtenden
Kunstkritiker. Ausgebaut durch nachfolgende Arbeiten
– über den französischen Bildhauer Rodin
und Briefe an Cézanne.
7
Silbe zu rühren. Das war Grammatik. Und
langsam konnte man zur Syntax übergehen …
Und der weite Himmel ist ihm lieb, weil er
seiner kleinen Blumen Licht und Regen ist
und der Glanz auf den Blättern seiner Bäume
und in den Fenstern des weißen Hauses,
das mitten im Garten steht. Er ist der Gärtner
dieses Gartens, … leise geht er auf seine
Wünsche ein, die er selbst erweckt hat …
Fritz Mackensen, Hamme-Hütte
Bei Mackensen steht hinter dem Jagen und
hinter dem Malen ein gemeinsames Gefühl,
das, klar wie ein Quell, aus seinem Herzen
bricht und sein ganzes Wesen mit der
Frische eines Frühlingsmorgens durchtränkt:
seine große, kindliche Liebe zur Natur.
Fritz Overbeck, Stürmischer Tag
Seltsamerweise sind die Bilder Overbecks,
obwohl ihre Farben mit erhobenen Stimmen
verglichen werden konnten, von einer
eigentümlichen Schweigsamkeit durchdrungen,
die kein Laut unterbricht. Es ist schwer
zu entscheiden, ob die Farbstimmen sich
gegenseitig aufheben …
Otto Modersohn, Herbstwetter
Und so ging er denn hinaus Tag für Tag in die
Natur, schrieb ihre großen Worte nach und
ihre kleinen, und ihre ganz kleinen Worte,
streng, gewissenhaft, ohne auch nur an einer
Heinrich Vogeler, Barkenhoff im Schnee
Hans am Ende, Birken am Moorgraben
Hans am Ende malt Musik, und die Landschaft,
in der er lebt, wirkt musikalisch auf
ihn. Darum sieht er sie nicht mit der stillen,
sachlichen Ruhe des Malers an und versenkt
sich nicht in sie mit des Dichters lauschenden
Sinnen. Er ist ergriffen von ihr, hingerissen,
emporgehoben und hinabgezogen.
8
1906
Rilke sendet das Stunden-Buch an Samuel Fischer.
Rodin-Vortrag in deutschen Städten.
Zahlreiche neue Gedichte entstehen: Das Karussell,
Die Kathedrale, Vor dem Sommerregen, Auferstehung …
Rilke in Prag. Tod seines Vaters.
Begegnung mit der Malerin Paula Modersohn-Becker und
Ellen Key in Paris.
Reise mit Frau Clara und Kind Ruth nach Brügge.
Zu seinem Geburtstag ist Rilke den ersten Tag auf der Insel
Capri.
FEBRUAR
Rilke und seine Frau Clara, Rom, 1903
Aus: Das Stunden-Buch 1899 bis 1903
9
19 1910
Rilke reist nach Algier, Tunis und Ägypten (bis Ende März 1911).
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werden den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Paula Modersohn-Becker an Rilke, 1907
Ich bin ein schlechter Briefschreiber, bin überhaupt einer, bei
dem es langsam geht, der warten läßt und selber wartet. Erwarten
Sie nur nichts von mir. Sonst enttäusche ich Sie vielleicht, denn ehe ich
etwas bin das dauert vielleicht noch lange. Und wenn ich es dann bin,
dann bin ich vielleicht nicht das was Sie dachten. … das Beste ist man
geht seinen Weg wie im Traume.
10
09 1912
Rilke weilt in Venedig (bis 11.September 1912).
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Rilke an Paula Modersohn-Becker, 1907
Wo man Großes erwartet, ist es ja nicht das oder jenes, worauf
man rechnet, man kann gar nicht rechnen und raten; denn es handelt
sich um das Unerwartete, Unabsehbare. Und die Langsamkeit eines Weges
könnte niemanden weniger beirren als mich, dessen tägliche Erfahrung die
großen Maßeinheiten sind, in denen künstlerisches Wachstum zunimmt.
11
Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt,
der drängt
die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.
1913
Vom 25. Februar bis zum 06. Juni weilt Rilke in Paris, von
Spanien kommend (dort vom 01. November 1912 bis 24. Februar 2013).
Begegnungen mit Emile Verhaeren, Romain Rolland, Hugo von
Hofmannsthal, Stefan Zweig in Paris.
Rilke in Leipzig, Weimar, Heiligendamm an der Ostsee, im
Riesengebirge.
Erneut zum Arbeiten in Paris (18. Oktober bis 25. Februar 1914).
Weihnachten feiert Rilke allein; beschenkt sich mit Goethes
Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, 1830.
Rilke 1913
MÄRZ
Aus: Das Buch der Bilder 1902, 1906
13
01 1912
In Duino. Rilke liest täglich sieben bis acht Stunden in Antonio Muratoris
Annalen der italiänischen Geschichte.
Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.
Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht,
und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.
Und machst du nachts deine Stube licht,
um Menschen zu schauen ins Angesicht,
so mußt du bedenken: wem.
Rilke an Helene von Nostitz 1913
Als ich von Spanien nach Paris zurückkam, meine dort weggestellten Möbel
wieder installierend und mich ihrer Umgebung recht erfreuend, war es meine
ganze Absicht, lange, lange, ohne mich zu rühren, in Paris stillzuhalten d. h.
völlig in meinem Raum stillzuhalten mit dem ganzen ungeheuren Paris rundherum.
Bis vor zwei Wochen glaubte ich auch fest an diesen Plan, aber …
14
18 1915
Rilke bleibt in München; er erwartet seine Musterung für den Kriegsdienst.
Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Helene von Nostitz an Rilke 1913
Wie freue ich mich, Sie wohl doch noch in Heiligendamm zu wissen und
dann tut es mir auch wieder leid, diese Spaziergänge zu verfehlen, die wir
noch hätten machen können, Ihrer so glücklichen Eingebung folgend, die uns
immer vor neue Wunder brachte. Vielleicht entdecken wir sie auch in Leipzig.
15
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
1916
Rilke wird ins Kriegsarchiv in Wien überstellt. Schreibtisch-
Arbeit.
Begegnung mit Karl Kraus und Oskar Kokoschka in Wien sowie
mit Hugo von Hofmannsthal in Rodaun bei Wien.
Rilke wird demobilisiert und scheidet aus dem Kriegsdienst aus.
Lou Albert-Lasard portraitiert Rilke.
Tod Emile Verhaerens, Rilkes Dichterfreund.
Rudolf Kassner bei Rilke.
Rilke 1908
APRIL
Aus: Neue Gedichte 1907, 1908
17
15 1918
Katharina Kippenberg, Insel Verlag, Lektorin, Schriftstellerin,
in München; betreut von Rilke (15. April bis 05. Mai).
Einmal, wenn ich dich verlier,
wirst du schlafen können, ohne
daß ich wie eine Lindenkrone
mich verflüstre über dir?
Katharina Kippenberg an Rilke 1917
Warum nie Goethe sehen dürfen? Wie eine Blume in jeden Raum paßt, so
paßt er in jede Menschlichkeit, das ist wahr. Kennen Sie seine Gedichte, …?
Sie sind so rein, seine Gedichte, sie sind so rein – so unsagbar rein. Kein
Nebengeräusch, kein kleinster Spalt, zwischen Sagenwollen und -können. …
Und die tausend Sinne und Seelen, die er hatte.
18
17 1921
Rilke sendet Rudolf Zimmermann, Pfarrer in Berg, Schweiz,
für dessen Oster-Predigt: Erinnerungen an Tolstoi von Maxim Gorki.
Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möchte ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Rilke an Katharina Kippenberg 1921
Das Wachstum in der Insel (d. g.) unabhängig vom Jahr, hat keinen Moment
nachgelassen; Bücherschränke und Laden sind mir voll schönster Beweise.
An Vorschlägen, an denen ich irgendwie beteiligt bin, wird Ihrem lektorlichen
Wirken auch Einiges mit der Zeit vorkommen …
19
Mit einem Dach und
seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile
der Bestand
von bunten Pferden,
alle aus dem Land,
das lange zögert,
eh es untergeht.
Zwar manche sind
an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut
in ihren Mienen;
ein böser roter Löwe
geht mit Ihnen
und dann und wann
ein weißer Elefant.
20
RAINER MARIA RILKE: DAS BRIEFWERK
Rainer Maria Rilke hat ein umfangreiches, ein
bedeutendes literarisches Briefwerk geschaffen;
es gilt als ein wesentlicher Bestandteil seines
dichterischen Schaffens.
Wo auch immer er lebt und arbeitet,
er schreibt wohl nahezu täglich
Tagebuch, dann lange, ausführliche
Briefe. An berühmte Zeitgenossen,
an Verleger, an Dichter und Denker;
er antwortet auf schriftliche
Anfragen, auf Briefe von Ratsuchenden
...
Dies alles ist Ausdruck seiner Gesprächswünsche,
seines Nachdenkens
über sich und die ihn umgebende
Welt. Aber in seinen Briefen
Rilke, Handschrift,
sein erster Brief an L. A.-Salomé, 1897
entfaltet Rilke auch sein Verständnis
von Dichtung, von Kunst überhaupt;
sie sind nicht zuletzt auch eine Art Schreib-
Einübung für seine Dichtung.
Die vorliegende Schrift dokumentiert dieses faszinierend
zu lesende Briefwerk in kurzen ausgewählten
Briefen von und an Rilke. Da sind die
Dichter: Stefan Zweig, die Maler Paula Modersohn-Becker
und Leonid Pasternak,
die Verleger Katharina und Anton
Kippenberg, der Kulturphilosoph
Rudolf Kassner, der polnische Übersetzer
Witold von Hulewicz, seine
Mutter Sophia Rilke, der Komponist
Ernst Krenek, die Fürstin von Thurn
und Taxis … Die meisten dieser
Briefwechsel sind umfassend dokumentiert
und auch publiziert.
Besonders aufschlussreich für Rilkes
Leben, für sein künstlerische
Schaffen sind seine sensiblen, oft
schwärmerischen, oft kühnen Liebesbriefe
an die von ihm begehrten
Frauen. Vor allem an Lou Andreas-Salomé, die
innig Geliebte, die Ratgeberin, die verständnisvolle,
lebenslange Vertraute.
21
Rilke 1897
Lou-Andreas-Salomé 1897
Mai 1897. Rilke, zu Gast bei dem Schriftsteller
Jakob Wassermann in München, begegnet hier
zufällig der 14 Jahre älteren Lou, die ihn offensichtlich
sofort emotional beeindruckt, ja fasziniert.
