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FOCUS_2024-50

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AUSGABE 50 6. Dezember 2024 € 5,20 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER 2024 /// ADC GRAND PRIX 2024

Pflichtjahr für

Deutschland

Wehrdienst, Pflege,

Soziales: Braucht unser

Land das wirklich?

Das Modell

Javier Milei

Taugt seine liberale

Radikalität als

Vorbild für die FDP?

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Raus aus der Perfektionsfalle:

So vermeiden Sie zu hohe Belastung und Burnout


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„Nur mit Wissen und

Erfahrung kann ich

vorausschauend handeln.“

Elisabeth Pähtz | Schachgroßmeisterin

Kompetenz zahlt sich aus.

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EDITORIAL

Milei-Mania?

Vor einem Jahr wurde der Rambo-Liberale

Javier Milei Argentiniens Präsident.

Warum findet FDP-Chef Christian Lindner,

Deutschland sollte ein „bisschen mehr Milei“

wagen? Lesen Sie ab Seite 44, was der

Argentinier zerstört hat – und was erreicht

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Fotos: Sigrid Reinichs für FOCUS-Magazin, Ciaran McCrickard

Franziska Reich, Chefredakteurin

Der gute Herr Steinmeier ist ja

eher ein Präsident von trauriger

Gestalt. Belanglose Bürgergespräche.

Döner-Scham

in Istanbul. Kein Reiz, kein

Charme, kein Thema. Am

vergangenen Dienstag aber

krallte sich das Staatsoberhaupt bei einer

Veranstaltung in Berlin ein Thema, das

das Land seit einiger Zeit in Wallung

bringt: das Pflichtjahr. Ein Jahr für die

Gemeinschaft – in Sozialeinrichtungen

oder Bundeswehr. Ein Jahr der gesellschaftlichen

Verantwortung für Männer

und Frauen. „Die soziale Pflichtzeit führt

dazu, dass wir uns mindestens einmal im

Leben anderen Menschen widmen, mit

denen wir im Alltag wenig zu tun haben“,

sagte Steinmeier und berief sich auf einen

großen Denker. Den US-amerikanischen

Politologen Francis Fukuyama interpretierte

er mit den Worten: „Damit individuelle

Freiheit für alle lebbar ist, braucht sie

gesellschaftliche Bindungen, sie braucht

Menschen, die Verantwortung füreinander

übernehmen, weil sie das Menschsein

des Gegenübers erkennen und bereit sind,

dafür einzustehen.“

Am Abend fragte ich zu Hause die Jugend:

„Ein Jahr Bundeswehr oder Altenheim

– eine gute Idee?“

Eine Auswahl der Antworten:

„End-irre!“

„Und was ist mit meiner Freiheit?“

„Dann amputier ich mir ein Bein!“

Der einst normale gesellschaftliche

Dienst scheint heute wie der verrückte

Anschlag eines autoritären Staates.

Es war im Jahr 2011, als, nach 55 Jahren,

die Wehrpflicht ausgesetzt und damit

Hunderttausende aus der Verpflichtung

gegenüber der Gesellschaft entlassen

wurden. Rund 750000 Menschen gehören

zu einem Jahrgang. Fast zehn Millionen

hätten seither ihren Dienst für dieses Land

tun können. Doch die Welt schien friedlich.

Die Jugend sollte schneller in Jobs

gebracht, die Bundeswehr geschrumpft

und zur Berufsarmee umgebaut werden.

Günstiger, effizienter, hurra. Das Ende der

Wehrpflicht wurde – obwohl unter einer

CDU-Kanzlerin exekutiert – nur in Unionskreisen

bedauert, der Rest der Republik

freute sich über Freiheit, Party und den

Pyrrhussieg pazifistischer Träume.

Heute kann die Bundeswehr mehr als

20 000 Dienstposten nicht besetzen, im

zivilen Leben fehlen Pflege- und Kita-

Kräfte. Doch im Report meiner Kollegen

ab Seite 30 geht es weniger um den Mangel

an Arbeitskräften als um grundlegende

Fragen: Was kann die Gesellschaft gewinnen,

wenn jeder junge Mensch ein Jahr

„Früher war der Pflichtdienst

normal, heute

scheint er der Jugend irre“

ihrem Zusammenhalt widmet? Wie verändert

sich sein Bewusstsein, wenn er ein

Jahr lang in die Wirklichkeit einer bettlägerigen

Frau blickt? Oder Waffen putzt

und Nachtmärsche durchsteht?

Union, SPD und Grüne haben unterschiedliche

Konzepte, doch es eint sie die

Einsicht, dass die Debatte geführt werden

muss. Die nächste Bundesregierung hat

schon bald die Chance, sich auf ein neues

Füreinander zu verständigen.

Denn vielleicht braucht unsere Demokratie

gerade jetzt diese Brücken zwischen

Generationen und Gruppierungen dringender

denn je. In Zeiten unversöhnlicher Egoismen

sollten mehr Menschen das Glück

erleben, Verantwortung zu übernehmen.

Für die alltäglichen Herausforderungen

all jener, die Unterstützung brauchen. Für

Frieden und Sicherheit dieses Landes.

Herzlich Ihre

FOCUS 50/2024 3


Hartes Schicksal

Junge Überlebende

aus Gaza und ihre

Kriegsverletzungen

Seite 24

Hart wie Stein

Fünf Jahre danach

wird Notre-Dame

wieder eingeweiht

Seite 18

Harte Schule

Das legendäre

„Tantris“ hat einen

jungen Koch

Seite 86

Hardliner

Bricht unter

Donald Trump

ein Handelskrieg

aus?

Seite 48

Harter Sparkurs

Wachsende

Popularität:

Präsident

Javier Milei

Seite 44

Weiches Licht Noch keine Geschenkideen? Lassen Sie sich inspirieren! Seite 92

4 FOCUS 50/2024


INHALT NR. 50 | 6. DEZEMBER 2024

Titelthema

44 Das Jahr der Kettensäge

Mit unorthodoxen Methoden unterzieht

Präsident Javier Milei sein Land einer

Schocktherapie, die auch Politikern in

Deutschland gefällt. Aber wirkt sie denn?

Wissen

71 Leben auf dem Mars

Kilometer unter der Oberfläche des Planeten

könnten Methan-Bakterien existieren

Titel: Illustration: Moor Studio/iStock

60 Dem Burnout entgehen

Rechtzeitig Strategien gegen Überforderung

entwickeln: wie Sie merken, dass Sie

auf das Erschöpfungssyndrom zusteuern

63 Stress für die Seele

Von fehlender Anerkennung und mangelnder

Fairness: was vor den sechs größten

Belastungen am Arbeitsplatz schützen kann

66 „Auch Busfahrer fallen mir auf“

Facharzt Gernot Langs nennt besonders

gefährdete Berufe und beschreibt die Grenze

zwischen Burnout und Depression

Agenda

24 Out of Gaza

Die Fotojournalistin Samar Abu Elouf

hat Überlebende aus dem Gazastreifen

in Katar getroffen

Politik

30 Ein Jahr für Deutschland

Der Bundeswehr fehlen Soldaten, den

Kitas Betreuer, der Pflege die Helfer.

Also: Wer packt an? Wie die Debatte über

einen Pflichtdienst das Land aufwühlt

47 Sie sagen jetzt, wo’s langgeht

Misstrauensvotum gegen die

Regierung: warum Frankreich nun das

politische Chaos droht

Wirtschaft

48 Countdown zum Handelskrieg

Trump droht mit Zöllen, während sich

US-Konzerne in Europa um Steuern drücken.

Der Unmut wächst

54 „Die Energiewende ist zu teuer“

Der Chef des Energiekonzerns EnBW,

Georg Stamatelopoulos, fürchtet

wachsende Proteste im Volk und fordert

mehr Markt in der Energiepolitik

58 Geldmarkt

Viel zu hart

Die Zahl der Burnout-Fälle in

Deutschland nimmt stetig zu

Seite 60

Kultur

72 „Der Name dieses Landes ist Hölle“

Jedes Jahr im November kommen Literatur-

Aficionados im mexikanischen Cuernavaca

zusammen, um Malcolm Lowry und seinem

Roman „Unter dem Vulkan“ zu huldigen

78 Schauen wir mal

Keine Zeit fürs Kino gehabt? Oder vom

Angebot der Plattformen überfordert?

FOCUS kürt die zehn besten Filme und

Serien des Jahres zum Streamen

Leben

86 Le Créateur

Im „Tantris“ in München schrieben Sterneköche

wie Eckart Witzigmann deutsche

Gourmetgeschichte. Benjamin Chmura hat

nun ein neues Kapitel hinzugefügt

92 Dann schenk mal schön!

Wer angemessen beschenken möchte,

sollte früh mit dem Brainstorming

beginnen. Unsere 24 Geschenkideen

für Sie könnten dabei helfen, das Richtige

zu finden

96 Fahre lieber ungewöhnlich

Der Nissan Qashqai e-Power befriedigt

viele Bedürfnisse: Sein Kombi-Antrieb

bietet elektrotypischen Antritt, aber auch

eine hohe Reichweite

Fotos: Petit Tesson, Agustin Marcarian/beide REUTERS, Samar Abu Elouf,

Evan Vucci/dpa, Jörg Lehmann Illustration: Jannik Stegen

38 Sprache wie in der Männerumkleide

Die FDP-Politikerin Susanne Seehofer

kritisiert den Umgang ihrer Partei mit dem

Ampel-Aus. Und wünscht sich eine ernsthafte

Debatte über die Zukunft des Landes

40 „Kein Feigenblatt“

Er ist das neue soziale Gewissen der CDU.

Dennis Radtke über Schmutzkampagnen,

falsche Wortwahl bei der Union – und

wofür er Friedrich Merz dankbar ist

42 Der andere Trump

Seine Nahostpolitik könnte dem künftigen

US-Präsidenten einen Platz

in der Geschichte sichern, mit dem er

nicht gerechnet hat

3 Editorial

8 Kolumne von

Jan Fleischhauer

11 Nachrichten

12 Fotos der Woche

18 Grafik der Woche

Notre-Dame

20 Menschen

70 Praxisnah

Rubriken

Titelthemen sind rot markiert

98 Die Einflussreichen

100 Leserbriefe

102 Nachrufe

104 Impressum

104 Servicenummern

106 Tagebuch

FOCUS 50/2024

5


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JAN FLEISCHHAUER

Der schwarze Kanal

Tricksen und

täuschen

Deutschland dürfe nicht von Leuten regiert

werden, die die Öffentlichkeit betrügerisch an

der Nase herumführten, sagt die SPD. Okay,

einverstanden. Aber warum ist dann Karl

Lauterbach noch im Amt?

Nach der Veröffentlichung des sogenannten

„D-Day“-Papiers war in den vergangenen

Tagen viel von Täuschung die Rede. Es fielen

Worte wie „ehrlos“ und „charakterlos“.

Vor allem die SPD tat sich mit Vorwürfen

hervor. „Deutschland darf nicht von Leuten

regiert werden, die derart verantwortungslos

und betrügerisch die Öffentlichkeit an der Nase herumführen“,

erklärte der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich.

Wer so spricht, legt an sich selbst hohe Maßstäbe an,

muss man vermuten. Nur, wie verträgt es sich mit den hehren

Ansprüchen, wenn ausgerechnet die SPD an führender

Stelle einen Mann in ihren Reihen hat, der über Wochen

und Monate die Leute an der Nase herumführte? Der ihnen

weiß machte, sie schwebten alle in großer Gefahr, obwohl es

dafür keine wissenschaftliche Begründung mehr gab?

Ein Täuscher und Trickser auf einem wichtigen Kabinettsposten?

Nein, das gibt es doch bei der ehrenwerten SPD

nicht! So etwas ist mit dem anständigen Herrn Mützenich

nicht zu machen, diesem Garanten für Lauterkeit und Ehrlichkeit

in der Politik.

Oder etwa doch?

Doch, es geht, wie sich zeigt. Wir

haben das sogar schwarz auf weiß.

Die „Süddeutsche Zeitung“ und

der WDR haben einen Mailverkehr

zwischen dem Gesundheitsministerium

und dem Robert Koch-Institut

(RKI) ausgewertet, aus dem hervorgeht,

wie Karl Lauterbach im Frühjahr

2022 gegen wissenschaftlichen

Rat weiter Angst und Schrecken

verbreitete.

Die neue Variante des Corona-

Virus verlief sehr viel weniger tödlich,

die Experten im RKI wollten

»

Eine Pandemie der

Ungeimpften hat es nie gegeben,

sie war eine Erfindung

der Politik. Warum dann aber

eine Pflegehelferin entlassen,

weil sie sich nicht

impfen lassen wollte?

«

deshalb die Risikobewertung von „sehr hoch“ auf „hoch“

herabsetzen. Aber das war mit Lauterbach, der auf das politische

Weisungsrecht bestand, nicht zu machen. Die Herabstufung

der Risiko-Bewertung sei „das falsche Signal“,

schrieb der Gesundheitsminister im Februar an den damaligen

RKI-Chef Lothar Wieler.

Auch im März und April sah Lauterbach keinen Grund,

die Risikobewertung der Lage anzupassen, trotz immer

flehentlicher Appelle der Wissenschaftler. Dänemark, Norwegen,

die Schweiz: Alle hatten im Frühjahr die Maßnahmen

gelockert oder ganz aufgehoben. Nur in Deutschland

galt Corona weiter als todbringende Seuche, die keine Kompromisse

erlaubte.

Wäre man Zyniker, würde man sagen, so hat Lauterbach

sich seinen Platz in den deutschen Talkshows gesichert. Ein

Gesundheitsminister ohne Pandemie ist wie ein Wirtschaftsminister

ohne Massenarbeitslosigkeit: ein ganz normaler

Politiker. So kam es dann ja auch. Kaum war das Risiko herabgesetzt,

erlosch das Interesse an Deutschlands oberstem

Virusbekämpfer. Seitdem müht sich Lauterbach wieder

mit profanen Themen wie dem Abrechnungsschlüssel in

Apotheken und Stellenplänen im Krankenhaus.

Es gibt im politischen Apparat einen riesigen Unwillen,

sich noch einmal mit der Pandemie zu befassen. Der Bundestag

hat schon wegen sehr viel geringerer Anlässe Untersuchungssauschüsse

eingesetzt. Aber alle Bemühungen, die

größte Freiheitsbeschränkung der deutschen Nachkriegsgeschichte

erneut in den Blick zu nehmen, stoßen auf erbitterten

Widerstand. Dabei gäbe es viel zu lernen. Zum Beispiel,

welche Fehler man bei der nächsten Pandemie besser

vermeiden sollte.

Aber vielleicht kommt der Anstoß zur Aufarbeitung ja

ganz woanders her. Ich war vor drei Wochen in Lüneburg

beim Verband der niedersächsischen Verwaltungsrichterinnen

und -richter. Der Vorsitzende, Gert Armin Neuhäuser,

hatte mich eingeladen, über

das Bild der Justiz in den Medien

zu referieren. Lüneburg liegt von

München gesehen nicht gerade um

die Ecke. Anderseits: So oft habe

ich nun auch nicht die Gelegenheit,

vor Richtern zu reden. Also

sagte ich sofort zu.

Verwaltungsgerichte sind die

Hüter der Freiheit, wenn man es

etwas pathetisch ausdrücken will.

Immer, wenn der Staat seine Macht

überdehnt, sind sie zur Stelle, um

ihm Einhalt zu gebieten. Soweit

jedenfalls die Theorie. Nach dem

Besuch in Lüneburg hatte ich den

Foto: Markus C. Hurek für FOCUS-Magazin

8 FOCUS 50/2024


KOLUMNE

Immer ein Platz in der Talkshow

Illustration von Sören Kunz

dass man sich die Lektüre sparen könne, weil nichts

Aufregendes drin stehe. Das sah er anders. Was er

dort las, war ziemlich spektakulär, wie er fand. So findet

sich zum Beispiel eine Notiz, aus der hervorgeht, dass

man im RKI relativ früh wusste, dass die Impfung dazu geeignet

war, schwere Verläufe zu verhindern, aber eben nicht

die Ansteckung mit Covid selbst.

Eindruck, dass unter den Richtern eine gewisse Nachdenklichkeit

eingesetzt hat, ob man der Übergriffigkeit des

Staates während der Pandemie wirklich entschieden genug

entgegengetreten ist.

Wie es der Zufall wollte, befand sich unter den Zuhörern

auch der Mann, der zwischenzeitlich als „kleines Richterlein“

Berühmtheit erlangte. So hatte der Ärztefunktionär

Frank Ulrich Montgomery in einem Interview den Vorsitzenden

des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts bezeichnet,

weil der sich erdreistet hatte, die 2G-Regeln im

Einzelhandel in Frage zu stellen. Weder sei belegt, dass

eine solche Regel geeignet sei, die Infektionswelle zu brechen,

noch sei sie verhältnismäßig, so das Urteil. Eine Entscheidung,

die mehr als berechtigt war, wie sich im Nachhinein

zeigt. Funfact: Das „kleine Richterlein“ überragte

alle im Raum um einen Kopf.

Auch Richter Neuhäuser hat mit der Aufarbeitung begonnen.

Zur Verhandlung stand Anfang September der Fall einer

Pflegekraft, die von ihrem Arbeitgeber, einem städtischen

Krankenhaus, fristlos entlassen worden war, nachdem sie die

Impfung verweigert hatte. Die Zulässigkeit von Kündigungen

aufgrund des Infektionsschutzes war bereits vom Bundesverfassungsgericht

als rechtmäßig beschieden worden. Aber da

lagen ja auch noch nicht die RKI-Protokolle vor, wonach die

Impfung gar nicht zuverlässig gegen Ansteckung half.

Neuhäuser hat sich die Protokolle übermitteln lassen, und

zwar alle 2515 Seiten. In Medien wie dem „Spiegel“ stand,

Eine Pandemie der Ungeimpften hat es nie gegeben,

sie war eine Erfindung der Politik. Warum

dann aber eine Pflegehelferin entlassen, weil sie

sich nicht impfen lassen wollte? Wenn die Impfung

keinen Schutz für andere darstellt, entfällt der Kündigungsgrund,

so entschied es Neuhäusers Kammer.

Es kommt nicht oft vor, dass eine untergeordnete Instanz

das Verfassungsgericht korrigiert. Die Richter in Karlsruhe

hätten auf falscher Tatsachengrundlage entschieden, sagt

der Jurist. Hätten sie gewusst, was man heute weiß, hätten

sie vermutlich anders geurteilt. Vor allem aber ist das Urteil

eine schallende Ohrfeige für die Politik, die sich eben nicht

auf den wissenschaftlichen Sachverstand verließ, wie immer

behauptet wurde, sondern sich im Gegenteil über diesen

hinwegsetzte, wenn es ihr opportun erschien.

Abstrakt finden die Grundrechte immer alle toll. Aber

wenn es ernst wird, bleibt kaum etwas übrig, wie wir im

Lockdown gelernt haben. Alles, was eben noch als unverzichtbar

galt, kann morgen schon suspendiert sein: Gewerbefreiheit,

Berufsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Bildungsfreiheit,

Bewegungsfreiheit.

Wobei, das stimmt nicht ganz. Es waren nicht alle Grundrechte

außer Kraft gesetzt. Es gibt ein Grundrecht, das heilig

ist – der Datenschutz. Da kann das Virus noch so wüten

und die Intensivstation noch so volllaufen, da darf niemand

ran. Als zwischenzeitlich mal wieder die Corona-Warn-App

nicht funktionierte, weil irgendwelche Nerds vom Chaos

Computer Club Einspruch erhoben hatten, dachte ich:

Wenn mich Covid dahinrafft, dann wird auf meinem Grabstein

immerhin stehen: „Aber seine Daten waren sicher“.

Im Nachhinein heißt es, man habe es halt nicht besser

gewusst. Doch man wusste Vieles besser. Man wusste zum

Beispiel, dass es geradezu widersinnig war, die Leute dazu

aufzufordern, sich zu Hause einzuschließen, statt an die frische

Luft zu gehen. Trotzdem schickte man Polizisten auf

den Rodelberg, um sie zu vertreiben. Man wusste auch ziemlich

schnell, dass Kinder weniger ansteckend waren als Erwachsene.

Dennoch schloss man über Monate Schulen und

Kindergärten, weil man hundert Prozent sichergehen wollte.

Wir stehen mit der Aufarbeitung erst ganz am Anfang. 7

Jan Fleischhauer ist Kolumnist und Buchautor. Er sieht sich als Stimme

der Vernunft - was links der Mitte naturgemäß Protest hervorruft

FOCUS 50/2024

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DIE FAKTEN AM MORGEN

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NACHRICHTEN

Fakten, Fakten, Fakten – und die Menschen der Woche

Zahlen der Woche

Angst Stahlarbeiter bei

Thyssenkrupp fürchten um

ihre Jobs. Der Konzern will

11 000 Stellen abbauen

Kriege

machen

Firmen reich

Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Ein Drittel der Deutschen befürchtet

finanzielle Einbußen im neuen Jahr

Relative Mehrheit hält Union am ehesten für in der Lage,

die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands zu lösen

Deutschlands Konjunktur

schwächelt, Volkswagen

will Standorte

schließen, Thyssenkrupp

in den kommenden Jahren

11000 Arbeitsplätze abbauen.

Die negativen Schlagzeilen

beeinflussen auch die

Stimmung der Bundesbürger.

In einer exklusiven FOCUS-

Umfrage geben 34 Prozent

an, dass sie im Jahr 2025 mit

finanziellen Einbußen rechnen,

41 Prozent gehen davon

So blicken die Deutschen ins Jahr 2025

FOCUS-Umfragen zur finanziellen Aussicht der Bundesbürger, ihrer

Angst vor Arbeitsplatzverlust und der Kompetenz der Parteien

„Wird das Jahr 2025 für Sie persönlich

in finanzieller Hinsicht im Vergleich zu

2024 besser, schlechter oder gleich?“

(eher) besser

weiß nicht,

k. A.

(eher)

schlechter

8

17 41

34

%

(eher) gleich

(eher) ja

weiß nicht,

k. A.

„Haben Sie Angst davor, Ihren

Arbeitsplatz zu verlieren?“

12

27 61

%

(eher) nein

aus, dass ihre finanzielle Situation

gleich bleibt, 17 Prozent

rechnen mit einer Verbesserung.

Befragt nach ihrem

Arbeitsplatz fürchten 27 Prozent

der Deutschen, diesen zu

verlieren. Wobei die Stimmung

im Osten schlechter ist: Hier

haben 39 Prozent Angst vor

einer finanziellen Verschlechterung.

Von den im Bundestag vertretenen

Parteien erwarten die

Deutschen am ehesten von

CDU und CSU, die wirtschaftlichen

Probleme Deutschlands

zu lösen. Laut Insa messen

30 Prozent der Bürger der

Union diese Kompetenz zu. An

zweiter Stelle folgt die AfD mit

15 Prozent (im Osten 22 Prozent),

an dritter Stelle die SPD

mit 11 Prozent. Den Grünen,

deren Kanzlerkandidat Robert

Habeck derzeit Wirtschaftsminister

ist, trauen nur sieben

Prozent zu, das Land voranzubringen.

Die FDP mit Christian

Lindner liegt mit 4,8 Prozent

(im Osten 1,6 Prozent) nur

knapp vor dem BSW mit 4,4

Prozent (im Osten 6,3 Prozent).

Welcher aktuell im Bundestag

vertretenen Partei trauen Sie es am

ehesten zu, die wirtschaftlichen

Probleme Deutschlands zu lösen?

CDU/CSU 30 %

AfD 15

SPD 11

Grüne 7

FDP 5

BSW 4

Linke 2

keiner 17

weiß nicht/k.A.: 8

Abweichung zu 100 % ist rundungsbedingt

Quelle: Insa

Militärausgaben

2023 im Vergleich zu 2022

in Prozent

–10,0 Italien

–8,5 Frankreich

–1,5 Trans-Europa

Russland +40,0

Südkorea +39,0

Japan +35,0

Israel +15,0

Deutschl. +7,5

Indien +5,8

USA +2,5

China +0,7

Andere +19,0

Quelle: Sipri

Angriff auf die Ukraine,

Bombardements in Gaza,

Gemetzel in Syrien: Kriege

und Krisen treiben die

Nachfrage nach Waffen

an und die Umsätze der

Rüstungskonzerne nach

oben. Um 4,2 Prozent

auf 632 Milliarden Dollar

stieg der Umsatz

der 100 größten Waffenproduzenten.

40 Prozent

mehr stellten russische

Waffenschmieden her. Vor

allem Kampfflugzeuge,

Drohnen, Panzer, Raketen

und Munition für den

Angriffskrieg gegen die

Ukraine. Deutschland

verbucht ein Plus von

7,5 Prozent auf insgesamt

10,7 Milliarden Dollar.

Zum Vergleich: Das größte

ukrainische Unternehmen

setzt 2,2 Milliarden um,

was einem Zuwachs von

69 Prozent entspricht.

Im Westen rüsten zudem

besonders Südkorea (plus

39 Prozent) und Japan

(plus 35 Prozent) auf.

FOCUS 50/2024

11


12


FOTOS DER WOCHE

Kiew

Wenig

Hoffnung I.

Ein Meer aus Flaggen, rot,

grün, schwarz - aber vor

allem: gelb und blau. Sie

erinnern an die im Krieg

gefallenen ukrainischen

Soldaten. Ihre Namen

stehen auf dem Stoff,

ihre Gesichter sind auf

Bilderrahmen zu sehen,

neben Blumensträußen

und Grabkerzen. Am

Montag stand Bundeskanzler

Olaf Scholz an der

Seite des ukrainischen

Präsidenten Wolodymyr

Selenskyj vor dem improvisierten

Denkmal auf

dem Unabhängigkeitsplatz

in Kiew und stellte

ein weiteres rotes Licht

dazu. Der Bundeskanzler

reiste zum zweiten Mal

seit Kriegsbeginn in die

Ukraine, unangekündigt,

aus Sicherheitsgründen.

Im Gepäck hatte er die

Zusage für Rüstungslieferungen

im Wert von

650 Millionen Euro, die

schon längst bewilligt

worden sind und die Ankündigung:

„Die Ukraine

kann sich auf Deutschland

verlassen.“ Viel

Symbolik also.

Die Reise war kurzfristig

geplant worden. Die

Union witterte sofort ein

schnödes Wahlkampfmanöver

und entrüstete

sich über die kamerawirksame

Betroffenheit.

Tatsächlich wird der

Kanzler seit Ende der

Ampel vermittlungsaktiver:

Telefonat mit Putin.

Zweistündiges Gespräch

mit Selenskyj. Vom Zauderer

zum Friedenspolitiker.

Wahlkampf kann

viel verändern. 7

JANNA CLAUDIA WOLF

Foto: Yan Dobronosov/Getty Images

FOCUS 50/2024

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FOTOS DER WOCHE

Zwickau

Wenig

Hoffnung II.

Foto: Hendrik Schmidt/dpa

Szenen wie diese kennt

man sonst nur aus dem

Fußballstadion - rote

Bengalos, die Luft voller

Rauchschwaden. Doch

hier geht es um weit mehr

als Tore, Punkte, Fanbegeisterung

– bei Volkswagen

brennt die Hütte.

Mehrere zehntausend

Stellen will der Vorstand

bei der Kernmarke VW in

Deutschland streichen,

ganze Werke stehen auf

der Kippe. Seit Ende

November die Friedenspflicht

endete, machten

fast 100 000 Mitarbeiter

ihrem Ärger und ihren

Sorgen darüber Luft wie

hier vor dem Werk in Zwickau.

Ob sie Konzernchef

Oliver Blume umstimmen?

Der sprach Mitte der

Woche in Wolfsburg bei

der Betriebsversammlung

erneut von Arbeitskosten

und nötigen Kapazitätsanpassungen:

„Wir können

die besten Autos der Welt

bauen - das spielt aber

keine Rolle, wenn wir damit

kein Geld verdienen.“

Das klingt nicht nach Entgegenkommen.

Montag steigt die vierte

Verhandlungsrunde

zwischen IG Metall und

Konzernspitze. Einen Vorschlag

der Gewerkschaft,

die jüngste Tariferhöhung

in eine Art Arbeitszeitfonds

umzuwandeln und

auf Werkschließungen

zu verzichten, hatte VW

bereits abgelehnt. Kommt

es nicht noch zum Adventskompromiss,

dürfte

die Belegschaft bald die

nächste Stufe zünden –

ganztägige Streiks. 7

PETER STEINKIRCHNER

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FOCUS 50/2024


FOCUS 50/2024

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16


FOTOS DER WOCHE

Aleppo

Wenig

Hoffnung III.

Kinder, Vater, Mutter und

Großeltern drängen sich

auf der Ladefläche des

Pick-ups. Kapuzenpullover

und Wolldecken

schützen sie vor der

Kälte, während sie auf

der Schnellstraße aus

Aleppo flüchten. Viel Zeit

zum Packen blieb der

kurdischen Familie nicht.

Am 27. November haben

Rebellen, die von der

dschihadistischen Gruppe

Haiat Tahrir al-Scham

(HTS), einem Al-Qaida-

Ableger in Syrien, angeführt

werden, im Nordwesten

des Landes eine

Offensive gegen das

Regime von Präsident

Bashar al-Assad begonnen.

Sie vertrieben die

kurdischen Streitkräfte

der Demokratischen

Kräfte Syriens (SDF) aus

Aleppo. Russische und

syrische Kampfflugzeuge

bombardieren seither

die Stadt.

Weil viele Einwohner

eine Wiederholung der

brutalen Kämpfe von

2016 befürchten, die ihre

Stadt verwüsteten, fliehen

sie in die Gebiete der

kurdischen Selbstverwaltung.

Inzwischen hat

der Bürgerkrieg in Syrien,

der 2011 nach einem

Volksaufstand ausbrach,

das Land zerrüttet.

Für Bashar al-Assad

ist der Blitzangriff der

dschihadistischen Kämpfer

die größte Herausforderung

seit Jahren. Er

muss um seine Macht

bangen. Die Kurden aus

Aleppo hingegen fürchten

um ihr Leben. 7

PIERRE HEUMANN

Foto: AFP

FOCUS 50/2024

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GRAFIK DER WOCHE

Auferstehung

im Advent

Nur fünf Jahre nach dem Brand

ist Notre-Dame restauriert.

Jetzt wird die Kirche aller Kirchen

wieder eingeweiht. Ein Wunder

D

as Unglück kann so grauenhaft

und grandios sein, dass es

jenen, die es erleben, die Worte

und die Tränen nimmt. So war es

in der Nacht des 15. April 2019, als

Notre-Dame in Paris in Flammen

stand. Der Vierungsturm, der stolze

und spitze „Pfeil“, war gefallen. Den

Dachstuhl, der „Wald“ aus Tausenden

Eichenbalken, hatte das Feuer

gefressen. Als der Brand schließlich

um 23 Uhr unter Kontrolle war, blickten

die fassungslosen Zeugen an den

Ufern der Seine und vor den Bildschirmen

der Welt auf das, was von der

Kirche aller Kirchen, dem Gottes- und

Menschenhaus, übrig geblieben war:

eine rauchende Ruine. Dem baldigen

Einsturz, dem Untergang ausgeliefert.

Mit dem aber wollten sich die Franzosen

nicht abfinden. Staatspräsident

Emmanuel Macron versprach wenige

Stunden nach der Katastrophe,

Notre-Dame werde wieder aufgebaut.

Schöner als je zuvor. In nur fünf Jahren.

Eine unmögliche Mission. Hatte

das Feuer, über 1000 Grad heiß, den

wuchtigen und doch so filigranen Bau

nicht rettungslos zerstört? Und wer

weiß im 21 Jahrhundert denn noch,

wie Menschen im Mittelalter Kathedralen

bauten?

Das Unmögliche ist vollbracht. Am

8. Dezember wird Erzbischof Laurent

Ulrich in Notre-Dame die Einweihungsmesse

zelebrieren. In 2063 Tagen

haben etwa 2000 Fachfrauen und

-männer – unter anderem: Steinmetze,

Dachdecker, Architekten, Archäologen,

Geologen, Zimmerer, Schmiede

– Notre-Dame wieder auferstehen

lassen.

Man wird und soll sich ruhig darüber

streiten, ob die neue Kathedrale

so schön, so echt und so erhaben wie

die alte ist. Das Glück, das Notre-Dame

verheißt, ist jedenfalls so groß, dass

es jenen, die es erleben dürfen, die

Worte nimmt. 7

Arc de Triomphe

Eiffelturm

PARIS

Louvre

Notre-Dame

Seine

Kirchenschiff als Schutthalde

Jedes Bruchstück, das in der

Kirche lag, wurde dokumentiert.

Bei jedem Stein wurde geprüft,

ob er womöglich wiederverwendet

werden könnte

Gefallen und neu gebaut

Der spitze Vierungsturm (der Pfeil)

stürzte während des Brandes

ein. Er wurde aus Holz wieder errichtet.

Der Turm trägt nun einen

Wetterhahn mit „Feuerflügeln“

Gut und giftig

Auch das neue

Dach ist wieder

mit Bleiplatten

gedeckt.

Der Brand hatte

bleihaltigen

Rauch entstehen

lassen

MARKUS KRISCHER

18 FOCUS 50/2024


Notre-Dame

Riskante

Rettung

Der Nordturm

war während

des Brandes

gefährdet. Wäre

er eingestürzt,

wäre Notre-

Dame verloren

gewesen

69 m

48 m

96 m

127 m

Gotisches Supermodel

Die Pariser Kathedrale sollte nach dem Wunsch ihrer mittelalterlichen

Bauherren alle Kirchen in den Schatten stellen.

So wurde Notre-Dame zum Urbild einer gotischen Kathedrale

35 m

Auge und Ohr

von Notre-Dame

Die große Rosette

wurde restauriert.

Gerettet wurde auch die

große Orgel, deren

8000 Pfeifen einzeln

gesäubert wurden

1300

Eichen

mussten gefällt werden, um

den Dachstuhl, den „Wald“, der aus

dem 13. Jahrhundert stammte,

originalgetreu wieder zu errichten

Illustration: SQUIR Fotos: Getty Images (2), AFP, MEGA

2000

Spezialisten

waren am Wiederaufbau

beteiligt. Die Namen der

Fachfrauen und -männer

stehen auf einer Rolle, die im

Wetterhahn verwahrt ist

Biografie eines Gotteshauses

1163

Baubeginn

1250 erste

Fertigstellung

bis 1363 Umund

Weiterbau

im gotischen Stil

1431 Krönung

von Heinrich VI.

846

Millionen Euro

spendeten 340 000

Menschen aus 150 Ländern

nach der Brandkatastrophe

2019 für den Wiederaufbau

der Kathedrale Notre-Dame.

Etwa 700 Millionen Euro

hat die Restaurierung

bisher gekostet

Wuchtig und fragil

Nach dem Brand

war befürchtet worden,

dass der Bau ohne

das Dach, das ihn von

oben gestützt hatte,

zusammenbrechen

würde

1793 Zerstörung

des Innenraums

durch Revolutionäre

1804 Napoleon

krönt sich selbst

in Notre-Dame

1844 Beginn

einer umfassenden

Restaurierung, Bau

des Vierungsturms

Globaler Schrecken

Der Brand von Notre-

Dame, der am späten

Nachmittag des 15. April

2019 ausbrach und

erst um 23 Uhr unter Kontrolle

gebracht wurde,

galt weltweit als großes

Unglück. Die Ursache

des Brandes ist bis heute

nicht restlos geklärt

Geheimes Wissen

Manche Fertigkeiten

mittelalterlicher Handwerker

und Baumeister

sind verloren gegangen.

Von der hoch komplizierten

Konstruktion des

Dachstuhls etwa existierten

keinerlei schriftliche

Unterlagen

2019 Brand

von Notre-Dame,

Beginn einer Großrestaurierung

12. Jh. 13. Jh. 14. Jh. 15. Jh. 16. Jh. 17. Jh. 18. Jh. 19. Jh. 20. Jh. 21. Jh.

8.12.2024

offizielle

Wiedereröffnung

Quellen: Submarine Cable Map, Entsog

19


MENSCHEN DER WOCHE

Der Aufsteiger

Mein Name ist

Schneehase

Wenn einer weiß, wie man sich anpasst,

dann ist es der Lepus timidus varronis,

uns Laien als Schneehase bekannt: Im

Sommer graubraun, im Winter schneeweiß

und so extrem selten, dass die

Deutsche Wildtier Stiftung unser aller

Aufmerksamkeit auf die Tierart lenken

will, um so Verständnis für ihren wirksamen

Schutz zu wecken. Der Alpenschneehase

wurde von den Spenderinnen

und Spendern der Wildtier Stiftung

zum Tier des Jahres 2025 gewählt. Zur

Auswahl standen auch das Alpenmurmeltier

und der Alpensteinbock.

Der Absteiger

Was schert ihn sein

Geschwätz von gestern

Eine Sache war ihm in seiner Amtszeit

besonders wichtig: sich von seinem

Widersacher charakterlich zu unterscheiden.

Während Donald Trump der

gegen ihn ermittelnden Justiz Verfolgungswahn

vorwarf, versprach US-Präsident

Joe Biden, keinen Einfluss auf das

Verfahren gegen Sohn Hunter wegen

Steuer- und Drogenproblemen zu nehmen.

Jetzt die Kehrtwende. Kurz vor

Verkündung des Strafmasses begnadigte

der Vater den 54-Jährigen. Grund:

unfaire Justiz. Theoretisch hätten dem

Filius über 20 Jahre Haft gedroht.

Der Newcomer

Wird er der Mann

von morgen?

Er ist schon länger eines der bekannten

FDP-Gesichter. Neu ist für Marco Buschmann

die Rolle des Generalsekretärs.

Am Freitag der Vorwoche war Bijan

Djir-Sarai infolge der D-Day-Affäre

zurückgetreten. Er wisse nicht, ob er

die Kraft gehabt hätte, ohne Buschmann

ein „Comeback der FDP“ am

23. Februar anzustreben, sagte Parteichef

Christian Lindner bei der Ernennung

am Montag. Er lobte Buschmanns

Intellekt und das Vertrauensverhältnis

der beiden. Schafft Buschmann Lindners

Comeback?