Denn: Bereits am nächsten Tag nach dieser
Begegnung schreibt er ihr: … es war nicht die
erste Dämmerstunde gestern, die ich mit Ihnen
verbringen durfte. Da gibt´s in meiner Erinnerung
eine, die mich arg verlangen machte, Ihnen
ins Auge zu schauen. Rilke bezieht sich hier
auf einen Essay von der Begehrenswerten, den
er gelesen hat und in diesem Brief schwärmerisch
beurteilt: Ihr Essay verhielt sich zu meinen
Gedichten wie Traum zur Wirklichkeit wie ein
Wunsch zur Erfüllung. Noch im selben Jahr 1897
verbringen sie zusammen einen Sommermonat
am Starnberger See, zwei gemeinsame Reisen
nach Rußland folgen … Sie werden, sie sind ein
Liebespaar. Auf Anraten der erfolgreichen Publizistin
verwandelt Rilke nicht nur seinen Taufnamen
René in Rainer, er verändert seine Handschrift,
sie wird eleganter, vereinfachte, gleichmäßige
Schriftzüge werden zu deren prägenden Kennzeichen.
Anfang des Jahres 1901 beendet Lou zwar
nahezu abrupt ihre Liebesbeziehungen zu Rilke,
doch beide werden, vor allem durch ihren intensiven,
umfangreichen Briefwechsel, tief miteinander
verbunden bleiben.
Wohl über hundert Rilke-Briefe an die Verehrte
sind erhalten, erforscht und gedeutet. Der Rilke-
Gedicht-Zyklus, Dir zur Feier, 1897 geschrieben,
ist Rilkes Liebeserklärung an Lou Andreas-Salomé,
die bereits 1927, ein Jahr nach Rilkes Tod,
unter dem Titel: Rainer Maria Rilke ein einfühlsames,
anschauliches Buch über Werk und Leben
des Dichters publiziert.
22
1899
Rilke in Wien. Begegnungen mit Hugo von Hofmannsthal
und Arthur Schnitzler. Freundschaft mit Rudolf Kassner beginnt.
Immatrikuliert als Student der Kunstgeschichte an der Berliner
Universität (von April 1899 bis August 1900).
Reise nach Rußland – Moskau und Petersburg.
Zu Gast bei Graf Lew Tolstoi; Bekanntschaft mit dem Maler
Leonid Pasternak und seinem Künstlerkreis.
In Meiningen. Gedicht-Kreis Die Zaren entsteht
(aufgenommen in: Buch der Bilder).
Einführung der russischen Schriftstellerin Sophia Schill in das
Werk von Novalis (Friedrich von Hardenberg).
Rilke 1902
MAI
Aus: der Cornet 1899, 1906, 1912
23
07 1900
Rilkes zweite Reise nach und durch Rußland (vom 07. Mai bis 20. August).
Als Mahl beganns. Und ist ein Fest geworden,
kaum weiß man wie. Die hohen Flammen flackten,
die Stimmen schwirrten, wirre Lieder klirrten aus
Glas und Glanz, und endlich aus den reifgewordnen
Takten: entsprang der Tanz. Und alle riß er hin. …
Rudolf Kassner an Rilke 1914
Ich habe mich sehr über Ihren Brief gefreut. Ich schicke wohl keinem
Menschen auf der ganzen Welt meine Bücher mit mehr Beruhigung
als wie Ihnen. Dorthin zu Ihnen kommen sie immer richtig. … Ich kann
gar keine Briefe mehr schreiben, schreibe auch gar keine mehr, habe aber
immer die tiefste Freude über ein gutes Gespräch und an einem.
24
03 1911
Rilke und seine Frau Clara sind mehrere Wochen zur Kur im Sanatorium Weißer Hirsch
bei Dresden. Sie besuchen in dieser Zeit die Internationale Kunstaustellung Dresden
(vom 20. April bis 20. Oktober dauernd).
… Das war ein Wellenschlagen in den Sälen,
ein Sich-Begegnen und ein Sich-Erwählen,
ein Abschiednehmen und ein Wiederfinden,
ein Glanzgenießen und ein Lichterblinden und
ein Sich-Wiegen …
Rudolf Kassner an Rilke 1923
In Ihrem Band sind schöne Gedichte, würdig Ihrer besten.
Wie wundervoll ist das an Egon von Rilke, das ich seiner Einfachheit
allen anderen vorziehe, selbst dem schönen vom Ohr der Erde. Immer
deutlicher wird mir wie Sie an der Grenze von Barock und Expressionismus
stehen. … Ich hätte Ihnen noch viel zu schreiben, besser zu sagen.
25
… in den Sommerwinden,
die in den Kleidern
warmer Frauen sind.
Aus dunklem Wein und
tausend Rosen rinnt
die Stunde rauschend in
den Traum der Nacht.
Aus: Die Weise von Liebe und Tod
des Cornets Christoph Rilke
26
1897
Vortrag über den deutschen Dichter Detlev von Liliencron.
Bekanntschaft mit dem deutschen Komponisten Engelbert Humperdinck.
Rilke liest vor seiner ersten Venedig-Reise in Goethes Schrift: Italienische Reise.
Gedichtzyklus Christus Visionen fertiggestellt.
Erste Begegnung mit Lou Andreas-Salomé. Schriftstellerin. Gleichgesinnte.
Geliebte. Leidenschaftliche Liebesbriefe. Ein Band von Liebes-Gedichten
entsteht (Dir zur Feier).
Rilke ändert seinen Vornamen: aus René wird Rainer. Seine Handschrift wird
zur Kunstschrift.
Gedichtband Advent erscheint Weihnachten mit Widmung für seinen Vater.
Rilke 1902
JUNI
Aus: Dir zur Feier 1897
27
24 1904
Rilke in Kopenhagen. Eine Stadt ohnegleichen, seltsam unaussprechlich, ganz in
Nüancen vergehend … Von da führt die Reise nach und durch Schweden (bis September).
Als Gast bei Hanna Larsson und Ernst Norlind (Maler).