Power-Paare. Wer mit wem, wer gegen wen

&

vs.

Ein ganz neuer Flirt

So richtige Ur-Grüne kommen wohl nicht mehr aus dem

Staunen raus. Klar, die Ampel ist gescheitert. Also muss

sich die Partei nach möglichen anderen Partnern umschauen.

Aber gleich so? Neu-Parteichefin Franziska Brantner buhlt

offensiv um CDU-Chef Friedrich Merz. Sie hält ihn in mindestens

drei Punkten für den besseren Vielleicht-Bald-Kanzlerpartner

als Olaf Scholz: „Frieden, Freiheit in Europa und

klar an der Seite der Ukrainer stehen“. Bei der restlichen

Grünen-Spitze klingt das ähnlich. Und Merz? Lobt zurück.

Ein ganz schwerer Skandal

Der Zusammenbruch seines Immobilienkonglomerats

Signa hat Investoren Millionen gekostet, Ruinen hinterlassen

und Ermittlungen ausgelöst. Jetzt erreicht die Skandalpleite

von René Benko auch die rechte Regierung von Giorgia Meloni.

Die italienische Justiz hat Haftbefehl gegen den 47-Jährigen

erlassen. Vorwürfe: illegale Parteienfinanzierung, Betrug,

Korruption, Manipulation von öffentlichen Ausschreibungen.

Unter den weiteren 76 Verdächtigen sind auch Politiker,

unter anderem eine Bürgermeisterin und ein Senator.

Fotos: imnago images (2), dpa (5), REUTERS

20 FOCUS 50/2024


NACHRICHTEN

Im Feed

Ein Mann sieht rot

Täglich werden Millionen von Bildern in den sozialen Medien hochgeladen.

FOCUS zeigt jede Woche einen Schatz aus der digitalen Wunderkammer

Medien-Talk

Bundesliga-Konferenz:

Was ist Dazn?

Der Pay-TV-Sender Dazn streamt ab der

kommenden Saison die beliebte Bundesligakonferenz

und alle 79 Sonntagsspiele.

Der Konkurrent Sky hat sich für die kommende

Bundesligasaison die Freitags- und

Samstagsspiele gesichert. Fußballfans

brauchen also künftig mehrere Abos.

Da dachte er wohl, er spielt Eishockey. Im Pokalkracher rammt Bayern-Keeper

Manuel Neuer den Leverkusener Frimpong um. Folge: Rote Karte. Und ein 0:1 gegen

Bayer. Bleiben dem FCB noch Chancen in Meisterschaft und Champions League.

manuelneuer folgen: 14 Mio. Abonnenten

Dieses Bild bekam bis Druckschluss: 189 000 Likes

https://www.instagram.com/manuelneuer

Zitat der Woche

»

Vermeide Alkohol

beim Schreiben

von Beiträgen

und halte dich

von Zynismus fern

«

Aus dem „Handbuch

Wahlkampfwissen“

der SPD-

Parteizentrale

So.

Die Nordgrünen,

Heimat

von Kanzlerkandidat

Robert Habeck,

nominieren

ihre Kandidaten

für die Bundestagswahl

Mo.

Happy Birthday

Horst

Schlämmer.

Sorry, natürlich

ist es sein

Alter Ego Hape

Kerkeling,

das den 60. Geburtstag

feiert

Der Terminkalender vom 8. bis 13. Dezember

Wer in den nächsten Tagen wichtig wird

Di.

In Oslo bekommt

Tomoyuki Mimaki

den Friedensnobelpreis

überreicht. Er

ist Vorsitzender von

Nihon Hidankyo,

einer Organisation

von Hiroshima-

Überlebenden

Mi.

Ampel-Aus. Kanzler

Olaf Scholz (SPD)

beantragt im

Bundestag die Vertrauensfrage.

Abgestimmt

darüber

wird am 16. Dezember.

Gewählt dann

am 23. Februar

Do.

Die Ministerpräsidenten

beraten

über den Rundfunkbeitrag.

Den Co-

Vorsitz hat

Sachsens

Michael

Kretschmer

Fr.

In München wird

das Theaterstück

„proteus 2481“

uraufgeführt.

In einer

tragenden

Rolle des

Satyrspiels:

Samuel Koch

Horst Schlämmer

Samuel Koch

21


NACHRICHTEN

Nachgefragt

„Es war offensichtlich eine

absolut wahnsinnige

Fehlkalkulation“

Ob’s wirkt? Die Wahlkampfbotschaften

der Parteien:

verlässlicher Olaf, schneller

Neuanfang, starke Wirtschaft

und kluge Debatten

Millionen für den Stimmenfang

F

ür den anstehenden Bundestagswahlkampf

verfügt das Bündnis 90/

Die Grünen aktuell über das größte

Wahlkampfbudget. Das geht aus einer

FOCUS-Anfrage an alle acht im Bundestag

vertretenen Parteien hervor.

Wie Wahlkampfmanager Andreas

Audretsch mitteilt, rechnen die Grünen

für den Wahlkampf mit Ausgaben in

„einer Größenordnung, die sich an den

Mitteln aus dem Jahr 2021 orientiert.“

Damals lag das Budget bei 19 Millionen

Euro.

Deutlich weniger Geld hat die SPD

eingeplant. Auch sie orientiert sich an

der Bundestagswahl von 2021. Für den

Einzug in das Kanzleramt wendeten die

Sozialdemokraten „rund 15 Millionen

Euro“ auf.

Wahlkampf

Die Linke, die laut Umfragen um den

Wiedereinzug fürchten muss, investiert

6,8 Millionen Euro. Der Großteil davon

wird für die Produktion von A1- und

Großplakaten zur Verfügung gestellt.

Das neu gegründete „Bündnis Sahra

Wagenknecht“ plane „aktuell“ mit vier

Millionen Euro. CSU, FDP und AfD wollten

keine Angaben machen.

Die CDU bastelt noch an ihrem Budget.

2021 gab die Bundespartei für den

Wahlkampf rund 20 Millionen Euro aus.

Allerdings kamen in diesem Jahr noch

die Kosten für fünf Landtagswahlen hinzu.

Heißt: Insgesamt investierten die

Christdemokraten 2021 für den Kampf

um Stimmen 73 Millionen Euro. Bei der

SPD waren es 55 Millionen und bei den

Grünen fast 43 Millionen Euro. rub

Abschiebeoffensive in die Türkei stockt

Migration

D

ie von Bundesinnenministerin Nancy

Faeser (SPD) im September 2024 angekündigte

Abschiebeoffensive in die

Türkei fällt aus.

Nach Auskunft des Ministeriums wurden

in diesem Jahr bis einschließlich

Oktober 885 türkische Staatsbürger in

ihre Heimat abgeschoben. Laut Ausländerzentralregister

sind aber aktuell insgesamt

16041 Türken ausreisepflichtig.

Die Verantwortung, warum im Gegensatz

zu Faesers Ankündigung die Zahl

so gering ausfalle, sieht eine Sprecherin

nicht im eigenen Haus. Für Abschiebungen

seien die Länder zuständig, die Bundesregierung

führe „fortlaufend Gespräche

mit den türkischen Partnern“ zur

Rückführung türkischer Staatsbürger.

Noch im Herbst hatte die Innenministerin

einen Deal mit Ankara angekündigt,

nach dem „Rückführungen in

die Türkei schneller und effektiver erfolgen

können“. Aus Regierungskreisen

hieß es damals, dass die Türkei wöchentlich

bis zu 500 Staatsbürger zurücknehmen

werde. Von einem Abschiebeabkommen

mit Ankara ist aktuell keine

Rede mehr.

rub

Mason Richey

Professor für internationale Politik an der Hankuk

University of Foreign Studies in Seoul

Warum hat Südkoreas Präsident Yoon

das Kriegsrecht verhängt? Das war

eine Mischung aus mehreren Gründen,

darunter Frust über den Streit mit der

Oppositionspartei über das kommende

Haushaltsgesetz. Yoon sah die Fähigkeiten

des Staats, seine grundlegenden

Funktionen zu erfüllen, beeinträchtigt.

Das sind zumindest die offiziellen Gründe.

Und die inoffiziellen? Yoon Suk Yeol war

sehr isoliert. Seine Beliebtheitswerte sind

teilweise unter 20 Prozent gesunken. Er

hat aus politischer Verzweiflung gehandelt.

Doch es war offensichtlich eine absolut

wahnsinnige Fehlkalkulation. Hat Yoon

wirklich gedacht, damit durchzukommen?

Eigentlich gibt es keine Möglichkeit,

dass dieser Putschversuch funktioniert

hätte. Dafür muss man die Kontrolle

über das Geld, die Informationen und die

Waffen haben. Nichts davon war wirklich

unter seiner Kontrolle: Die Medien haben

weiter berichtet und auch beim Militär

gab es Leute, die Yoons Vorhaben nicht

unterstützt haben. Das klingt nach einem

politischen Kamikaze-Kommando.

Das Risiko für Yoon war von Anfang an

immens: Er kann aus dem Amt enthoben

werden, möglicherweise im Gefängnis

landen oder sogar wegen Hochverrat angeklagt

und hingerichtet werden. Wie wird

es nun weitergehen? Ich denke, es wird

Neuwahlen fürs Präsidentenamt geben.

Die Opposition hat bereits ein Amtsenthebungsverfahren

im Parlament beantragt.

Möglicherweise wird Yoon nicht freiwillig

gehen. Doch selbst seine Partei steht nicht

mehr hinter ihm. Es kann also auch sein,

dass sie ihn zum Rücktritt zwingt. kret

22 FOCUS 50/2024


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AGENDA

24


GAZA

Out of Gaza

Amputationen.

Entstellungen.

Hirnschäden.

Ihre Verletzungen

haben ihr ganzes Leben

verändert.

Ruba Abu Jibba erzählt,

wie sie ein Auge verlor, als

sie mit ihrer Familie auf

der Flucht vor israelischen

Panzern in Gaza unter

Beschuss geriet.

Sie und einige andere

schwer verwundete

Bewohner des Gazastreifens

überlebten einen

Krieg, der zehntausenden

Menschen das Leben

kostete. Sie schafften

es bis nach Katar, wo sie

medizinisch versorgt

werden. Dort haben

wir sie fotografiert und

mit ihnen gesprochen.

Sie sind am Leben – auch

wenn sich manche von

ihnen nicht sicher sind,

ob sie das überhaupt noch

wollen.

Fotos von Samar Abu Elouf

Text von Samar Abu Elouf und

Eric Nagourney

FOCUS 50/2024

25


„Mein Bein sah

aus wie Sand –

irgendwie war

es noch da, aber

der Knochen

war zersplittert.“

Die 9-jährige Nusaiba

Kleib war mit ihrer

Familie auf der Flucht,

als eine Rakete einschlug.

Ihr Bein musste

amputiert werden.

Die Bewohner des Gazastreifens,

mit denen

wir gesprochen haben,

beschrieben uns eine

Welt, in der Explosionen,

im Bruchteil einer Sekunde,

sowohl Landstriche

als auch Körper bis zur

Unkenntlichkeit zerfetzen

können.

Auf der Suche nach medizinischer

Versorgung haben

nach israelischen Angaben

allein im Oktober mehr

als 4000 Menschen Gaza

verlassen. Bereits im Juni

teilten die Vereinten Nationen

mit, dass mehr als

10 000 Bewohner dringend

Hilfe benötigten, die sie

nur im Ausland bekommen

könnten. Die Gesundheitsbehörde

in Gaza schätzt die

Gesamtzahl der Verletzten

auf über 100 000.

Da ein großer Teil ihrer

Heimat in Trümmern liegt,

wissen die Wenigen, die es

wie diese Flüchtlinge in

Katar ins Ausland geschafft

haben, kaum, wann oder

ob sie überhaupt zurückkehren

können. Manche

stehen selbst nach ihrer ärztlichen

Behandlung vor gewaltigen

gesundheitlichen

Herausforderungen.

„Sein ganzer

Körper war in

weiße Bandagen

eingewickelt.“

18 Menschen befanden

sich im zweiten Stock

eines Hauses, das in die

Luft gesprengt wurde.

Nur der neunjährige

Maher Hajazi und ein

Cousin überlebten.

26 FOCUS 50/2024


GAZA

„Mama,

kraul mir den

Kopf, kratz

mir die Nase.“

Mahmoud Ajjours

Familie floh aus ihrem

Haus, als israelische

Granaten einschlugen,

erzählt seine Mutter

Noor Ajjour. Sie kamen

nur langsam voran,

weshalb der Junge

zurücklief, um die Verwandten

anzutreiben.

Dann riss ihm eine

Explosion eine Hand ab

und verstümmelte die

andere. Mahmoud

flehte die Familie an,

ihn zurückzulassen:

„Ich werde sterben.“

In Katar benutzt der

9-Jährige nun vor allem

seine Füße. „Mein

größter Wunsch sind

Prothesen“, sagt er.

27


AGENDA

Schon vor dem Krieg war

die medizinische Versorgung

im Gazastreifen schwierig,

da das Gebiet seit der

Machtübernahme durch die

Hamas im Jahr 2007 von

seinen Nachbarn Israel und

Ägypten abgeriegelt wurde.

Patienten, die es sich leisten

konnten, ließen sich im

Ausland behandeln. Seit

Kriegsbeginn ist der Bedarf

an medizinischer Hilfe

größer denn je. Gleichzeitig

ist es fast unmöglich, die

Grenze zu überqueren. Tausende

verzweifelte Bewohner

des Gazastreifens, von denen

viele verwundet sind, andere

an Krebs oder sonstigen

schweren Krankheiten

leiden, können nur darauf

hoffen, es irgendwie nach

Katar oder Jordanien zu

schaffen, wo noch Patienten

aufgenommen werden.

„Ich trauere

um mich selbst

und um das

Leben, das ich

einmal hatte.“

Passant al-Louh, 17,

erlitt schwerste

Verbrennungen im

Gesicht und verlor

ihr rechtes Ohr

bei einem Anschlag,

der ihre

Eltern tötete.

D

z

b

T

„Als ich

aufwachte,

sagten sie

mir, das Baby

sei noch in

meinem

Bauch.“

Die Ärzte brachten

Wafa Abu Semaan

nach Ägypten, wo sie

einen Sohn auf die

Welt brachte und

eine Beinprothese bekam.

Schon vor dem

Angriff, bei dem sie

verwundet und ihr

Ehemann getötet

wurde, musste sich

die 27-Jährige durch

das Gesundheitssystem

in Gaza kämpfen.

Sie hatte Schilddrüsenkrebs.

Und sie

war schwanger. 7

28

FOCUS 50/2024


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POLITIK

Andreas Röder

Über sein Freiwilliges

Soziales

Jahr in der Kita

fand er zu seinem

Traumberuf:

Kinderpfleger

30


GESELLSCHAFT

Soldatin

Paula M.

15 Monate

Dienst leistet die

Abiturientin bei

der Bundeswehr.

Waffenreinigen

gehört zum Alltag

Fotos: Fabian Strauch/FUNKE Foto Services GmbH/imago, Mike Szymanski

Ein Jahr für Deutschland

Der Bundeswehr fehlen Soldaten, den Kitas Betreuer, der Pflege die Helfer. Also:

Wer packt an? Wie die Debatte über einen Pflichtdienst das Land aufwühlt

FOCUS 50/2024

31


POLITIK

S

Sie sagt, sie wollte wissen, wie „dieses Universum“

aussieht. Dies sind ihre Worte,

und nun kneift Paula M. das eine Auge

zu und schaut mit dem anderen durch den

Lauf eines Sturmgewehrs vom Typ G36.

Sie prüft, ob sich da drinnen noch

Schmutz befindet. Dann muss sie ran mit

Bürsten und den dicken Baumwollfäden,

um das Gewehr zu reinigen. Paula M., 20,

wird fast den ganzen Tag mit Lösungsmitteln

und Ölen zu tun haben, die der Haut

zusetzen. Gewehr für Gewehr, Pistole für

Pistole. Bis es in der Waffenkammer nebenan

nichts mehr gibt, was noch durch die

Hände dieser Soldatin der Stabs- und Fernmeldekompanie

der 1. Panzerdivision in

Oldenburg muss. Paula M. beklagt sich

nicht. Dienst ist Dienst.

Im Universum von Andreas Röder geht

es immer trubelig zu, aber Waffen haben

hier nichts zu suchen. Er liebt das Andere:

Da stürmen morgens die Kinder auf ihn zu,

aufgekratzt, weil jeder neue Tag auch ein

neues Versprechen ist. Den Morgen nach

dem Wochenende mag der 19-Jährige am

meisten: „Manche sagen dann, sie hätten

mich vermisst.“ Er hätte nie gedacht, einmal

mit Kindern arbeiten zu wollen – bis

er die Gelegenheit hatte, sich auszuprobieren.

Jetzt weiß er, was er will: mit ihnen

toben, bolzen, ihnen vorlesen. Zur Seite

stehen beim Großwerden. Und er weiß,

er wird gebraucht.

Die junge Frau, die ein Sturmgewehr

bedienen kann. Der junge Mann, der seine

Erfüllung darin findet, Kindern Märchen

vorzulesen. Diese jungen Leute!

Gar nicht so schlecht, oder?

Paula M. und Andreas Röder, das sind

zwei Schulabgänger, die sich in diesem

Land engagieren. Zwei junge Menschen,

auf die sich stellvertretend das Augenmerk

richtet, wenn die Frage auftaucht, was die

Gesellschaft gerade offenkundig so dringend

braucht. Beide leisten einen Dienst

für die Gemeinschaft, von dem niemand

bestreiten kann, wie wertvoll er ist. Und

sie machen das freiwillig.

In der Gesellschaft hat eine Debatte

an Fahrt aufgenommen, welche die Kraft

hat, das Land tiefgreifend zu erneuern. Für

Konflikte sorgt sie jetzt schon: Sollte sich

nicht jeder einmal in seinem Leben für das

Gemeinwesen engagieren müssen?

Ein „Jahr für die Gesellschaft“ – das ist

der Arbeitstitel eines politischen Projekts,

bei dem sich noch zeigen wird, wie viel

Kraft zur Veränderung in diesem Land tatsächlich

steckt.

Am Dienstag dieser Woche hat sich Bundespräsident

Frank-Walter Steinmeier bei

der Konrad-Adenauer-Stiftung zu Wort

gemeldet. Er sprach zum Thema „Stärken,

was uns verbindet: Pflichtzeit für unsere

Gesellschaft“. Steinmeier sagte, dass man

in Krisenzeiten wie diesen darüber nachdenken

müsse, wie „unsere Gesellschaft

nicht weiter auseinandertreibt“. Die Antwort

hatte er auch. Eine „soziale Pflichtzeit“

könne der Weg sein, wie „aus Begegnung

Verbundenheit wird“.

Aber in dieser Debatte geht es natürlich

um viel mehr als um Verbundenheit.

Dahinter steckt auch die große Frage, wie

das Land all die großen Probleme gelöst

bekommt. Oder ganz konkret: wer dafür

in die Pflicht genommen wird.

Zu übersehen sind die Schwierigkeiten

längst nicht mehr: Die Bundeswehr findet

nicht den Nachwuchs, um zu wachsen,

wie das nach Russlands Überfall auf

die Ukraine erforderlich wäre. Stand Juni

sank die Zahl der Soldatinnen und Soldaten

sogar wieder auf unter 180 000. Mehr

als 20 000 Dienstposten kann die Truppe

heute schon nicht besetzen. Dabei soll sie

auf 203 000 Soldatinnen und Soldaten bis

2031 anwachsen.

Die Alten gegen die Jungen

Aber auch im zivilen Leben fehlen die

Leute, die anpacken. Die Gesellschaft

altert. In 25 Jahren dürften dem Statistischen

Bundesamt zufolge mindestens

280 000 Pflegekräfte fehlen. Längst ist vom

„Pflegenotstand“ die Rede. In den Kitas

in Deutschland mangelt es an Erziehern.

Durchschnittlich an mehr als zwei pro Einrichtung.

Es herrscht die „Kita-Katastrophe“.

So sieht er aus, der deutsche Alltag

im Jahr 2024.

Knapp 100 000 Frauen und Männer

en gagieren sich in Freiwilligendiensten

wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ),

dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ)

oder im Bundesfreiwilligendienst, zum

„Diese Debatte sollte nicht erneut

im Sande verlaufen, sondern

mit einer Entscheidung enden“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Fotos: Annette Riedl/dpa, Juliane Sonntag/dpa

32 FOCUS 50/2024


GESELLSCHAFT

Taschengeld von maximal 604 Euro im

Monat. Weitere knapp 11 000 Frauen und

Männer absolvieren einen freiwilligen

Dienst bei der Bundeswehr.

„Gott sei Dank“ packten Hunderttausende

in den Freiwilligendiensten an,

sagt Bundespräsident Steinmeier, das sei

„großartig“. Aber: „Dieses Engagement

durchzieht unsere Gesellschaft noch nicht

als Ganze.“

Die großen Wohlfahrtsverbände und

Hilfsorganisationen im Land stöhnen

unter der Last der Aufgaben. Mit dem Aussetzen

der Wehrpflicht ist auch der Zivildienst

weggefallen. Ehrenamtliche seien

eingesprungen, sagt die Präsidentin des

Deutschen Roten Kreuzes, Gerda Hasselfeldt.

„Das ändert jedoch nichts an der

Tatsache, dass wir angesichts der aktuellen

Herausforderungen mehr Engagement

brauchen.“

Fragt man die Bürgerinnen und Bürger,

ist eine klare Mehrheit von 59 Prozent

der Meinung, dass jeder Deutsche im

Laufe seines Lebens ein Jahr Dienst an

der Gesellschaft leisten sollte. Je älter die

Befragten, desto klarer die Position. Nur

die Jungen, die ein solcher Dienst am

stärksten in ihrer Lebensplanung treffen

„Ich möchte, dass alle Arbeiten am

Wehrdienstmodell fortgesetzt werden,

damit keine Zeit verloren geht“

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD)

dürfte, die 18­ bis 29­Jährigen, die sind

hin­ und hergerissen: 44 Prozent sind dagegen,

42 Prozent dafür.

So zeigt sich, wo die Konfliktlinie in der

Gesellschaft verläuft: Muss es Aufgabe

der Jungen sein, die Lücken zu füllen?

Ganz oben in der Politik ist das Gesellschaftsjahr

mit gewaltiger Bedeutung aufgeladen

worden – als wäre dies Vorhaben

allein der Schlüssel zu einer besseren

Zukunft. Man muss nur schauen, welche

Erwartungen damit verbunden werden,

nicht nur vom Bundespräsidenten: „Es

schärft emotionale Intelligenz sowie soziale

Kompetenz, es entstehen Freundschaften

– und Demut“, schrieben vor gut einem

Jahr der inzwischen verstorbene frühere

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble

und Serap Güler (beide CDU) in einem

Debattenbeitrag.

Deren Parteikollege, der hessische

Ministerpräsident Boris Rhein, glaubt,

das Gesellschaftsjahr könne dabei helfen,

„die Segmentierung der Gesellschaft

aufzubrechen, verhärtete Debatten zu

lösen und Menschen zu versöhnen“. Und

CDU­Generalsekretär Carsten Linnemann

erklärt gleich: „Es geht um den

Zusammenhalt der Gesellschaft, aber

(eher) ja

War es ein Fehler, dass die Wehrpflicht

2011 außer Kraft gesetzt wurde?

Abweichung zu 100 %

ist rundungsbedingt

54 34

%

13

(eher) nein

weiß nicht, k. A.

„Jede/r Deutsche sollte im Laufe seines/ihres Lebens

ein Jahr Dienst an der Gesellschaft leisten“

stimme (eher) zu

stimme (eher) zu

Die FOCUS-Umfrage

59 27

%

stimme (eher) nicht zu

14

weiß nicht, k. A.

„Auch berufstätige Deutsche sollten die

Möglichkeit haben, ein Gesellschaftsjahr ableisten

zu können, ohne dass ihr Arbeitsplatz in dieser Zeit

gefährdet wird“

65 19

%

stimme (eher) nicht zu

16

weiß nicht, k. A.

Sollte der Wehrdienst in Deutschland freiwillig

oder verpflichtend sein?

freiwillig

45 41

verpflichtend

%

weiß nicht, k. A.

7 7

ist mir egal

Sollten bei der Einführung der Wehrpflicht auch

Frauen zum Dienst verpflichtet werden?

stimme (eher) zu

44 35

stimme (eher) nicht zu

%

Quelle: Insa

weiß nicht, k. A.

9

12

ist mir egal

FOCUS 50/2024

33


POLITIK

GESELLSCHAFT

„Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht

fiel auch der Zivildienst weg.

Das spürten auch wir“

auch um die Persönlichkeitsentwicklung

junger Menschen.“

Und was treibt die an, über die sich die

Politiker gerade so einen Kopf machen?

Anfang Januar meldete sich Paula M.

zum Dienst bei der Bundeswehr. Als man

sie trifft, trägt sie einen schrägen Streifen

auf der Schulterklappe ihrer Uniform. Ihr

Dienstgrad: Gefreiter. „Ich wollte eine persönliche

Challenge, eine Herausforderung,

bei der man merkt, dass man mehr schafft,

als man glaubt“, erzählt sie.

Für 15 Monate hat sie sich verpflichtet.

„15 Monate – und dann bin ich auch wieder

weg“, sagt sie. Sie möchte Landschaftsarchitektur

studieren. Der Weg dorthin

sollte aber nicht direkt vom Abitur an die

Uni führen. Geld spielte bei ihrem Entschluss

für die Bundeswehr auch eine

Rolle: Sie bekommt etwa 1500 Euro netto

im Monat.

Ihr Freundeskreis reagierte durchweg

positiv. Bei Älteren, denen sie von ihren

Plänen erzählte, sei regelrecht Freude aufgekommen.

„Diejenigen, die die Jugend

heute als verkorkst ansehen, haben gesagt:

yeah!“ Die zwölf Wochen der Grundausbildung

waren die härtesten. „Der

erste Marsch über zehn Kilometer war

DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt

eine Qual: Ich hatte Krämpfe in den Beinen

und war komplett durch“, erinnert

sich Paula. Dann die Nächte in der Stellung

im Wald bei fünf Grad minus, kaum

Schlaf: „Irgendwann sieht man Sachen,

die nicht da sind.“

Der Proviant schlug ihr auf den Magen.

Teils marode Kasernen. Der Schimmel in

den Duschen machte sie krank. Aber jetzt

ist sie angekommen in der Stabs­ und

Fernmeldekompanie und fühlt sich wohl.

Die Gefreite sagt, sie mache jetzt „kein

krasses Zeug“, aber sie habe gelernt,

Waffen abzufeuern – und zu reinigen, sie

kümmert sich um Ausrüstung und Fuhrpark.

Paula trägt in ihrer Einheit dazu bei,

dass die Bundeswehr funktioniert.

Lieber saubere Duschen als Pflicht

Einen Zwang zum Dienst hält die 20­Jährige

für keine gute Idee. Sie habe so

schon genügend Kameraden erlebt, die

nicht mit der Bundeswehr klargekommen

seien. Lieber hätte die Abiturientin sanierte

Unterkünfte und saubere Duschen für

alle, dann wäre die Truppe vielleicht auch

für Freiwillige attraktiver: „Die Bundeswehr

will uns junge Leute. Dann muss sie

uns was bieten.“

Auch Andreas Röder aus der Kita in

Essen hält von einer Pflicht, sich zu engagieren,

wenig. Er sei schon in der Schulzeit

auf der Suche gewesen, was er machen

wolle. Ihm habe das Freiwillige Soziale

Jahr ins Konzept gepasst. Er hat es längst

beendet, ist aber geblieben und macht

inzwischen seine Ausbildung zum Kinderpfleger.

„Für mich war es schön, weil es

sich so ergeben hat“, sagt Röder. Andere,

die ihre Zukunft klarer vor Augen hätten,

sollten nicht durch ein Pflichtjahr in ihrem

Fortkommen aufgehalten werden.

Das Thema wühlt auf. Die Nachwuchsverbände

der Parteien positionieren sich.

Sie wollen nicht zulassen, dass die Älteren

in der Politik, die das Sagen haben,

über die Zukunft der Jüngeren entscheiden.

Bei einer Fraktionsklausur der SPD

Anfang September rebellierten die Jusos

unter Führung von Philipp Türmer gegen

einen weichen Beschlusstext, der nur die

Prüfung einer Dienstpflicht vorsah. Das

war ihnen schon zu viel. Auch die Grüne

Jugend protestiert gegen einen Dienstzwang.

Besonders scharf attackieren die

Jungen Liberalen solche Pläne: „Mottenkiste!“,

sagt deren Vorsitzende Franziska

Brandmann. „Politiker, die diesen Vorschlag

machen, sind der Meinung, Bürgerinnen

und Bürger müssten durch einen

Pflichtdienst zu Anstand erzogen werden.

Das ist übergriffig und wird den Menschen

in diesem Land nicht gerecht.“

In der CDU/CSU hat der Parteinachwuchs

eine erstaunliche Wende hingelegt.

Als Tilman Kuban die Junge Union

von 2019 bis 2022 anführte, wollte er erst

mit den jungen Leuten über eine Dienstpflicht

reden. Sonst müsse man sich nicht

wundern, wenn die Ergebnisse bei den

Erstwählern nicht besser, sondern eher

schlechter würden. Dann aber kam der

Krieg in der Ukraine und ein neuer Mann

an der Spitze, Johannes Winkel. Seither

wollen die Nachwuchspolitiker die Dienstpflicht

– wie die Parteiführung.

Holger Backhaus­Maul, Soziologe am

Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt,

kann das Aufbegehren der

Jugend nachvollziehen. Er sieht in der

Diskussion um ein Pflichtjahr die Gefahr

eines „Vertrages zulasten Dritter, die entweder

nicht anwesend, weil noch nicht

wahlberechtigt, oder in der Minderheit

sind“. Mehr noch: „Wir übergeben den

jüngeren Generationen die Verantwortung

für die von uns maßgeblich verursachten

großen ökologischen Probleme,

wir hinterlassen soziale Sicherungssysteme,

die nicht wirklich zukunftssicher sind,

eine Demokratie, die längst nicht mehr

so stabil wie einst ist, und jetzt auch

Foto: action press

34 FOCUS 50/2024


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POLITIK

GESELLSCHAFT

„Das Thema Gesellschaftsjahr gehört

ohne große Umschweife direkt

zurück in die politische Mottenkiste“

noch ein Europa mit Krieg.“ Klar ist aber:

Die Entscheidung wird kommen – Pflicht

oder nicht?

Nach dem Ampel-Aus sprechen die Umfragen

dafür, dass CDU/CSU die nächste

Regierung mit großer Wahrscheinlichkeit

anführen werden, ihr mindestens angehören

dürften. Und es ist kein Geheimnis,

dass die glühendsten Anhänger eines

Pflichtdienstes aus der Union kommen.

Sie war es, die das Thema in den vergangenen

Jahren regelmäßig auf die

Tagesordnung gesetzt hat. Große Teile

der Union haderten immer damit, dass

es ausgerechnet die schwarz-gelbe Koalition

unter Kanzlerin Angela Merkel

war, die 2011 die Wehrpflicht

ausgesetzt und damit auch

den Zivildienst faktisch abgeschafft

hat. Im Jahr 2018 wagte

die damalige CDU-Generalsekretärin

Annegret Kramp-

Karrenbauer einen Vorstoß. In

der „FAZ“ skizzierte sie eine

„neue Dienstpflicht“. Das Thema

ließ die Partei fortan nicht

mehr los, auch wenn sie selbst

anfangs hin- und hergerissen

war, ob und wie das denn

Vorsitzende der Jungen Liberalen Franziska Brandmann

LESERDEBATTE

Sind Sie für ein

allgemeines

Pflichtjahr?

Schreiben Sie

uns an

leserbriefe@

focus-magazin.de

überhaupt umzusetzen sei: Dienstpflicht

für alle, also Frauen und Männer? Nur

Dienst in der Bundeswehr oder doch ein

Jahr für die Gesellschaft?

Inzwischen gilt es als ausgemacht, dass

sich Wehr- und Dienstpflicht im Wahlprogramm

des Kanzlerkandidaten wiederfinden

werden. Keine Partei geht bei der

Dienstpflicht so weit wie CDU und CSU.

Bis zur Umsetzung eines verpflichtenden

Gesellschaftsjahres wollen die Christdemokraten

eine sogenannte „Kontingentwehrpflicht“

einführen, heißt es im Programm.

Als Vorbild dient ein Modell aus

Schweden: Dort lässt das Militär alle jungen

Frauen und Männer einen Online-

Fragebogen ausfüllen. Eingezogen

wird dann aber nur

ein geringer Prozentsatz jedes

Jahrgangs. Wenn alle rechtlichen

Hürden genommen

sind, soll nach dem Willen der

Union die Wehr- durch eine

allgemeine Dienstpflicht ersetzt

werden.

Unter Juristen ist umstritten,

ob dieser Plan trägt. Zu klären

ist einerseits, wie man mit Frauen

und der Wehrpflicht umgeht,

denn im Grundgesetz ist der Dienst

noch Männersache. Ob dies vor dem

Verfassungsgericht lange Bestand hätte,

ist fraglich. Außerdem müsste wohl im

Grundgesetz mit einer Zweidrittelmehrheit

Artikel 12 geändert werden.

Dort wird nicht nur Zwangsarbeit

als„unzulässig“ bezeichnet, eine Reaktion

auf die Zwangsarbeit in der NS-Zeit.

Weiter heißt es, dass niemand „zu einer

bestimmten Arbeit gezwungen werden“

darf – „außer im Rahmen einer herkömmlichen

allgemeinen, für alle gleichen

öffentlichen Dienstleistungspflicht“.

Jurist Patrick Heinemann aus Freiburg:

„Darunter fallen in der Regel nur Arbeitspflichten,

die bereits vor dem Nationalsozialismus

bestanden, wie etwa die Pflicht,

beim Deichschutz zu helfen.“Und darüber

hinaus steht dann noch im Raum, ob

ein Zwangsdienst mit internationalem

Recht vereinbar ist. Zwischenfazit: Es

dürfte juristisch sehr schwierig werden

mit einem gesellschaftlichen Pflichtjahr.

Aber das bedeutet nicht, dass alles so

bleibt. Sollten SPD und Union die nächste

Regierung stellen, dann dürfte mit ziemlicher

Sicherheit zumindest der Einstieg

in eine Rückkehr zur Wehrpflicht kommen.

Verteidigungsminister Boris Pistorius

(SPD) will wieder alle jungen Männer

erfassen, die für einen Militärdienst infrage

kommen. Sie sollen verpflichtet werden,

einen Fragebogen zu ihrer Bereitschaft

und ihren Fähigkeiten auszufüllen.

Frauen bekommen den Bogen auch, werden

aber nicht gezwungen, die Fragen

zu beantworten. Von denen, die zur Bundeswehr

wollen und geeignet erscheinen,

sollen in einem ersten Schritt 5000 zusätzliche

Wehrdienstleistende rekrutiert werden.

Die Ampel hätte das gerne noch auf

den Weg gebracht, aber dann zerbrach

das Bündnis.

Bei den Wohlfahrtsverbänden und

Hilfsorganisationen sieht man in Pistorius’

Modell einen Anknüpfungspunkt.

Wenn schon perspektivisch alle Schulabgänger

angeschrieben würden, dann

könnte darin auch über die Freiwilligendienste

informiert werden. Rotes-Kreuz-

Präsidentin Gerda Hasselfeldt würde

auch das „Taschengeld“ auf den BAföG-

Satz anheben, auf dann 992 Euro. Knapp

drei Milliarden zusätzlich, und man könnte

bis 2030 die Zahl der Einsatzstellen auf

200 000 verdoppeln. Dies ist das Angebot

für eine schnelle Lösung ohne Pflicht. Für

einen Anfang ohne Aufstand. 7

FELIX HECK / JAN-PHILIPP HEIN / LUKAS

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Foto: Gene Glover/Agentur Focus

36 FOCUS 50/2024


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MEINUNG

Eine Sprache wie in der Männerumkleide

Die FDP-Politikerin Susanne Seehofer kritisiert Indiskretionen in ihrer Partei nach dem

Ampel-Aus. Und wünscht sich eine ernsthafte Debatte über die Zukunft des Landes

Noch bis in die ersten

Novembertage hinein

hatte ganz Deutschland

gehofft, der Ampel

mögen die Lichter

ausgehen. Gedankenspiele

darüber hatten allseits begonnen,

zumal die Koalition massiv

an Zustimmung verlor. FDP

und SPD geben mittlerweile

gerne zu, seit dem Sommer

Überlegungen angestellt zu

haben über ein vorzeitiges

Ende. Und das kann niemanden

überraschen. Solche Gedanken

waren nötig, richtig

und professionell.

Einzig peinlich für die FDP

ist dabei, dass ein Papier für

den rein internen Gebrauch

sowie Zitate aus internen

Sitzungen den Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben.

Zudem ist dieses Papier teils in einer Sprache und Form verfasst,

die man eher auf dem Schulhof erwartet, in der Männerumkleide

oder beim Fahnenjunker-Lehrgang. Das war fahrlässig.

Hinzu kommt, dass trotz aller Gedanken über bestmögliche

Narrative nun für die FDP ein sehr ungünstiges Szenario

eingetreten ist. Da war es richtig, rasch Konsequenzen

zu ziehen. Zwei Verantwortliche sind zurückgetreten. Welche

andere Partei macht so schnell derart reinen Tisch?

Wer die FDP jetzt allerdings zum Paria der deutschen Politik

erklären will, macht sich der künstlichen Empörung verdächtig.

Das gilt für politische Wettbewerber genauso wie für mediale

Kommentatoren. Deutschlands Probleme gipfeln nicht im

pubertären Vokabular eines internen Arbeitspapiers.

Gleichwohl müssen wir Politiker der demokratischen Mitte

alle miteinander wieder mehr über die Herausforderungen des

Landes reden als über die eigene Selbstvermarktung.

Sonst wird es nicht gelingen, Vertrauen in der Bevölkerung

zurückzugewinnen sowie die extremen Parteien

rechts und links zu schwächen.