Einmal, am Rande des Hains,
stehn wir einsam beisammen
und sind festlich, wie Flammen –
fühlen: Alles ist Eins. …
Ellen Key an Rilke 1904
Wie freue ich mir Ihnen lieber Rainer Maria Rilke in Schweden
zu begrüßen. Und ich hoffe unser Sommer wird Ihnen gut sein!
(Schwedische Pädagogin, Schriftstellerin)
28
04 1907
In Paris besucht Rilke eine Ausstellung von Frauenbildnissen aus den Jahren 1870 bis 1900;
er begeistert sich vor allem für ein Werk des französischen Malers Édouard Manet.
… Meine Seele spürt,
daß wir am Tore tasten.
Und sie fragt dich im Rasten:
Hast Du mich hergeführt?
Und du lächelst darauf
so herrlich und heiter
und: bald wandern wir weiter:
Tore gehen auf .. …
Ellen Key an Rilke 1904
Sehr glücklich bin ich daß Sie mir auch Advent sandte! Immer finde ich
etwas von Ihnen auch in diese, wie Sie sagen, „unpersönliche“ Bücher.
Und ich werde jede Zeile von Ihnen lesen, denn sonst ist es nicht ruhig
in mir geworden – ich kann kein einziges Wort – voll von Ihrer Eigenart
– verlustig gehen!
29
Und wir sind nichtmehr zag,
unser Weg wird kein Weh sein,
wird eine lange Allee sein
aus dem vergangenen Tag.
1908
In Rom, Neapel, auf Capri, Florenz (25. Februar bis Ende April).
Josef Kainz, bedeutender österreichischer Theaterschauspieler,
liest im Großen Musikvereins-Saal in Wien: Rilke Gedichte.
Rilke lebt in Paris (vom 01. Mai bis 31. August).
Vom Verleger Kippenberg, Insel Verlag, erhält der Dichter eine
schöne Sammlung Goethescher Sprüche in Reimen und Prosa.
Zweiter Teil der Neuen Gedichte (so: Spätherbst in Venedig, San
Marco) und Requiem. Für eine Freundin (Paula Modersohn-Becker)
entstehen.
Rilke 1906
JULI
Aus: Requiem für eine Freundin 1908
31
25 1914
Rilke trifft den Dichter Franz Werfel und besucht die erstmals veranstaltete Buchund
Buchgewerbe-Ausstellung BUGRA in Leipzig (dauert vom 06. Mai bis 18. Oktober).
Sag, soll ich reisen? Hast du irgendwo
ein Ding zurückgelassen, das sich quält
und das Dir nachwill? Soll ich in ein Land,
das du nicht sahst, obwohl es dir verwandt
war wie die andere Hälfte deiner Sinne?
Rilke an Katharina Kippenberg 1911
Nun bin ich, fast seit dreiviertel Jahren, ganz vom Schreiben abgekommen,
wirklich, es ist mir unhandlich geworden auf eine merkwürdige Art; was ich
seit dem endgültigen Abschluß des Malte durchmache, sieht nach einer
großen Krise aus …
32
25 1917
Rilke lebt auf dem Gut Böckel in Westfalen. … auf Böckel wars ein Goethe, „letzter Hand“,
der mich mit seinen dreiundfünfzig Bänden ausführlich versorgt hielt.
Was widerrufst du dich? Was willst du mir
einreden, daß in jenen Bernsteinkugeln
um deinen Hals noch etwas Schwere war
von jener Schwere, wie sie nie im Jenseits
beruhigter Bilder ist …
Anton Kippenberg an Rilke 1919
Der starke Absatz Ihrer Bücher in der letzten Zeit – wir drucken Auflage und
Auflage und haben größte Mühe, mit Papier und Druck immer
nachzukommen – hat Ihnen ein sehr erhebliches Guthaben bei uns verschafft,
das uns ermöglicht, ohne alle Sorgen auf eine Reihe von Jahren hinzublicken …
33
Bist du noch da? In welcher Ecke bist du?
Du hast so viel gewußt von alledem
und hast so viel gekonnt, da du so hingingst
für alles offen, wie ein Tag, der anbricht.
RILKE: BLICK AUF GOETHE
Rilkes Blick auf Goethe hat sich in seinem Lebensgang,
im Verlaufe seiner Reife als Dichter,
seinen sich ausformenden Auffassungen von
Kunst, seinen literarischen Werken etc. verändert
und entfaltet. Keine Schrift hat Rilke darüber publiziert.
Er erschließt sich dem Leser vor allem
aus seinem umfangreichen Briefwerk.
In seiner frühesten Jugendzeit, so ist aus Briefen
an seine Mutter zu entnehmen, bedeuten ihm
Goethes Werke sehr viel; er kennt diese, liest und
deutet sie. So schreibt er, daß er einen ganzen
Abend sich in Goethes Wahlverwandtschaften
weinend vertieft hat und Ansichten und Gefühle
über Wilhelm Meister in einigen vollempfundenen
Zeilen niederzulegen gedenkt. Goethes Gedichte,
dessen Briefroman Die Leiden des jungen
Werther und Faust beschäftigen und berühren
den Jüngling Rilke.
Von Goethes Werken wendet Rilke sich in seiner
beginnenden literarischen Reife ab. Die tiefere
Ursache für diese Abkehr besteht wohl darin:
Rilke konnte kein großes Vorbild, keinen großen
Führer … gebrauchen, wenigsten keinen, der
ganz ähnliche Leistungen vollbracht hatte, wie
die, die er sich selber vorgenommen hatte (Eudo
Mason, 1958). So ähnlich äußert sich auch Katharina
Kippenberg, die bedeutende Goethe- und
Rilke-Kennerin: Der tiefere Grund seiner Zurückhaltung
aber war wohl der gesunde künstlerische
Instinkt, sich durch die Mächtigkeit dieses Genius
nicht beirren zu lassen und erst noch sicherer in
sich selbst zu werden, ehe er ihm nahe trat.