Wir müssen davon wegkommen, alles in der Politik

inszenieren zu wollen. Wir brauchen wieder Kanzler,

die am Ende eines gescheiterten Koalitionsausschusses

nicht eine von drei möglichen Redevarianten vom Teleprompter

ablesen müssen. Wir brauchen wieder Parteiapparate

und Gremien, die miteinander sprechen können,

ohne dass Vertrauliches nach außen dringt.

Bei allem Kampf um breite Zustimmung und positive

Tonalität ist aber auch wieder mehr Mut zum Unterschied

nötig – und die Fähigkeit, andere Meinungen

Von Susanne Seehofer

Mitglied im Landesvorstand der FDP Bayern

Analyse zum D-Day Bei „Caren Miosga“ versuchte FDP-Parteichef

Christian Lindner, die Fehler seiner Partei zu rechtfertigen

Susanne

Seehofer, 33,

Tochter von Ex-

CSU-Chef Seehofer

will für die FDP

in den Bundestag

auszuhalten. Viel zu oft verlagert

sich die politische Debatte

in persönliche Nebensächlichkeiten

oder auf die Goldwaage

für angreifbare Begrifflichkeiten.

Es fällt eben viel leichter,

das Argument des anderen

nieder zu spötteln, als darzulegen,

warum man selbst richtig

liegt. Es ist so viel einfacher,

aus einem verunglückten Strategiepapier

den vermeintlich

verkommenen Charakter einer

Partei herzuleiten, als tragfähige

Lösungen für Deutschlands

Wirtschaftskrise zu erarbeiten.

Daraus leitet sich zweierlei

ab: Es lohnt sich die kleine

Mehrarbeit, auch interne Papiere

sprachlich so aufzusetzen,

dass man sie ohne Schamesröte

der eigenen Großmutter vorlesen könnte – vielleicht

ein Punkt, an den Frauen eher denken als Männer. Es lohnt

sich darüber hinaus, intern wie extern, mehr über politische

Inhalte zu debattieren als über deren Vermarktung. So entsteht

Glaubwürdigkeit. Natürlich hat Politik viel mit Überzeugungsarbeit

zu tun. Aber wenn die Darstellung von Politik wichtiger

wird als die Politik selbst, entsteht ein Missverhältnis.

Die Ampel war ein politisches Experiment, das mit einem

großen Knall endete. Gescheitert ist diese Koalition aber nicht

an mangelnder Kompromissfähigkeit, sondern an zu vielen,

für alle Seiten zu schmerzhaften und in ihrer Wirkung zu kosmetischen

Kompromissen.

Am wichtigsten sind jetzt nicht Wahlgeschenke. Am wichtigsten

ist, dass wir wieder in einem Staat leben, dem die Dinge

gelingen. In dem Züge pünktlich ankommen, in dem Internet

auch außerhalb großer Städte schnell ist. Ein Land, in dem

Schulen kein Sanierungsfall sind, Kinderbetreuung

kein Luxusgut ist. Ein Staat mit sozialem Herzen und

wirtschaftlichem Verstand. Politiker sollen Bürgerinnen

und Bürgern das Leben erleichtern – nicht umgekehrt.

Liberalismus, wie ich ihn verstehe, heißt: Weder

der Staat noch die Geburtslotterie zeichnen den eigenen

Lebensweg vor.

Die Basis für all dies bildet eine blühende Volkswirtschaft.

Wir brauchen spürbare Entlastungen und Bürokratieabbau.

Wir müssen verhindern, dass die nächste

Regierung die strukturellen Probleme dieses Landes

wieder mit höheren Steuern und höheren Schulden zuschüttet.

Die Bequemlichkeitspolitik der Ära Merkel,

die Olaf Scholz fortsetzen wollte, muss 2025 enden. 7

Fotos: IMAGO/Uwe Koch, Robert Haas/dpa

38 FOCUS 50/2024


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POLITIK

„Kein Feigenblatt“

Er ist das neue soziale Gewissen der CDU. Dennis Radtke

über Schmutzkampagnen, falsche Wortwahl bei

der Union – und wofür er Friedrich Merz dankbar ist

Der Mann

fürs Soziale

Ruhrpottler

Dennis Radtke wird 1979 in

Bochum geboren, lernt dort

Industriekaufmann

Abgeordneter

Nach kurzer Zeit in der SPD

tritt Radtke der CDU bei.

Er sitzt im Europaparlament

Sozialpolitiker

Seit diesem Herbst führt

der 45-Jährige den Arbeiterflügel

der CDU an

Zeitenwende bei der Union Nach 19 Jahren löste Dennis Radtke (l.) Karl-Josef Laumann

als CDA-Chef ab. Eine neue Herausforderung auch für Parteichef Friedrich Merz (M.)

INTERVIEW VON FELIX HECK

Die Union müsse in Gerechtigkeitsfragen

„besser aufgestellt“

sein, formulierte Friedrich

Merz, noch bevor ihn die

Mitglieder zum Vorsitzenden

wählten. Inzwischen steht

der 69-jährige Jurist seit 1041

Tagen an der Spitze der CDU, könnte sie

im Februar zurück an die Macht bringen.

Was ist aus seiner Forderung geworden?

FOCUS fragt nach beim inoffiziellen

Arbeiterführer der Union, Dennis Radtke.

Der neue Vorsitzende der Christlich-

Demokratischen Arbeitnehmerschaft

(CDA) lobt seinen Parteichef für dessen

inhaltlichen Kompass, warnt aber

zugleich vor einer „falschen Tonlage“.

Die SPD behauptet, Friedrich Merz sei ein

gefühlskalter Eisblock. Dem müssten Sie als

Sozialpolitiker eigentlich zustimmen, oder?

Nein, wieso? Friedrich Merz ist Vater

von drei Kindern, Opa von sieben Enkelkindern.

Da kann man gar kein Eisblock

sein. Natürlich sind die Sozialdemokraten

sehr bemüht darum, ihn in diese Schublade

zu stecken. Ich selbst nehme Friedrich

Merz aber ganz anders wahr.

Die SPD sagt: Friedrich Merz ist ein beinharter

Kapitalist mit Privatflugzeug.

Er ist Sportflieger. Im Übrigen sollte man

Friedrich Merz an seinen Ideen und seinem

Handeln messen und nicht an seinen

Hobbys. Ich würde mich unter einem

Hobby piloten Merz mit klarem Kurs wohler

fühlen als weiter unter einem Bruchpiloten

Scholz im Blindflug.

Im Wahlkampf der CDU kommen bislang

vor allem wirtschaftsliberale Stimmen

zu Wort. Wo bleibt da die Sozialpolitik?

Die CDU tut gut daran, wenn wir im

Wahlprogramm unser soziales Profil schärfen

und es selbstbewusst zeigen. Aber egal,

wer gerade besonders öffentlich zu hören

ist: Der Wahlkampf ist bald wieder vorbei,

und dann werden wir als CDA immer noch

da sein. Die Partei braucht uns! Wir sind

keine Wahlprogramm-Erstellungsmaschine

und kein Feigenblatt, sondern bleiben

eine starke Vertretung der Arbeitnehmerinnen

und Arbeitnehmer.

Insbesondere unser Rentensystem benötigt

eine Reform. Werden wir da vor der Wahl

noch ein CDU-Konzept erwarten können?

Viel wichtiger ist mir die Frage: Was

kommt nach der Wahl? Jetzt im Wahlkampf

heißt es zunächst, sich gegen die

Lügenkampagne der SPD zu wehren. Für

Fotos: Markus C. Hurek, CDA

40 FOCUS 50/2024


UNION

mich ist klar: Niemand muss Angst haben,

unter der CDU Rentner zu werden oder

zu sein, egal was das Willy-Brandt-Haus

an Schmutz verbreitet. Ich bin Friedrich

Merz sehr dankbar, dass er das noch einmal

klargestellt hat: Mit ihm als Bundeskanzler

wird es keine Rente mit 70 geben.

Viele CDUler wünschen sich aber eine

Rentenreform. Was halten Sie für möglich?

Schon im Bundestagswahlkampf 2021

hat mein Vorgänger Karl-Josef Laumann

eine Zusatzrente für Geringverdiener vorgeschlagen.

Das halte ich nach wie vor für

sinnvoll. Riester ist für Niedriglohnempfänger

krachend gescheitert.

Wie wollen Sie darüber hinaus sicherstellen,

dass von Merz’ Steuerplänen

nicht nur Unternehmer profitieren?

Die Unternehmenssteuerreform ist das

eine. Wir brauchen zusätzlich eine Abflachung

des Mittelstandsbauches in der Einkommenssteuer.

Der Spitzensteuersatz

muss deutlich später greifen. Es ist doch

ein Witz, dass die oberen Tarifgruppen

in der Industrie mittlerweile schon unter

den Spitzensteuersatz fallen. In dem Punkt

sind Friedrich Merz und Carsten Linnemann

aber sehr klar. Beide wollen nicht

nur Unternehmen entlasten, sondern auch

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

SPD und Grüne wollen noch vor der Wahl

an die kalte Progression ran, bräuchten

dafür aber die Union. Müsste Ihre Partei

einem solchen Gesetz nicht zustimmen?

Es sind noch elf Wochen bis zur Wahl.

Die Abschaffung der kalten Progression

kann eine neue Bundesregierung im Zweifelsfall

auch rückwirkend beschließen. Ich

wüsste nicht, warum die Union ausgerechnet

jetzt der gescheiterten Ampel-Koalition

beispringen sollte. Es braucht im Übrigen

eine dauerhafte Lösung, wie zum Beispiel

einen Steuertarif auf Rädern, der die kalte

Progression dauerhaft verhindert.

Sie raten Ihrer Partei, ein Gesetz abzulehnen,

auch wenn es eine CDU-Position beinhaltet?

Natürlich ist nicht auszuschließen, dass

SPD und Grüne uns an der einen oder

anderen Stelle noch mit solchen Initiativen

locken wollen. Ganz nach dem Motto:

Dann gucken wir doch mal, ob die Union

den Arsch in der Hose hat, gegen ihre

eigenen Positionen zu stimmen. Ich halte

das für ein Wahlkampfmanöver, auf das

wir nicht eingehen sollten.

Die Zukunft des Mindestlohns war bis zuletzt

ein Streitthema in der CDU. Konnten

Sie sich mit dem Wirtschaftsflügel einigen?

Ja! Wir werden uns im Wahlprogramm

sehr klar zum Mindestlohn positionieren.

Mein Austausch mit der MIT-Chefin Gitta

Connemann dazu war gut und lösungsorientiert.

Wir arbeiten gut zusammen.

Und wie lautet diese Position?

Die paritätisch besetzte Mindestlohnkommission,

übrigens eine Idee der CDU,

arbeitet derzeit an einer neuen Geschäftsordnung.

Dort hat man begriffen, dass es

so nicht weiter gehen kann. Wir haben als

CDU kein Interesse, in jedem Wahlkampf

immer wieder in einem Überbietungswettbewerb

zu landen. Deshalb ist es wichtig,

dass die Mindestlohnkommission sich jetzt

reformiert. Wenn die Mindestlohnkommission

jetzt nicht handelt, dann wird sie

behandelt. Nutzt diese letzte Chance!

Sie wollen der Union ein soziales Profil

geben. Wie lässt sich das mit den Plänen

der Partei vereinen, das Bürgergeld umzubenennen

und deutlich abzusenken?

Erst mal: Eine Bürgergeld-Reform ist

nicht zwangsläufig unsozial und empathielos.

Trotzdem müssen wir uns die Frage

stellen, welchen Ton wir anschlagen wollen.

Die Union darf Bürgergeld-Empfänger

nicht stigmatisieren. Es darf nicht der

Eindruck entstehen, die Debatte um das

Bürgergeld sei für uns eine Art Klassenkampf

von oben. Das wäre fatal.

Was meinen Sie damit?

Ein Beispiel: Die Gruppe der Totalverweigerer

unter den Bürgergeld-Empfängern

ist sehr klein. Trotzdem sprechen

einige besonders gern über genau diese

Gruppe. Da müssen wir aufpassen, dass

wir nicht zu sehr verallgemeinern. Aber

noch mal: Es ist nicht per se unsozial, über

Veränderungen im Bürgergeld-System zu

sprechen. Im Gegenteil, die sind nötig!

Zu welchem Ton würden Sie Ihrer Partei in

der Diskussion um Totalverweigerer raten?

Totalverweigerer sind eine überschaubare

Gruppe, die sich zu Unrecht auf die

Solidarität der Gemeinschaft stützt. Das

muss aufhören. Klar ist aber auch: Viele

Langzeitarbeitslose haben multiple Vermittlungshemmnisse,

psychische Erkrankungen

etwa. Diese Probleme lassen sich

nicht einfach durch ein bisschen mehr

Sanktionen wegdrücken.

Was braucht es stattdessen?

Wir müssen intensiv über die Qualität

unserer Jobvermittlung reden. Haben wir

in den Jobcentern denn überhaupt genügend

qualifizierte Sachbearbeiter, die mit

vermittlungsgehemmten Arbeitslosen

umgehen können? Diese Frage gehört für

mich zu einer ganzheitlichen Debatte über

das Bürgergeld zwingend dazu.

Seit September sind Sie nun CDA-Chef. Wie

wollen Sie Ihre Partei in diesem Amt prägen?

Die CDU muss Volkspartei bleiben. In

der Union müssen Arbeitnehmerinteressen

genauso Gehör finden wie Arbeitgeberinteressen.

Wenn wir uns nur noch um

eine der beiden Gruppen kümmern, dann

sind wir keine Volkspartei mehr, sondern

Klientelpartei. Und dann drohen uns auch

Wahlergebnisse wie einer Klientelpartei.

Mit der Wahl scheiden CDA Schwergewichte

wie Hermann Gröhe aus. Nachrücken werden

vor allem junge Wirtschaftsliberale ...

... auch unter den jungen CDU-Politikern

sind nicht alle gleich. Aber Fakt

ist: In den vergangenen Jahren hat sich

in der Partei ein Ungleichgewicht zwischen

dem Wirtschafts- und dem Sozialflügel

entwickelt. Karl-Josef Laumann ist

der Einzige im CDU-Präsidium, der keinen

Mitgliedsbeitrag an die Mittelstandund

Wirtschaftsunion zahlt. Ich will das gar

nicht bejammern und beklagen. Wir wollen

auch keine CDA-Quote in den Gremien!

Aber in einer solchen Situation ist die

Führung der Partei besonders gefordert.

Inwiefern?

Die Parteispitze muss sicherstellen, dass

der Arbeitnehmerflügel der Partei sichtbar

eine Rolle spielt und ab und an auch einen

Pokal nach Hause bringt. Unser historischer

Trophäenschrank ist voll, aber wir

wollen nicht nur von einer glorreichen Vergangenheit

leben. Auf lange Sicht darf

eben nicht der Eindruck entstehen, wir bei

der CDA wären nur so ein paar Meckerköppe,

die das Parteigeschehen kritischkonstruktiv

aus der Loge kommentieren.

Aus unseren Positionen muss auch konkrete

Politik werden.

Was genau fordern Sie von der Parteispitze?

Die Zusammenarbeit mit der Parteiführung

ist gut. Wenn ich ein Anliegen habe,

dann melde ich mich bei Friedrich Merz

oder Carsten Linnemann und bekomme

eine Reaktion. Und zwar nicht vier Wochen

später von einem Referenten, sondern

direkt und persönlich. Es geht mir eher

um die perspektivische Herausforderung.

Wie meinen Sie das?

Wie stellen wir sicher, dass sich Arbeiterinnen

und Arbeiter in unserer Partei zu

Hause fühlen? Ich denke dabei auch an

sozial Schwache. Jüngst schrieb mir ein

Bürgergeldempfänger, der CDU und CDA-

Mitglied ist und sich nun fragt, inwiefern er

Wahlkampf für seine Partei machen kann,

obwohl die seine Lebenssituation permanent

kritisiert. Das zeigt, dass es Menschen

gibt, die sich in der CDU heimisch, aber

eben nicht genug repräsentiert fühlen.

Darüber müssen wir ehrlich diskutieren.

Wie wollen Sie sicherstellen, dass die CDA in

einer möglicherweise unionsgeführten Bundesregierung

ausreichend repräsentiert ist?

Das kann am Ende nur einer bewirken,

und der heißt Friedrich Merz.

Und dem haben Sie Vorschläge gemacht?

(lacht) Ich glaube, Friedrich Merz kennt

die Leute alle schon. 7

FOCUS 50/2024 41


MEINUNG

Der andere Trump

Seine Nahostpolitik könnte dem künftigen US-Präsidenten

einen Platz in der Geschichte sichern, mit dem er nicht gerechnet hat

Von Thomas L. Friedman

Kolumnist der „New York Times“ und Pulitzer-Preisträger

Endet mit Donald

haben könnte. Das Bedürfnis

nach einem bahnbre-

Trumps Rückkehr ins

Präsidentenamt der

chenden Abkommen ist

Druck der USA auf

enorm. Es wird aber nur

Israelis und Palästinenser,

gelingen, wenn Trump diese

eine Zweistaatenlösung

anzustreben? Nicht unbedingt:

Es kommt darauf an, welcher

Donald Trump ins Weiße Haus

einzieht.

Ist es jener Trump, der gerade

mit Mike Huckabee einen

Befürworter der israelischen

Annexion des Westjordanlandes

zu seinem neuen Botschafter

in Jerusalem ernannte?

Oder eher der Trump, der

zusammen mit seinem Schwiegersohn

Jared Kushner den

detailliertesten Plan für eine

Zweistaatenlösung seit Bill

Clintons Regierung ausgearbeitet

und veröffentlicht hat?

Stiften sie Frieden im Nahen Osten? Trump hätte zumindest eine große Chance, mit

Israels Premier Netanjahu (l.) und den Palästinensern einen Durchbruch zu erzielen

Riesenchance ergreift

und richtig nutzt.

Er hat einen Ansatzpunkt:

seine Vision einer

Zweistaatenlösung, die

er als „Plan für Frieden,

Wohlstand und eine bessere

Zukunft für Israel und

die Palästinenser“ im Januar

2020 präsentierte. Keine

der beiden Seiten wird

diesen Plan so akzeptieren,

wie er derzeit verfasst

ist, zudem erschweren

der Angriff der Hamas

vom 7. Oktober 2023 und

der Krieg in Gaza jedes

Abkommen enorm. Aber

Ganz recht: Tatsächlich legte Trump als einziger US-Präsident

einen genauen Plan für die Koexistenz von Israelis und

Palästinensern vor. Sollte er diese Initiative wieder aufleben

lassen, könnte er als der Präsident im Gedächtnis bleiben, der

Israel als jüdische Demokratie bewahrte – und darüber hinaus

dazu beitrug, einen sicheren palästinensischen Staat zu

schaffen. Sollte er jedoch den mit der Huckabee-Nominierung

eingeschlagenen Weg fortsetzen, wird er höchstwahrscheinlich

als der Präsident in die Geschichte eingehen, der

das Ende der jüdischen Demokratie einläutete – und jede

Hoffnung auf einen Palästinenser-Staat zunichtemachte. Mag

sein, dass sich Trump gar nicht für die jüdische oder palästinensische

Geschichte interessiert, aber die jüdische und

palästinensische Geschichte wird sich für ihn interessieren.

Mein letztes Gespräch mit ihm ist vier Jahre her. Damals

rief er mich an, um sich für meine positive Einschätzung des

Abraham-Abkommens zu bedanken, das den Weg für einen

historischen Frieden zwischen Israel und den Vereinigten

Arabischen Emiraten, Bahrain, Sudan und Marokko ebnete.

Man kann über Trump sagen, was man will (und es gibt eine

Menge zu sagen), aber er hat ein Faible für große Deals, die

geschichtsträchtige Folgen haben können.

Kürzlich verbrachte ich eine Woche in Israel und den Vereinigten

Arabischen Emiraten und sprach mit Politikern, Militärangehörigen

und Wirtschaftsführern, mit Juden, Palästinensern

und Arabern darüber, was Trump diesmal in ihrer Region vor-

Trumps Vision könnte ein Anstoß sein für israelisch-palästinensische

Verhandlungen nach dem Krieg.

Der damalige Plan hätte Israel erlaubt, etwa 30 Prozent des

Westjordanlandes zu annektieren; dort, wo die Mehrheit der

jüdischen Siedler lebt, während im übrigen Gebiet ein entmilitarisierter

palästinensischer Staat im Westjordanland und

im Gazastreifen entstehen sollte. Trump schlug vor, Gaza auf

Gebiete in der israelischen Negev-Wüste auszudehnen, um

die Palästinenser für einen Teil des Territoriums zu entschädigen,

das sie im Westjordanland aufgeben müssten. Es handelte

sich dabei nicht um einen Eins-zu-eins-Gebietstausch, wie

ihn die Palästinenser gefordert hatten, sondern eher um einen

Eins-zu-zwei-Landtausch. Das ist zwar kein Plan, den ich vorgelegt

hätte, auch weil er ohne Beteiligung der Palästinenser

entwickelt wurde – aber es war ein Anfang.

Trump schlug außerdem vor, Gaza und das Westjordanland

durch ein Netz aus Straßen und Tunneln zu verbinden – allerdings

erst dann, wenn die Hamas nicht mehr den Gazastreifen

kontrolliert. Die palästinensische Hauptstadt läge dann

am Stadtrand von Jerusalem.

Nochmals: Trumps damaliger Plan müsste auf die heutige

Zeit angepasst werden. In seiner derzeitigen Form hätte er

keine Chance, von einer der beiden Seiten akzeptiert zu werden.

Aber darum geht es nicht. Viel wichtiger ist, dass dieser

Plan alle zentralen Bestandteile enthält, um Gespräche

anzustoßen. Er besagt für beide Seiten: Zwei Staaten für zwei

Fotos: Doug Mills/The NewYorkTimes/Redux/laif, The Asahi Shimbun via Getty Images

42 FOCUS 50/2024


Copyright: New York Times

indigene Bevölkerungen sind die einzige stabile Lösung, einschließlich

eines Gebietstauschs und den einvernehmlichen

Sicherheitsgarantien.

Benjamin Netanjahu und sein damaliger Botschafter in den

USA, Ron Dermer, begrüßten Trumps Ansatz einerseits, doch

Israels Premierminister legte den Plan seinem Kabinett nie

offiziell vor. Stattdessen versuchte Netanjahu einfach, Teile

des Gebiets zu annektieren, das Trump Israel zugedacht hatte

– und Trump stoppte ihn. Dann kündigten die Vereinigten

Arabischen Emirate an, man werde die Beziehungen zu Israel

normalisieren, sollte Netanjahu seinerseits garantieren, das

Westjordanland nicht einseitig zu annektieren.

So kam das Abraham-Abkommen zustande.

Aber es war nur ein Trostpreis, zwar ein durchaus

nützlicher, aber eben nicht der Jahrhundertdeal,

den Trump anstrebte.

Sollte es nun also zu einem Waffenstillstand

und Geiselaustausch in Gaza kommen, so

hoffe ich, dass Trump diese zweite Chance

nutzt und beide Seiten zu einem Friedensgipfel

nach Camp David einlädt. Die Teilnahme

sollte an das Versprechen geknüpft sein, den

Trump-Plan als Verhandlungsbasis zu

akzeptieren. Ist er dazu in der Lage? Ich weiß

es nicht.

Was ich aber weiß, ist, dass Trump mit seinem

Vorstoß beiden Parteien signalisieren würde:

Ich warte nicht, bis Ihr irgendwann die

Initiative ergreift. Denn die Eindämmung dieses

Konflikts ist für die USA von fundamentalem

Interesse, bevor wir noch tiefer in einen

Nahostkrieg hineingezogen werden. Und

wir wissen, dass Trump keine Kriege im Nahen

Osten mag.

Es wäre auch ein Signal, dass Trump derjenige ist, der die

strategische und politische Agenda vorantreibt und nicht die

rechten Befürworter der israelischen Siedlungspolitik. Sollten

sie die Vorgehensweise der Trump-Regierung bestimmen,

dann viel Glück dabei, allein das Abraham-Abkommen umzusetzen,

geschweige denn, es auf Saudi-Arabien auszudehnen.

Trump würde Amerika im Nahen Osten und in der Welt isolieren.

Machen wir uns keine Illusionen: Die rechtsextremen

Christen und Juden, die das Westjordanland und den Gazastreifen

annektieren wollen, werden Israel zu Tode lieben –

indem sie rund sieben Millionen Juden auffordern, für immer

die Kontrolle über etwa sieben Millionen Araber in Israel, dem

Westjordanland und dem Gazastreifen zu behalten.

Präsident Biden ist ein redlicher Mann, der sein Bestes

gab, um Israel nach dem Hamas-Angriff mit

Waffen zu beliefern und diplomatisch zu unterstützen.

Aber Biden hat im Hinblick auf die US-Interessen

einen großen Fehler gemacht. Er hat der Welt

nie den umfassenden Friedensplan präsentiert, den er hinter

den Kulissen vorbereitete: Saudi-Arabien erhält darin Sicherheitsgarantien

von den USA und nimmt im Gegenzug diplomatische

Beziehungen mit Israel auf. Netanjahus Regierung

wiederum verhandelt mit der Palästinensischen Autonomiebehörde,

die dem Osloer Abkommen über eine Zweistaatenlösung

zugestimmt hat.

Biden ließ sich von Netanjahu einfach vorführen, der einen

solchen Deal aus der Öffentlichkeit heraushielt. Denn Bibi

wusste, dass er ihn entweder hätte akzeptieren müssen, was

Trump legte als

einziger Präsident

einen genauen Plan

für die Koexistenz

von Israelis und

Palästinensern vor

Thomas L. Friedman

den Bruch der israelischen Regierungskoalition bedeutet

hätte, herbeigeführt von den fanatischen jüdischen Extremisten

in seinem Kabinett. Oder er hätte Biden mit seinem Plan

öffentlich brüskieren müssen. Netanjahu spielte auf Zeit und

stellte sein eigenes politisches Überleben über die Interessen

Israels.

Doch Amerika und die Juden in Israel und außerhalb

haben einen hohen Preis dafür bezahlt, dass Biden keinen

Plan veröffentlichte. Warum? Es war von Anfang an klar, dass

der Gazakrieg eine beträchtliche Zahl ziviler Opfer fordern

würde, weil die Hamas gezielt Raketen und Kampfflugzeuge

in Häusern, Moscheen und Krankenhäusern versteckte. Seit

die Hamas diesen Krieg begann, gab es Zehntausende

Tote in Gaza.

Und heute, 14 Monate später – ohne einen

israelischen oder US-amerikanischen Plan für

„den Tag danach“ und mit den Bildern von der

Zerstörung in Gaza, die stündlich über die sozialen

Medien verbreitet werden – haben sich viele

junge Menschen auf der ganzen Welt gegen

Israel und Amerika gewandt. Für sie scheint es,

als ob Israel allein um des Tötens willen in Gaza

tötet. Und ich will mir gar nicht die weltweiten

Reaktionen ausmalen, wenn erst die internationale

Presse ohne Beschränkungen durch die

israelische Armee nach Gaza einreisen und die

Zerstörung aus der Nähe ansehen darf.

Israel war seit Kriegsbeginn nie militärisch

stärker, gleichzeitig aber auch nie so isoliert.

Umfragen zeigen, dass der Krieg Kamala Harris

bei vielen jungen Wählern in Michigan Stimmen

kostete, weil sie nie überzeugend vermitteln

konnte, dass die Biden-Harris-Regierung Waffen

nach Israel lieferte, um die Hamas zu besiegen

und einen (existierenden) US-Plan für die Zweistaatenlösung

umzusetzen. Kein Plan, keine Zuhörer, keine Wähler.

Wenn Trump seinen Vorschlag nun wieder aufleben ließe,

würde er der Welt signalisieren, dass Israel keinen Blankoscheck

erhält, unbegrenzt in Gaza weiterzukämpfen, ohne

einen eigenen glaubwürdigen Plan für die Zeit danach. Es

wäre auch ein Signal an die Palästinenser, endlich eine vernünftige

Verhandlungsstrategie vorzulegen, bei der es nicht

nur darum geht, sich zu beschweren. Und es wäre eine deutliche

Botschaft an Teheran, dass Trump beabsichtigt, Iran militärisch

und diplomatisch zu isolieren, indem er, wie er es in

seinem Plan ausdrückte, „die ‚Palästinenser‘ in ihrem legitimen

Bestreben nach Selbstverwirklichung“ unterstützt, wenn

sie ihrerseits einen stabilen Frieden mit Israel schließen.

Als ich kürzlich vor Ort mit israelischen Juden und Arabern

sowie Palästinensern im Westjordanland sprach, erkannte ich

eine Gemeinsamkeit: Sie alle sind von diesem Krieg erschöpft

und die besten Köpfe auf beiden Seiten denken darüber

nach, ihn hinter sich zu lassen. Wie Hani Alami, ein palästinensischer

Telekommunikationsunternehmer aus Jerusalem,

der mir sagte: „Diejenigen auf beiden Seiten, die gehen wollen,

sind diejenigen, die in Frieden leben wollen, und diejenigen,

die bleiben wollen, sind diejenigen, die am ehesten weiterkämpfen

wollen.“ Überraschen Sie sie doch, designierter

Präsident Trump!

Zumindest werden Sie erstaunt sein, was für eine Debatte

Sie unter Palästinensern und Israelis auslösen. Im besten Fall

könnte ein Platz in den Geschichtsbüchern für Sie reserviert

sein, mit dem Sie nicht gerechnet haben. 7

FOCUS 50/2024

43


POLITIK

Libertärer Messias

Javier Milei, 54, ist seit

dem 10. Dezember 2023

Präsident Argentiniens –

er bezeichnet sich als

„Anarchokapitalisten“

Das Jahr der Kettensäge

Mit unorthodoxen Methoden unterzieht Präsident Javier Milei Argentinien einer

Schocktherapie, die auch Politikern in Deutschland gefällt. Aber wirkt sie denn?

TEXT VON ANDREAS FINK

Spricht Javier Milei über sein

Werk, dann gerne in epochaler

Dimension. Argentinien

stehe „die beste Zeit seit

100 Jahren“ bevor, verkündete

der Präsident kürzlich.

Unternehmer sollten „auf

den Zug des Fortschritts aufspringen“,

denn ab jetzt werde alles nur noch besser.

Ein Jahr ist er nun im Amt. Ein Jahr,

das mit düsteren Prognosen begann. Und

das mit einem Boom an den Börsen endet.

Milei, der Wirtschaftsprofessor und vormalige

TV-Kommentator, der seinen Lieblingshund

klonen ließ, der Lederjacken

trägt und sich wie Elvis Presley frisieren

lässt, übernahm am 10. Dezember 2023

einen Staat „am Rande des Abgrunds“,

wie er sagte – mit einer Wirtschaft, die seit

zwölf Jahren nicht gewachsen war. Deren

Devisenreserven nicht nur vollkommen

erschöpft waren, sondern sogar um elf

Milliarden im Minus lagen. Importeure

schuldeten ausländischen Lieferanten fast

54 Milliarden Dollar, also rund zehn Prozent

der gesamten Wirtschaftsleistung.

Im Dezember 2023 wuchs die Inflation

auf 211 Prozent.

Mit libertären Ideen gegen den Staat

Milei trat an, um all das zu stoppen. Im

Wahlkampf, eine Kettensäge schwingend,

versprach er eine radikale Sparpolitik,

um den Absturz in die Hyperinflation

zu verhindern. Er schwor, das Dickicht

der Regularien und der Bürokratie zu

entzerren. Denn sein wichtigstes Ziel als

selbsterklärter „Anarchokapitalist“ ist,

den Staat maximal zurückzudrängen –

nur noch für die Verteidigung und innere

Sicherheit werde er gebraucht. Den Rest

soll der Markt richten.

„Ich bin wie ein Maulwurf, der den Staat

von innen aushöhlt“, sagte Milei. Beim

Weltwirtschaftsforum in Davos wurde er

jedenfalls für seine libertären Ideen gefeiert,

die auch den Liberalen gefallen – etwa

FDP-Chef Christian Lindner, der meint,

etwas mehr Milei würde auch Deutschland

nicht schaden, ihn beeindrucke

jedenfalls dessen „Kraft zur Disruption“.

Doch Mileis Erfolge begeistern nicht

nur seine Fans. Die in einem Jahr seiner

Regierung erzielten Resultate erstaunen

selbst seine Kritiker.

So konnte Milei die Teuerungsrate fast

halbieren, obwohl er viele vormals gede-

Fotos: AP Photo/Natacha Pisarenko, AP Photo/Rodrigo Abd

44 FOCUS 50/2024


ARGENTINIEN

Solch ein brutales Wirtschaftstief war zu

befürchten, nach Jahrzehnten staatlicher

Eingriffe in das Preisgefüge. Darum zeigen

die Argentinier trotz aller Härten

immer noch Verständnis für das rabiate

Vorgehen Mileis. Tatsächlich ist er der

erste Staatschef seit 20 Jahren, dessen

Zustimmungswerte im ersten Amtsjahr

gestiegen sind – von 45 auf 48 Prozent.

„Wir haben das härteste Sparprogramm

der Menschheitsgeschichte durchgezogen

und keinen Deut an Zustimmung verloren“,

sagt Milei. Die große Frage ist,

wie lange das noch gilt. Wie lange kann

Argentinien eine Rezession verkrafckelte

Preise für Waren, Dienste und Energie

freigab. Die Preise für das Jahr 2024

werden um 120 Prozent steigen, schätzen

die meisten Ökonomen – was zunächst

enorm klingt, aber ein Riesenerfolg ist bei

der Inflationsrate von zuletzt 211 Prozent

im Vorjahr. 2025, nach all den Korrekturen

im Preisgefüge, soll die Inflation gar

auf etwa 25 Prozent jährlich sinken, prognostiziert

die Regierung.

Und noch ein chronisches Laster beendete

Milei: Er weigerte sich, neue Schulden

aufzunehmen. Erstmals seit 2008

finanziert sich der Staat allein aus dem,

was er einnimmt. Sämtliche öffentliche

Ausgaben konnten 2024 um 27 Prozent

reduziert werden. Am meisten sparte

Mileis Finanzminister Caputo, indem er

Renten und Staatsgehälter nicht analog

zum Preisanstieg anhob.

Sofort nach Mileis Amtsübernahme wertete

die Zentralbank den Peso um 54 Prozent

ab. Der Präsident erlies kurz darauf

ein Mega-Dekret, das einen Dschungel

aus Vorschriften lichtete und die Preisbindung

für Lebensmittel, Telekommunikation

oder Krankenversicherungen aufhob.

Er kassierte auch das Mietrecht ersatzlos,

es gilt keine Mietpreisbremse mehr, es

gibt keinen Kündigungsschutz. Das hatte

zwei Konsequenzen: Das Angebot an

Wohnungen in Buenos Aires stieg sofort

um fast 200 Prozent. Aber die Wohnkosten

nahmen daraufhin noch stärker zu als

die allgemeine Teuerung.

Zu den Sparmaßnahmen gehörte außerdem,

dass Milei neun von 18 Ministerien

abschaffte. 30 000 Staatsangestellte haben

ihre Jobs verloren, 70 000 sollen es insgesamt

werden. Und der Präsident bekundete

kürzlich: „Meine Verachtung für den

Staat ist grenzenlos.“

Auch vom Parlament hält er nicht viel

und nennt es „Rattennest“. Zwei Mal schon

legte er sein Veto ein, nachdem die Abgeordneten

gegen den erklärten Willen des

Präsidenten Erhöhungen für Rentner und

Zuschüsse für Universitäten beschlossen

hatten. Das löste Streiks an den Unis aus

– und einen Boom an den Finanzmärkten.

Neun Monate hatten Fondsmanager

abgewartet, ob Milei seine radikalen

Ansagen tatsächlich umsetzen kann. Als

er mit seinen zwei Vetos bewies, dass er

entschlossen ist, seinen Kurs gegen jegliche

Widerstände durchzusetzen, begann

ein veritabler Börsenboom. Argentinische

Aktien legten 2024 um durchschnittlich

105 Prozent zu. Einige Bankaktien stiegen

mit einem Plus von bis zu 245 Pro-

57 %

der Argentinier leben unter der

Armutsgrenze – die Quote ist seit Mileis

Amtsantritt gestiegen. Weil er Sozialleistungen

streicht, bieten NGOs

Massenspeisung an – wie hier in Buenos

Aires, direkt vor dem Präsidentenpalast

zent sogar doppelt so stark wie der Bitcoin.

Allein im November wuchsen die

vier wichtigsten Staatsanleihen um durchschnittlich

15 Prozent. Die Risikoaufschläge

für neue Kredite fielen auf die Hälfte.

Um den Schwarzmarktkurs für den

US-Dollar zu senken, der als Parallelwährung

Argentiniens Fieberkurve anzeigt,

beschloss der Präsident, gar keine

neuen Pesos mehr zu drucken. Dieser

radikale Schnitt machte die Landeswährung,

die Milei im Wahlkampf noch als

„Exkrement“ bezeichnet hatte, rasch zum

begehrten Gut. Die Idee hinter der Verknappung:

Firmen und wohlhabende Bürger

sollen ihre gebunkerten Dollar eintauschen

und einsetzen. Eine Steueramnestie

im September brachte weitere 20 Milliarden

Dollar ins Finanzsystem und drückte

den Schwarzmarktkurs weiter. Der liegt

jetzt nur 15 Prozent über dem offiziellen

Kurs – vor einem Jahr hatte die „Wechselkurslücke“

noch 100 Prozent betragen.

Aber der starke Peso hat auch eine

Kehrseite. Binnen weniger Monate wurde

Argentinien von einem der billigsten Länder

Lateinamerikas zu einem der teuersten.

Das Durchschnittseinkommen allerdings

liegt umgerechnet immer noch unter

1000 Euro monatlich. U-Bahn-Tickets kosten

jetzt zehnmal so viel wie vor einem

Jahr, Wasser, Gas und Heizung sind deutlich

teurer geworden, die Gesundheitskosten

haben sich vervielfacht. Viele Rentner

stehen nun vor der Frage, ob sie ihre

Pesos lieber für Essen oder für Arzneimittel

ausgeben sollen. Rund 90 Prozent der

7,5 Millionen Rentner beziehen nur den

Mindestsatz von etwas mehr als 300 Euro.

Nur wenigen Argentiniern bleibt noch

Geld übrig, um zu konsumieren oder gar

zu bauen. Darum ist die Baubranche um

30 Prozent eingebrochen, die Produktion

von Rohstahl sank um 22 Prozent, Handel

und Gastronomie darben. Laut der renommierten

Beratungsfirma Orlando Ferreres

wird die argentinische Wirtschaft in

diesem Jahr um 4,7 Prozent schrumpfen

– und dabei wird die Rezession sogar

noch leicht abgemildert, weil die Landwirte

nach dem Dürrejahr 2023 nun fast

90 Prozent mehr produzierten.

Die Popularität des Präsidenten wächst

FOCUS 50/2024 45


POLITIK

ARGENTINIEN

ten? Wie teuer können Lebensmittel, Mieten

und Medikamente noch werden, ehe

es zu Protesten kommt?

Seit Monaten zitiert Milei Statistiken,

die belegen sollen, dass die Wirtschaft

wieder wächst. Bei genauem Hinsehen

wird klar, dass sich das auf wenige Sektoren

beschränkt: Agrarwirtschaft und die

Förderung von Öl, Gas und Lithium. Alles

andere – von Fabriken bis zu Hotels – läuft

bestenfalls auf halber Kraft.

Und es könnte noch dramatischer werden,

wenn im neuen Jahr das „impuesto

país“, ein Preisaufschlag auf importierte

Waren und Zahlungen in Devisen fällt.

Dann werden mehr ausländische Waren

der heimischen Industrie Konkurrenz

machen, der sie jahrzehntelang ausgewichen

war. Anstelle in ihre Werke zu

investieren, finanzierten argentinische

Unternehmer lieber Freundschaften zu

Politikern, mit dem Ergebnis, dass hohe

Zollschranken es ihnen erlaubten, unterklassige

Produkte zu überhöhten Preisen

loszuwerden. Begründet wurde das stets

„Wir haben das härteste

Sparprogramm der

Menschheitsgeschichte

durchgezogen“

Javier Milei

mit dem Schutz argentinischer Arbeitsplätze.

In seinen Jahren als TV-Kommentator

ließ Milei keine Talk-Show aus, um

die „Kaste aus käuflichen Politikern, korrupten

Gewerkschaftlern und gierigen

Unternehmern“ anzuprangern. Nun will

er sie so zum Wettbewerb zwingen.

Industrielle warnen, dass Hunderttausende

Arbeitsplätze auf dem Spiel

stünden. Dabei ist reguläre Beschäftigung

längst ein Minderheitenphänomen

in einer Wirtschaft mit deutlich

mehr informellen Arbeitnehmern als

solchen, die Steuern und Rentenbeiträge

leisten. Bereits früher gab es Versuche,

mit Importen und Regeländerungen

den ökonomisch-politischen Filz zu entwirren:

einmal unter der Militärregierung

in den späten 1970ern, dann noch einmal

von dem Liberalen Carlos Menem in den

1990ern. Beide endeten in Miseren, auf

die dann noch mehr Filz folgte.

Mit seinen Stabilisierungserfolgen und

seinem eisernen Willen wäre Milei eigentlich

ein guter Kandidat für einen neuen

Versuch. Aber nun gibt es ein Problem –

und das heißt Donald Trump. Selbst wenn

Milei zu den wenigen Latinos gehörte, die

Trumps Sieg ausgiebig gefeiert haben,

muss gerade er eine Hochzoll-Politik des

künftigen US-Präsidenten fürchten. Denn

diese würde den Dollar und den Zinssatz

in den USA antreiben, was alle Schwellenländer

schädigt, weil Investoren sichere

Anlagen an Wall Street den riskanten

Auslandsengagements bevorzugen. Darum

haben fast alle Wirtschaften Lateinamerikas

ihre Währungen gegenüber

dem Dollar abgewertet. Brasiliens Waren

sind nun 20 Prozent günstiger.

Der anarcholiberale Argentinier hingegen

setzt seine Schocktherapie fort – und

öffnet die Grenzen. Nicht nur Rentner und

Arbeiter: Auch die Wirtschaft wird jetzt

Mileis Kettensäge kennenlernen. 7


FRANKREICH

Die Fraktionsvorsitzende des RN hatte

Barnier seit seinem Amtsantritt vor sich

hergetrieben. Ständig musste der Premier

neue inhaltliche Zugeständnisse machen –

unter anderem verzichtete er auf die geplante

Erhöhung der Stromsteuern oder

die Eigenbeteiligung bei verschreibungspflichtigen

Medikamenten. So wurde Barnier

zum Premierminister „von Le Pens

Gnaden“ (so der Spott in Paris).

Ob Marine Le Pen nun aber politisches

Kapital aus dem Sturz der Barnier-Regierung

schlagen kann, hängt auch vom Ausgang

des Strafverfahrens ab, das derzeit

gegen sie läuft. Die Fraktionsvorsitzende

des RN steht wegen der mutmaßlichen

Veruntreuung öffentlicher Gelder

vor Gericht. Le Pen drohen bis zu zwei

Jahre Haft sowie eine Geldbuße von

300 000 Euro und der Entzug des passiven

Wahlrechts für fünf Jahre. Dann könnte

die 56-Jährige nicht wie geplant bei den

nächsten Präsidentschaftswahlen kandidieren.

Das Urteil wird für Anfang des

kommenden Jahres erwartet.

Foto: AFP

Rechtsaußen Jordan Bardella und Marine Le Pen führen den Rassemblement National

Sie sagen jetzt, wo’s lang geht

Misstrauensvotum gegen die Regierung:

Warum Frankreich nun das politische Chaos droht

Nur knapp drei Monate hat die

Minderheitsregierung von

Michel Barnier gehalten, nun

erlebt die Fünfte Republik

ihre schwierigste Zeit. Denn

neu gewählt werden kann laut

Verfassung erst ein Jahr nach der letzten

Abstimmung, also frühestens im Juli

2025. Und das bedeutet: Es gibt vorerst

keinen Haushalt und auch keine realistische

Option für eine Regierungsmehrheit

im Parlament.

Das Misstrauensvotum gegen Barnier,

dass der rechtsnationale Rassemblement

National (RN) von Marine Le Pen am Montag

ankündigte, wird kaum für stabile

Verhältnisse sorgen. Im Gegenteil: In

Paris ging man Mitte der Woche davon

aus, dass Präsident Emmanuel Macron

vorübergehend ein Technokratenkabinett

ernennen werde. Manche Beobachter

sprachen sogar davon, dass der gescheiterte

Premier erst einmal weitermachen

werde, wenn auch mit neuen Ministern.

Doch die Möglichkeiten der nächsten

Regierung sind angesichts der Mehrheitsverhältnisse

mehr als begrenzt.

Wie kam es zum Bruch?

Seit den Parlamentswahlen führte Barnier

eine Minderheitsregierung an, die sich auf

das von Macron gegründete Parteienbündnis

Ensemble und die Republikaner stützte.

Im Oktober hatte der Premier einen

Budgetentwurf vorgelegt, mit dem er das

Haushaltsloch von 60 Milliarden Euro stopfen

wollte – mittels Ausgabensenkungen

und höheren Abgaben für Konzerne sowie

Gutverdiener. Das Haushaltsdefizit sollte

von mehr als sechs Prozent in diesem Jahr

auf fünf Prozent im kommenden Jahr sinken.

Vor allem den Finanzmärkten wollte

und musste Barnier signalisieren, dass

der französische Staat auch sparen kann.

Der Premier hatte gehofft, eine Konfrontation

mit den Rechtsnationalen und

Linken zu vermeiden, in dem er sich früh

mit seinen Gegnern beriet und auch auf

Wünsche von Le Pen einging. Am Montag

aber wandte Barnier einen Sonderartikel

der Verfassung an, mit dem er das umstrittene

Gesetz zum Sozialhaushalt ohne

finale Abstimmung durch das Parlament

drücken konnte. Für diesen Fall hatten

Le Pen und die Parteien des linken Lagers

mit einem Misstrauensvotum gedroht.

Was will Marine Le Pen?

Muss der Präsident ebenfalls gehen?

Emmanuel Macron hat seine Aura eingebüßt.

Der Präsident ist noch bis 2027

gewählt, wird von vielen jedoch für die

Krise verantwortlich gemacht. Schließlich

war er es, der Anfang Juni überraschend

die Nationalversammlung aufgelöst hatte

– und damit erst für die politische Instabilität

sorgte, die Barnier seither moderieren

musste. Das Scheitern der Regierung ist

auch das Scheitern des Staatspräsidenten.

Sechs von zehn Franzosen wünschen sich

Macrons Rücktritt – der aber als unwahrscheinlich

gilt.

Was wird aus Frankreichs Demokratie?

Die Stimmung im Land ist schlecht, die

Franzosen haben kein Vertrauen mehr in

die Politik. Sie sind unzufrieden mit dem

Verlust ihrer Kaufkraft, vor allem wegen

der stark gestiegenen Energiepreise.

Jeden Angriff auf ihre sozialen Errungenschaften

lehnen sie ab. Laut einer aktuellen

Umfrage sprachen sich 53 Prozent der

Franzosen für einen Regierungswechsel

aus, unter den RN-Wählern waren es sogar

67 Prozent.

Die beiden großen Volksparteien Republikaner

und Sozialisten haben ihre Wählerschaft

verloren, die Parteienlandschaft

ist zersplittert, an den politischen Rändern

gewinnen die Extremen stetig hinzu. Das

Problem ist nun vor allem der Zorn der

Linken: Denn nach den vorgezogenen

Parlamentswahlen, die das Linksbündnis

Le Nouveau Front Populaire (NFP) de facto

gewann, hatte sich Macron geweigert,

die Sieger mit der Regierungsbildung zu

betrauen, und stattdessen den ehemaligen

Brexit-Unterhändler Barnier zum

neuen Premierminister ernannt. Das hat

viel politisches Vertrauen zerstört. Und so

steckt Frankreich nicht nur in einer finanziellen,

sondern inzwischen auch politischen

Dauerkrise. 7

MARC BROST / TANJA KUCHENBECKER

FOCUS 50/2024

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WIRTSCHAFT

American products first

Der designierte US-Präsident Trump

bei einem Autoevent in Michigan

Foto: Evan Vucci/dpa

48

FOCUS 50/2024


WELTHANDEL

Countdown

zum

Handelskrieg

Trump droht mit Zöllen,

während sich US-Konzerne

in Europa um Steuern

drücken. Der Unmut wächst

TEXT VON SUSANNE STEPHAN

Allein die Poesie, der Wohlklang

des Begriffs! „Tariff“

(Zoll) sei das „schönste Wort

im Wörterbuch, noch schöner

als ‚Love‘“, schwärmte der

frühere und designierte neue

US-Präsident Donald Trump

bei einer Veranstaltung in Auburn Hills

(Michigan). Seit seinem Wahlsieg vergeht

kaum ein Tag, an dem er nicht beteuert,

dass er es ernst meint und den Handel mit

dem Rest der Welt notfalls abwürgen will.

Der Milliardär kündigte Abgaben von

zehn Prozent generell auf alle Importe

an, außerdem 60 Prozent auf Waren aus

China und 25 Prozent auf Einfuhren aus

Kanada und Mexiko. Bis zum Amtsantritt

werden ihm sicher weitere Grausamkeiten

einfallen.

Die deutsche Wirtschaft ist alarmiert.

Ein Handelskrieg könnte sie innerhalb von

vier Jahren 180 Milliarden Euro kosten,

rechnet das „Institut der deutschen Wirtschaft“

vor. „Unsere Sorge ist, dass die Industrie

ihre Produktion in Richtung USA

verlagert“, sagt Markus Ferber (CSU), Abgeordneter

im Europäischen Parlament.

„Das wird sehr bittere Auswirkungen auf

Zulieferer haben“.

In Brüssel stellt man sich ab dem 20. Januar,

dem Tag der Vereidigung Trumps,

auf herausfordernde Verhandlungen ein.

Im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes in

Brüssel, wo Kommissionspräsidentin Ursula

von der Leyen ihr Büro hat, werden

Szenarien durchgespielt, Strategien

FOCUS 50/2024

49


WIRTSCHAFT

erörtert. „Unsere Freiheit und unsere

Souveränität beruhen mehr denn je auf

unserer wirtschaftlichen Stärke“, hat die

alte und neue Präsidentin vor Beginn ihrer

neuen Amtszeit gesagt. Jetzt muss sie

konkret beweisen, dass sie die Verbraucher

und Unternehmern in Europa verteidigen

kann.

Zum Instrumentarium der Kommission

gehören Vergeltungszölle auf US-Produkte

genauso wie Beschwichtigungsgesten.

„Eine Option wäre, dass wir mehr LNG

aus den USA importieren, auch wenn das

die Energiekosten weiter treiben dürfte“,

sagt Ferber. In Deutschland werden außerdem

Forderungen laut, die EU möge jetzt

endlich härtere Bandagen im Umgang

mit den amerikanischen Digitalkonzernen

anlegen. Haben sich Google, Meta,

Apple, Amazon, Microsoft und Netflix in

Europa nicht lange genug um eine faire

Besteuerung gedrückt?

Streng genommen ist der Exportüberschuss

Europas, den Donald Trump beklagt,

eine Schimäre. Zwar weist die Handelsbilanz

zwischen den USA und den EU

tatsächlich ein Minus auf der amerikanischen

Seite auf. Das hängt aber auch

mit der kreativen Rechnungslegung der

Digitalwirtschaft zusammen. Deren Bilanzen

und Geschäftsberichte haben mit der

Realität oft wenig zu tun.

Nur drei Prozent Steuern auf Digi-Tech

Jahrelang nutzte beispielsweise Microsoft

die niedrigen Steuern in Irland. Das

Unternehmen stellte seinen Gewinn gegenüber

dem Fiskus so dar, als würde er

fast ausschließlich auf der Insel anfallen.

„Im Geschäftsjahr 20/21 sollen in Irland

angeblich über 22 Milliarden Euro Gewinn

erwirtschaftet worden sein“, erklärt Christoph

Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit.

„In Deutschland mit seiner

mehr als doppelt so hohen Steuerlast

waren es laut Microsoft nur 324 Millionen

Euro. Ähnlich kreativ, jedoch nach einem

anderen Muster verfuhr die Google-Muttergesellschaft

Alphabet: Wegen neuer,

günstiger Steuergesetze im Stammland

verlegte der Digitalriese 2018 seine Gewinne

auf dem Papier aus Europa zurück

in die USA. Die irische Alphabet-Tochter

verbuchte 2021 noch 25 Prozent der globalen

Umsätze, aber nur drei Prozent der

Gewinne. „Weltweit drückte der Konzern

seine Steuerlast 2021 auf 16 Prozent“, so

Trautvetter.

In Deutschland, berichtet Trautvetter,

würden die großen Digitalkonzerne etwa

drei Prozent Steuern auf ihre hier erwirtschafteten

Gewinne zahlen. Der herkömmliche

deutsche Maschinenbauer

oder Handwerker kommt nicht so billig

davon. Im Schnitt, errechnete das Leibniz-

Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung

(ZEW) in Mannheim, überwiesen

deutsche Unternehmen 2023 knapp

30 Prozent ihrer Gewinne an den Fiskus.

Gelddruckmaschinen wie Meta (Facebook,

Instagram, Whatsapp) dagegen tun

sich leicht damit, ihre globale Wertschöpfung

weitgehend beliebig zu beziffern.

Codes sind für die Beamten im Finanzamt

schwer zu fassen. Besonders hilfreich

für US-Konzerne sind die Verrechnungspreise

für Lizenzen und Nutzungsrechte,

die an nationalen Gesellschaften in Europa

gehen. „Diese Verrechnungspreise

werden so festgesetzt, als würden durchschnittliche,

unabhängige Unternehmen

miteinander handeln“, sagt Trautvetter.

Das bedeutet: Die Techkonzerne gehen

nach außen von viel zu niedrigen Renditen

aus. Am Ende hat ihr Zahlenwerk mit

der realen Wertschöpfung wenig zu tun.

Digitale Vormacht: Handelsbilanz EU–USA

Exporte in in Mrd. Euro

EU-27, ohne Großbritannien

digitale Güter*

physische Güter

15 15

Mrd.

336

Mrd.

2017 2020 2022 2017 2020

2022

EU

USA

700

600

500

400

300

200

100

*berücksichtigt wurden die jeweils 69 größten börsennotierten

Unternehmen (Internet, Technologie und Software)

Quelle: EU-Kommission, Office of the United States Trade

United States Trade Representative

0

WELTHANDEL

„Jede Schwäche wird

eiskalt ausgenutzt.

Unsere Freiheit und

Souveränität beruhen

mehr denn je auf

unserer wirtschaftlichen

Stärke“

EU-Kommissionspräsidentin

Ursula von der Leyen (CDU)

Wo es opportun erscheint, rechnen sich

die Softwareriesen arm. „Während unsere

Exporte über Zölle, Unternehmensbesteuerung

und klassische Abgaben zur

Finanzierung des amerikanischen Staatshaushaltes

beitragen, ist dies bei den amerikanischen

Hochtechnologie-Exporten

nach Europa nicht der Fall“, sagt Paul-

Bernhard Kallen, Verwaltungsratschef

der Hubert Burda Media Holding, zu der

auch FOCUS gehört. „Die großen amerikanischen

Digitalunternehmen nutzen in

hohem Maße unsere Infrastruktur, bezahlen

in Europa aber praktisch keine Steuern

und Abgaben.“ Dies bedeute für die

US-Riesen „einen wesentlichen Vorteil im

Wettbewerb mit europäischen Digitalunternehmen

und beschleunigt den Wohlstandstransfer

in die USA“.

Vestagers Freudentränen

Margrethe Vestager machte schon früh

Front gegen die Tech-Giganten. Es sei

schlicht unfair, wenn Konzerne ihre Macht

ausnutzten und „nichts zur Gesellschaft

beitragen“ würden, findet die frühere

EU-Wettbewerbskommissarin. Über ihre

Amtszeit hinweg verhängte sie Kartellstrafen

in Milliardenhöhe. Die Dänin zog

in ihrem Kampf alle Register, klagte bis in

die letzte Instanz gleiche Wettbewerbsregeln

für alle ein. Bei ihrem Feldzug legte

sie sich auch mit Staaten wie Irland, die

Niederlande oder Malta an.

Schon 2019 forderte Vestager eine Digitalsteuer,

sollten sich die OECD-Staaten

nicht auf eine Mindeststeuer einigen können.

Mittlerweile gilt in weiten Teilen

der Welt eine Mindeststeuer von 15 Prozent

für internationale Unternehmen mit

einem Umsatz von mehr als 750 Millionen

Euro. 141 Staaten haben sich dem Anti-

Dumping-Bündnis angeschlossen, darunter

auch Steuer-Oasen wie Irland. Gleichzeitig

treibt die EU mit Nachdruck

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50 FOCUS 50/2024


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WIRTSCHAFT

alte Steuerschulden ein. Erst vor Kurzem

entschied der Europäische Gerichtshof,

Apple müsse 13 Milliarden Euro nachzahlen.

Für Vestager, die nach zehn Jahren

ihr Büro in der Brüsseler EU-Kommission

demnächst räumen wird, war es

wohl das schönste Abschiedsgeschenk.

Ihr seien die Freudentränen gekommen,

als sie von der Entscheidung der Richter

erfahren habe, erzählte sie.

Allerdings bleibt für ihre Nachfolgerin,

die Spanierin Teresa Ribera, viel zu tun.

Die globale Steuergerechtigkeit ist mit

der Mindeststeuer nur einen Schritt vorangekommen.

15 Prozent Steuern scheinen

angesichts der Marktmacht der multinationalen

Konzerne niedrig. Außerdem

bleibt die Trickserei: Auf die entscheidende

Frage, wie der grenzüberschreitenden

Zahlenakrobatik ein Riegel vorgeschoben

werden kann, gibt es immer noch keine

Antwort. Eine rasche Einigung scheint

angesichts der komplizierten Materie und

transatlantischer Animositäten fraglich.

Das ist einerseits deprimierend. Andererseits

eröffnet die Konfrontation mit

Donald Trump zumindest theoretisch die

Möglichkeit, dass die EU nicht mehr lange

auf globale Steuerstandards hofft, sondern

ihre eigenen Regeln aufstellt.

Günstiger Zeitpunkt für Reform

Für den Ökonomen Henning Vöpel, Professor

für Volkswirtschaftslehre und Chef

des Centrum für Europäische Politik, ist

jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Interessen

der EU notfalls im Alleingang durchzusetzen.

Vöpel fordert einen gesonderten

Zugriff des Fiskus auf digitale Wertschöpfung.

Nicht mehr ihr Umsatz und Gewinn

sollen allein ausschlaggebend sein, sagt

er. An ihre Stelle soll eine Abgabe auf die

Software, eine Steuer auf den Umsatz mit

Werbung oder Daten plus eine Gebühr für

den Netzzugang treten.

Letzteres deswegen, weil die Internet-

Riesen massiv von europäischen Datenkabeln

profitieren, ohne für sie zu zahlen.

Für kleine Digital-Schmieden könnten

nach der Logik einer fairen Besteuerung

laxere Regeln getroffen werden, um ihre

Kreativität nicht zu strangulieren.

„Seit 2018 hätte die EU über eine Digitalsteuer

30 Milliarden Euro einsammeln können“,

argumentiert Vöpel. Diese Zahl wirkt

angesichts der riesigen Summen, die in

Europa bewegt werden, nicht hoch. Aber

„wir stehen erst am Anfang der Digitalisierung“,

so der Experte. Die Wertschöpfung

multinationaler Unternehmen werde

sich immer mehr in den Bereich Software

verschieben. Früher oder später müssten

die Regierungen auf die veränderte Lage

reagieren. „Deutschland und die EU müssen

die Spielregeln ändern, um ihre Wettbewerbsfähigkeit

herzustellen und ihre

Infrastrukturkosten breiter zu refinanzieren“,

insistiert auch Paul-Bernhard Kallen.

Vöpels Pläne bergen das Potenzial, weiteren

Zunder in die europäisch-amerikanischen

Auseinandersetzungen zu geben.

Würde die Kommission damit ihre Position

am Ende verschlechtern? Im Gegenteil,

glaubt Vöpel: „In der Welt der Deals muss

man Instrumente im Kasten haben, die

einem am Verhandlungstisch eine gewisse

Wahrnehmung verschaffen.“

„Eine effektive Besteuerung der amerikanischen

Digitalwirtschaft wäre eine

Option“, sagt auch CSU-Mann Markus

Ferber. Er gibt aber zu bedenken, dass

eine Einigung innerhalb der EU „auf die

Schnelle kaum machbar“ sei. Vielleicht,

hoffen viele Entscheidungsträger der EU,

isst Donald Trump seine Suppe ja doch

nicht so heiß, wie er sie kocht.

Ein ranghoher Brüsseler Experte warnt

vor einer vorschnellen Eskalation. „Die

Steuervermeidung durch Microsoft

100 %

80 %

60 %

40 %

20 %

Anteil des im Ausland

verbuchten Gewinns

Steueroasengewinne

Mrd. US-Dollar

+3,0

+2,5

+2,0

+1,5

+1,0

+0,5

0 %

–0,5

1997 2000 2005 2010 2015 2020 2023

Flexibel Je nachdem, wie sich die Gesetzgebung international

entwickelte, verschob Microsoft seine Gewinne

Quelle: Netzwerk Steuergerechtigkeit

0

WELTHANDEL

„Es ist wichtig,

den europäischen

Steuerzahlern zu

zeigen, dass wir

Steuergerechtigkeit

durchsetzen können“

Ex-EU-Wettbewerbskommissarin

Margrethe Vestager zu den

Verpflichtungen der Digitalkonzerne

USA sind unverändert Mitglied der OECD

und der Nato“, gibt er zu bedenken. „Es

gibt nach wie vor die Chance, dass man

sich zumindest auf den Teil der Übereinkunft

einigt, die mehr oder minder fertig

bei der OECD liegt.“

Einzelne EU-Staaten scheinen sich dagegen

zwischenzeitlich von der Hoffnung

verabschiedet haben, die Union könne

Google oder Amazon fiskalisch Paroli bieten.

Frankreich und Italien führten 2019

eine dreiprozentige Steuer auf digital

erwirtschaftete Umsätze ein. Österreich

folgte 2020, Spanien 2021.

Der Vorteil nationaler Alleingänge liegt

auf der Hand: Sie können relativ problemlos

beschlossen und umgesetzt werden.

Vöpel warnt aber vor einem fiskalischen

Flickenteppich: „Wir müssen die digitale

Ökonomie europäisch verstehen.“ Auch

Ferber ist skeptisch. Wenn jedes Land fiskalpolitisch

sein eigenes Süppchen koche,

bleibe der Binnenmarkt auf der Strecke.

„Im Kern täten wir dann genau, das, was

Trump will.“ Dessen Politik des Teilens

und Herrschens „sollten wir eigentlich

nicht die Hand reichen“.

Nachteil nationaler Alleingänge

In den Staaten, die einen nationalen Alleingang

wagten, war die Freude über

die Digitalsteuer tatsächlich zum Teil

kurz, weil die USA mit massivem Druck

reagierten. Trump drohte Frankreichs

Präsident Emmanuel Macron in seiner

ersten Amtszeit mit Zöllen von bis zu

100 Prozent auf französischen Käse und

Champagner. Auch sein Nachfolger Joe

Biden gab sich kompromisslos. Auf Verlangen

der USA entschloss sich Italien,

seine Digitalabgabe auf kleine und mittlere

Betriebe ausweiten.

Dann trifft man zwar immer noch die

Angreifer aus dem Silicon Valley. Aber

auch die heimische Digitalwirtschaft. 7

Fotos: John Thys/dpa, Johanna Geron/REUTERS

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52 FOCUS 50/2024


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WIRTSCHAFT

EnBW-Chef

Georg Stamatelopoulos

lenkt seit März das

Geschäft des süddeutschen

Energieversorgers

54 FOCUS 50/2024


„Die Energiewende ist zu teuer

und zu kompliziert“

Der Chef des Energiekonzerns EnBW, Georg Stamatelopoulos, fürchtet wachsende

Proteste im Volk und fordert mehr Markt in der Energiepolitik

TEXT VON MATTHIAS JAUCH UND LARA WERNIG FOTOS VON NICO KURTH

ENERGIE

E

Er weiß, wie Energiewende geht. Jahrelang

forcierte Georg Stamatelopoulos bei

EnBW den Ausbau von Wind- und Solarkraft,

verantworte später den Betrieb der

herkömmlichen Erzeugung und trieb den

Rückbau von Kohle- und Atomkraftwerken

voran. Seit März leitet der gelernte

Ingenieur die Geschicke des drittgrößten

deutschen Energiekonzerns mit einem

Umsatz von gut 44 Milliarden Euro. Das

Ampel-Aus liegt wenige Wochen zurück:

Zeit für eine Bilanz der Energiepolitik.

Herr Stamatelopoulos, als vor wenigen

Wochen die Ampel-Regierung scheiterte,

waren viele erleichtert. Wie ging es Ihnen?

Veränderung ist prinzipiell etwas Positives,

kann aber auch Verunsicherung mit

sich bringen. Der Tag startete ja bereits

mit einer Überraschung: Die US-Wahl war

unerwartet schnell entschieden. Dann

kam das Ampel-Aus und ich stellte mir

sofort die Frage: Was heißt das für die

immerhin sechzehn Gesetze, die auch die

EnBW betreffen und nun in der Schwebe

bleiben.

Zum Beispiel das Kraftwerkssicherheitsgesetz.

Dutzende Gaskraftwerke

müssen gebaut werden, um die Kohlemeiler

zu ersetzen. Was bedeutet das

Ampel-Aus für die Pläne?

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die

Bundesregierung keine Mehrheit für das

Gesetz bekommen. Das ist schon bitter,

denn wir warten seit Jahren auf eine klare

Regelung. Bereits die Ankündigung noch

zu Ampel-Zeiten, erste Ausschreibungen

Anfang 2025 stattfinden zu lassen, erschien

FOCUS 50/2024

uns recht spät. Wenn alles gut läuft, bedeuten

die Neuwahlen eine weitere Verzögerung

von nur drei bis vier Monaten.

Kommt aber die neue Regierung nicht

schnell zusammen oder will sie umfangreiche

Änderungen am Entwurf vornehmen,

verzögert sich das alles noch weiter.

Es droht dann eine längere Hängepartie.

Das sollte möglichst verhindert werden.

Gefährdet die Hängepartie den Kohle-

Ausstieg bis 2030?

Dieses Datum steht im Koalitionsvertrag

der Ampel. Im Gesetz steht das Jahr

2038. Meine Meinung ist: Wir brauchen

gar keinen vorab definierten Termin für

den Kohleausstieg. In Großbritannien

brauchte es den ja auch nicht. Die Kraftwerke

werden von alleine unwirtschaftlich.

Der zunehmende Ausbau der erneuerbaren

Energien verdrängt sie, macht sie

immer unwirtschaftlicher. Das regelt also

der Markt. Aber: Man braucht eine jederzeit

verfügbare Alternative zur Kohle.

Denn die Versorgungssicherheit können

wir nicht aufs Spiel setzen.

Auch EnBW produziert noch immer Kohlestrom.

2028 wollen Sie aussteigen.

Wir haben immer gesagt, dass die

Umsetzung dieses Ziels vom Stand der

Energiewende abhängt und wir die Versorgungssicherheit

nicht aufs Spiel setzen

werden. Wir bauen bereits Gaskraftwerke

– das reduziert sehr bald unsere

Kohleverstromung. Das Ziel eines Kohleausstiegs

in 2028 bleibt. In der aktuellen

Situation, mit den vielen Unklarheiten

zu Kraftwerkssicherheitsgesetz und

Kapazitätsmarkt, können wir aber nicht

ausschließen, dass wir über 2028 hinaus

Kohle verstromen müssen.

Dann müsste Ihr Appetit nach neuen

Gaskraftwerken doch recht groß sein.

Es wird im Süden jedenfalls eine Menge

neuer Gaskraftwerke brauchen, damit

das Stromsystem stabil bleibt. Wir sind

bereit, einen guten Anteil davon zu bauen.

Wie groß unser Appetit sein wird, hängt

dann von den Bedingungen der Ausschreibungen

ab.

Friedrich Merz sagt, man müsse Windräder

wieder abbauen, „weil sie hässlich sind“.

Jens Spahn würde gerne Atomkraftwerke

wieder einschalten. Fürchten Sie eigentlich

den Ausgang des Wahlkampfes?

Die Transformation des Energiesystems

ist sehr weit fortgeschritten und nur mit

großem finanziellem Einsatz umkehrbar.

Es geht zukünftig eher um Anpassungen

und kleine Korrekturen, die das System

optimieren. Aber ich würde ausschließen,

dass sich unsere Energiepolitik grundlegend

verändern wird – auch mit einer

neuen Bundesregierung.

Wen wünschen Sie sich als nächsten

Bundeskanzler?

Ich wünsche mir eine stabile Regierung

mit einer stabilen Mehrheit im Parlament,

die umsetzungsfreudig und durchsetzungsfähig

ist. Das ist mir wichtiger als

die Person an der Spitze.

Sie beschreiben Eigenschaften, für die die

Ampel schon lange nicht mehr stand ...

… weshalb sie sich selber aufgelöst hat.

Wie steht es nach drei Jahren Ampel

um die Energiewende?

Das Positive ist: Wir haben mittlerweile

fast 60 Prozent erneuerbarer Energien im

Netz und nicht an Versorgungssicherheit

verloren. Die Börsenstrompreise sind wieder

auf niedrigem Niveau wie vor Corona

und dem Ukraine-Krieg. Es gibt auch kein

anderes Land, das so weit beim Aufbau

einer Wasserstoff-Infrastruktur ist.

Aber?

Wir sollten mehr Markt wagen. Ich

glaube an die Wirkung eines CO₂-Preises.

Wenn er eine größere Rolle spielen würde,

wäre ein politisch festgelegtes Datum für

den Kohleausstieg überflüssig. Vor allem

aber müssen wir stärker auf die Bezahlbarkeit

der Energiewende achten. Wir

können nicht immer treffsicher die teuerste

Lösung wählen. So, wie die Energiewende

bisher gemacht wurde, ist sie

zu teuer und zu kompliziert.

Was meinen Sie damit?

Beim Ausbau der großen Stromnetze

etwa setzen wir in Deutschland auf

55


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WIRTSCHAFT

Erdkabel anstatt auf Freileitungen, letztlich,

weil diese weniger Widerstand bei

den Menschen vor Ort hervorrufen. Wir

versuchen also mit Geld ein Problem

der lokalen Akzeptanz zu lösen, verlieren

aber die allgemeine Akzeptanz. Das

kostet 20 Milliarden Euro mehr. Die Rechnung

tragen die Stromkunden. Deutschland

sollte künftig wieder stärker auf Freileitungen

setzen.

Und doch drohen etwa die von Wirtschaftsminister

Robert Habeck geplanten Klimaschutzverträge

auf der Strecke zu bleiben.

Ist der grüne Umbau in Gefahr?

Das Beispiel zeigt einmal mehr, wie

gewaltig die Kosten für den Umbau sind

– gerade auch aufseiten der energieintensiven

Industrie. Der grüne Umbau

ist dann in Gefahr, wenn wir Industrie wie

Menschen überfordern. Ambitionierte

Ziele sind das eine, aber die neue Bundesregierung

muss auch darauf schauen,

dass Deutschland und die EU insgesamt

nicht weiter an Wettbewerbsfähigkeit

einbüßen.

Eine erfolgreiche Energiewende braucht

langfristig jedenfalls erträgliche Preise –

und die werden steigen. Wie teuer wird es?

Seit der Energiekrise mit ihren enormen

Preissprüngen sind die Preise sowohl

für die Industrie als auch die privaten

Haushalte wieder deutlich gesunken.

Wenn wir die aktuellen Preise aber mit

denen von etwa 2016 vergleichen, sind

sie für die Haushalte gestiegen. Die

für die Industrie sind dagegen auf altem

Niveau, weil Steuern und Netzentgelte

für die Unternehmen von der Politik

deutlich gesenkt wurden. Deshalb

sind die Klagen über den teuren Industriestrom

etwas verwunderlich. Vermutlich

muss man die Diskussion erweitern

und auf die anderen Probleme in der Industrie

schauen, die nicht im Energiebereich

liegen.

Und doch gehen Sie davon aus, dass die

Verbraucherpreise steigen werden.

Das hängt davon ab, wie wir mit der

Transformation unseres Energiesystems

weitermachen. Der Schlüssel liegt darin,

den Ausbau der Erneuerbaren mit dem

Ausbau der Netze zu verzahnen und nicht

so zu tun, als ob Geld keine Rolle spielt.

Muss man da nicht um die Akzeptanz

der Energiewende fürchten?

Ja, das muss man. Bezahlbarkeit der

Energie ist deshalb für die Zukunft ein

absolut wichtiges Thema. Wir müssen

darauf achten, dass wir die Zustimmung

der Menschen für die Energiewende nicht

verlieren.

Wie kommuniziert man dann

steigende Preise?

300

Milliarden Euro

soll der Ausbau der

Übertragungsnetze

in Deutschland

bis zum Jahr

2045 kosten

58

Prozent

des deutschen

Strombedarfs

wurden im Oktober

durch erneuerbare

Energien gedeckt

40

Milliarden Euro

will EnBW bis 2030

investieren,

90 Prozent davon

in Deutschland

44

Milliarden Euro

So hoch war der

Umsatz von EnBW

in 2023. Der

Gewinn lag bei

6,4 Milliarden Euro

FOCUS 50/2024


ENERGIE

Die Energiewende hat viele Vorteile.

Ein Einfamilienhaus etwa kann seinen

eigenen Strom produzieren und einspeisen,

man kann sein E-Auto und viele weitere

Geräte flexibel laden und dabei auf

teure Brennstoffe verzichten. Aber Kommunikation

allein wird nicht reichen. Die

Energiewende wird nicht falsch erklärt,

man muss sie aber günstiger machen:

energiepolitisch preiswertere Lösungen

wählen, die Förderung der erneuerbaren

Energien mit dem Netzausbau besser

koordinieren und flexible Stromtarife

ermöglichen, um nur ein paar Punkte

zu nennen.

Um so wichtiger wird es, all die Kosten

zu reduzieren. Wie macht man das?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten.

Und die gute Nachricht ist: Man kann

durchaus sehr viel Geld einsparen und

damit die Verbraucher entlasten. Etwa,

indem man künftig wieder stärker auf die

schon erwähnten Freileitungen setzt und

die Verfügbarkeit von Netzanschlüssen

beim Ausbau der Erneuerbaren berücksichtigt.

Und wenn man wasserstofffähige

Gaskraftwerke netzdienlich baut, damit

man Redispatch-Kosten vermeiden kann.

Allein diese belaufen sich auf zwei bis

vier Milliarden Euro im Jahr.

Allein der Ausbau der sogenannten

Stromautobahnen soll bis 2045 rund

300 Milliarden Euro kosten.

Das ist zweifelsohne viel. Die Bundesnetzagentur

sollte den Netzbedarfsplan

vielleicht noch mal dahin gehend überprüfen,

ob es wirklich alle großen Leitungen

zu den jeweiligen Zeitpunkten

braucht. Ein großes Netzprojekt kostet

immerhin schnell mal einen zweistelligen

Milliardenbetrag. Der Stromverbrauch

von Haushalten und der Wirtschaft

verändert sich aber in Zeiten der

Energiewende in hohem Tempo, daran

kann man sich orientieren.

Auch die Wirtschaft würde es danken.

Deren Kosten sind weit höher als bei den

Wettbewerbern im Ausland. Was halten

Sie von einem staatlich subventionierten

Industriestrompreis?

Im Grunde gibt es den ja schon. Der

Steueranteil am Industriestrompreis ist

fast auf null gesunken. Auch sind die

Netzentgelte für die Industrie deutlich

niedriger als für die Haushalte.

Viele in der Industrie fordern die Politik

auf, die Netzentgelte langfristig zu senken.

Wie sehen Sie es?

Wenn das nur für die Industrie gelten

würde, müssten die restlichen Verbraucher

mehr belastet werden. Dann geht Akzeptanz

verloren. Eine generelle Senkung der

Netzentgelte wäre erstrebenswert.