Rilke besucht das Goethe-Haus in Weimar, 1911
35
Seine Abkehr von Goethe in dieser Zeit der
Reife haben nicht wenige Literaturenthusiasten
wohl auch in seinem Tagebuchroman Die Aufzeichnungen
des Malte Laurids Brigge gesehen.
Am Ende dieser Prosa-Arbeit kritisiert Rilke den
Geheimrat Goethe, in einer weihevollen Sprache
und ohne daß dessen Name fällt, wegen seiner
wenig einfühlsamen, ja hochmütigen und herzlosen
Antwort-Briefe an die junge Bettine Brentano,
später Bettine von Arnim: Deine Briefe sind mir
sehr erfreulich. … sie erinnern mich an die Zeit,
wo ich vielleicht so närrisch war wie Du … (1835
veröffentlicht Bettine von Arnim diese Briefe unter
dem Titel Goethes Briefwechsel mit einem
Kinde.)
Rilkes Abkehr von Goethe, falls diese je grundsätzlicher
Natur gewesen ist, seine Aussöhnung
mit ihm, scheint tatsächlich mit seiner gefestigten
inneren Haltung als Dichter, eines Dichters mit
erworbener, höchsteigener Sprache begründet zu
sein. Zeitlich vielleicht um die Jahre 1911/ 1912
festzumachen. Wie dem auch sei. Unübersehbar
haben die Verleger Katharina und Anton Kippenberg,
Insel Verlag, dazu wesentlich beigetragen.
Ihre persönlichen Gespräche über Goethe bei
Rilkes Besuchen in Leipzig, umgeben von der
umfangreichen Goethe-Sammlung Kippenbergs,
deren Briefwechsel mit den Einlassungen zu und
über Goethe. Die von den Kippenbergs angeregten
Reisen nach Weimar ins Goethe-Haus. Und
nicht zuletzt Rilkes Bestreben, Goethe Werke
zu erwerben. So beschenkt er sich Weihnachten
1913 mit Goethes Werken. Vollständige Ausgabe
letzter Hand. Nicht zuletzt ein vortrefflicher Beleg
für Rilkes schaffende Hinwendung zu Goethe.
36
1919
Lektüre von Oswald Spengler: Untergang des Abendlandes,
von Goethe: Metamorphose der Pflanzen und von Hermann
Keyserling Reisetagebuch eines Philosophen.
Rilke schreibt für Lou Andreas-Salomé drei Gedichte.
Der Dichter verlässt München, verlässt Deutschland für immer.
In Richtung Schweiz.
In Genf, Bern, Zürich, Sils, Soglio, über das Engadin nach Chur,
Lausanne …
Rilke auf Vortragsreise durch die Schweiz. Sieben Lese-Abende.
Verbringt den Winter in Locarno, im Kanton Tessin (bis Ende
Februar 1920).
Rilke 1918
AUGUST
Aus: Malte Laurids Brigge
37
21 1920
Rilke in Bern (bis 31. August). Im Historischen Museum. Im Schloß Holligen
(… eine solche Allee, ein solches Haus ein Jahr lang, und ich wäre gerettet).
Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht
weinend liege,
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht
meinetwillen …
Rilke an Sophia Rilke, seine Mutter, 1919
… ach ich habe zeitlebens wenig Talent gehabt, Sohn, Enkel und dergleichen
zu sein, wie ich ja auch den Vorwurf auf mir ruhen lassen muß, in meinem
Vatersein nachlässig und unaufmerksam gewesen zu sein. … Dafür sind mir
andere Dinge so dringend auferlegt, daß ich über ihnen sonst Unerläßliches
meine vergessen zu dürfen. … die Anforderungen der Kunst werden immer
unerbittlicher, je weiter man in ihr voranschreitet.
38
14 1922
Rilke sendet der Fürstin Marie von Thurn und Taxis die für sie bestimmte
Reinschrift der Duineser Elegien.
… wie, wenn wir diese Pracht
ohne zu stillen
in uns ertrügen?
Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen. …
Fürstin von Thurn und Taxis an Rilke 1915
Jeder Mensch ist einsam, und muß es bleiben und muß es aushalten und darf
nicht nachgeben und muß die Hilfe nicht in anderen Menschen suchen, sondern
in dem geheimnisvollen Walten, das wir in uns fühlen, ohne es zu kennen oder
zu verstehen. Und wer fühlt es so wie Sie, Sie Gottbegnadeter, Sie Undankbarer!
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Du machst mich allein.
Dich einzig kann ich vertauschen.
Eine Weile bist dus,
dann wieder ist es das Rauschen,
oder es ist ein Duft ohne Rest.
Ach, in den Armen hab ich sie
alle verloren, …
1922
Rilke dichtet im Schöpfungsrausch die Sonette an Orpheus und
vollendet die Elegien, Duineser Elegien genannt.
Lektüre von Werken Franz Kafkas.
Im Garten von Muzot entsteht auf Bitte des Dichters ein Rosengarten
mit über einhundert Rosen.
Werner Reinhart, der Schweizer Kunstmäzen und Rilkes Förderer, kauft
Château de Muzot – Rilke ist in Verhandlungen und Abschlüssen dazu
einbezogen.
Fürstin Marie von Thurn und Taxis besucht Rilke auf Muzot, der ihr die
Duineser Elegien vorliest.