FOCUS 50/2024

„Die Börsenstrompreise sind wieder auf niedrigem

Niveau wie vor Corona und Ukraine-Krieg“

Strompreisentwicklung für die Industrie

Strompreis in Cent/ kWh

Beschaffung, Netzentgelt, Vertrieb

EEG-Umlage

Stromsteuer

Anderes

2024

2023

2022

2021

2020

2019

2018

2017

2016

2015

201 4

Trügerisch Die Strompreise der Industrie sind gesunken

und doch höher als bei Wettbewerbern im Ausland

Strompreise für Privathaushalte in Cent/ kWh

(1. Hj. 2024)

Deutschland

Irland

Dänemark

Tschechien

Belgien

Italien

Zypern

EU-27

Frankreich

16,65

17,76

18,43

17,96

17,09

15,55

15,23

15,32

21,38

24,46

Spitzenreiter Österreich In keinem anderen europäischen 27 Land

sind die Strompreise für Privathaushalte so hoch

29

28

33

32

34

34

43,20

37

37

40

Quelle: bdew, Statista/Eurostat

Wirtschaftsminister Robert Habeck

hatte vorgeschlagen, die freigewordenen

Intel-Milliarden zu verwenden.

Ein gutes und langfristiges Instrument

wäre ein Amortisationskonto, mit dem

die Kosten auf mehrere Jahrzehnte

gestreckt und verteilt werden und durch

den steigenden Stromverbrauch weniger

spürbar sind. Immerhin werden die

Netze auch für Generationen gebaut.

Mit der Finanzierung des Wasserstoff-

Kernnetzes gibt es dafür eine Vorlage.

Allerdings auch beim Amortisationskonto

muss das Risiko der Investoren tragbar

bleiben.

Die EnBW will bis 2030 40 Milliarden

Euro in die Energiewende investieren,

90 Prozent davon in Deutschland.

Gleichzeitig sind Zinsen und Materialkosten

hoch, Strompreise dagegen

gesunken. Wie herausfordernd ist das

am Standort?

Diese Faktoren machen es natürlich

noch herausfordernder. Dazu kommt,

dass man im Netzbereich nicht autark

über Investitionen entscheidet. Der Staat

bestimmt mit über die Investitionen im

Übertragungsnetz und zusätzliche Leitungen

kosten aktuell natürlich viel

Geld. Und im Bereich der Verteilnetze

entscheiden das teilweise die Kunden

selbst: Wenn zum Beispiel das Netz die

zusätzliche Installation von Wärmepumpen,

Solaranlagen oder Wallboxen nicht

tragen kann, dann ist der Verteilnetzbetreiber

verpflichtet, es in relativ kurzer

Zeit zu verstärken. 7

57


GELDMARKT

Der Finanz-Tipp

von Hans-Peter

Siebenhaar,

Chefautor

FOCUS MONEY

Oberbank

Quelle: Bloomberg

2022

Das kaufe ich jetzt

Oberbank mit

Rekordgewinn

2023

Aktienkurs in Euro

2024

Trotz schwieriger Konjunktur in Österreich

und Deutschland hat die Oberbank

(ISIN: AT0000625108) das beste

operative Neun-Monatsergebnis in ihrer

Geschichte erzielt. Das Eigenkapital des

Geldinstituts aus dem oberösterreichischen

Linz stieg erstmals über vier

Milliarden Euro. CEO Franz Gasselsberger

frohlockt: „Mit unserer Eigenkapitalausstattung

befinden wir uns im Spitzenfeld

der europäischen Banken.“ Die auf

Mittelstand und Privatkunden spezialisierte

Oberbank, an der auch die italienische

Unicredit mit 3,4 Prozent beteiligt

ist, führt wie viele österreichische Werte

ein Schattendasein. Die Wiener Börse

leidet unter dem Fehlen internationaler

Investoren. Als Malus gelten die Abhängigkeit

von Osteuropa und der Ukraine-

Krieg. Die 1869 gegründete Oberbank

hat in den vergangenen drei Jahren eine

gute Entwicklung hingelegt.

Das spiegelt sich im Aktienkurs wider,

der um mehr als die Hälfte gestiegen ist.

Das Geldinstitut performte deutlich

besser als der österreichische Leitindex

ATX. Das Aufwärtspotenzial scheint

bislang nicht ausgeschöpft zu sein.

Rückenwind kommt von der gesunkenen

Inflation in Österreich. Mit dem Private

Banking kommt das siebtgrößte

Geldhaus der Alpenrepublik voran. Ein

Nachteil ist allerdings die für Österreich

vergleichsweise niedrige Dividendenrendite

von zuletzt bei 1,55 Prozent.

70

65

60

55

50

45

Banken

„Erst die BPM, dann die Commerzbank“

D

er ehemalige Verwaltungsratsvorsitzende

der Unicredit, Giuseppe

Vita, unterstützt die Übernahmepläne

der italienischen Großbank. „Ich

gehe davon aus, dass die Bank erst die

BPM übernehmen wird und später in

einem nächsten Schritt die Commerzbank“,

sagte der 89-Jährige im Gespräch

mit dem FOCUS. Die Unicredit wolle

eine „große europäische Bank werden“,

betonte Vita. Dementsprechend seien

die Übernahmepläne des CEOs Andrea

Orcel „nachvollziehbar“.

Vita hält die Übernahme der deutschen

Commerzbank durch die italienische Unicredit

aus mehreren Gründen für wahrscheinlich.

„Die Commerzbank ist verglichen

mit anderen Banken dieser Welt

eine relativ kleine“, betonte er. Außerdem

befinde sich Deutschland derzeit

in einer wirtschaftlichen Krise.

Das könne sich auch auf

die Commerzbank „negativ

auswirken“. Darüber hinaus

nannte Vita die Übernahme

der Hypovereinsbank durch

die Unicredit im Jahr 2005 als

positives Beispiel. „Dass die

Unicredit eine deutsche Bank

gut managen kann, zeigt

der Erfolg der Hypovereinsbank“,

sagte Vita. Die deutsche

Bank habe sich bei der

Übernahme in einer schweren

Krise befunden, heute sei

„Die Commerzbank

ist im weltweiten

Vergleich eine

kleine Bank“

Giuseppe Vita

Ex-Unicredit-Chef

Bald italienisch?

Die Commerzbank

könnte von

Unicredit übernommen

werden

sie „eine sehr profitable Bank in Deutschland

geworden“. Dennoch riet Vita der

Unicredit zunächst die vorgezogene Bundestagswahl

in Deutschland am 23. Februar

2025 abzuwarten. „Die Unicredit

wäre schlecht beraten, wenn sie während

so einer Übergangsphase die ganze

Übernahme forcieren würde.“ Daher sollte

die Großbank nun abwarten, bis eine

neue Regierung in Deutschland steht.

„Denn ein positives Signal einer deutschen

Regierung für die Übernahme der

Commerzbank wäre wünschenswert.“

Stattdessen solle sich die Unicredit zunächst

verstärkt auf die Übernahme der

BPM konzentrieren. „Wenn das klappt,

wäre das eine wichtige Übernahme“, sagte

Vita.

Vita, der von 2002 bis 2019 auch Aufsichtsrat

bei Axel Springer war, betonte

indes die Relevanz einer

Übernahme. „Europa hat zu

viele Banken.“ Eine Bankenfusion

würde daher von der

Europäischen Zentralbank

(EZB) und Finanzinvestoren

positiv gesehen werden. Au-

ßerdem seien Banken in den

USA oder China oftmals zehnmal

so groß wie die Unicredit.

Eine Banken-Konsolidierung

sei daher auch wichtig,

um im weltweiten Finanzmarkt

zu bestehen, sagte der

Italiener.

rub

Foto: Bloomberg

58 FOCUS 50/2024


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WISSEN

Stress, lass nach!

Wege aus der Perfektionsfalle:

So vermeiden Sie zu

hohe Belastung und Burnout

TEXT VON KURT-MARTIN MAYER

ILLUSTRATIONEN VON JANNIK STEGEN

Viel zu tun, und

ständig kommt irgendwo

eine Nachricht herein

„Stress vermeiden oder abbauen“

zählt zu den häufigsten

Neujahrsvorsätzen (s. S. 68)

Foto: Getty Images

60 FOCUS 50/2024


TITEL

61


WISSEN

A

Am dritten Tag ihres Seminars hängen

die vier Männer Wunschzettel an die

Wand. „Endlich Kapitän auf dem eigenen

Schiff“ will ein Teilnehmer sein. „Und

jetzt komme ich“hat ein anderer auf sein

A4-Blatt geschrieben. „5 gerade sein lassen“,

„Weg zur Leichtigkeit finden“ und

„Tanzen“ steht auf weiteren Blättern.

Dann wird gemalt, collagiert und viel

von sich erzählt. Es herrscht Arbeitslust

im ehemaligen Bahnhof am Hamburger

Rübenkamp, im Sinne von Lust, an sich

zu arbeiten. Die Mobiltelefone bleiben im

Flugmodus.

Hier findet keine Gruppenpsychotherapie

statt. Die vier Männer haben das fünftägige

Seminar „Work-Life-Balancing“

des Hamburger Instituts für Burnout-Prävention

(IBP) belegt, einen Präventionskurs

für die Seele, den ihre Krankenkasse

bezahlt. Er soll sie abbringen von dem

Weg, auf dem sie sich offenbar befinden,

geradewegs in einen Burnout.

Das Institut bietet für Männer und

Frauen getrennte Seminare an. Es geht

davon aus, dass die Geschlechter meist

auf unterschiedlichen Routen in die große

Erschöpfung rutschen; Frauen eher, weil

sie durch die Mehrfachbelastung an ihre

Grenzen geraten, Männer, weil sie in ihrer

beruflich-privaten Alltagsroutine keinen

Sinn mehr erkennen können.

Die vier Seminarteilnehmer sind 34,

35, 36 und 56 Jahre alt. Sie üben IT- und

Ingenieurberufe aus. Die ersten Symptome

des seelischen Ausbrennens unterschieden

sich bei ihnen. „Mich hat meine

Hausärztin auf das Seminar aufmerksam

gemacht“, sagt Holger, der Älteste. Zuvor

hatte er sich nach Jahren im vollen beruflichen

Einsatz zu Hause eingeigelt. „Ich

saß herum, stellte mein Privatleben ein,

ging nur noch für Einkäufe hinaus und

schlief extrem viel.“

Im Rübenkamper Bahnhofshäuschen

hört Holger nun die Geschichten der

anderen. Auch wenn sich ein Burnout

zunächst eher mit Schlaflosigkeit oder

erhöhter Reizbarkeit oder auch erhöhter

Infektionsanfälligkeit ankündigen mag,

berichten Betroffene immer wieder von

plötzlicher emotionaler Erschöpfung, Distanziertheit,

Frustration; und davon, dass

sie sehr viel Arbeit hatten und ihr Smartphone

von früh bis spät in Betrieb stand.

„Sie ahnen gar nicht, auf welche Anzahl

von Überstunden manche Menschen

kommen, und das über viele Jahre“, sagt

Helen Heinemann, die Leiterin des Präventionsinstituts.

In den 70er Jahren hat der in Frankfurt

am Main geborene, vor den Nazis in

die USA geflohene Psychologe und Psychoanalytiker

Herbert Freudenberger

den Begriff Burnout erfunden. Seit gut

zehn Jahren ist er in Deutschland populär.

Bekenntnisse von Prominenten wie

Popstar Mariah Carey, Fußballtrainer Ralf

Rangnick, Forscherin Miriam Meckel und

„Sie ahnen gar

nicht, wie viele

Überstunden

manche leisten“

Starkoch Tim Mälzer machten das Phänomen

salonfähig. Nicht alle Fachmediziner

reagierten erfreut. Manche warfen den

Protagonisten Wichtigtuerei vor, andere

sahen in dem sogenannten Syndrom ein

nicht ungefährliches Ausweichmanöver

um das Eingeständnis, an einer Depression

zu leiden.

Mittlerweile ist Burnout in der Liste der

Psychodiagnosen einigermaßen etabliert

(siehe Interview S. 66 – 69). Die Zahl der

Be troffenen steigt stetig. Unter den 15,1 Millionen

berufstätigen AOK- Versicherten

beispielsweise nimmt die Dauer der

Fehlzeiten wegen Burnouts seit dem ersten

Erfassungsjahr 2014 zu. Für 2024

wird die AOK-Statistik (siehe S. 68) wohl

200 Arbeitsunfähigkeitstage aus diesem

Grund je 1000 Versicherte ausweisen, ein

neuer Rekord. Hochgerechnet dürften bis

zu 13 Millionen Menschen in Deutschland

in einem Burnout stecken.

Viele Faktoren führen in die Krise, äußere

und innere. Die Entgrenzung von Beruf

und Privatleben gilt als ein gesellschaftlicher

Trend. Auf der individuellen Ebene

zeigen sich nach Stand der Forschung

bestimmte Persönlichkeitsprofile und

Tätigkeitsmuster, die eine totale Erschöpfung

begünstigen. Sie sind nicht selten.

Wie man bei jedem Stadtmarathon beobachten

kann, gibt es zum Beispiel jede

Menge Menschen, die sich gerne verausgaben.

Andere aus den Burnout-Risikogruppen

glauben zu wenig an sich. Oder

es fehlt ihnen an Selbstwahrnehmung,

wie Psychologen sagen, sie merken lange

nicht, worauf sie zusteuern.

Das Ziel ihrer Seminare sei es, dass die

Teilnehmer am Ende „mehr auf sich achten“,

sagt Institutschefin Heinemann, eine

studierte Pädagogin mit psychotherapeutischer

Zusatzausbildung und vierfache

Mutter. Niemand müsse seine Persönlichkeit

gravierend verändern. „Unsere

Gesellschaft braucht Menschen, die sich

engagieren und um andere kümmern.“

Wo aber Leistungswille, Ehrgeiz und

Entgrenzung eine ungute Mischung eingehen,

wartet die Perfektionsfalle. Perfektionismus

kann die höhere Stufe von

Gewissenhaftigkeit sein, aber auch etwas

Zwanghaftes an sich haben. Nicht immer

bringt er Vorteile für die Organisation, in

der der Perfektionist arbeitet. Wer alle

anvertrauten Projekte bis ins letzte Detail

durchdringen und überprüfen will, verbrennt

nicht nur Zeit. Er hält möglicherweise

den Fortgang der Projekte auf.

Manchmal hören hart arbeitende Menschen

Ratschläge wie den, einigermaßen

gut sei auch gut genug. Das wiederum

kann zu wenig sein. Um die Balance zu

halten, empfiehlt Heinemann, immer wieder

innezuhalten, während man an einer

Aufgabe feilt, etwa an einer Präsentation,

einem Programm oder einem Text. In diesen

Pausen sollte man sich die Frage stellen:

Kann ich bereits stolz sein auf das

Geleistete? „Werkstolz“, wie Heinemann

es bewusst altmodisch ausdrückt, komme

oft früher auf als erst nach der hundertsten

Prüfung, ob alles seine Richtigkeit hat.

Perfektionismus kann sich auch darin

zeigen, dass man möglichst rasch

alle Aufgaben erfüllen will, für die man

vielleicht nur theoretisch zuständig ist.

Eine Strategie dagegen besteht in vorausschauendem

Sortieren. In der Szene

der beruflichen Trainer und Karriereberater

ist etwa die „Eisenhower-Matrix“

bekannt. Angeblich soll Dwight D. Eisenhower,

US-Präsident von 1953 bis 1961,

seinen Schreibtisch in vier Rechtecke ein-

62 FOCUS 50/2024


TITEL

Im Griff der Aufgaben:

Viele Burnout-Betroffene

müssen erst lernen,

auch einmal

Nein zu sagen

geteilt haben. Auf das erste soll er jene

Akten gelegt haben, die er selbst und

sofort erledigen wollte, dem Stapel im

zweiten Feld gab er einen Termin bis zum

Abschluss, jenen im dritten delegierte er

an Mitarbeiter, und der im vierten kam

knapp vor Dienstschluss in den Papierkorb.

Heute lassen sich derartige Ablagen

im Computer einrichten.

Das Matrix-Beispiel signalisiert: Burnout-Bekämpfung

bedeutet nicht nur Ausspannen.

Es sei nicht das Ziel von Prävention

und Behandlung, „dass Leistung als

Negativum gesehen wird“, sagt Gernot

Langs, Chefarzt der Psychosomatischen

Schön Klinik in Bad Bramstedt. Überstunden

zu reduzieren und Berufliches klarer

von Privatem abzugrenzen, kann die Karriere

fördern. Viele Anti-Burnout-Strategien

dienen der Effizienz und dem Fokussieren

auf wirklich Wichtiges. Der Essener

Verkaufstrainer und Buchautor André

May („Durchbruch“, ForwardVerlag) zum

Beispiel unterbindet mit einem Kniff, dass

ihn berufliche Probleme am Einschlafen

hindern. Er notiert die Misslichkeit

auf einem Zettel und schreibt eventuelle

Lösungsmöglichkeiten dazu. So verbannt

er das Berufliche bis zum nächsten

Tag aus dem Schlafzimmer. Ebenso können

To-do-Listen helfen, den Kopf für das

Wesentliche freizubekommen.

Zu den Psychologen, die das Burnout-

Syndrom als Erste erforschten, zählt die

heute 78-jährige Christina Maslach, emeritierte

Professorin an der University of

California in Berkeley. Auf sie gehen die

sechs Faktoren zurück, die ein Burnout

am Arbeitsplatz begünstigen (siehe die

folgenden Seiten).

Eine Präventionsmöglichkeit steht vielleicht

über allen, und sie geht jeden von

uns an. Wir sollten den Alltag von Menschen,

die in Burnout-trächtigen Berufen

arbeiten, nicht zusätzlich erschweren.

Wer viel mit anderen interagiert, als

Lehrer beispielsweise, als Pflegekraft

oder als Angestellter hinter dem Schalter,

landet offenbar häufiger in der großen

Erschöpfung. Darauf könnten wir bei

einem nächsten Anflug von Unmut gerne

Rücksicht nehmen. 7

Sechs Faktoren am Arbeitsplatz,

die uns überfordern – und

wie man auf sie reagieren kann

#1

Arbeitsüberlastung

Die Anforderungen sind zu

hoch, zu komplex und müssen

zu schnell erledigt sein

Was zu tun ist: Widerstand leisten.

„Führungskräfte stehen selbst unter

Druck und geben diesen weiter“, analysiert

Helen Heinemann vom Institut

für Burnout-Prävention in Hamburg.

„Sie haben keine Veranlassung, damit

aufzuhören, solange sie keinen Widerstand

bekommen.“ Man muss Nein

sagen können. Will man bereits übernommene

Aufgaben wieder loswerden,

„kann man die Tätigkeiten mit einer

Schätzung des jeweiligen Zeitaufwands

auflisten und der höheren Ebene vorlegen.

Dann bittet man um eine Entscheidung,

was gestrichen oder aufgeschoben

werden kann“, so Heinemann. Generell

sollte der arbeitende Mensch höchstens

über kurze Zeiträume seine Kapazitäten

voll ausschöpfen, rät der US-Wissenschaftsautor

und Neurotrainer Steven

Kotler. Im Alltag seien etwa 80 Prozent

der maximal möglichen Arbeitsleistung

ein verträglicher Wert.

#2

Mangelnde

Kontrolle

Es fehlt an Autonomie, daran,

Abläufe so zu gestalten,

wie man es für sinnvoll hält

Was zu tun ist: Nach Wegen suchen,

das Tätigkeitsprofil zu verändern – und

sich vor Augen führen, dass die Arbeit

nicht alles ist. Fehlender Gestaltungsspielraum

ist auf Dauer einer der stärksten

Stressauslöser. Der Forscher Erik

Gonzalez-Mulé von der Universität Indiana

in den USA fand einen Zusammenhang

zwischen dieser Art von Belastung,

der psychischen Gesundheit und der Lebenserwartung.

Die Korrelation war aber

nicht sehr stark. Gonzalez-Mulé verwendete

Daten von mehr als 3000 Menschen.

Lässt sich am Tätigkeitsprofil wenig verändern,

raten Psychologen, sich anderer

Stärken zu vergewissern. Zu diesem

Zweck kann man ein Erfolgs- oder Dankbarkeitstagebuch

führen. Täglich notiert

man drei oder vier erfreuliche Dinge,

etwa wertvolle Begegnungen, interessante

Neuigkeiten, erbrachte Leistungen.

Das öffnet gleichzeitig den Blick über die

Lohnarbeit hinaus.

FOCUS 50/2024

63


WISSEN

#3

Fehlende

Anerkennung

Häufig hat man das Gefühl,

mit seiner Leistung nicht

wahrgenommen zu werden

Was zu tun ist: Fachfrau Helen Heinemann

hält die in diesem Fall naheliegende

Bitte um mehr Gehalt zwar für

legitim. Deren Erfüllung beseitige das

Problem aber nicht zuverlässig. „Studien

zeigen, dass das Gefühl von Anerkennung

und Wertschätzung durch eine Gehaltserhöhung

nur etwa drei Monate anhält“,

sagt Heinemann. Dann wäre im Prinzip

ein weiterer Gehaltssprung fällig.

Oft sei es wichtiger, das Betriebsklima zu

verändern, so Heinemann. Jeder im Team

sollte sich um einen „wertschätzenden“

Umgang bemühen. Das schließe ein, auch

den Führungskräften Anerkennung zukommen

zu lassen. Manchen gelingt es,

in der Tätigkeit zeitweise so zu versinken,

dass man diesen positiven Zustand als

Belohnung empfindet. Der verstorbene

US-Psychologe Mihály Csíkszentmihályi

nannte das „Flow“. In derartigen Phasen

benötige der Mensch gar kein Lob von außen

mehr.

#4

Zu wenig

Gemeinschaft

Von den Kollegen kommt

wenig Unterstützung – es bleibt

zu viel an einem hängen

Was zu tun ist: In Zeiten des Fachkräftemangels

steht oft kein böser

Wille dahinter, wenn man sich alleingelassen

fühlt. Pflegekräfte, von denen

in Deutschland 115 000 fehlen, springen

ständig kurzfristig für andere ein. „Sie

müssen einen Ausgleich erhalten –

etwa: Ich übernehme den Weihnachtsdienst

und habe dafür zu Neujahr sicher

frei“, sagt Helen Heinemann.

Wie gehen Selbstständige damit um,

wenn Kunden Unverschämtes fordern?

Der Berliner Web-Designer und Familienvater

Christian Reister, 52, hat

das erlebt und nach einem Nervenzusammenbruch

vor einigen Jahren eine

spezielle Art von Neujahrsvorsätzen

eingeführt. „Hat mich ein Kunde im alten

Jahr sehr genervt, nehme ich mir

vor, ihn bis Februar zu verabschieden.“

Die Einbußen hielten sich in Grenzen,

die Taktik mache frei für Neues. Reisters

Motto: „Der Kunde ist König, aber du

bist der Kaiser.“

Wo bleibt das Lob? Nicht

nur das Gehalt drückt Anerkennung

aus. Tipp: Im

Team einen wertschätzenden

Umgang pflegen

#5

Mangelnde

Fairness

Man hat den Eindruck,

dass es am Arbeitsplatz

ungerecht zugeht

Was zu tun ist: Studien zeigen, dass

Mitarbeiter, die sich unfair behandelt

fühlen, öfter krankgeschrieben sind. Man

sollte zunächst möglichst keine Wut

aufkommen lassen, wenn man von Ungerechtigkeiten

betroffen ist. In einer konfliktträchtigen

Besprechung zum

Beispiel gibt es vor allem zwei Möglichkeiten.

Man kann ruhig und sachlich

weiterdiskutieren, etwa mit Aussagen

beginnen wie „Kann es sein, dass ich da

etwas falsch verstanden habe?“. Oder

man verlässt die Szenerie für wenige Minuten,

entschuldigt sich zum Beispiel

in Richtung Toilette, benetzt dort das Gesicht

mit kaltem Wasser, atmet dreimal

tief durch und macht vielleicht ein paar

Kniebeugen. Bewegung baut Stress ab.

Die Möglichkeiten der Eigentherapie

zum kurzfristigen Spannungsabbau

beginnen bei einem Blick aufs Familienfoto

auf dem Smartphone. Anderen hilft

es, kurz an die frische Luft oder auf

einen schnellen Kaffee zum Bäcker gegenüber

zu gehen. Nicht nur zur Dekoration

stehen in immer mehr Büros

Tischfußballspiele oder gar Tischtennistische.

Man kann auch spezielle Atemtechniken

oder Entspannungsübungen

lernen – Anleitungen und Adressen findet

man leicht im Internet.

64 FOCUS 50/2024


TITEL

#6

Wertvorstellungen

Die eigenen Werte weichen

stark von jenen der Organisation

ab, für die man arbeitet

Was zu tun ist: Für Expertin Helen Heinemann

spricht diese Situation mehr als

die anderen fünf Burnout-Faktoren dafür,

sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen.

Wer sich deutlich von seinem

Unternehmen entfremdet, tendiert zur

inneren Kündigung, verweigert also oft

Eigeninitiative und Einsatz. Das beschädigt

womöglich nicht nur den Arbeitgeber,

sondern die eigene Lebenszufriedenheit.

Heinemann erinnert sich freilich aus ihrer

Beratungstätigkeit an eine alleinerziehende

Frau, die aus moralischen Gründen

kündigen wollte, als sie erfuhr, dass der

Konzern, für den sie arbeitete, auch Aufträge

aus der Rüstungsindustrie annahm.

Aber sie habe keine Chance gesehen,

danach eine ähnlich gut bezahlte

Anstellung zu finden. Manchen Arbeitnehmern

in einem ähnlichen Dilemma

würde Heinemann nahelegen, sich privat

einen Ausgleich zu suchen. Das können

Hobbys, Sport und die Familie sein oder

eine Initiative im Sinne der eigenen

Wertvorstellungen. Wer zum Beispiel

soziales Engagement bei seinem Arbeitgeber

vermisst, kann etwa eine Nachbarschaftshilfe

im Kiez gründen. Das Gefühl,

das eigene Leben in der Hand zu haben,

muss sich nicht auf den Arbeitsplatz

beschränken. Denn Arbeit, so die Essenz

jeder Anti-Burnout-Strategie, ist nicht

das Leben.

Grundlegende Kritik am Unternehmen?

Tipp: Wege finden,

sich zu arrangieren, oder

einen Ausgleich außerhalb des

Arbeitsplatzes suchen

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WISSEN

„Das Burnout-

Syndrom ist

eigentlich eine

Erschöpfungsdepression“

Gernot Langs,

Facharzt

Seit 2009 arbeitet Gernot

Langs als Chefarzt in der psychosomatischen

Schön

Klinik in Bad Bramstedt, Kreis

Segeberg. Sie ist eine der

größten ihrer Art in Deutschland.

Langs, gebürtiger

Österreicher, ist Facharzt für

Psychiatrie, Psychotherapie und

Psychosomatische Medizin

„Ganz klar sind Politiker hoch

gefährdet. Aber auch

Busfahrer fallen mir auf “

K

Kann ein Interview ein Therapiegespräch

simulieren? Nein, dazu ist jeder Fall zu

speziell; aber ausgehend von Beispielen

von Journalisten, Politikern, Supermarktangestellten

und Busfahrern zeigt hier ein

führender Experte seines Fachs, wo die

Grenze zwischen Burnout und Depression

liegt, wann selbst eine 40-Stunden-Woche

zu viel ist und warum das Arbeitstempo

auch eine Frage des Charakters ist.

Ich bin Journalist von Beruf.

Haben Journalisten ein erhöhtes

Burnout-Risiko?

Es kommt darauf an, wo man arbeitet.

Wo ist die Last größer, wo kleiner?

Ohne despektierlich sein zu wollen, aber

jemand, der in einem kleineren, ortsansässigen

Verlag arbeitet, steht wahrscheinlich

vor anderen Herausforderungen als

jemand in einem größeren Verlag, wo intensive

Recherchen erforderlich sind.

Sie meinen, Recherchieren stresst?

Es scheint mir zumindest etwas zu sein,

das man nicht immer zwischen neun und

17 Uhr erledigen kann.

Führen geregelte Arbeitszeiten seltener

zum Burnout als extensive?

Wenn man unregelmäßige Arbeitszeiten

hat, über die 40 Stunden hinaus, hat

das Privatleben eher zu leiden. Man versucht,

beides unter einen Hut zu bekommen,

und will in allem gut sein. Das kann

schwierig werden, zumal wenn man auch

noch öfter beruflich verreisen muss.

Stichwort 40-Stunden-Woche: Gibt

es ein Maß an Arbeitszeit, das grundsätzlich

verträglich ist? Oder eine

Grenze, ab der Sie sagen: Da ist die

Burnout- Gefahr schon sehr, sehr hoch?

Foto: Getty Images

66 FOCUS 50/2024


Es kommt stark darauf an, ob die

Arbeit Spaß macht oder nicht. Ein wichtiger

Faktor ist Schnelligkeit. Es gibt

Menschen, die in achtunddreißigeinhalb

Stunden das schaffen, wofür andere

45 Stunden benötigen. Personenbezogene

Faktoren darf man in der ganzen

Burnout-Diskussion nicht außer Acht lassen.

Aber konkret zu der Frage: Wenn

es wöchentlich immer 55, 60, 70 Stunden

sind und keine Erholungsphase dazwischen

ist, wird es kritisch. Dabei muss

es sich allerdings nicht nur um Erwerbsarbeit

handeln. Wer regelmäßig nach

40 Stunden Arbeit nach Hause kommt

und drei kleine Kinder zu Hause hat, wird

zusätzlich gefordert. Das addiert sich bis

zur Überforderung.

Wenn die Schnelligkeit ein Faktor ist: Habe

ich versagt, wenn ich 45 Stunden für das

brauche, was mein Kollege in 38 Stunden

schafft? Ist Burnout begabungsabhängig?

Das hat nichts mit Versagen zu tun.

Jeder Mensch hat ein anderes Arbeitstempo.

Nur wenn jemand wirklich sehr,

sehr langsam ist, muss man fragen, ob

das die richtige Tätigkeit für denjenigen

oder diejenige ist. Tempo kann eine Frage

des Charakters sein. Auch unter uns

Ärzten gibt es welche, die sich in allem

absichern müssen, die vielleicht noch ein

zusätzliches 20-minütiges Gespräch mit

einem Patienten führen, während schon

die Nächsten warten.

Sehen Sie bestimmte Berufe, bei denen

Sie sagen, dass man da ohne Hilfe

von außen nahezu automatisch in ein

Burnout schlittert?

Ganz klar sind Politiker von Berufs

wegen hoch gefährdet. Schauen Sie sich

den Fall Kevin Kühnert an! Politiker zu

werden und zu sein, scheint immer schwieriger

zu werden, auch und gerade auf der

Ebene der Lokalpolitik.

Weil diese Menschen zusehends verbal

oder auch tätlich attackiert werden?

Ja. Aber auch das Normalprogramm ist

bewundernswert: da eine Verhandlung,

dort ein Festakt und anschließend eine

Besprechung bis in die Nacht – wer hält

das auf Dauer aus? Hut ab vor Angela

Merkel, die das 16 Jahre hingekriegt hat.

Kevin Kühnert gab aus gesundheitlichen

Gründen sein Amt als Generalsekretär der

SPD auf. Sie haben den Verdacht, dass

er ein Burnout-Fall ist?

Ja, ich vermute, dass das so ist, so habe

ich es jedenfalls in den Medien gehört.

Oder nehmen Sie den CDU-Politiker Philipp

Amthor, der trotz seines Alters von

TITEL

1974

gilt als Geburtsjahr

des Begriffs

Burnout.

Der deutschamerikanische

Psychologe

und Suchtexperte

Herbert

Freudenberger

prägte ihn

7

24 %

der Bundesbürger

sind an

einer Depression

erkrankt.

26 Prozent

nehmen als

Familienangehörige

Anteil

daran.

Somit ist rund

die Hälfte im

Alltag mit

dieser Erkrankung

konfrontiert

therapeutische

Gruppensitzungen

zu jeweils

100 Minuten

Dauer führt die

Psychosomatische

Klinik

Bad Bramstedt

mit Burnout-

Betroffenen

durch

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FOCUS 50/2024

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WISSEN

Anfang 30 bei einer Pressekonferenz kollabierte;

oder Matthias Platzeck, der

nach einem Hörsturz und einem Nervenzusammenbruch

von seinem hohen

politischen Amt – Bundesparteivorsitzender

– zurücktrat. Arm dran sind aber

auch Menschen in deutlich schlechter

bezahlten Berufen, etwa die Leute im

Lebensmitteleinzelhandel. Regelmäßig

sehe ich mit Entsetzen, wie sie zwischen

Kasse, Lager, Regalen und Kundenbedienen

hin und her hetzen. Mir fallen

auch Busfahrer auf. Die müssen sich

häufig ebenfalls beleidigen lassen, wie

die Politiker. Irgendwann ist offenbar

bei jedem dieser Leute ein Maß erreicht,

wo es nicht mehr geht.

Wann diagnostizieren Sie einen Burnout?

Schaut man genauer hin, ist das Burnout-Syndrom

eigentlich eine Erschöpfungsdepression.

Der Begriff zählt

zwar nicht mehr zur offiziellen medizinischen

Nomenklatur, aber das Wort

Erschöpfungsdepression passt sehr gut.

Es gibt klassischerweise zwei Wege in

die Depression. Der eine führt über

Akut ereignisse, irgendwelche großen

finanziellen Belastungen oder familiären

Konflikte. Der andere läuft über den

Burnout-Prozess, da ist man am Schluss

erschöpft.

Nicht ganz unwichtig in unserem Gesundheits-

und Sozialsystem ist die

Frage: Wurde das Burnout-Syndrom

mittlerweile formal anerkannt?

Es gilt im ICD-System, der internationalen

Klassifikationen der Krankheiten,

als Zusatzdiagnose. Interessanterweise

wird es mittlerweile auch von der Rentenversicherung

als Diagnose anerkannt.

Wie krank ist jemand, der einfach von

sich sagt, dass er ausgebrannt ist?

Bis zu einem gewissen Grad ist Burnout

eine Schönrederei. Der Begriff wird

inflationär verwendet. Menschen sagen

manchmal lieber von sich, dass sie einen

Burnout haben, wenn es sich in Wirklichkeit

um eine Depression handelt. Andererseits

sind Stresssymptome noch kein

Grund für eine antidepressive Behandlung.

Da genügt häufig eine Verhaltensänderung,

aber eine 20-stündige Therapie

wäre zu viel.

Geht unsere Gesellschaft mit dem Wort

Burnout zu unbedacht um?

Ja. Der Begriff ist spannend, aber

wenn man mit Menschen, die wirklich

stark darunter leiden, genau spricht,

stellt sich in fast allen Fällen heraus,

dass sie eine Erschöpfungsdepression

Arbeitskosten

Das Leiden am Job in Statistiken

Arbeitsunfähigkeitsfälle

Arbeitsunfähigkeitsfälle

250

je 100 Versicherte

225

250

250

je 100 Versicherte

225

225

*Jan.–Aug.

*Jan.–Aug.

*Jan.–Aug.

200

alle Diagnosen

200

200

alle

alle

Diagnosen

Diagnosen

158

150

158

158

150

150

100

100

100

50

50

50

11 psychische und Verhaltensstörungen

11

11 psychische

psychische

und

und

Verhaltensstörungen

Verhaltensstörungen

15

15

15

0

2014 2016 2018 2020 2022 2024*

2014

2014

2016

2016

2018

2018

2020

2020

2022

2022

2024*

2024*

Fallzahl und Dauer von Burnout-Erkrankungen

Fallzahl und Dauer von Burnout-Erkrankungen

8,3

je 1000 AOK-Mitglieder

8,3

8,3

8

je 1000 AOK-Mitglieder

*Jan.–Aug.

*Jan.–Aug.

7

*Jan.–Aug.

AU-Fälle

AU-Fälle

AU-Fälle

5,1

6

5,1

5,1

5

200

184

200

200

184

184

AU-Tage

100

AU-Tage

AU-Tage

100 100

100

100

100

0

2014 2016 2018 2020 2022 2024*

2014

2014

2016

2016

2018

2018

2020

2020

2022

2022

2024*

2024*

Berufe mit höchster Burnout-Prävalenz

Berufe mit höchster Burnout-Prävalenz

AU-Tage je 1000 AOK-Mitglieder

AU-Tage je 1000 AOK-Mitglieder

Aufsichts-/Führungskräfte-Gesundheits-/ Krankenpflege,

Aufsichts-/Führungskräfte-Gesundheits-/

Aufsichts-/Führungskräfte-Gesundheits-/ Krankenpflege,

Krankenpflege,

Rettungsdienst, Geburtshilfe

Rettungsdienst,

Rettungsdienst,

Geburtshilfe

Geburtshilfe

607

607

607

Berufe im Dialogmarketing

Berufe

Berufe

im

im

Dialogmarketing

Dialogmarketing

442

442

442

Berufe in der Altenpflege

Berufe

Berufe

in

in

der

der

Altenpflege

Altenpflege

365

365

365

Aufsichts-/Führungskräfte - Verkauf

Aufsichts-/Führungskräfte

Aufsichts-/Führungskräfte Verkauf

Verkauf

362

362

362

Berufe in der Sozialverwaltung und -versicherung

Berufe

Berufe

in

in

der

der

Sozialverwaltung

Sozialverwaltung

und

und

-versicherung

-versicherung

360

360

360

Welche Vorsätze sich Menschen in Deutschland

Welche Vorsätze sich Menschen in Deutschland

für das Jahr 2025 vornehmen

für das Jahr 2025 vornehmen

mehr Zeit für Familie/Freunde

41 %

mehr

mehr

Zeit

Zeit

für

für

Familie/Freunde

Familie/Freunde

41

41 mehr Sport treiben

40 %

mehr mehr

Sport

Sport

treiben

treiben

40 40 Stress vermeiden/abbauen

40 %

Stress

Stress

vermeiden/abbauen

vermeiden/abbauen

40 40 gesünder ernähren

35 %

%

gesünder gesünder

ernähren

ernähren

35 35 mehr Zeit für sich selbst

26 %

%

mehr

mehr

Zeit

Zeit

für

für

sich sich

selbst

selbst

26 26 abnehmen

24 %

abnehmen

abnehmen

24 24 sparsamer sein

19 %

%

sparsamer sparsamer

sein

sein

19 19 sich weiterbilden

17 %

sich sich

weiterbilden

weiterbilden

17 17 beruflich weiterkommen

16%

%

beruflich

beruflich

weiterkommen

weiterkommen

16%

16%

FOCUS-Liste:

38 Ärzte der

Psychosomatik

FOCUS-Liste:

85 Ärzte zu

Depressionen

Quellen:

Wissenschaftliches

Institut der AOK,

FOM Hochschule

haben. Stresssymptome und ein wenig

Schlaflosigkeit hingegen reichen nicht

für eine Diagnose.

Also, wenn ich zu Ihnen komme

und sage, ich komme locker auf 60 Wochenstunden,

habe Stress, manchmal

Schlafstörungen, ab und zu schlägt

das Herz spürbar schneller, und alles

wirkt sich negativ auf meine privaten

Beziehungen aus – dann sagen Sie,

schön und gut, aber machen Sie mal

ein nettes Anti-Stress-Training …?

Natürlich würde ich zunächst versuchen,

eine Diagnose zu stellen. Ich

würde sagen, das liefe auf eine Anpassungsstörung

hinaus. Da kann man dann

schon was machen. Ich würde mit Ihnen

gemeinsam hinschauen, was denn die

Auslöser sind. Aber am Ende würde ich

wohl sagen: Klar, Sie arbeiten zu viel,

und dagegen gibt es keine Psychotherapie.

Arbeiten Sie weniger!

Und wenn ich außerdem sage, ich habe

das Gefühl, da nicht rauszukönnen, als

wäre ich in einem Tunnel?

Das kann dann in Richtung Depression

gehen, ja.

Was für Fragen würden Sie stellen,

um auszuloten, ob ich nur zu viel arbeite

oder ob mehr dahintersteckt?

Ich würde die Depressionssymptome

abfragen, Traurigkeit, Niedergeschlagenheit,

Freudlosigkeit, Lustlosigkeit,

leichte Erschöpfbarkeit, Antriebsmangel,

Konzentrationsstörungen, Merkfähigkeitsstörungen,

Schlafstörungen, Appetitstörungen,

mangelndes Selbstwertgefühl

bis hin zum Lebensüberdruss.

Ist das Klagen über Burnout-Symptome

häufig eine Eintrittspforte zu einer

Depressionsdiagnose?

Als Einstieg ist der Burnout oft wunderbar.

Ich erlebe immer wieder Patienten,

die schon beim ersten Gespräch

sagen: Ich habe aber keine Depression.

Okay, aber nach zwei Wochen kommen

wir dann nicht so selten an jenen Punkt,

an dem sie sagen: Richtig, es ist doch

eine Depression. In einer Klinik wie der

unsrigen gibt es übrigens einen Riesenvorteil,

der diesen Prozess beschleunigen

kann. Die Leute sprechen mit Mitpatienten,

und denen glauben sie oft

eher als uns. Sie finden sich in den Verläufen

der anderen wieder und geben

zu, leider, ich habe eine Depression.

Schwierig wird wiederum oft, dies den

Angehörigen zu Hause zu sagen. Die

nehmen einen oft nicht ernst, sagen:

Reiß dich zusammen, die Sonne scheint,

68 FOCUS 50/2024


TITEL

und schau, wie schlecht es denen in der

Ukraine geht.

Soweit ich weiß, sind 70 Prozent Ihrer

Patienten weiblich. Kann man mit dem

Begriff Burnout mehr Männer angeln,

sie dazu bringen, wenigstens ein professionelles

Gespräch zu suchen?

Vielleicht. Um ausgebrannt zu sein, muss

man ja einmal gebrannt haben, und das

entspricht dem vorherrschenden Bild von

Männlichkeit eher.

„Vielen fällt es

schwer, den

Angehörigen zu

sagen, woran sie

wirklich leiden“

Gernot Langs

Das haben wir mal überlegt, aber wieder

verworfen. Ich finde, dass die Geschlechter

voneinander lernen können.

Sie trennen auch die Therapiegruppen nicht?

Nein. Es gibt höchstens manche Gespräche,

die ich mit Frauen nicht führen möchte,

und analog machen es meine Kolleginnen.

Dazu zählen vor allem sexuelle Belange.

Verstehe ich Sie zusammenfassend richtig:

Wenn ein Burnout behandlungsbedürftig

ist, ist es eine Erschöpfungsdepression?

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Wie sehr bildet der starke Überhang

Jahren den Lebensweg von Suizidenten Ja. Es kann auch eine Angst- oder

an Frauen in Ihrer Klinik die tatsächliche

Geschlechterverteilung bei der

Krankheit ab?

Wahrscheinlich gibt es tatsächlich

einen gewissen Überhang von Frauen,

aber 70 zu 30 ist das Verhältnis in der

Realität nicht. Männer sprechen einfach

weniger über solche Probleme. Und

sie reagieren anders. Die Autoren einer

wegweisenden schwedischen Studie zur

Suizidprävention verfolgten vor einigen

zurück. Die Frauen, die sich das Leben

genommen hatten, waren eher den Ärzten

bekannt, die Männer eher der Polizei.

Sie trinken Alkohol, sind impulsiv

und werden straffällig. Männer gehen

mit psychischen Problemen anders um.

Nur in den Suchtkliniken stellen sie die

klare Mehrheit, wenn auch die Frauen

da langsam aufholen.

Haben Sie für Männer mit Erschöpfungsdepression

spezielle Therapiekonzepte?

Schmerzstörung dahinterstecken, aber

meist ist es eine Erschöpfungsdepression.

Wie reiht sich diese unter den Spielarten

der Depression ein?

Die Erschöpfungsdepression ist nur der

Weg zur Depression über die Erschöpfung.

Am Ende wartet der Teufelskreis

der Depression, mit negativen Gedanken

über sich, die Umwelt und die Zukunft. 7

INTERVIEW: KURT-MARTIN MAYER

FOCUS 50/2024

69


WISSEN

WISSENS-NEWS

H5N1

Die Gefahr wächst

Die Anpassungsfähigkeit des Vogelgrippevirus

macht die Fachwelt

immer nervöser. Laut einer in „Science“

erschienenen Studie fehlt H5N1 nur eine

einzige Mutation, um sich auf den Menschen

umzustellen – und könnte damit

womöglich eine neue Grippepandemie

auslösen. Die Ergebnisse machten deutlich,

wie wichtig eine kontinuierliche

Überwachung neu auftretender H5N1-

Mutationen ist, schreiben die Autoren.

Das Virus hat bereits Hunderte Kuhherden

in den USA infiziert und auch zu

Fällen bei Menschen geführt.

so

Höchst adaptiv H5N1 könnte schon

bald zur nächsten Pandemie führen

Geologie

Tonnenweise Gold

In der chinesischen Provinz Hunan

haben Geologen eine enorme Goldlagerstätte

entdeckt. Sie dürfte mehr als

tausend Tonnen Gold umfassen. Das

entspricht etwa einem Wert von 78 Milliarden

Euro und wäre einer der größten

bekannten Goldbestände der Erde.

Zahl der Woche

62

Prozent

der europäischen Böden sind bereits

durch physikalische, chemische

oder biologische Prozesse degradiert

Quelle: EU Soil Observatory

PRAXISNAH

Windpocken sind selten geworden. Kolumnistin

Ulrike Koock rät dennoch zur Impfung

E

s gibt sie noch, die Windpocken, auch

Varizellen genannt. Quälend juckend,

hochansteckend und nicht immer

harmlos kommt die einst so weit verbreitete

Kinderkrankheit nur noch selten in Arztpraxen

an. Aber ab und an passiert es eben.

Eine Mutter aus meinem Freundeskreis

meldete sich vor einigen Wochen bei mir.

Der Sohn habe komische Flecken auf dem

Rücken und dem Bauch bekommen.

„Hat dein Sohn Fieber oder Zeichen eines

Infekts?“, fragte ich sie. Sie schüttelte den

Kopf. „Nein, nur diese Punkte. Gestern waren

es eher Flecken, heute sehen sie wie Punkte

aus.“ Sie schickte mir ein Foto auf mein Handy.

Der gesamte Oberkörper war von unterschiedlich

großen Flecken und Pusteln überzogen.

„Hat er in letzter Zeit Medikamente

genommen?“, fragte ich weiter, weil Reaktionen

auf Medikamente gerne in den

unterschiedlichsten Ausprägungen

daherkommen.

„Nein, gar nichts. Ihm geht’s

auch gut. Wir waren gestern

im Wald, vielleicht sind es

Stiche?“

„So viele?“ Ich zweifelte

das an. „Er war bei

dem Wetter doch wahrscheinlich

nicht mit

T-Shirt bekleidet, sodass er

so zerstochen sein könnte?

War die Kleidung vielleicht neu

und ungewaschen?“ Ich wollte

eine allergische Reaktion ausschließen,

auch wenn der Ausschlag so gar nicht danach

aussah.

„Eigentlich sieht es nach Windpocken aus“,

erklärte ich ihr. „Ist er geimpft?“

Sie nickt „Na klar.“

„Manchmal kann man dennoch eine leichtere

Form von Windpocken bekommen. Wir

beobachten das mal“, bat ich sie. Nicht immer

kann man sofort eine Aussage treffen. Und

gerade wenn Kinder geimpft sind, kann eine

Windpockenerkrankung deutlich schwächer

ausfallen.

Als der Ausschlag sich nach einigen Tagen

vom Rumpf auf die Arme, die Beine und das

Gesicht ausgebreitet hatte, war ich mir sehr

sicher, dass es sich um die Windpocken handelte.

Man sah ein Nebeneinander von

Flecken, Papeln (Knötchen), Bläschen und

Verkrustungen - ein klassischer „Sternenhimmel“,

wie man das Erscheinungsbild des

Ausschlages nennt. Dem Kind ging es nach

wie vor, bis auf ein leichtes Jucken der Haut,

blendend.

In der Zwischenzeit war die Mutter mit dem

Sohn zum Hausarzt gegangen, weil sie für die

Fehltage in der Schule eine Bescheinigung

brauchte. Dieser schaute sich die Haut an und

sagte: „So was habe ich noch nie gesehen.“

Daran sieht man die Wirksamkeit einer

Impfung: Die Erkrankung ist so selten geworden,

dass man den Ausschlag, der früher allgegenwärtig

vorkam, nicht mehr

als Blickdiagnose erkennt. Heutzutage

sind die meisten Kinder

gegen die Varizellen

geimpft. Verheilt die Krankheit

zwar meist folgenlos, so

kann sie doch in seltenen

Fällen zu Lungenentzündungen

oder sogar zu

Enzephalitiden (Entzündungen

des Gehirns)

führen. Außerdem ist

es fraglich, ob man

seine Kinder dem

quälenden Juckreiz und

der Gefahr für Narbenbildung

aussetzen muss.

In den Zeiten vor der Impfung

hat man Kinder noch

zu „Windpockenpartys“ gebracht,

bei denen ein erkranktes Kind

die anderen infizieren sollte, damit sie es hinter

sich haben. Ein fragwürdiges Verfahren.

Die Erkrankung ist so ansteckend, dass fünf

Minuten gemeinsam verbrachte Zeit in einem

Zimmer ausreichen, um sie zu übertragen.

Dem Kind ging es nach einigen Tagen wieder

gut. Das Exanthem war nach und nach

verkrustet und verheilt, Folgen sind keine

geblieben. Lediglich der längere Schulausfall

ließ sich wegen der hohen Ansteckungsgefahr

nicht vermeiden.

Die Ärztin und Bloggerin Ulrike Koock schreibt

hier im wöchentlichen Wechsel mit dem

Psychiater und Theologen Manfred Lütz

Fotos: Science Photo Library , dpa Illustration: Birgit Lang/FOCUS-Magazin

70 FOCUS 50/2024


NACHRICHTEN

Astronomie

Ein lebensfreundlicher Ort auf dem Mars

Seit Milliarden von Jahren ist der Mars ein lebensfeindlicher

Ort: Seine Oberfläche ist eine eiskalte, staubtrockene

Wüste. Seine Atmosphäre ähnelt der von

Autoabgasen, die Strahlung ist tödlich. Dennoch gibt es immer

wieder Hinweise auf biologische Lebensformen.

Ein Team um Ökologie-Professor Andrea Butturini von der

Universität Barcelona hat nun einen möglichen Ort für gegenwärtiges

Leben auf dem Roten Planeten identifiziert, wobei

die Organismen weit unter der Oberfläche leben

dürften. Die Forschenden konzentrierten

sich bei ihrer Suche auf Gebiete, die

die richtigen Mengen an Wasser,

Wärme und Energie für

die Existenz von Lebensformen

aufweisen.

Anhand der Daten

zahlreicher Orbiter und Rover, die den Mars besucht haben,

fanden sie heraus, dass Acidalia Planitia, eine 3000 Kilometer

breite Ebene in der nördlichen Hemisphäre des

Mars, in schätzungsweise 4,3 bis 8,8 Kilometern Tiefe die

richtigen Bedingungen für Methanogene zu bieten scheint.

Diese Methan produzierenden Bakterien kommen auf der

Erde in vielen Umgebungen vor, etwa in Feuchtgebieten und

tief in den Ozeanen. Einige dieser Orte seien „Analogien zu

einem hypothetischen bewohnbaren Marsuntergrund“,

schreiben die Forscher.

Die Möglichkeit, dass unterirdische

Orte ein von der Oberfläche

unabhängiges Ökosystem

beherbergten,

sei keine Science

Fiction. so

Nachbarplanet

Im Schnitt

rund 228

Millionen

Kilometer ist

der Mars

von der Erde

entfernt

MATTINGS WARENTEST

Fotos: NASA/JPL/USGS

Smartphones haben fast

überall die Foto- und Videofunktion

übernommen –

außer, wenn es nass, hektisch

und schmutzig wird, also bei

Outdoor-Abenteuern aller Art.

Mit Tauch- oder Skihandschuhen

sind Touchscreens unpraktisch,

und das schicke iPhone ist

dafür nicht ausgelegt.

Actioncams wie die Osmo

Action 5 Pro des für seine Drohnen

bekannten Herstellers DJI

füllen diese Lücke. Mit 380 Euro

liegt die Kamera im Mittelfeld

vergleichbarer Geräte. Was

im Test aber gleich auffällt: Der

Tester muss sie ungewohnt selten

laden. Wo die Konkurrenz

nach neunzig Minuten schlappmacht,

hält der Akku der Osmo

5 mindestens doppelt so lange.

Das ist im Outdoor-Einsatz sehr

viel wert.

DJI Osmo Action 5 Pro

Aufnahmen vom Abenteuer

Robust Die Outdoor-

Kamera ist wasserfest

und macht auch nicht

gleich schlapp

Bei der Bildqualität punktet

das Modell mit einem vergrößerten

Sensor, der mehr Licht einfängt.

Bei Tageslicht führt das

zu sehr guten Bildern. Nachts

sind Smartphones noch deutlich

überlegen.

Der Bildstabilisator arbeitet

zuverlässig. Wunder vollbringt er

nicht, aber man will eine holprige

Fahrt ja auch im Bild sehen.

Praktisch: Es sind bereits

47 GB Speicher eingebaut, man

muss also nicht mehr an Micro-

SD-Karten denken. Natürlich ist

das Gerät staub- und wasserdicht

(bis 20 m). Die beiden Displays

zeigen hell und scharf und

erleichtern die Bedienung. Für

Makroaufnahmen ist das Modell

allerdings nicht geeignet – näher

als etwa eine Unterarmlänge

fokussiert die Kamera nicht.

Matthias Matting

FOCUS 50/2024

71


KULTUR

Verderben

Der Vulkan Popocatépetl

bildet die hitzige Kulisse

für Lowrys Geschichte einer

Selbstvernichtung

Foto: Getty images/ fitopardo

72 FOCUS 50/2024


LITERATUR

„Der Name dieses

Landes ist Hölle“

Jedes Jahr am Tag der Toten kommen sie

im mexikanischen Cuernavaca zusammen,

um dem Schriftsteller Malcolm Lowry

zu huldigen, der hier seinen wahnwitzigen

Roman „Unter dem Vulkan“ schrieb

TEXT VON AIREN

73


KULTUR

M

„Malcolm Lowry ist mal nachts im Vollrausch

in diese Schlucht gestürzt“, sagt

Dany Hurpin und lehnt sich über die

Holzbrüstung. Dahinter geht es steil eine

Böschung hinab, locker dreißig Meter.

Bambusrohre schießen aus dem Dickicht

empor, ragen in den Himmel über dem

Hotelgarten, an dessen Rand das Geländer

angebracht ist. „Die Hotelangestellten

mussten Lowry mit vereinten Kräften

wieder nach oben zerren.“ Dany Hurpin,

ein schlaksiger Franzose mit breitem

Grinsen, lädt die Teilnehmer der Exkursion

ein, näherzutreten.

Zögernd wagen sie sich ans Geländer,

angegraute Künstlertypen, Damen in wallenden

Ethnogewändern und eine Hippiefrau

mit selbst gebasteltem Filzhut, aus

dem ein Ast hervorragt. Der etwas wunderliche

Haufen, der dort die Schlucht inspiziert,

sind die Teilnehmer der jährlichen

„Caminata Lowriana“, einem Spaziergang

auf den Spuren Malcolm Lowrys,

des britischen Trunkenbolds und Literaturgenies,

der in diesem Hotel im zentralmexikanischen

Cuernavaca an seinem

großen Säuferepos schrieb, dem Jahrhundertroman

„Unter dem Vulkan“.

Die Führung zu Originalschauplätzen

des Romans findet immer im November

statt, am mexikanischen „Tag der Toten“,

an dem die Handlung im Jahr 1938 angesiedelt

ist. „Unter dem Vulkan“ erzählt

vom letzten Tag im Leben des britischen

Konsuls Geoffrey Firmin, zwölf intensive

Stunden, aufgeteilt in zwölf Kapitel. Es

ist ein Werk voll kryptischer Anspielungen

und literarischer Anleihen, vor dem

Hintergrund der großen Umwälzungen

seiner Zeit. Es erzählt vom unverhofften

Besuch von Firmins entfremdeter Gattin,

deren letzten Versuch, ihre Ehe zu retten

– doch der Konsul wirft sich mit unbändigem

Selbstzerstörungswillen in den Alkoholrausch.

Die Kolonialstadt Cuernavaca

dient darin als Metapher für die Verlorenheit

in einer feindseligen Welt.

„Und so denke ich manchmal an mich

selbst wie an einen großen Forscher, der

irgendein unbekanntes Land entdeckt hat

und niemals von dort zurückkehren kann,

um der Welt Kenntnis davon zu geben“,

heißt es im Roman, „aber der Name dieses

Landes ist Hölle. Natürlich liegt es nicht

in Mexiko, es liegt im Herzen.“

Darauf einen Mezcal

„Malcolm Lowry kennt nicht jeder“, sagt

Hurpin, er hat die Schlucht hinter sich

gelassen und spaziert nun durch den

Garten des Hotels. „Aber wenn zwei

Lowry-Begeisterte aufeinandertreffen,

entsteht eine Freundschaft.“ Das Hotel

heißt mittlerweile „Bajo el Volcán“, hier

lebte Lowry Mitte der 1940er Jahre, hier

schrieb er die dritte Fassung des Romans,

der zehn Jahre seines Lebens bestimmte,

und hier erhielt er die vernichtende Nachricht

seines Verlegers Jonathan Cape, er

solle das Manuskript doch bitte kürzen,

auf die Hälfte oder zwei Drittel seines

jetzigen Umfangs.

Lowry schnitt sich daraufhin die Pulsadern

auf – in genau jenem Turmgemach,

zu dem das Grüppchen nun über eine

„Wenn zwei Lowry-Begeisterte aufeinandertreffen,

entsteht eine Freundschaft“

Dany Hurpin, Literatur-Aficionado

Außentreppe aufsteigt. Im Turm stapelt

sich heute Gerümpel, und Hurpin erzählt,

wie das leidgeprüfte Hotelpersonal dem

Autor damals ein zweites Mal das Leben

rettete – und dieser einen mittlerweile

legendären 40-seitigen Brief an Cape verfasste,

in dem er das Werk leidenschaftlich

verteidigte. „Nicht ein Komma“ wolle

er entbehren, schrieb Lowry – und überzeugte

schließlich den Verleger.

Hier vom Dach fällt der Blick auf die

Hochebene, aus der zwei mächtige Vulkane

ragen: Popocatépetl und Ixtaccíhuatl,

der zweit- und der drittgrößte Berg Mexikos.

Mit französischem Zungenschlag

rezitiert Hurpin aus „Unter dem Vulkan“:

„Ixtaccíhuatl und Popocatépetl, dieses

Inbild der vollkommenen Ehe, lagen jetzt

klar und schön am Horizont unter einem

fast wolkenlosen Morgenhimmel. ‚Trink

den ganzen Vormittag‘, sagten sie zu ihm,

‚trink den ganzen Tag‘. Das heißt Leben!“

Dany Hurpin, studierter Geologe, kam

vor 24 Jahren per Sprachaustausch nach

Cuernavaca. Der 48-jährige ist eine feste

Größe in der Kunstszene der Stadt, er

veranstaltet Ausstellungen und leitet den

Kleinverlag La Cartonera, der Bücher

in liebevoller Handarbeit herstellt. Vor

sieben Jahren trat Hurpin der Malcolm-

Lowry-Stiftung bei, einem losen Verband

von Aficionados, die das Gedächtnis an

das saufende Genie hochhalten.

Die Stiftung veranstaltet seit ihrer

Gründung 2002 ein jährliches Symposium.

Besucher kamen schon aus Portugal

oder Neuseeland. „Es ist ein weltweites

Netzwerk“, sagt Hurpin. „Jeder

kennt jeden.“

In diesem Jahr fand das Jahrestreffen

am Vorabend der Schauplatz-Führung

statt. Im Atrium eines prachtvollen Ziegelbaus

hatte auf 30 Plastikstühlen das

Bildungsbürgertum der Stadt nahezu geschlossen

Platz genommen. Der süßliche

Geruch von exhaliertem Alkohol hing

über den Köpfen, am Rauchertisch dämmerte

eine Bierleiche weg. Bei jeder sich

ergebenden Sprechpause prosteten sich

Referenten und Publikum mit Mezcal zu,

jenem scharfen Agavenbrand, der Lowry

fast den Verstand gekostet hatte. Mit fortschreitendem

Pegel mutierte das Auditorium

zur Kneipe, Gespräche brandeten

im Publikum auf, dieser eingeschworenen,

trinkfesten Gemeinschaft: die letzten

Lowryaner.

Regisseur Óscar Menéndez sprach über

seine Doku, die er 36 Jahre zuvor über

Lowry gedreht hatte, und jedes Mal, wenn

der alte Mann ins Stocken geriet, vervollständigte

das Publikum seine Sätze – so

oft hatte jeder den Vortrag bereits gehört.

Lowry zeige das alte Cuernavaca, krächzte

Menéndez, jedoch: „Heute hat sich die

Stadt in eine kleine Hölle verwandelt.“

Wie zum Beweis raste in genau diesem

74 FOCUS 50/2024


LITERATUR

Verziert

Seine Anhänger ehren

Malcolm Lowry am Tag der

Toten in Cuernavaca

Moment eine Kolonne Polizeifahrzeuge

vorbei und heulende Sirenen erstickten

den Vortrag. Auf den Schreck genehmigte

man sich gleich noch einen Mezcal.

Der Autor Alberto Rebollo trug mit zunehmendem

Enthusiasmus aus seinem

Roman vor, der auf Lowrys Leben basiert,

und kaum hatte er den letzten Satz gelesen,

sprang er auf, reckte das Mezcalglas

in den Abendhimmel und stürzte es in

einem Schluck hinunter: „Salud!“ Dröhnender

Applaus.

Volksfest auf dem Friedhof

Fotos: Eunice Adorno

Versteckt

Lowrys Schreibklause

ist heute das Hotel

Bajo el Volcán

Vergessen

Die Absturzkneipe „La Estrella“

aus dem Roman hat

inzwischen geschlossen

Verehrt Lowrys Roman,

1947 erstmals erschienen,

gilt als Klassiker der

modernen Literatur

Am nächsten Tag verlässt die Exkursionsgruppe

das Hotel Bajo el Volcán, das

sich hinter Stacheldraht und eingemauerten

Glasscherben verbarrikadiert hat.

Drei Überwachungskameras halten das

Geschehen auf der davor liegenden Kreuzung

fest. Im Moment ist da allerdings

nur ein Scheibenputzer, der im Schatten

wegelagert, und ein rostiger Minibus,

der sich die kurvige Straße hinaufkämpft.

Cuernavaca besitze „achtzehn Kirchen

und siebenundfünfzig Bars“, schrieb

Lowry, „und nicht weniger als vierhundert

öffentliche oder private Schwimmbäder.“

Die „Stadt des ewigen Frühlings“,

einst ein tropisches Idyll vor den Toren

von Mexiko-Stadt, war ein Magnet für

Künstler, Intellektuelle und europäische

Exilanten.

Heute leben in der Metropolregion von

Cuernavaca rund eine Million Menschen,

es ist eine der unsichersten Städte Mexikos.

Der hiesige Bundesstaat Morelos,

knapp doppelt so groß wie das Saarland,

verzeichnete allein in diesem Oktober

144 Morde. Kartelle und Banden kämpfen

um die Vorherrschaft. An den Kiosken

im Zentrum, das die Lowry-Wanderer nun

erreichen, überbieten sich die Titelblätter

mit blutigen Fotos von Massengräbern

und verstümmelten Leichen.

Hurpin zeigt lieber Relikte aus der Blütezeit

der Stadt: Die Festung mit Wandmalereien

von Diego Rivera, das ehemalige

Hotel Bella Vista und das Restaurant

„La Universal“ am Stadtplatz, in dem

Lowry zu zechen pflegte. An jedem Romanschauplatz

zückt Hurpin seine zerfledderte

Ausgabe von „Unter dem Vulkan“

und gibt eine passende Textstelle

zum Besten.

FOCUS 50/2024

75


KULTUR

„Ich habe im ‚Vulkan‘ versucht, die

Missbildungen meines Verstandes so gut

wie möglich zu verschleiern“ Malcolm Lowry

Zwischen all den Wechselstuben und

Pfandleihhäusern, den Straßenhuren

und den Militärs mit ihren Maschinengewehren

wirken die Exkursionsteilnehmer

wie Außerirdische, literarische

Schatzjäger auf der Suche nach einer

verlorenen Zeit. „Viele Handlungsorte“,

sagt Hurpin, „sind mittlerweile verschwunden.“

Die Cantina „La Estrella“ existiert zwar

noch, es wäre aber eine Übertreibung, zu

behaupten, dass sie noch steht. Von der

ältesten Bar Cuernavacas ist nur noch die

Fassade erhalten, die Seitenflügel sind

eingefallen, aus den Mauerresten wächst

Unkraut. Über dem Eingang prangt ein

Zitat aus „Unter dem Vulkan“: „Was gibt

es etwas Schöneres als eine Cantina in den

frühen Morgenstunden?“ Die Lowryaner

haben die Inschrift angebracht, früher

Verloren Lowry, 1909 bei Liverpool geboren,

starb 1957 an einer Überdosis

hielten sie hier ihre Treffen ab. Während

der Covid-Pandemie musste die Spelunke

jedoch schließen, dann stahlen Einbrecher

die Wasserleitungen, und das Dach stürzte

ein. Bald wird der Laden abgerissen.

Aufbruch zur letzten Station der Tour,

dem Friedhof La Leona. Taxis werden

herangewunken, auch die Bierleiche

vom Rauchertisch ist eingetrudelt – Latzhose,

Jagger-Brille –und quetscht sich

auf den Rücksitz. „Das Buch hat geile

Sätze“, sagt die Bierleiche. „Aber ich bin

der Einzige in diesem Sauhaufen, der in

Lowry kein Genie sieht.“

„Aussteigen!“, ruft Dany Hurpin lachend

vom Beifahrersitz. „Sofort aussteigen!“

Die Bierleiche entpuppt sich als Victor

Hugo Sánchez Reséndiz, Dozent der

Politikwissenschaften und renommierter

Experte für Zapatismus. Das mit der Stiftung,

erzählt Reséndiz, sei ein Schwindel.

Sie existiere nicht wirklich als Rechtsform,

man sei nur bei einem Trinkgelage darauf

verfallen. Das Taxi knattert über abschüssige

Straßen, vorbei an Graffiti, die Femizide

anprangern („Mörderstaat!“), entlang

verschachtelter Favelas, die sich an

die Hügel ducken.

JETZT ÜBER DAB+, AUF RADIOBOB.DE

ODER IN DER MYBOB-APP MITROCKEN!


LITERATUR

Fotos: Rodrigo Marquez, Getty Images

Auf dem Friedhof herrscht Rummelplatz-Atmosphäre:

eine drängelnde Menschenmenge,

Zuckerwatte, knallbunte

Heliumballons. Musiker in Mariachi-

Uniformen schmettern Schlager, am Tag

der Toten wird auf Mexikos Friedhöfen

getrunken, gesungen und gefeiert.

Ein letzter Gruß der Gerechtigkeit

Die Gruppe hält vor einem gläsernen

Mausoleum, das im Sonnenlicht glitzert

wie tausend Diamanten. Es stand bereits

zu Lowrys Zeiten. „Die Struktur selbst

bestand aus Millionen kleiner Spiegelstücke“,

rezitiert Dany Hurpin, „die in

allen erdenklichen geometrischen Formen

zugeschnitten und in verschlungenen

Mosaikmustern an der Balustrade,

an den Säulen und an den Seiten angebracht

waren.“

Dann zieht Hurpin eine Flasche Mezcal

aus seinem Rucksack. „Mezcal del Consul”

steht auf dem Etikett. „Spezialabfüllung“,

sagt Hurpin. „Den gibt’s nur zum

Tag der Toten.“

Lowry-Autor Rebollo hat sich auf

einem Grab niedergelassen und eine

Bierdose aufgeknackt. „Unsere Treffen

enden immer im Vollrausch“, sagt er

und spielt eine alte mexikanische Ballade

auf seinem Handy ab. Er springt

auf und stimmt in das Lied ein, balanciert

auf dem Bordstein, Bierdose

in der einen Hand, Mezcalbecher in

Verwegen Airen lebt als Journalist

und Schriftsteller („Strobo“) in Mexiko

der anderen, jauchzt diesen leidenschaftlichen

mexikanischen Jubelschrei:

„Ayayayay!“

Es wird viel gelacht und noch mehr

getrunken an diesem Nachmittag, aber

dann wird es doch für einen Moment

still. Jemand hat ein Foto mitgebracht,

es zeigt eine Frau Mitte dreißig, rebellische

Locken und markante Züge. „Mafer

kam immer zu unseren Lowry-Spaziergängen“,

sagt Dany Hurpin.

María Fernanda Rejón Molina, genannt

Mafer, verschwand Ende Dezember 2023

auf dem Weg zu einer Familienfeier. Zwei

Tage später fand man ihre Leiche am Rand

der Autobahn nach Acapulco. Ihr Körper

wies Spuren von Gewalt auf. Die Täter

wurden nie gefasst, wie in 98 Prozent

der Mordfälle in Mexiko.

„Gerechtigkeit für Mafer!“, ruft Autor

Rebollo.

„Gerechtigkeit für Mafer!“, schallt es

im Chor zurück.

Dann schließen sie sich in die Arme,

gießen die Plastikbecher voller Mezcal,

singen schief, aber voller Inbrunst,

in Cuernavaca, am Tag der Toten, unter

dem Vulkan. 7

Dieser Text

zeigt evtl. Probleme

beim

Text anNorwegischer Hering –

lecker von NADLER

veredelt.


KULTUR

Vier Fragen an Schauspieler

Sascha Geršak, Ermittler in

„Die Toten von Marnow 2“

SERIE Sie haben schon in vielen Krimi-Formaten

mitgewirkt, was ist für den Experten das Besondere

an „Die Toten von Marnow“? Dass es hier Raum

und Zeit gibt, die Geschichte breiter und langsamer zu

erzählen. Womit man ein wenig Einblick in das Leben der

beiden Kommissare bekommt. Viele Krimis kranken

an hölzernen Dialogen, hier ist das erfreulicherweise

anders. Das liegt zum einen am Autor Holger

Karsten Schmidt und zum anderen an unserer „Stuhlprobe“.

Das klingt aber arg medizinisch. Ja (lacht). Wir setzen

uns vor dem Dreh jeder Szene mit dem Regisseur zusammen,

gehen sie gemeinsam durch und stellen uns die

eine große Frage: Was können wir weglassen. Weniger

ist mehr? Genau: Was sich der Zuschauer denken kann,

muss man nicht sagen. (ARD)

Spiel, Satz und Sieg:

„Challengers – Rivalen“

macht Tennis wieder sexy

FILM Neben „Dune: Part Two“ der zweite Film mit

Zendaya in der Hauptrolle, die in dem Werk von Regisseur

Luca Guadagnino die Tennis-Extremistin Tashi

spielt, der nacheinander die zwei unzertrennlichen und

aufstrebenden Spieler Patrick und Art verfallen. Das

führt zu den erwartbaren Problemen, die Dreiecksbeziehungen

mit sich bringen, bis sie erkennen, dass sie

eine weitere Ecke übersehen haben, die nämlich vom

Tennisspiel besetzt wird. Das ist alles einigermaßen

haarsträubend, übertrieben und unangemessen melodramatisch,

aber dabei auch so rasant, elegant und sexy

gefilmt, dass man vor Freude die Becker-Faust ballen

möchte. Zumal weder Zendaya noch Josh O’Connor als

Patrick nach eigenen Angaben auch nur ansatzweise

Tennis spielen konnten, aber auf dem Platz so wirken,

als seien sie beide mindestens Steffi Graf.

Schaust du schon

oder guckst du noch?

Sie hatten keine Zeit, ins Kino zu gehen? Sie fühlen sich vom

Angebot der Plattformen überfordert? Hilfe naht: Die zehn

besten Filme und Serien des Jahres zum Streamen

Leckt mich doch alle:

„Slow Horses“ feiert

den fröhlichen Zynismus

SERIE Nein, sie mögen es nicht, wenn man sie als

Versager bezeichnet. Aber genau deshalb nennt

Jackson Lamb (gespielt von Oscar-Preisträger Gary

Oldman, Foto) seine Truppe genau so. Die Agenten

im Londoner „Slough House“ haben sich alle

irgendwas zu Schulden kommen lassen, sodass sie

nun in dieser Anstalt der Schwererziehbaren ihren

Dienst fristen müssen. Was sie nicht daran hindert,

vertrackte Fälle zu lösen und böse Machenschaften

des MI5 aufzudecken (wenn auch ein

wenig zufällig). Die größte Schau der Thriller-Serie

ist aber zweifellos Oldman als zynisches Gegenbild

zu etwa James Bond. (Apple TV+)

Fotos: NDR/ Feist/Jahn, action press,imago, Searchlight Pictures

78 FOCUS 50/2024


STREAMING

Nächste Woche in der

Stil-Beilage von FOCUS:

Go West: Kevin

Costner sattelt in

„Horizon“ die Pferde

FILM War es das Wetter, die dreistündige

Dauer oder der Umstand, dass die Zielgruppe

noch damit beschäftigt war,

seine Neo-Western-Serie „Yellowstone“

zu schauen? Jedenfalls wurde Costners

Herzensprojekt über die Besiedelung

Amerikas, dem er als Drehbuchautor,

Regisseur und Hauptdarsteller vorstand,

bei Kinostart nicht die Liebe zuteil, die

es verdient hätte. Dabei soll im April

nächsten Jahres bereits Teil zwei folgen.

Netter wird’s nicht: Der Episodenfilm

„Kinds of Kindness“

blickt gelassen in den Abgrund

FILM Ein ergebener Angestellter scheitert daran, im

Auftrag seines verehrten Arbeitgebers einen Mord zu

begehen und zerbricht an dem daraus resultierenden

Liebesentzug; ein Ehemann bezweifelt, dass seine Gattin,

die lange Zeit vermisst war, tatsächlich seine Gattin

ist – und stellt ihr grausame Prüfungen; und zwei Mitglieder

einer Sekte, bei der es darum geht, keine Fische

zu essen, suchen nach einer jungen Frau, die Tote zum

Leben erwecken kann. Nach der Komödie „Poor Things“

besinnt sich der griechische Neo-Surrealist Yorgos

Lanthimos auf seine Kernkompetenz und betrachtet in

drei lose miteinander verbundenen Episoden mit heiter

erbarmungslosem Blick auf die menschliche Existenz.

Mit dabei sind auch dieses Mal seine Lieblingsschauspieler

Emma Stone (Foto) und Willem Dafoe.

Yotam Ottolenghi

×

Kitchen Philosopher

Bold Flavours & Sexy Veggies:

Das Alphabet des einflussreichsten

Kochs unserer Zeit

Die Wüste lebt: „Dune: Part Two“ ist noch besser als Teil eins

FILM Mehr Bombast, mehr Drama, mehr Sand! Der kanadische Monumentalfilmer Denis

Villeneuve besuchte für einen zweiten Teil erneut den Planeten Arrakis und drehte den besten

Wüstenfilm seit David Leans „Lawrence von Arabien“ aus dem Jahr 1962. Im Zentrum steht wieder

Paul Atreides, der nach dem Tod seines Vaters bei den Fremen untergekommen ist, wo er Zendaya

als Chani schöne Augen macht. Nur bleibt für die Liebe kaum Zeit, weil die Fremen ihn nach einer

Prophezeiung der Bene Gesserit für ihren Messias halten. Erleben Sie Timothée Chalamet (Foto)

als Paul Atreides unter sengender Sonne, bevor er Anfang 2025 singend als Bob Dylan auf die

Leinwand zurückkehrt.