Übertragung von Gedichten des französischen Lyrikers Paul Valéry.
Rilke 1922
SEPTEMBER
Herbsttag
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16 1919
Rilke als Vorleser von Goethes Euphrosyne im Garten
des Palazzos Salis, Kanton Graubünden, Schweiz.
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Rolf Freiherrn von Ungern-Sternberg an Rilke 1921
Sie werden sich gewiss nur flüchtig, oder kaum unseres Zusammentreffens
in Paris vor Kriegsausbruch entsinnen können. Durch gemeinsame Bekannte
– die Fürstin Marie Taxis, die ich kürzliche die Freude hatte, im Kaiser Friedrich
Museum zu treffen, und durch Baron Münchhausen, der längere Zeit in
Ihrer Nähe verbracht hat, erfuhr ich nun Näheres über Sie und Ihre Adresse.
… Entschuldigen Sie mich, … wenn ich mich dazu entschließe, Ihnen … ein
Manuskript von mir zuzuschicken. Es handelt sich um eine Übertragung von
59 aus der Zahl der 93 Stances von Jean Moréas …
42
24 1920
Der Dichter liest in: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde von Bettine von Arnim
(Erstveröffentlichung 1835).
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein,
gieb Ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Rilke an Rolf Freiherrn von Ungern-Sternberg 1922
Dieses Bild zeigt Muzot allerding vor einer, kurz nach 1900 durchgeführten
Restaurierung; doch hat diese zum Glück kaum etwas
verändert oder verdorben, sondern sich begnügt, den Verfall aufzuhalten.
Ein kleiner Garten ist angelegt und eingefriedigt worden
… Die untere Etage enthält eine Salle á manger, ein kleines boudoir
und die Wirtschaftsräume; oben befindet sich mein Arbeitsraum,
mein Schlafzimmer und die (leere) sogenannte Kapelle …
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Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
GROSSER DICHTER – GROSSER WEINLIEBHABER
Aus: Das Kleine Weinjahr, 1923
Aus: Herbsttag. Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie
zur Vollendung hin und jage die letzte Süße
in den schweren Wein.
RAINER MARIA RILKE – DER WEINLIEBHABER
RAINER MARIA RILKE
Weinbergterrassen,
wie Manuale:
Sonnenanschlag
den ganzen Tag.
Rainer Maria Rilke, Dichter, Lyriker, Weltbürger,
hat leise, geheimnisvoll und oft unsichtbar
gelebt. Er hatte kein Haus, keine Adresse, wo
man ihn suchen konnte, kein Heim, keine ständige
Wohnung, kein Amt. Immer war er am Wege
durch die Welt … (Stefan Zweig, Die Welt von
gestern). Er lebt in München,
in Berlin; er arbeitet
und lebt in der Künstlerkolonie
Worpswede, schreibt
über diese Maler, deren
Werk und Persönlichkeit.
Er ist in Paris bekannt mit
dem berühmten Bildhauer
August Rodin, über den er eine beeindruckende
Monographie schreibt. Er reist durch Dänemark,
Schweden, Italien, Spanien, Rußland, wo er Lew
Tolstoi, den großen russischen Dichter, begegnet.
Im Ersten Weltkrieg ist er im Kriegsarchiv in
Wien tätig. Ab 1919 geht er auf Vortragsreisen
durch die Schweiz. Im Schloss-Turm von Muzot,
Weinbergterrassen, wie Manuale:
Sonnenanschlag den ganzen Tag.
Dann von der gebenden Rebe zur Schale
überklingender Übertrag.
in der Nähe von Sierre, Kanton Wallis, Schweiz,
findet er seine letzte Wohnstätte (1921 bis 1926).
Seine große Liebe aber ist die Stadt Paris, die
ihm wohl am besten ermöglicht, seine Person,
sein Persönliches gut zu verbergen und eine vollkommene
dichterische Existenz zu führen. So ist
es nicht verwunderlich,
daß Rilke, auch in den Augen
seiner Zeitgenossen,
zwar als Weinliebhaber
gilt, aber welche Weine er
bevorzugte, wo und wie er
seine Weine trank, wie er
diese zelebrierte, wer ihm
die Weine lieferte, wie er Wein und Speisen zusammenbrachte,
eher im Dunklen bleibt.
Der Dichter ist mit vielen geistvollen Menschen
seiner Zeit zum Gespräch, zur Unterhaltung zusammengekommen.
Nicht selten trifft man sich
auch in kleinen gemütlichen Restaurants. Hier
kann Rilke unbefangen sein, herrlich bildhaft
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erzählen, gespannt den Schilderungen Anderer
lauschen, ihnen offen, neugierig und sensibel
begegnen, heiter sein. Französische, italienische
Weine, die man sicher dabei getrunken hat, mögen
dies alles befördert haben. Keiner hat aber
letztendlich in die künstlerische Werkstatt von
Rilke schauen können. Daß er große und lange
Schaffenskrisen durchlebt, dann aber wieder in
kürzesten Zeiten nahezu rauschhaft Großartiges
erschafft, darüber hat er in seinem umfänglichen
Briefwerk geschrieben. Man mag vermuten, daß
in jeder dieser Lebensphase der Wein den Dichter
treu begleitet hat.
Daß Rilke ein großer Wein-Liebhaber ist, ihn als
ein großartiges Kulturgut bewertet, scheint vor
allem auch in seiner Dichtung, seiner Lyrik auf.