Plus:

Ottolenghis Weihnachtsmenü

Und die besten neuen Uhren und

Looks der Saison

FOCUS 50/2024


STREAMING

Kein Quantum Trost: „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“

FILM Womit hat sie das verdient? Müde, überarbeitet und unterbezahlt fährt die Produktionsassistentin Angela

den ganzen Tag mit dem Auto durch Bukarest. Sie soll Leute, die sich bei Arbeitsunfällen schwer verletzt haben,

für ein Imagevideo zum Thema Arbeitssicherheit casten. Motto: Immer schön den Helm aufsetzen! Weil das nicht

lebenserfüllend ist, parodiert sie nebenbei für ihren TikTok-Kanal den amerikanisch-britischen Influencer Andrew

Tate, trifft den gefürchteten deutschen Regisseur Uwe Boll und sitzt Nina Hoss gegenüber, die im neuen Film von

Radu Jude Angelas kaltherzige Chefin spielt. Für die Gesellschaftssatire „Bad Luck Banging or Loony Porn“ bekam

der rumänische Regisseur 2021 den Goldenen Bären der Berlinale. Hier widmet er sich den Verwerfungen, die der

Alltag vor allem für jene bereit hält, die ihn am Laufen halten.

Andere Länder,

andere Sitten:

„Shogun“

SERIE Der englische Seefahrer John

Blackthorne konnte natürlich nicht

ahnen, dass er in ein komplexes politisches

Ränkespiel hineinsegelt, als er

1600 vor der Küste Japans Schiffbruch

erleidet: Der alte Shogun ist tot, und

fünf Anwärter warten darauf, ihn zu

ersetzen. Basierend auf James Clavells

Bestseller von 1975 geht die neue

Adaption exakt den entgegengesetzten

Weg der Serie von 1980 mit Richard

Chamberlain in der Hauptrolle. Statt

das isolierte Japan mit europäischen

Augen zu betrachten, guckt Japan dieses

Mal auf die Europäer und wundert

sich über schlechtes Benehmen und

mangelnde Körperhygiene. Zum Glück

hilft die Übersetzerin Mariko (Anna

Sawai), kulturelle Missverständnisse

zu überwinden. (Disney+)

„Die Straßen reden wieder.

Sie wissen, dass es nur einen

gibt, der groß genug ist, die

Stadt zu regieren“

The Penguin

Mord ist ihr Hobby:

„Only Murders

in the Building“

SERIE Steve Martin, Selena Gomez und Martin Short

spielen True-Crime-Superfans, die sich berufen fühlen,

ihr gebündeltes Wissen zum Einsatz zu bringen,

als es in ihrem New Yorker Appartementkomplex zu

einem grausamen Todesfall kommt. Der Charme der

heiteren Tätersuche, die bereits in ihrer vierten Staffel

angekommen ist (eine fünfte ist angekündigt), besteht

nicht zuletzt darin, dass die Macher es immer wieder

schaffen, alle möglichen Stars in die Handlung einzubinden,

die fiktionalisierte Versionen von sich selbst

spielen. Mit dabei waren bislang unter anderem Sting,

Amy Schumer, Jimmy Fallon, Eva Longoria, Mel Brooks

und Matthew Broderick. (Disney+)

Allein gegen die Mafia: „The Penguin“ erobert Gotham City

SERIE Eine Serie aus dem DC-Superhelden-Universum, in dem keine Superhelden vorkommen, mit einem

weltberühmten Schauspieler in der Hauptrolle, den man beim besten Willen nicht erkennt. In der achtteiligen

Serie spielt Colin Farrell (Foto) Batmans ewigen Widersacher Pinguin als einen weithin unterschätzten

Gangster, der seine Chance kommen sieht, als sich in Gotham City ein Machtvakuum auftut. (Wow)

Fotos: imago, Hulu, Warner Bros. Entertainment Inc., Mubi

80 FOCUS 50/2024


Dieser Text

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über die MagentaTV App ohne zusätzliche Hardware empfangbar. Auf Wunsch kann die TV-Box MagentaTV One für 5 €/Monat, zzgl. 6,95 € Versandkosten, erworben werden. Mindestvertragslaufzeit 12 Monate. MagentaTV MegaStream

enthält RTL+ Premium, Netflix Standard, Disney+ Standard und Apple TV+ (jeweils HD verfügbar). Voraussetzung für die Buchung und Nutzung von Netflix, Disney+ und Apple TV+ sind ein Wohnsitz in Deutschland sowie die Registrierung

und Akzeptanz der Nutzungsbedingungen. Es gelten gesonderte Datenschutzbestimmungen bei Netflix International B.V. und Disney+. Bei Nutzung über das Mobilfunk-Datennetz erfolgt die Belastung des Datenvolumens beim jeweiligen

Mobilfunk-Anbieter.

Ein Angebot von: Telekom Deutschland GmbH, Landgrabenweg 151, 53227 Bonn.


VERLAGSSONDERVERÖFFENTLICHUNG

Heißer Draht

Kundendienst gibt es mittlerweile

über viele Kanäle und meistens

rund um die Uhr. Doch welcher

Service ist der beste?

Studie 2024

Hier ist der Kunde König

Von der Badausstattung über die TV-Technik bis hin zur Versicherung –

wer bietet herausragenden Kundendienst? 21 Branchen im Check

Service-Hotlines sind in aller

Regel an feste Geschäftszeiten

gebunden. Doch glücklicherweise

geht es auch anders. Immer

mehr Unternehmen setzen längst auf

ergänzende Angebote: Sprachcomputer,

Chatbots, Frequently-Asked-Questions-

Seiten, Kontaktformulare oder Social-

Media-Kanäle zeigen, dass viele Firmen

die Wichtigkeit von Kundendienst begriffen

haben.

Allerdings birgt dieser Multi-Channel-Online-Service

auch seine Tücken:

Quantität ist schließlich nicht gleich

Qualität. Und auf Letztere kommt es

den Kunden an. Laut einem Bericht der

Verbraucherzentrale sind die häufigsten

Probleme die Erreichbarkeit, die

Qualität und die Dokumentation. Das

ist vor allem deshalb fatal, weil ein guter

Kundendienst einen starken Einfluss auf

die Kaufentscheidung hat.

Gerade deshalb haben sich viele

Unternehmen dieses Thema auf die

Fahne geschrieben. Doch wer ist in

diesem Feld bereits spitze? Zusammen

mit dem Research-Partner FactField

hat DEUTSCHLAND TEST eine breit

angelegte Studie durchgeführt. Welche

Unternehmen am Ende herausstechen,

zeigen die folgenden Ergebnisse.

SANDRA LEINFELDER

Illustration: Adobe Stock


DEUTSCHLAND TEST

Methodik

BESTER

KUNDEN-

DIENST

STUDIE

KUNDENZUFRIEDENHEIT

FOCUS 50/24 | DEUTSCHLANDTEST.DE

Für die Erhebung wurde eine umfangreiche

Online-Analyse, ein sogenanntes Social Media

Monitoring, durchgeführt. Im ersten Schritt

wurden 21 Branchen definiert, in denen Kundendienste

für den Verbraucher eine hohe

Relevanz aufweisen. Zu jeder Branche wurde

eine Longlist der Anbieter beziehungsweise

Marken erstellt. Für diese wurden anschließend

Bewertungen, die vorab definierte Suchbegriffe zum Thema „Kundendienst“

enthalten, aus dem Internet erfasst und analysiert. Durchgeführt

wurde die Studie von FactField, München. Die Ergebnisse der Analyse

beziehen sich auf den Untersuchungszeitraum vom 1. August 2023 bis

31. Juli 2024. Für den Testzeitraum wurden über fünf Millionen Online-

Beiträge von Kunden ausgewertet.

Berücksichtigt wurden drei Bewertungsdimensionen: erstens die Anzahl

an relevanten Bewertungen, also die Häufigkeit, mit der der Kundendienst

des Anbieters/der Marke besprochen wurde. Verfügte ein Unternehmen

nicht über eine ausreichende Anzahl an Bewertungen, wurde es nicht für

die Liste „Bester Kundendienst“ berücksichtigt. Zweitens das Rating des

Anbieters/der Marke, der/die unter Berücksichtigung des Aspekts „Kundendienst“

bewertet wurde. Drittens die Tonalität der Bewertungen zum

Kundendienst. Hierbei wurde der Inhalt der Bewertung des Anbieters/der

Marke einer der Kategorien positiv, neutral und negativ zugeordnet. Die

TOP

KUNDEN-

DIENST

STUDIE

KUNDENZUFRIEDENHEIT

FOCUS 50/24 | DEUTSCHLANDTEST.DE

negativen Bewertungen wurden dann von den

positiven Bewertungen abgezogen und durch

die Gesamtzahl geteilt, um das Ergebnis zu

normieren.

Die gewichteten Ergebnisse der drei Bewertungsdimensionen

wurden für alle Anbieter

zu einem Gesamt-Score zusammengefasst.

Die erreichte Gesamtpunktzahl wurde für jede

Branche normiert. Der Branchensieger erhielt

100 Punkte und setzt damit die Referenz für

alle anderen untersuchten Unternehmen und Marken in der Branche. Die

Auszeichnung „Top Kundendienst“ erhielten alle Unternehmen und Marken,

die mindestens 75 Punkte in der Gesamtwertung erreicht haben. Nur sie

sind auch in den nachfolgenden Tabellen aufgeführt.

Gut, besser, ausgezeichnet.

DEUTSCHLAND TEST untersucht Produkte und Dienstleistungen

aus allen Lebenswelten nach wissenschaftlichen

Methoden. Ausführliche Ergebnisberichte und spannende

Artikel helfen Ihnen dabei, Kaufentscheidungen klar und

informiert zu treffen. Besuchen Sie uns auf deutschlandtest.de

und erfahren Sie mehr über unsere Tests und

Auswertungen.

Haus & Heim – Bad

bis Möbelhandel

Im Themenfeld „Rund ums Haus“ haben

Research-Partner FactField und DEUTSCHLAND

TEST insgesamt sieben Branchen abgebildet: von

Bad- & Sanitärhändlern über Energieversorger,

Gartenbauhändler, Gartengeräte, Haustechnik

und Heizungstechnik bis hin zu Möbelhändlern.

Damit stellt dieses Themenfeld ein Drittel der

gesamten Studie. Es finden sich hier 96 der

insgesamt 284 Testsieger wieder.

Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

Bad & Sanitär (Händler)

MySpiegel.de 100,0 Bester

GLASundBESCHLAG.de 97,2 Top

Hudson Reed 96,2 Top

WENKO 88,7 Top

Expertbath 82,1 Top

top-shelf.de 79,2 Top

X2O Bad 78,3 Top

Die moderne Hausfrau 76,4 Top

Energieversorger

Octopus Energy 100,0 Bester

RheinEnergie 96,0 Top

BESTER

KUNDEN-

DIENST

RUND UMS HAUS

STUDIE

KUNDENZUFRIEDENHEIT

FOCUS 50/24 | DEUTSCHLANDTEST.DE

TOP

KUNDEN-

DIENST

RUND UMS HAUS

STUDIE

KUNDENZUFRIEDENHEIT

FOCUS 50/24 | DEUTSCHLANDTEST.DE

Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

gas.de 95,7 Top

Ostrom 94,7 Top

Grünwelt Wärmestrom 93,8 Top

Montana 93,0 Top

Knauber Erdgas/Knauber Strom 92,5 Top

Vattenfall 92,3 Top

ENPURE 92,2 Top

Erdgas Südwest 90,8 Top

VeganStrom.com 90,8 Top

Elli 89,7 Top

Team SE 87,3 Top

Gut & Grün 86,3 Top

Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

idealenergie 86,0 Top

immergrün! 84,2 Top

Stadtwerke Bochum 83,8 Top

Yippie 83,8 Top

Mainova 83,5 Top

ENTEGA 81,5 Top

MITGAS 81,2 Top

SimplyGreen 81,2 Top

Brillant Energie 81,0 Top

Süwag 81,0 Top

LogoEnergie 80,8 Top

Elogico 80,0 Top

Energy Market Solution 79,7 Top

STROGON 79,5 Top

goldgas 78,5 Top

E.ON 77,8 Top

enercity 76,5 Top

stromee 75,7 Top

Gartenbau (Händler)

Rollrasen Rudi 100,0 Bester

Pineca 96,3 Top

Pfl anzwerk 93,9 Top

casando 93,9 Top

BALDUR-Garten 90,2 Top

HEIM & HAUS 86,6 Top


FOCUS 50/24 | DEUTSCHLANDTEST.DE

VERLAGSSONDERVERÖFFENTLICHUNG

Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

Garten Haus 78,0 Top

Garten- & Motorgerätehersteller

KOX 100,0 Bester

Passiontec 98,3 Top

STIHL 89,7 Top

Hecht-Garten 81,0 Top

BRAST 81,0 Top

Haustechnik (Händler)

LED Universum 100,0 Bester

heima24 97,1 Top

TeMo 95,8 Top

Hudson Reed 93,8 Top

BeleuchtungDirekt 91,7 Top

K.S.H. Technikhandel 91,7 Top

Elektro Wandelt 87,1 Top

Expertbath 85,4 Top

Alpha Solar 85,0 Top

banemo 83,8 Top

OCHSNER 82,9 Top

WATT24 78,3 Top

thermondo 77,5 Top

ETC Shop 76,3 Top

Schulte Home 76,3 Top

Budgetlight.de 76,3 Top

Heizungstechnik (Händler)

heima24 100,0 Bester

Hudson Reed 96,2 Top

Alpha Solar 90,9 Top

OCHSNER 87,1 Top

Heizung Billiger 86,4 Top

HARK 81,1 Top

ETC Shop 80,3 Top

thermondo 80,3 Top

Möbelhändler

Rolf Benz 100,0 Bester

SOFACOMPANY 99,7 Top

BRUNO 99,3 Top

massivum 98,3 Top

Multipolster 97,9 Top

WHO‘S PERFECT 94,2 Top

Möbel Letz 92,8 Top

BOLIA 91,8 Top

DELIFE 91,4 Top

Eminza 90,8 Top

TOP SHELF 85,3 Top

Desktronic 83,9 Top

Homescapes 80,8 Top

premiumXL 80,1 Top

pamo. design 78,8 Top

deinSchrank.de 78,8 Top

Swiss Sense 78,4 Top

AmbienteDirect 77,7 Top

home24 76,7 Top

connox.de 75,3 Top

Technik – Autoteile

bis Pay-TV

Funktionierende Technik ist heutzutage wichtiger

denn je. Nicht nur, dass die Menschen in den

vergangenen Jahren technisch weiter stark aufgerüstet

haben – sie verlassen sich in vielen

Bereichen auch immer mehr darauf. Wenn dann

etwas nicht funktioniert – sei es bei Autozubehör,

TV-Technik oder WLAN –, ist schnelle Hilfe

gefragt. Welche Unternehmen hier die Favoriten

der Verbraucher sind, ist im Themenfeld „Technik“

aufgeführt.

Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

Autoteile & -zubehör (Händler)

Motorrad Meister Milz 100,0 Bester

WS Autoteile 94,6 Top

Tessi-Supply 93,2 Top

Maciag Offroad 92,9 Top

Shop4Tesla 92,9 Top

Kennzeichenheld 92,5 Top

Kennzeichen.Express 92,2 Top

APART 91,2 Top

Reifen24 86,1 Top

Autoteile-Markt.de 85,0 Top

autoteiledirekt.de 83,3 Top

XLMOTO 81,6 Top

AUTODOC 81,0 Top

DAPARTO 80,3 Top

kfzteile24 76,5 Top

MBZCLASSICPARTS 76,2 Top

Elektronikhändler

LED Universum 100,0 Bester

Clevertronic 99,1 Top

K11 Ersatzteilshop 99,1 Top

hs-sound 94,6 Top

Vasco 92,2 Top

ELV Elektronik 91,3 Top

refurbed 90,7 Top

Dubaro 90,7 Top

Pollin Electronic 90,7 Top

bestelectronic.de 90,4 Top

sonoro.com 87,7 Top

MacTrade 87,4 Top

Alza.de 85,6 Top

OMGN Controller 84,7 Top

Elektroshop Wagner 83,8 Top

Coolblue 82,0 Top

Janado 82,0 Top

asgoodasnew.de 81,7 Top

Rebuy 80,2 Top

ElectroPapa 78,1 Top

CSL Computer 77,5 Top

Internetprovider

freenet Internet 100,0 Bester

Deutsche Glasfaser 98,6 Top

BESTER

KUNDEN-

DIENST

BEREICH TECHNIK

STUDIE

KUNDENZUFRIEDENHEIT

TOP

KUNDEN-

DIENST

BEREICH TECHNIK

STUDIE

KUNDENZUFRIEDENHEIT

FOCUS 50/24 | DEUTSCHLANDTEST.DE

Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

easybell 95,3 Top

1&1 92,6 Top

LEONET 88,5 Top

congstar 86,5 Top

EWE 85,8 Top

DNS:NET 79,1 Top

Telekommunikation & Mobilfunkanbieter

freenet 100,0 Bester

SIMon mobile 99,6 Top

freenet Mobile 97,7 Top

klarmobil 95,0 Top

1&1 92,7 Top

fraenk 91,5 Top

congstar 90,0 Top

LEBARA 87,3 Top

EWE TEL 86,5 Top

LogiTel 85,4 Top

sparhandy 84,6 Top

HIGH Mobile 78,8 Top

sipgate 75,8 Top

NetCologne 75,8 Top

TV-Technik & Satellitenanlagen &

Kabelnetzbetreiber & Pay-TV

HD+ 100,0 Bester

Deutsche Glasfaser 93,0 Top

freenet TV 90,6 Top

waipu.TV 88,3 Top

EWE TEL 85,9 Top

Deutsche Telekom 78,9 Top

NetCologne 78,1 Top

Freizeit – Mietauto

bis Versicherung

Urlaub und Freizeit – einfach abschalten vom

Alltag. Damit dieses Empfinden nicht getrübt

wird, ist ein guter Kundenservice wichtig. Sollte

etwas Unvorhergesehenes passieren oder ein

individuelles Problem auftauchen, braucht es die

Möglichkeit der individuellen Beratung und

Betreuung. Das Themenfeld „Freizeit“ umfasst

sechs Branchen, in denen Kundendienst eine

besonders hohe Relevanz besitzt.

Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

Autovermietungen & Carsharing-Anbieter

AurumCars 100,0 Bester

Sunny Cars 99,4 Top


DEUTSCHLAND TEST

Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

Rent A Camper 95,6 Top

Keddy by Europcar 91,7 Top

roadsurfer 89,4 Top

billiger-mietwagen.de 87,8 Top

CarlundCarla.de 87,2 Top

Off Campers 86,7 Top

autovermietung.de 86,7 Top

Europcar 84,4 Top

FINN 77,8 Top

Argus Car Hire 75,0 Top

Fluggesellschaften

Condor 100,0 Bester

Qatar Airways 100,0 Bester

Turkish Airlines 91,3 Top

Thai Airways 90,2 Top

Emirates 90,2 Top

TUI fly 80,4 Top

Austrian Airlines 80,4 Top

Mobilitätsdienstleister

Null-Leasing.com 100,0 Bester

Bolt 88,6 Top

TIER (dott) 84,1 Top

Flixbus 79,5 Top

Paket- & Kurierdienste

Cargoboard 100,0 Bester

Transglobal Express 97,5 Top

JUMiNGO 93,8 Top

Rhenus Home Delivery 88,8 Top

Shiply 78,8 Top

Reise & Tourismus

fejo.dk 100,0 Bester

REISS AUS 98,3 Top

Enchanting Travels 96,7 Top

1a Yachtcharter 96,4 Top

restplatzshop.de 95,0 Top

Abi-SPLASH 93,8 Top

surfbude.de 93,6 Top

SAILPOINT Yachtcharter 92,9 Top

erlebe.de 91,5 Top

König Tours 91,5 Top

Chamäleon 89,8 Top

Gustocamp 88,9 Top

ABC Travel Service 88,9 Top

Bentour Reisen 88,4 Top

lanes & planes 87,0 Top

Opodo 86,3 Top

Eurowings Holidays 85,1 Top

AurumTours 85,1 Top

HLX 84,6 Top

Tourlane 84,4 Top

Travelcircus 84,1 Top

Restplatzbörse 82,9 Top

eDreams 82,7 Top

Cuba Buddy 80,1 Top

Secret Escapes 78,2 Top

fluege.de 75,6 Top

BESTER

KUNDEN-

DIENST

BEREICH FREIZEIT

STUDIE

KUNDENZUFRIEDENHEIT

FOCUS 50/24 | DEUTSCHLANDTEST.DE

TOP

KUNDEN-

DIENST

BEREICH FREIZEIT

STUDIE

KUNDENZUFRIEDENHEIT

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Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

Versicherungen

Verti 100,0 Bester

Nürnberger Versicherung 97,8 Top

Getsurance 94,6 Top

Ammerländer 94,3 Top

Allianz 92,7 Top

Versicherungskammer Bayern 91,4 Top

Debeka 91,1 Top

ROLAND 88,9 Top

Feuersozietät 88,5 Top

HUK24 88,2 Top

helden.de 88,2 Top

CosmosDirekt 84,7 Top

AGILA 83,4 Top

Hannoversche 83,4 Top

Sparkassen DirektVersicherung 80,3 Top

Deutsche Familienversicherung 79,9 Top

BavariaDirekt 79,0 Top

Münchener Verein 79,0 Top

Allianz Direct 76,4 Top

DA Direkt Versicherung 75,8 Top

HUK-COBURG 75,5 Top

Alltag – Babybedarf

bis Krankenkasse

Besonders die alltäglichen Themen wie Finanzen,

Versicherungen und Gesundheit sollen unkompliziert

funktionieren. Dabei will sich der Verbraucher

nicht lange in der Warteschleife aufhalten,

sondern möglichst rund um die Uhr über alle

verfügbaren Kanäle schnell auf Service und

Kundendienst zurückgreifen können. Wer im

Themenfeld „Alltag“ die Nase vorn hat, zeigen die

folgenden Ergebnisse.

Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

Babybedarf (Händler)

Ehrenkind 100,0 Bester

Kindermaxx 89,3 Top

babymarkt 88,1 Top

Skandic 86,9 Top

Vertbaudet 79,8 Top

babyonlineshop.de 75,0 Top

baby-walz 75,0 Top

Finanzen

Interhyp 100,0 Bester

onvista bank 98,9 Top

Anbieter/Marke

Score Auszeichnung

CapTrader 97,5 Top

Estably 95,6 Top

C24 94,7 Top

LYNX 94,4 Top

PSD Bank Braunschweig 92,5 Top

smava 92,5 Top

PSD Bank West 89,2 Top

OSKAR 88,9 Top

PSD Bank Berlin-Brandenburg 87,5 Top

HypoVereinsbank 86,9 Top

auxmoney 86,4 Top

PSD Bank Rhein-Ruhr 85,6 Top

Deutsche Hypo 85,6 Top

ferratum 84,7 Top

Allianz Bank 84,4 Top

PSD Bank Nürnberg 84,2 Top

Hanseatic Bank 82,5 Top

Advanzia Bank 79,4 Top

finanzen.net zero 78,9 Top

ING 76,9 Top

eToro 76,4 Top

HOLVI 75,8 Top

SKG Bank 75,0 Top

Krankenkassen

BKK firmus 100,0 Bester

Nürnberger Versicherung 99,2 Top

Debeka 94,8 Top

Allianz 94,8 Top

Versicherungskammer Bayern 94,0 Top

Audi BKK 91,2 Top

UKV 90,0 Top

HUK-COBURG 88,0 Top

ERGO Direkt 87,6 Top

Münchener Verein 85,6 Top

Techniker Krankenkasse 84,8 Top

SBK 84,4 Top

SIGNAL IDUNA 81,6 Top

Barmenia 80,8 Top

ARAG 79,6 Top

BESTER

KUNDEN-

DIENST

BEREICH ALLTAG

STUDIE

KUNDENZUFRIEDENHEIT

FOCUS 50/24 | DEUTSCHLANDTEST.DE

TOP

KUNDEN-

DIENST

BEREICH ALLTAG

STUDIE

KUNDENZUFRIEDENHEIT

FOCUS 50/24 | DEUTSCHLANDTEST.DE

Quelle: FactField (2024); maximal 100 Punkte möglich;

Bewertung: Branchensieger (hellgrau eingefärbt) erhält

100 Punkte = Prädikat „Bester Kundendienst“;

mindestens 75 Punkte = Prädikat „Top Kundendienst“;

nicht abgebildet sind Unternehmen/Anbieter/Marken,

die einen Score von weniger als 75 Punkten erreicht haben


LEBEN

Fusion-Koch

Deutsche Mutter, israelischer Vater,

geboren in Kanada, aufgewachsen

in Belgien: Benjamin Chmura, 35,

modernisiert französische Tradition

zu minimalistischen Tellern. Für das

„Tantris“ erkochte er zwei Sterne –

mit Gerichten wie „En croûte: Hummer,

Seeteufel, Sauce Americaine“ (rechts)

86

FOCUS 50/2024


GENUSS

Das „Tantris“ in München ist Legende. Hier schrieben Sterne köche

wie Eckart Witzigmann deutsche Gourmetgeschichte.

Benjamin Chmura hat nun ein neues Kapitel hinzugefügt

Fotos: Benjamin Chmura / Jörg Lehmann

Le Créateur

FOCUS 50/2024

87


LEBEN

INTERVIEW VON

BARBARA JUNG-ARNTZ

D

Diese Lampen! Dieser Seventies-Wandteppich!

Die Geschichte des Restaurants

„Tantris“ im Münchner Stadtteil Schwabing

begann 1971, und es ist der Besitzerfamilie

Eichbauer hoch anzurechnen, dass sie

das besondere Design bei der Renovierung

vor drei Jahren weitestgehend so gelassen

hat. In diesen Räumen bewies Eckart Witzigmann,

dass auch deutsche Köche Sterneniveau

können, hier feierte die feine

Münchner Gesellschaft hummerrot und

trüffelschwarz die Nouvelle Cuisine.

Als Benjamin Chmura vor drei Jahren

die Regie in der frisch ausgebauten Küche

übernahm, waren die Erwartungen entsprechend.

Chmura ist kein Entertainer

wie Tim Raue, kein Koch-Nerd wie der

gefeierte Dylan Watson-Brawn, der gerade

die Schließung seines Berliner Restaurants

„Ernst“ verkünden musste. Er tut

einfach, was Spitzenköche so tun: spitzenmäßig

kochen. In diesem Jahr kürte

ihn das Gourmetmagazin „Feinschmecker“

zum Koch des Jahres.

Sie haben die Küche des „Tantris“ als

Nachfolger so großer Köche wie Hans Haas

und Eckart Witzigmann übernommen. Mit

Mitte 30 sind Sie vergleichsweise jung. Wie

sind Sie mit dem Druck umgegangen?

Ich hatte viel Zeit, mich drauf vorzubereiten,

und konnte einen Teil meines Teams aus

Frankreich mitbringen, ich hatte also schon

mal die richtigen Leute dabei. Außerdem

war es – bezogen auf die Erwartungen – ein

Vorteil, dass ich vorher noch nie in Deutschland

gearbeitet hatte. Natürlich kannte ich

das „Tantris“ und seine berühmten Köche,

aber wenn ich in ein Restaurant mit ähnlicher

Geschichte in Frankreich gewechselt

wäre, hätte ich mir viel mehr Druck

gemacht. So war alles neu, das Land, die

Stadt, und ich dachte, es geht ja nur ums

Kochen, so kompliziert kann das ja nicht

sein, die Leute hier glücklich zu machen.

Wie frei waren Sie in der Gestaltung?

Es war klar, dass wir zu den französischen

Wurzeln zurückwollten. Familie

Eichbauer hat mich und mein Team deswegen

aus Frankreich geholt. Die DNA des

Hauses war ja schon immer französisch.

Und zu Ehren dieser großen Tradition

haben Sie dann gleich unter der Dachmarke

„Tantris“ ein zweites Restaurant

im Haus eröffnet, das „Tantris DNA“.

Das war, ehrlich gesagt, der Tatsache

geschuldet, dass das Restaurant riesig

war, bevor ich anfing. 120 Sitzplätze! Das

ist echt schwer umzusetzen. Deswegen

haben wir es geteilt und die Restaurants

„Tantris“ und „Tantris DNA“ sowie die

Bar unter dem Dach des Tantris Maison

Culinaire 2021 wiedereröffnet. Im Restaurant

„Tantris DNA“ erzählt die Karte quasi

die Geschichte des Hauses vom Kalbsbries

Rumohr von Eckart Witzigmann bis

zum Steinbutt mit konfiertem Eigelb von

Hans Haas. Ich habe großen Respekt vor

den Rezepten der Küchenchefs, die vor mir

hier gearbeitet haben. Deswegen sind die

Gerichte auch keine Interpretationen von

mir. Da bin ich konservativ.

Dafür können Sie sich im verkleinerten

Restaurant „Tantris“ kreativ ausleben.

Wie würden Sie Ihre Küche

beschreiben?

Sehr produktorientiert, auf das Wesentliche

konzentriert. Weniger ist mehr. Und

ich liebe Soßen! Eine Soße kann die verschiedenen

Elemente auf dem Teller zu

einem harmonischen Ganzen verbinden.

Damit waren Sie sehr schnell sehr erfolgreich.

Das Restaurant „Tantris“ wurde gleich in

Ihrer ersten Saison mit zwei Sternen im Guide

88

FOCUS 50/2024


„Ich habe mit zwölf mein

erstes Praktikum gemacht in einem

Restaurant auf Sizilien“

Kunst-Teller Zur Vorspeise eine Hommage an Jahrhundertkoch

Witzigmann: Ossetra Royal Kaviar, Rote Bete, Aal,

Rinderconsommé (r.), zum Dessert der Klassiker Crêpes

Suzette (l.). Oben: Vorige Woche kreierte Chmura mit dem

Team des Pariser Sternerestaurants „Le Meurice“ ein Galadiner.

Links: Das 70er-Jahre-Interieur ist so legendär

wie die „Tantris“-Hechtklößchen

Fotos: Kathrin Koschitzki, Anette Sander, Jörg Lehmann

Michelin ausgezeichnet, das „Tantris DNA“

mit einem. Wie wichtig sind Ihnen diese

Auszeichnungen?

Ich würde lügen, wenn ich sagen würde,

dass sie keine Rolle für mich spielen. Und

ich hätte nie gedacht, dass wir so schnell

ausgezeichnet werden. Ehrlich gesagt:

Wahnsinn! Das zeigt, wie viel Potenzial in

diesem Haus und in diesem Team steckt.

Genug Potenzial für den dritten Stern?

Ich finde es wichtig, einen Traum zu

haben, für den es sich lohnt, hart zu arbeiten.

Vielleicht geht er dann irgendwann in

Erfüllung. Wenn nicht, dann hatte ich trotzdem

eine gute Zeit. Mit totaler Verbissenheit

kommt man ganz sicher nicht zum Ziel.

Wie wichtig sind für Sie kulinarische Trends –

von veganer Küche bis Mikro-Regionalität?

Ich beobachte das natürlich, aber vegetarische

Menüs zum Beispiel sind für mich

kein Trend. Die französische Küche ist sehr

von Gemüse geprägt, und mir macht es

viel Spaß, eigene Gerichte daraus zu kreieren.

Das ist anspruchsvoller, als Fisch und

Fleisch zuzubereiten.

Ihre Mutter war Ärztin, Ihr Vater Dirigent.

Warum sind Sie Koch geworden?

Ich habe schon immer gern gekocht.

Wenn ich Fotos aus meiner Kindheit anschaue,

sind eine Menge dabei, auf denen

ich mit meiner Mutter oder meiner Oma

am Herd stehe. Wir haben zu Hause viel

gekocht und sind dann zum Essen an

einem großen Tisch zusammengekommen.

Welches war das Wohlfühlgericht

Ihrer Kindheit?

Ich bin multikulturell aufgewachsen,

deswegen sind es verschiedene. Von meinem

israelischen Vater Falafel und Baba

Ganoush, aus meiner Kindheit in Belgien

und Frankreich diese köstlichen Schmorgerichte.

Und von meiner deutschen Mutter

Königsberger Klopse.

Ihre Oma war Münchnerin. Ist Bayern für Sie

auch ein Stück Heimat?

Eigentlich kam sie aus Nürnberg, aber

sie wohnte lange in Schwabing. München

war für mich vor allem Familie, Weihnachtsfeiern,

Kindheitserinnerungen. Ich

kannte das „Tantris“ schon als kleiner Junge.

Allerdings nur von außen, die großen

Fabelwesen aus Beton vor dem Eingang

davor haben mich schwer beeindruckt.

Gelernt haben Sie klassisch in Frankreich.

In den unterschiedlichsten Restaurants.

Ich habe mit zwölf mein erstes Praktikum

gemacht in einem Restaurant auf Sizilien,

wo wir im Urlaub immer gern gegessen

haben. Dann im „Le Passage“ in Brüssel,

wo ich aufgewachsen bin. Dort habe ich

mich komplett verliebt in diese spezielle

Atmosphäre einer Restaurantküche, in die

Teamarbeit. Meine Mutter fand es aber

nicht so eine tolle Idee, dass ich Koch werden

wollte. Deswegen habe ich erst einmal

mein Abitur gemacht und bin dann nach

Frankreich ans Institut Paul Bocuse.

Sie haben dort in verschiedenen Sternerestaurants

gearbeitet, im „Auberge de l’Ill“,

im „Le Cinq“ in Paris, zuletzt im „Troisgros“

in Roanne an der Loire. Frustriert es Sie nicht,

dass Essen in Deutschland nicht so einen

hohen Stellenwert wie in Frankreich hat?

Da sind sicher kulturell immer noch große

Unterschiede, auch zu Ländern wie Spanien,

Italien und Portugal. Die Qualität von

Lebensmitteln, das Einkaufen auf Märkten,

guter Wein spielen hier traditionell eine

andere Rolle, auch im gesellschaftlichen

Miteinander. Aber in Deutschland entwickelt

sich gerade eine tolle Esskultur, ähnlich

wie in den nordischen Ländern oder in

Holland und England. Ich sehe das positiv,

wir haben viele junge Gäste.

Sie bieten für Gäste unter 35 ein günstigeres

„Menu Jeune“ an.

Ja, man kann ja nicht die ganze Zeit nur

herumjammern, dass sich die Leute hier

nur für Autos interessieren, aber selbst

nichts dazu beitragen, das zu ändern. Wir

wollen die Hemmschwelle senken für

Jüngere, Fine Dining einfach mal auszuprobieren.

Ich habe mich sehr dafür

FOCUS 50/2024

89


LEBEN

GENUSS

PÂTÉ EN CROÛTE BOURGEOIS

FARCE

1 kg Entenkeulen

450 g Entenhaut

500 g Schweineschulter

250 g sizilianische Pistazien

EINLAGEN

500 g Herzbries vom Kalb

500 g Entenleberterrine

3 Challans-Entenbrüste

GEWÜRZE

35 g Salz

7,5 g weißer Pfeffer

2,5 g geräucherter Paprika

Cognac

PASTETENTEIG

1 kg T55 Mehl (Type 550)

800 g Butter

4 Eier

30 g Salz

60 g Zucker

Butter für die Pastetenform

Eigelb

Gelierte Entenconsommé

1. Farce vorbereiten:

Entenkeulen entbeinen und die Haut

entfernen. Das Fleisch in 3 cm dicke Würfel

schneiden. Die Schweineschulter ebenfalls in

3 cm dicke Würfel schneiden. Die Entenhaut

2 Minuten in gesalzenem Wasser blanchieren

und abkühlen lassen. In Stücke schneiden und

beiseitelegen. Alle Zutaten in einer Schüssel

mit den Gewürzen sowie einem Schuss Cognac

vermischen. 24 Stunden marinieren lassen.

Am nächsten Tag durch den Fleischwolf

(feine Scheibe) drehen und für 1 Stunde

kühl stellen. Die Pistazien vorsichtig von Hand

untermischen.

2. Einlagen vorbereiten:

Das gewässerte Kalbsbries 13 Minuten in

gesalzenem Wasser bei mittlerer Hitze

blanchieren. Die Haut und das überschüssige

Fett entfernen und zwischen zwei Blechen

abkühlen lassen. In 2,5 cm große Würfel

schneiden und beiseitelegen. Die gegarte

Entenleberterrine ebenfalls in 2,5 cm

große Würfel schneiden und kühl stellen.

3. Pastetenteig:

Mehl und kalte Butter fein zwischen

den Händen zerreiben. Ei mit dem Salz

vermischen und auflösen lassen. Dann mit

dem Zucker unter die Mehl-Butter-Masse

geben und schnell zu einem homogenen Teig

verarbeiten. 24 Stunden im Kühlschrank, in

Klarsichtfolie eingeschlagen, ruhen lassen.

4. Aufbau des Pastetenmantels:

Die Pastetenform 5 Minuten in den Gefrierschrank

stellen. Währenddessen Butter

schmelzen lassen und dann die Form auf der Innenseite

großzügig bestreichen. Die Form

erneut in den Gefrierschrank stellen. Diesen Vorgang

dreimal wiederholen. Teig ausrollen:

eine mittlere Lage von 40 cm Länge und 28 cm

Breite, für die Enden jeweils 10 cm Breite und

15 cm Länge. Zuerst die lange Seite mit Teig

auslegen, dann die Enden. 250 g Farce einfüllen,

darauf gleichmäßig die Hälfte des Kalbsbries

und der Entenleberterrine verteilen. Eine

weitere Schicht von 250 g Farce auftragen,

darauf die 3 Entenbrüste in der Mitte platzieren.

Danach wiederum 250 g Farce, Kalbsbries und

Entenleberterrine. Schließlich mit 220 g Farce

abschließen. Mit einer Teigplatte von 46 cm

Länge und 18 cm Breite abdecken, die Pastete

gut verschließen, indem die Luft herausgedrückt

und die Enden fest zusammengedrückt

werden. Dreimal mit Eigelb bestreichen,

dazwischen jeweils 10 Minuten im Kühlschrank

ruhen lassen. Am Ende mit einem Ausstechring

von 2 cm Durchmesser drei Luftlöcher

(Schornsteine) schneiden: 8 cm von jedem

Rand entfernt und eines in der Mitte.

5. Backen:

Den Ofen auf 230 °C vorheizen, 0 % Luftfeuchtigkeit,

Lüftung auf Stufe 3. Die Pastete

8 Minuten backen, dann die Temperatur

auf 180 °C senken, Lüftung auf Stufe 2,

0 % Luftfeuchtigkeit und weiterbacken, bis

die Filets eine Kerntemperatur von 53 °C

erreichen. Direkt aus dem Ofen nehmen, das

überschüssige Fett abgießen und

die Pastete ruhen lassen.