So lese man Das kleine Weinjahr (1923, Zyklus
von sieben Gedichten für Werner Reinhart, seinen
Gönner und Freund), in dem Rilke alle Sinne
bemüht, um das Werden des Weines und den
Genuss am Wein zu erfassen: So wie Jakob mit
dem Engel rang, ringt der Weinstock mit dem
Sonnenriesen / diesen großen Sommertag und
diesen Tag im Herbst, bis an den Untergang …
Und: In einem wohl der schönsten deutschen
Gedichte Herbsttag hat der Dichter den kaum
spürbaren Übergang vom Sommer zum Herbst,
die beginnende Herbststimmung, die bevorstehende
Weinlese, die Freude und Melancholie,
die gleichermaßen damit verbunden sind, in
vollkommene Lyrik verwandelt: … Befiehl den
letzten Früchten voll zu sein / gieb ihnen noch
zwei südlichere Tage / dränge sie zur Vollendung
hin und jage / die letzte Süße in den schweren
Wein. …
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1923
Rilke empfängt im Verlaufe des Jahres viele Freunde, Gäste auf Muzot, darunter
Carl Burckhardt, die Fürstin Marie von Thurn und Taxis, Rudolf Kassner.
Sonette an Orpheus und Duineser Elegien erscheinen. Auch in Prachtausgaben.
Uraufführung: Das Marienleben. Für Sopran und Klavier von Paul Hindemith.
Nach dem gleichnamigen Gedichtzyklus von Rilke. In Donaueschingen.
Der Dichter zur Behandlung im Sanatorium Schöneck am Vierwaldstätter
See.
Besuch der Oskar-Kokoschka-Ausstellung in Zürich.
Das kleine Weinjahr, sieben Gedichte, entsteht. Für den Freund und Gast-
Freund Werner Reinhart (Besitzer von Muzot).
Rilke 1917
OKTOBER
Aus: Sonette an Orpheus (XXII)
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22 1920
Rilke in Paris (bis 30. Oktober). Herrliche Herbsttage. Brief an André Gide.
Begegnung mit dem französischen Schriftsteller Paul Reboux.
Wir sind die Treibenden,
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.
Rilke an Professor Dr. Wilhelm Fließ 1921
Daß Ihre Arbeit stetig im Stillen fortschreite, ist ja das durchaus Beste, was
man von einer unsrigen Arbeit berichten kann. Die meine leidet immer
noch zu sehr unter den Unterbrochenheiten der letzten Jahre; einmal sind ja
tatsächlich deren Nachwirkungen noch nirgends überwunden …, andererseits
hat mir schon allein die Erfahrung, daß eine solche Unterbrechung dem
Geistigen kann bereitet werden … eine Schreckhaftigkeit in meinem Blut
zurückgelassen, die die Konzentrierung … eigentümlich erschwert.
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24 1924
Rilke empfängt Witold von Hulewicz, den polnischen Übersetzer seiner
Werke. So Auguste Rodin, Gedichte (als Anthologie), Das Stundenbuch.
Alles das Eilende
Wird schon vorüber sein;
denn das Verweilende
erst weiht uns ein.
Rilke an Witold von Hulewicz 1922
Für die wirkliche und gültige Einschätzung Rodins und seines Werkes
wird, was ich vor zwanzig Jahren schrieb …, nicht vom wesentlichsten
Beitrag sein; abgesehen von meiner allzu jugendlichen Einstellung, fehlte
es mir an Distanz, und die ganze Art meiner Nähe zu dem Meister war
einseitig, völlig bestimmt durch das, was mir von ihm zu erfahren und zu
lernen nötig und hilfreich war.
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Knaben, o werft den Mut
nicht in die Schnelligkeit,
nicht in den Flugversuch.
Alles ist ausgeruht:
Dunkel und Helligkeit,
Blume und Buch.
1924
Zahlreiche neue Gedichte; auch in französischer Sprache – darunter der
Gedichtzyklus Les Roses (erscheint postum).
Auf Anfrage nach Einflüssen auf sein Werk nennt Rilke unter anderen die
Dichter Jens Peter Jacobsen, Detlev von Liliencron, Richard Dehmel,
Hugo von Hofmannsthal.
Fünf Gedichte sendet Rilke an Katharina Kippenberg für den Insel-Almanach
1925.
Der französische Dichter Paul Valéry bei Rilke auf Muzot.
Autobiographisches Dokument in Briefform entsteht auf Anfrage.
Begegnungen und Gespräche mit dem Komponisten Ernst Krenek auf Muzot.
Erneut im Sanatorium Val-Mont (24. November 1924 bis 06. Januar 1925).
Rilke 1924
NOVEMBER
Aus: Advent 1897
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21 1925
Anton Kippenberg, Inhaber des Insel Verlages, sendet Rilke seine Eröffnungsrede
zur Ausstellung seiner excellenten Goethe-Sammlung im Leipziger Kunstverein.
Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt,
und manche Tanne ahnt, wie balde
sie fromm und lichterheilig wird …
Rilke an Ernst Krenek, den Komponisten, 1925
Sie wissen, daß mir, im Allgemeinen, alle Versuche, meine Verse mit Musik
zu überraschen, unerfreulich waren, als eine unerbetene Hinzutat zu einem
in sich Abgeschlossenen. Selten geschah es mir, daß ich Verszeilen aufschrieb,
die mir selber geeignet oder bedürftig erschienen, das musikalische
Element, von einer gemeinsamen Mitte aus, aufzuregen.
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24 1926
Rilkes letzter Brief an Anton Kippenberg, seinen großzügigen
Verleger, seinen Freund. Mit Bitten für seinen polnischen Übersetzer.
… und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin – bereit,
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.
Rilke an Leonid Pasternak, den russischen Maler, 1926
Sie in verhältnismäßiger Normalität lebend und arbeitend zu wissen … ist
mir ein gutes frohes Bewußtsein! Und so sehr ich gegen das Porträtiertwerden
eingenommen bin, wenn es die räumliche Nähe zuläßt und wir
uns wiedersehen, so werde ich stolz sein, in der Reihe Ihrer Modelle einen
bescheidenen Platz einzunehmen.
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Die hohen Tannen atmen heiser
im Winterschnee, und bauschiger
schmiegt sich sein Glanz um alle Reiser.
Die weißen Wege werden leiser,
die trauten Stuben lauschiger.
1925
Januar bis August, letzter Aufenthalt in Paris.
Begegnungen in Paris unter anderen mit Harry Graf Kessler,
Kunstmäzen, André Gide, Schriftsteller, Paul Valery, Lyriker,
Claire Goll, Schriftstellerin.
Gedichte in französischer Sprache entstehen.
Rilke verfasst sein Testament, seinen Grabspruch: Rose, oh
reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.
50. Geburtstag. Allein auf Muzot. Zahlreiche Würdigungen.
Rilke in Paris, 1925
DEZEMBER
Aus: DUINESER ELEGIEN 1912 bis 1922
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04 1875
Rilke wird in Prag geboren, Böhmen.
Zu der Zeit Kronland Österreichs in der Doppel-Monarchie Österreich-Ungarn.
Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar
alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das
seltsam uns angeht. Uns die Schwindendsten. Einmal
jedes, nur einmal. Einmal und nicht mehr. Und wir auch
einmal. Nie wieder.
RILKE an ELLEN KEY 1903:
Mein Kindheitsheim war eine enge Mietswohnung in Prag; es war sehr
traurig. Die Ehe meiner Eltern war schon welk, als ich geboren wurde.
Als ich neun Jahre war, brach die Zwietracht offen aus und meine
Mutter verließ ihren Mann.
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29 1926
Rilke stirbt in der Klinik Val-Mont, unweit von Montreux, Schweiz. Seine Grabstätte befindet
sich auf dem Felskopf oberhalb des Dorfes Raron, Kanton Wallis, Schweiz.
Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen,
kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben,
Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen
nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben;
das, was man war in unendlich ängstlichen Händen,
nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen
wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug.
Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen.
RILKE schreibt, 14 Tage vor seinem Lebensende, an Rudolf Kassner:
… das war es also, worauf meine Natur mich seit drei Jahren eindringlich
vorgewarnt hat: ich bin auf eine elende und unendlich schmerzhafte
Weise erkrankt, … Und ich, …, lerne, mich mit dem inkommensurabeln
anonymen Schmerz einrichten. … Ich wollte, daß sie von dieser meiner Lage,
die nicht die vorübergehendste sein wird, wissen.
57
Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Hause sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgendein Baum an dem Abhang …
QUELLEN-VERZEICHNIS
RILKE:
August Rodin. Insel Verlag. 1984.
Die Gedichte. Insel Verlag. 2003.
Die Weise von Liebe und Tod des Cornets
Christoph Rilke. Insel Verlag 1987.
Duineser Elegien. Insel Verlag. 1947.
Gesammelte Werke in fünf Bänden. Insel
Verlag. 2003.
Heinrich Vogeler. Worpsweder Verlag.
1986.
Sämtliche Werke in 12 Bänden, Insel-
Werkausgabe. 1975.
RILKE Biographie, Chronik, Essay:
Andreas-Salomé, Lou. 1929.
Czernin, Monika. Duino. Rilke und die
Duineser Elegien. 2004.
Decker, Gunnar, Rilke. Der Ferne Magier.
2023.
Dehn, Fritz. Eine Deutung. 1934.
Engel, Manfred (Hrsg.). Handbuch Leben-
Werk-Wirkung. 2004.
Görner, Rüdiger. Im Herzwerk der Sprache.
2004.
Kippenberg, Katharina. Ein Beitrag. 1935.
Leppmann, Wolfgang. Leben & Werk.
1981, 1993.
Mason, Eudo. Rilke und Goethe. 1958.
Raddatz, Fritz. Überzähliges Dasein.
2009.
Schnack, Ingeborg. Aufsätze. 1996.
Schnack, Ingeborg und Scharfenberg,
Renate. Chronik seines Lebens. 2009.
Schwilk, Heimo. Die Frauen. 2015.
RILKE Briefwechsel:
Anton Kippenberg. 1995.
Briefe aus Muzot. 1921 bis 1926. 1935.
Ellen Key. 1993.
Helene von Nostitz. 1976.
Hugo von Hofmannsthal. 1978.
Katharina Kippenberg. 1954.
Paula Modersohn-Becker. 2003.
Rolf Freiherrn von Ungern-Sternberg.
1980.
Rudolf Kassner. 1997.
Stefan Zweig. 1987.
RILKE Photos:
Nalewski, Horst, Rainer Maria Rilke in
seiner Zeit. 1985.
Schnack Ingeborg, Rilkes Leben und Werk
im Bild. 1956.
ABER WEIL
HIERSEIN
VIEL IST …
BERND BRÄUER
RILKE
RAINER MARIA
Miniaturen zu Werk und Leben Rainer Maria Rilkes
59
150 Jahre
RAINER MARIA RILKE
1875 bis 1926
Wer hat uns also umgedreht, daß wir,
was wir auch tun, in jener Haltung sind
von einem, welcher fortgeht? Wie er auf
dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal
noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –,
so leben wir und nehmen immer Abschied.
Bernd Bräuer, Gelenau / Erzgebirge
www.berndbraeuerverlag.de