6. Eingießen des Gelees:

Nach einer Stunde Ruhezeit die Pastete

mit Enten-Jelly auffüllen und über Nacht im

Kühlschrank lagern.

Unser Kolumnist Yotam Ottolenghi

macht diese Woche Pause

eingesetzt, dass wir das machen, und jetzt

läuft es sehr gut. Das freut mich.

Sterneküche ist insgesamt zugänglicher

geworden. Weniger weiße Tischdecken mit

undurchschaubarer Besteckreihenfolge,

weniger steifer Service. Uns hat die Kellnerin

bei Ihnen empfohlen, das Amuse-Gueule einfach

mit der Hand zu essen, früher undenkbar.

Der Service ist superwichtig und wird oft

unterschätzt. Sie sind diejenigen, die die

Gäste durch den Abend begleiten, dafür

sorgen, dass sich jeder wohlfühlt. Sie stehen

auf der Bühne, sind Gastgeber, erspüren

die Stimmung. Was wir machen, das ist

eine Performance, letztendlich nicht anders

als ein Theaterstück. Mich sieht man ja

nicht in meiner Küche. Ich finde es schade,

dass allein die Köche derzeit so gefeiert

werden. Das merkt man auch bei den Azubis,

alle wollen Köche werden oder Patissiers,

keiner will mehr im Service arbeiten.

Köche sind halt die Popstars.

Das ist tatsächlich auch ein Unterschied

zu Frankreich. Dort gibt es in vielen Restaurants

noch einen Patron, einen Gastgeber,

und der ist der Grund, warum die

Leute kommen. Sie kommen auch wegen

des Essens, aber der charismatische Patron

ist derjenige, der dafür sorgt, dass sie eine

wirklich gute Zeit haben.

In welches Münchner Restaurant

gehen Sie, wenn Sie eine wirklich gute

Zeit haben wollen?

Nicht in Sternerestaurants, außer ich will

einen Kollegen besuchen. Wenn ich Lust

auf chinesische Küche habe, gehe ich ins

„Fuyuan“. Dieses Restaurant ist immer voll

und macht total Spaß, die Dim Sum sind

sehr gut. Für Nahostküche ins „Beirutbeirut“,

da bin ich auch sehr oft. Und vor Kurzem

habe ich einen tollen Asiaten gefunden,

einen Miniladen in der Augustenstraße

namens „Twenty Pho“. Da kochen drei ältere

Damen wirklich gutes Streetfood.

Und was serviert ein Sternekoch

daheim zu Weihnachten?

An den Festtagen geht es mir vor allem

um das Zusammenkommen am Tisch mit

der Familie und Freunden. Daher sollte es

nicht zu kompliziert sein. Es ist mir aber

auch hier wichtig, ausschließlich saisonale

Produkte einzubeziehen, die allen schmecken.

Wir starten also mit Austern und

Meeresfrüchten! Ein Klassiker in Frankreich.

Dann gibt es eine Kürbis-Maronen-

Suppe. Als Fischgang Saibling gegart in

einer Nage, verfeinert mit Wein aus Sancerre.

Zum Hauptgang Kalbskotelett mit

Pommes boulangères. Und als süßen

Abschluss eine Bûche de Noël. 7

Foto: Anette Sander

90

FOCUS 50/2024


© Wim Wenders, 2000

GUEST

EDITION

DONATA&

WIM WENDERS

14./15. DEZEMBER

Eine ganz besondere Ausgabe mit

Fotografien von Donata und Wim Wenders.


LEBEN

Guter Geschmack

Die Küche Georgiens gilt als besonders

spannend. Wer Gerichte mit

Koriander, Knoblauch und Walnüssen

mag, wird dieses Kochbuch von

Darina Beridze lieben.

Für Schmuckliebhaber

Um sicherzugehen, dass nicht nur

der Christbaum glitzert: Die

Rock Diamonds Ohrstecker von

Bucherer, mit Weißgold und Diamanten

garantieren ganz viel Glamour.

Strahlend schön

Die Autorin Mia Grau und der Architekt Andree Weissert

sind fasziniert von Atomkraftwerken. Oder auch

Denkmälern des Irrtums, wie sie die kontroversen Energiebringer

bezeichnen. Ihre Atomteller erinnern

nun auch beim Essen an die Hoffnung von gestern.

Weißte noch?

Die (sensationelle!) „Zeitreise“-Tour

von BAP geht 2025 Open Air weiter:

Alle Songs der frühen Alben, musikalisch

besser denn je und garantiert

mit dem schönsten Liebeslied

kölscher Sprache: „Do kanns zaubre“.

Dann schenkt

mal schön!

Wer seine Liebsten am Heiligabend

angemessen überraschen

möchte, sollte mit dem Brainstorming

früh genug anfangen.

24 Geschenktipps für sie

Film ab!

Mittags ein Liebesfilm und abends

der Krimi? Warum nicht! Kinofans

können mit der Jahreskarte in

den Häusern der Yorck-Gruppe

in Berlin und München unbegrenzt

Vorführungen besuchen.

Dick wie Papier

Superstylish und biologisch abbaubar

– für alle möglichen Aufbewahrungsbedürfnisse.

Die Paper Bag

Dot Blue von Kolor bereichert

selbst als Sack für schmutzige Wäsche

die Optik eines jeden Raums.

AUSGEWÄHLT VON DER FOCUS-REDAKTION

Für den richtigen Riecher

So verspielt und weiblich wie das

Design seiner Flasche, ist auch

der Duft darin: Das Eau de Parfum

Prada Candy Kiss verführt

feine Nasen mit einer Komposition

aus Vanille und Orangenblüten.

Seife statt Waffen

Händewaschen für den Frieden –

das kann in diesen Zeiten nicht

schaden. Das „Peace of Soap“ von

Dearsoap ist eine von Hand hergestellte

Pflanzenöl-Seife, die einen

herrlichen Schaum bildet.

Für Retro-Fans

Buchstaben-Nerds bietet die Goodman Blanket der

Designers Foundry den passenden Untersatz für verlesene

Sommertage am See. Die Decke ist ein Tribut an das

Grafikdesign der 1960- und 1970er Jahre, eine Zeit,

in der Transferdruck weit verbreitet war. Und eine Hommage

an die Typo Gesh Ortega Roman 275.

Kurz mal weg ist das Ziel

Das Atelierhaus in Dessau,

Gut Cantzheim an der Saar oder der

Markusturm in Rothenburg ob der

Tauber: Angelika Taschen empfiehlt

romantische Hideaways in

ganz Deutschland (Taschen Verlag).

92 FOCUS 50/2024


GESCHENKE FÜR SIE

»Wo Tee ist, da ist Hoffnung«

Arthur Wing Pinero

Die volle Ölung

In der Feinkost-Garage von

Laux Deli gibt es den vielseitig anwendbaren

Ölwechsel – Olivenöl

für geschmeidige Nudeln

und gegen quietschenden Salat.

Für Wärme und Eleganz

Designer Denis Guidone hat sich bei der

Cha No Yu Teekanne, die er für Ichendorf

Milano entworfen hat, von japanischen

Teezeremonien inspirieren lassen.

Das transparente Gefäß besteht aus klarem,

hitzebeständigem Borosilikatglas.

Made in Italy

Stiefel-Symbiose: Dolce & Gabbana

und Bialetti feiern ihre Heimat –

mit der Geschenkebox

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aus Tassen, Espressobechern

und Rührstäbchen.

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Edler Zeitmesser

Eine Uhr, mit Diamanten besetzt,

aus 18-karätigem Everose-

Gold, das ist die Rolex

Oyster Perpetual Day-Date 36.

Mit diesem funkelnden

Schmuckstück wissen auch

Tauchfans bis in eine Tiefe

von 100 Metern, wie spät es ist.

Dieser Text

zeigt evtl. Probleme

beim

Text an

Mit ihrer spende

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Krieg im Sudan ins Camp Adré. Unsere Mitarbeiterin

Samsam FOCUS M. behandelt 50/2024 dort mangelernährte Kinder.

© Ante Bußmann / MSF


LEBEN

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Die ganz heißen Scheiben sollten nicht im Regal

untergehen, sie brauchen einen prominenteren Platz.

Der Cover & Vinyl Rahmen von Soobsoo

macht die liebste Platte zum Kunstwerk an der Wand.

Zum Beispiel Velvet Undergrounds Debütalbum

mit dem Bananencover von Andy Warhol.

GESCHENKE FÜR SIE

D

z

b

T

Auf die Ohren

Zwischen Weihnachten und dem

Dreikönigstag sind die Raunächte

eine willkommene Zeit der Reflexion.

Und dieses Hörbuch von Tanja

Köhler der perfekte Guide dafür!

*

* Cover und Schallplatte selbst

werden präsentiert

Alle Blumen sind schön

Der Künstler Jaime Hayon hatte

die Idee, ein Design zu entwickeln,

das jede Blume im Raum

würdigt – vom Stil bis zur Krone.

Das Resultat: die Ikebana Vasen.

Luftiger Genuss

Die Tochter ist ausgezogen und

Mama macht sich Sorgen, ob auch

genug Gemüse auf den WG-Tisch

kommt? Der Ninja Airfryer

gart wirklich alles ohne Fett knusprig.

Rezepte? Gibt’s auf TikTok.

»Der große Vorteil

eines Hotels besteht darin,

dass es ein Zufluchtsort

vor dem häuslichen Leben ist«

George Bernard Shaw

Für den guten Zweck

Am 7. April 2003 starb FOCUS-

Redakteur Christian Liebig

bei einem Raketenangriff im Irak.

Eine nach ihm benannte Stiftung

hilft insbesondere Kindern in

Afrika. Helfen Sie mit!

Einer von 225

Die Goldschmiede von

Wellendorff kreieren jedes

Jahr einen limitierten Jahresring.

Für 2025 lautet das Motto:

„Meine Meilensteine“. An welche

besonderen Momente möchten

Sie die Beschenkte erinnern?

Ein Wochenende wie aus Tausendundeiner Nacht

Das elegante Boutiquehotel Dar Kawa ist ein verstecktes

Design-Juwel im Herzen der Medina Marrakeschs.

Das Haus hat vier Zimmer, jedes überzeugt durch eigenen

Charme und trägt die unverkennbare

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kennen sie aber noch nicht besonders

gut? Mit dem Geschenkset

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jedem Fall auf der sicheren Seite.

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Sie hat nachts Angst vor der Dunkelheit?

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Leichte Bewegungen der Tentakeln

wirken zusätzlich beruhigend.

Weniger ist mehr

Zu jedem Look eine passende

Ergänzung: Die Ditha Mini Nº1

Black von Elephisse überzeugt

mit minimalistischem Design

und edlen Wechselriemen.

94 FOCUS 50/2024


ieser Text

eigt evtl. Proleme

beim

ext an

Mehr Weihnachten

gebacken

bekommt niemand

Weihnachtsfilme ohne Ende

FOCUS 50/2024

jederzeit

streamen täglich ab 20:15


LEBEN

AUTO

Fahre lieber ungewöhnlich

Der Nissan Qashqai e-Power befriedigt viele Bedürfnisse: Sein Kombi-Antrieb

bietet elektrotypischen Antritt, aber auch eine hohe Reichweite

Ab die Post! Auf der Landstraße bietet das Crossover einen besseren Durchzug als vergleichbare Voll-Verbrenner

Was ist ein Elektroauto?

Diese Frage beantworten

Hersteller,

Behörden und Kunden

durchaus unterschiedlich.

Manche meinen reine

Stromer, andere auch Plug-in-Hybride.

Kleinster gemeinsamer Nenner:

Das Fahrzeug fährt, zumindest

teilweise, per Elektromotor.

So betrachtet ist der Nissan

Qashqai e-Power ohne Zweifel

ein Elektroauto: Seine Vorderräder

werden von einem 190 PS

starken Elektroaggregat angetrieben.

Trotzdem profitiert er

nicht von den Steuervorteilen für

Stromer und bekommt auch kein

E-Kennzeichen, mit dem er etwa

in manchen Städten gratis parken

könnte. Denn die Energie für den

Motor stammt weder aus einem

großen Akku, noch aus einer

Brennstoffzelle, sondern aus einer

Mini-Batterie, die während der

Fahrt dauerhaft von einem Verbrennungsmotor

mit drei Zylindern

plus Turbo geladen wird.

Ein Konzept, das gar nicht so

außergewöhnlich ist, wie es zunächst

klingt. In der Frühzeit der

Elektromobilität nutzte etwa der

Opel Ampera ein ähnliches Prinzip.

Und Nissan baut die e-Power-

Technik auch noch in andere Modelle

ein.

Der gerade erneuerte Qashqai

ist aber das mit Abstand wichtigste

Auto im Portfolio. Er ist

die Antwort auf klassische Kompaktwagen

à la VW Golf. Und das

4,43 Meter lange Crossover-SUV

läuft richtig gut: Der Qashqai ist

die Cashcow von Nissan. Was

nicht zuletzt daran liegt, dass er

sich genau so fährt, wie es europäische

Autofahrer mögen. Handlich,

knackig, stadttauglich,

aber auch für längere

Strecken komfortabel

genug. Sein Platz

reicht für Paare und

NISSAN

QASHQAI

Motor:

Elektro plus

3-Zylinder

Leistung:

190 PS

Drehmoment:

330 Nm

Maße (L × B × H) :

4,43 x 1,84 x 1,63 m

Höchstgeschw.:

170 km/h

Verbrauch:

5,1 l/100 km

Preis:

42 850 Euro

kleine Familien – also ein leicht

erhöhter Kompaktwagen.

Der außer mit dem üblichen

Mildhybrid-Antrieb eben auch

mit dem originellen e-Power-Prinzip

lieferbar ist. So fährt man elektrisch,

was sich in einem jederzeit

abrufbaren, kräftigen Drehmoment

zeigt. Auch wenn der Elektro-Benziner

nicht mit der Karacho-

Beschleunigung echter Stromer

mithalten kann, startet er doch

ziemlich zügig von der Ampellinie.

Der Verbrauch in der täglichen

Fahrpraxis pendelt sich auf knapp

über fünf Liter ein. Das ist für einen

Nicht-Diesel dieser Größe nicht

viel, aber auch keine wundersame

Sparsamkeit. Rein elektrisch

schafft der e-Power nur ein paar

Kilometer. Ob das eine echte Alternative

zum Plug-in oder Akku-

Stromer ist, muss jeder potenzielle

Käufer selbst entscheiden. 7

MARCUS EFLER

Facelifting Der Neue zeigt sich aufgefrischt

96 FOCUS 50/2024


Dieser Text

zeigt evtl. Probleme

beim

Text an

Endlich wieder

Momente für

klare Gedanken

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Nutzen Sie den Winter und den

Jahreswechsel, um neue Perspektiven

zu entdecken.

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DIE EINFLUSSREICHEN

Verlieh ihren

Stiftungspreis

Margot

Friedländer

Steinmeier mit

Schülern

Pistorius und

Amtskollege

Gram

In der vergangenen

Woche hat die Margot

Friedländer Stiftung

zum ersten Mal den

Margot Friedländer

Preis verliehen.

Ganz im Sinne der

Stifterin geht die mit

insgesamt 25 000 Euro

dotierte Auszeichnung

an Menschen, die sich

aktiv für Toleranz,

Menschlichkeit und

gegen Antisemitismus

oder Demokratiefeindlichkeit

einsetzen.

Gewonnen haben:

apropolis e. V. motiviert

junge Menschen in Workshops,

informierte und

engagierte Bürgerinnen

und Bürger zu werden.

Zweitzeugen e. V. hält

die Erinnerung an den

Holocaust lebendig.

Barrierefrei erinnern

– Das Zentrum für

Thüringen erhielt

die Auszeichnung für

Aufklärungsarbeit in

einfacher Sprache.

Der Hamburger Lehrer

Hèdi Bouden wurde

ausgezeichnet für seine

Projekte mit Schülerinnen

und Schülern aus

Hamburg und Israel.

Der Margot Friedländer

Schulpreis ging in

diesem Jahr an die

Interessengemeinschaft

Friedenstaube

aus Berlin-Marzahn

und die Schülerzeitung

Josefine der Realschule

St. Josef in Hanau.

Heimatbesuch

Weihnachtsfrieden

Ihr Kinderlein, kommet … Der Klassiker passte

zum Besuch im Schloss Bellevue. Zusammen

mit seiner Frau Elke Büdenbender empfing

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

die Schüler der Papageno-Grundschule, um die

Lichter des Weihnachtsbaums vor seinem Amtssitz

zu entzünden. Mit besinnlichen Liedern läuteten

die Kinder die Adventszeit ein. Ein kleiner

Hoffnungsschimmer und eine Friedensbotschaft

gerade in Zeiten von Krisen und Konflikten.

Christian Vosseler, Jan Ullrich,

Katharina Wüst, Hendrik Wüst

und Marc Peine

Philipp Prinz von

Thurn und Taxis

und Alessandra von

Thurn und Taxis

Nika Krosny-Wosz, Ralf Bauer,

Max Giesinger und Matze Knop

Auslandsreise

Weihnachtswunsch

Es soll ein weiterer Schritt zu militärischer

Unabhängigkeit sein: Am Montag legte

Verteidigungsminister Boris Pistorius mit seinem

norwegischen Amtskollegen Bjørn Arild

Gram den Grundstein für ein Instandsetzungszentrum

der U-Boot-Flotte am Marinestützpunkt

Haakonsvern im Südwesten des Landes. Wenn

es nach dem Minister geht, soll Thyssenkrupp

statt zwei nun sogar sechs U-Boote liefern. Ob

für den Wunsch genug Geld da ist?

Dortmund

Lichtblick

für Kinder

Fast eine Million Euro – diese

beachtliche Spendensumme

kam bei der Kinderlachen

Gala in Dortmund zusammen.

Es war das 20. Jubiläum des

Vereins Kinderlachen, der weltweit

die Kleinen bei Krankheit,

Schicksalsschlägen und Schwierigkeiten

im Alltag unterstützt.

Die Gala war mit 900 Gästen

komplett ausverkauft. Zu den

Ausgezeichneten zählten unter

anderem Katharina Wüst, die

Ehefrau von NRWs Ministerpräsident

Hendrik Wüst, mit ihrer

Aktion Lichtblicke und Sänger

Max Giesinger, der sich als Botschafter

von Herzenssache e. V.

für benachteiligte Kinder und

Jugendliche engagiert.

FOCUS 50/2024


Weiter

am Ball

Omid

Nouripour

A$AP Nast, Rihanna

und A$AP Rocky

Julia

Fox

London

Jetzt wird’s

kuschelig

Für Omid Nouripour

waren die letzten

Wochen bittersüß.

Bitter, weil sein Rücktritt

als Parteivorsitzender

dem Grünen-Politiker

emotional sichtlich zusetzte.

Süß dagegen, weil

er jetzt Zeit für seinen

neuen Job hat. Seit Jahren

ist Nouripour begeisterter

Fan von Eintracht

Frankfurt. Nun steigt der

49-Jährige als Nachhaltigkeitsbeauftragter

bei

seinem Lieblingsklub ein.

Ellie

Goulding

Der rote Teppich ist einfach ihr Zuhause.

Bei den British Fashion Awards präsentierten

Rihanna und Partner A$AP

Rocky ihren ganz speziellen Style. Im türkisfarbenen

Plüschmantel zu paillettenbesetztem

Rock und langen Lederhandschuhen schlenderte

die Popdiva durch die Royal Albert Hall.

Modisch auf der Höhe ist auch ihr Partner:

Der Rapper in marineblauem Oversize-Anzug

erhielt den Cultural Innovator Award. Mit Alex

Consani wurde zudem die erste Transfrau als

Model des Jahres geehrt.

Ashley Graham,

Alex Consani und

Nava Mau

Anna Wintour,

Baz Luhrmann und

Stella McCartney

Tom

Ford

Rita

Ora

Leomie

Anderson

Virtuelles

Konzert

Snoop

Dogg

Es dürfte das größte

Publikum sein, dass

US-Rapper Snoop Dogg

je hatte: Mehr als 14 Millionen

Menschen sahen

den Auftritt, den er mit

Eminem und Ice Spice

im Online-Videospiel

„Fortnite“ gegeben hat.

Drei Millionen weitere verfolgten

das 15-minütige

Konzert, in dem die Musiker

als Avatare erschienen,

im Videostream.

Fotos: dpa, Tang/WireImage, Benett/Getty Images, imago, Splash News

99


LESERBRIEFE

Merkel,

ihr 700-

Seiten-Erbe

und das

Feedback

unserer

Leser

Merkels Buch

(49/24) Der schwarze Kanal

Merkels Stärke ist ihre gewinnende

Persönlichkeit. Sie

hat sich nie verstellt, sie ist

unprätentiös. Dass sie keine

Fehler einräumt in ihrer Autobiografie,

ist ein Schutzwall,

eine Art Trotz. Das nagt an

ihrer Glaubwürdigkeit, weil

sie stets vorgab, „vom Ende

her zu denken“ – die Maxime

schon im alten Rom. Daran

gemessen sind ihre Fehlleistungen

(u. a. Migration,

Atomausstieg, Ukraine, Nord

Stream 2) ein schweres Erbe

und tauchen ihre Kanzlerschaft

in wenig vorteilhaftes

Licht.

Christoph Schönberger,

52074 Aachen

Über Fleischhauers Texte

kann ich mich – meist übereinstimmend

– amüsieren. Dass

er jedoch Angela Merkels Biografie

so niedermacht, ist mir

unerklärlich! Noch bin ich

nicht durch die 700 Seiten,

aber das Bisherige hat mich

sehr beeindruckt, wie ihre

ganze Persönlichkeit und

„Deutschland dienen“ – nicht

ohne Charme! Offen, flüssig

(danke, Frau Baumann!), privat

und politisch. Meines Erachtens

kann das Geschenk

Kein Gedanke,

keine Sprache

JAN FLEISCHHAUER

Der schwarze Kanal

ob er sich im persönlichen Kontakt so verhält wie auf der

Bühne. Oder wie das Verhältnis zu Melania ist und er mit seinen

Leuten umgeht. Ist er schroff und bossy oder im Gegenteil

eher zurückhaltend und für Ratschläge aufgeschlossen?

Aber alles, was Angela Merkel im Rückblick einfällt, ist,

dass Trump „emotional“ redete und sie „sachlich“. Ach so,

Donald Tump hat ihr einmal den Handschlag verweigert:

Das ist schon der Höhepunkt von Angela lang drückte. Das ist der Höhepunkt, packender wird’s dann

ja, und er hat ihr einmal den Handschlag verweigert, während

er die Hand des japanischen Premiers 19 Sekunden

Merkels Memoiren, packender wird’s dann nicht nicht mehr.

Warum hat die Autorin nichts mitzuteilen? Aus Rücksichtnahme?

Aber auf wen oder was sollte sie Rücksicht nehmen

mehr. Ein Buch wie ihre Kanzlerschaft: etwas eitel,

etwas selbstgerecht und unglaublich öd

müssen? Die meisten, denen sie als Kanzlerin begegnete,

sind aus dem Amt geschieden. Jetzt könnte sie sagen, was

sie als Regierungschefin nicht sagen konnte.

Warum setzt sich jemand hin und schreibt Ich glaube, die Erklärung ist so banal wie niederschmetternd.

Es ist ihr einfach nichts Berichtenswertes in Erinne-

ein Buch? Er bestreitet damit seinen

Lebensunterhalt, das ist der Profi. Vielleicht

glaubt er auch, der Welt unbe-

Industrienation in Europa, sie galt als mächtigste Frau ihrer

rung geblieben. Merkel war 16 Jahre Kanzlerin der größten

dingt etwas mitteilen zu müssen, das Zeit, am Ende sogar als Anführerin der freien Welt, das war

wäre der Enthusiast. Angela Merkel hat der Titel, den man ihr verlieh. Aber alles, was sie an persönlichen

Einschätzungen mitzuteilen hat, ist, dass Trump zu

eine dritte Kategorie eröffnet: das Buch als Selbstrechtfertigungs-

und Selbstentschuldigungstraktat. 752 Seiten warum Tiraden neigte, Papst Franziskus sie mit einem freundlichen

sie im Grunde immer richtig lag.

Lächeln empfing und Putin kein besonders netter Mensch ist.

Am Donnerstag vergangener Woche ist in der „Zeit“ der So arbeitet sie brav die Stationen ihrer Amtszeit ab, so wie sie

Vorabdruck erschienen. Das Beste war noch die Überschrift: schon als Kanzlerin ihren Terminkalender abgearbeitet hat.

„Ich dachte: Wahnsinn! Was ist denn hier los?“ Leider folgte Bücher, Memoiren zumal, erlauben auch einen Blick auf

dann nichts Entsprechendes, nur die furchtbare Ödnis der den Autor. Von wem, um Gottes Willen, wurden wir eigentlich

regiert, fragt man sich am Ende der Lektüre dieser quä-

Merkelschen Prosa, die einen schon während ihrer Kanzlerschaft

in den Halbschlaf versetzte.

lenden 750 Seiten?

Seit Dienstag liegt das Buch im Handel. Wie sich zeigt, hatte

die „Zeit“ bereits die besten Passagen präsentiert. Müh-

Zeitgenossen Kritik geübt. Bloß nicht erwischt werden bei

An der seltsam unpersönlichen Sprache haben schon die

sam zieht sich der Text dahin, wie von unsichtbaren Fäden etwas Originellem oder besonders Gescheitem, das könnte ja

gulliverhaft am Boden gehalten; ohne Gedanke, ohne Idee, Ärger geben – das war ihr Modus Operandi. Aber hinter dieser

Fassade, so hieß es, stecke eine blitzge-

außer der, noch mal zu sagen, wie umsichtig,

vorausschauend und klug man war; abgefasst

in dieser flachen, seelenlosen Sprache

messlich sei. Merkel denke die Dinge vom

scheite Frau, deren Auffassungsgabe uner-

der Bürokratie, für die Menschen Funktionsträger

sind und Erlebnisse Vorgänge.

ich diesen Satz gelesen habe.

»

Ende her – ich kann gar nicht sagen, wie oft

Angela Merkel hat alle Großen der Welt „Aber die Leute Und manchmal konnte sie ja auch

getroffen – drei amerikanische Präsidenten, haben Angst“: durchaus witzig sein. Aber es war eben

zwei Päpste, das gesamte Who’s Who der

der Witz der Kaltmamsell, deren Komik

europäischen Politik. Aber von diesen Begegnungen

scheint nichts Interessantes hängen

wächst. Das funktioniert heute noch.

Das ist die aus dem Kontrast zum Brimborium ergeblieben

zu sein. Von der ersten Begegnung Quintessenz der „Männer“, hat Merkel ausgerufen, als sie

mit Donald Trump ist ihr lediglich in Erinnerung,

dass sie und der US-Präsident auf

wurde. Der „Frauen-sind-von-der-Venus-

Merkelschen auf das Ende der Ampel angesprochen

„zwei unterschiedlichen Ebenen“ redeten.

Politik

Männer-sind-vom-Mars“-Gag geht immer.

Gibt es einen schillernderen Politiker als

Ihre Bilanz ist ein einziges Desaster. Der

Trump? Es gäbe so viel zu berichten, sollte

Atomausstieg: ein Fehler, der das Land an

man meinen. Man wüsste zum Beispiel gern, «

den Rand des Energiekollapses gebracht

Foto: Markus C. Hurek für FOCUS-Magazin

hat. Die Flüchtlingspolitik: undurchdacht und rasend teuer.

Die Wirtschaftspolitik: kraftlos und opportunistisch.

Das finsterste Kapitel ist die Ukraine-Politik. Sie schreibt

es nicht so explizit, aber zwischen den Zeilen wird klar,

dass Merkel nie daran dachte, der Ukraine gegen Russland

beizustehen. Nationale Souveränität, Unverletzlichkeit der

Grenzen? Schöne Grundsätze, für die man aber doch keine

Auseinandersetzung mit den Russen riskiert! Im Nachhinein

hat sie sich auf die Entschuldigung verlegt, ihre Zögerlichkeit

hätte der Ukraine die Zeit erkauft, die sie brauchte,

um sich zu rüsten. Aber das ist Bullshit. 14 Staaten aus dem

ehemaligen Sowjetreich sind seit 1990 der Nato beigetreten.

Die einzigen Länder, die Russland sich einzuverleiben

anschickte, sind die, die nicht Nato-Mitglieder geworden

sind.

Ich habe Angela Merkel ein paar Mal zum Abendessen

gesehen. Ein Freund von mir unterhielt einen kleinen Kreis,

der zwei Mal im Jahr bei einem Italiener, der in Wirklichkeit

ein Georgier war, im Grunewald zusammenkam. Schon

Helmut Kohl hatte hier gesessen, als es seine Gesundheit

noch erlaubte, und seine Spaghetti geschlürft.

Obwohl die Runde vornehmlich aus Leuten bestand, die

gewohnt waren, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, war

auch Angela Merkel einmal im Jahr zu Gast. Am Anfang

waren die Gründe noch nachvollziehbar, da war ihre Macht

Sehr schön als Buchstütze

Illustration von Silke Werzinger

KOLUMNE

noch ungesichert. Aber dass sie auch noch kam, als sie bereits

unangefochten das Land regierte, hat mich erstaunt.

Ich erinnere mich an ein Wortgefecht, da hatte sie gerade

die Abschaltung der heimischen Kernenergie erklärt. Allen

am Tisch war klar, dass sie nicht für einen Moment anders

über die Kernkraft dachte, nur weil am anderen der Welt

ein Atommeiler von einem Tsunami überflutet worden war.

A

uf die Frage, warum sie dennoch den Ausstieg

verfügt hatte, sagte sie, sie hätte die Umfragen

gesehen, auch in den Reihen der CDU hätten die

Leute jetzt Angst. Das war das Argument: Die

Leute fühlen sich nicht mehr gut mit der Kernenergie, also

befreie ich sie davon. Als ich ihr entgegenhielt, das klänge

nicht wie die Kanzlerin der CDU, sondern eher wie Claudia

Roth, sah sie mich kurz von der Seite an, mit diesem wässrigen

Blick, den man auch einem Ungeziefer zuteilwerden

lässt, das sich ungebetenerweise bei Tische zeigt.

„Aber die Leute haben Angst“: Das ist die Quintessenz

der Merkelschen Politik. Wenn die Industrie Gas aus Russland

wollte, gab es Gas aus Russland. Wenn die Wähler

Panzer überflüssig fanden, wurde so lange bei der Bundeswehr

gespart, bis kein Panzer mehr fuhr.

Als ich noch beim „Spiegel“ war, haben wir einmal

daran gedacht, nach einer Wahl auf das Titelbild den Satz

zu schreiben: „Wie konnte das passieren?“ Und dann eine

Spiegelfolie auf das Cover zu kleben, in der sich der Leser

selbst sehen konnte.

Bis zum Schluss hatte Merkel tolle Zustimmungswerte.

Wenn sie noch einmal angetreten wäre, hätte sie mühelos

alle Konkurrenten aus dem Feld geschlagen. Nach Lektüre

von „Freiheit“, wie ihre Memoiren heißen, drängt sich der

Verdacht auf, dass ihre Mediokrität leider auch unsere ist.

Sie hat uns nichts abverlangt, dafür wurde sie gewählt.

Der Verlag hat dem Vernehmen nach eine Unsumme

für die Abdruckrechte ausgegeben, im „Tagesspiegel“ las

ich von 12 Millionen Euro. Zu lesen war auch, dass sie das

Buch zusammen mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann verfasst

hat. Ich glaube das unbesehen. So eine Suada hätte

ihr kein Ghostwriter durchgehen lassen.

Aber auch ungelesene Bücher haben ihre Daseinsberechtigung.

Zum Glück gibt es die Institution des Weihnachtsbuchs,

weil man mit Büchern bekanntlich nie etwas

falsch macht. 42 Euro wirken auf den ersten Blick

zugegeben etwas happig. Aber hey, man will doch nicht

ausgerechnet beim Geschenk für Omma sparen, oder?

Außerdem eignet sich „Freiheit“ sehr schön als Buchstütze.

Dick genug ist es. 7

Jan Fleischhauer ist Kolumnist und Buchautor. Er sieht sich als Stimme

der Vernunft - was links der Mitte naturgemäß Protest hervorruft

8 FOCUS 49/2024 FOCUS 49/2024

9

und die anschließende Lektüre

ruhig empfohlen werden.

Klaus Brand,

91550 Dinkelsbühl

Der verflossenen Langzeit-

Kanzlerin „dickes Opus“ erinnert

mich an den Ausspruch

eines meiner Lehrer vor Jahrzehnten:

„Dieses Buch ist

ebenso interessant wie jenes,

das ich auch nicht gelesen

habe“ … Ich hoffe, dass mir

nicht jemand aus einer Art

Verlegenheit heraus, was man

einem ehemaligen Lehrer für

Geschichte denn schenken

könnte, an den Merkelschen

Buchschinken denkt.

Rainer Domke,

96328 Küps

Post vom Leserbeirat

Die Abrechnung mit Frau

Merkel hat mir missfallen. Was

bringen despektierliche Berichte?

Frau Merkel hat in

den 16 Jahren mit Koalitionspartnern

einiges erreicht. Natürlich

sieht hier jeder noch

„Herr Fleischhauer hat endlich mal wieder

die Glorifizierung von Frau Merkel

infrage gestellt. Die beste Kolumne zum Thema“

Jörg Moog, 91241 Kirchensittenbach

Top oder Flop?

An Jan Fleischhauers

Kolumne über Merkels

Memoiren schieden sich in

der Woche 49 die Geister.

Manchen war seine Kritik zu

steil, andere wiederum

fanden sie genau richtig

Steigerungspotenzial. Aber

kann man es wirklich besser

machen? Mit solchen Artikeln

begeben wir uns auf das

Niveau des amerikanischen

Wahlkampfes.

Kristian Baade,

32427 Minden

Netanjahus Krieg

(49/24) „Das Debakel hätte

abgewendet werden können“

Dass Netanjahu als erster

demokratisch gewählter

Staatschef mit internationalem

Haftbefehl gesucht wird,

ist bemerkenswert, aber gerecht.

Israel muss als Demokratie

die Verhältnismäßigkeit

einhalten, tut es aber

nicht. Einen Plan B für Gaza

hat Netanjahu nicht.

Martin Bauer,

70327 Stuttgart

Scholz’ Partei

(49/24) Die Lars-Frage /

Sollte die SPD wieder regieren?

Können wir uns ein Weiter

so leisten? Aufbruchstimmung

mit „Verlierern“ mit ausgeprägtem

Erinnerungslücken?

Nicht denkbar! Soziales können

wir nur durch Leistung

gestalten. Mit diesem Begriff

muss sich diese angebliche

Noch-Volkspartei explizit befassen.

Günther Fürst

per Mail

Die SPD hat Mitverantwortung

für viele Fehlentscheidungen

in der Ära Merkel

wie übereilter Auszug aus der

Atomenergie und mangelhafte

Unterhaltung der Verkehrsinfrastruktur.

Als sie endlich als

stärkste Fraktion im Bundestag

den Bundeskanzler stellte,

beschleunigte sich der politische

und wirtschaftliche

Abstieg unseres Staates.

Horst Gerike,

30177 Hannover

Scholz? Der schlechteste

Kanzler je, künstlich grinsend

bei jeglicher Kritik, schamlos

putinös. Die SPD ist ruinös

für Mittelstand, Wirtschaft

und die Zukunft der Jugend.

Regieren? Nein, auch nicht in

irgendeiner Koalition.

Volkmar v. Bruchhausen,

65191 Wiesbaden

Korrektur

(49/24) Der Bergzauber

Da ich in Zweibrücken wohne,

habe ich den Bericht über

Norbert Ohler gelesen. Anmerken

möchte ich, dass Zweibrücken

immer noch in der

schönen Pfalz liegt und nicht

im Saarland.

Armin Weibel

per Mail

Der Leser hat natürlich recht.

Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Liebe Leserin, lieber Leser,

schreiben Sie Ihre Meinung

zu den Themen in diesem Heft –

bitte unbedingt mit Angabe

Ihrer vollständigen Adresse und

Telefonnummer:

Redaktion FOCUS

Heiligegeistkirchplatz 1

10178 Berlin

oder E-Mail:

leserbriefe@focus-magazin.de

Die Redaktion behält sich

das Recht auf Kürzungen vor.

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z

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100 FOCUS 50/2024


ieser Text

eigt evtl. Proleme

beim

ext an


NACHRUFE

Ilke Wyludda, 55, Leichtathletin

Die gebürtige Leipzigerin wurde 1996 in Atlanta Olympiasiegerin

im Diskuswerfen. Zudem gewann sie zweimal

Silber bei Weltmeisterschaften, 1991 in Tokio und 1995 in

Göteborg. Nach einer Unterschenkelamputation im Jahr

2010 kämpfte sie sich über den Sport ins Leben zurück

und wurde als Behindertensportlerin 2015 in Doha Vizeweltmeisterin

im Kugelstoßen und gewann bei der EM

2014 Silber im Kugelstoßen und Bronze im Diskuswerfen.

Mit Ilke verlieren die deutsche Leichtathletik und der Sport

in Sachsen-Anhalt eine große Athletin, die sich trotz zahlreicher

gesundheitlicher Schicksalsschläge nie hat unterkriegen

lassen. Nun hat sie ihren letzten Kampf leider viel

zu früh verloren. Und ich persönlich verliere eine frühe

Weggefährtin aus meiner aktiven sportlichen Laufbahn,

mit der ich viele Jahre in Trainingslagern und bei Wettkämpfen

das Zimmer geteilt habe.

SILKE RENK-LANGE,

Olympiasiegerin im Speerwurf 1992 und Präsidentin des Landessportbunds Sachsen-Anhalt

D

z

b

T

Terry Griffiths,

77, walisischer

Snooker-Profi

Er hatte einen

großen Einfluss

auf so viele Menschen.

Im Jahr

1979, als er die

Weltmeisterschaft

gewann,

inspirierte er eine ganze Nation. Und

er inspirierte ganz sicher mich als damals

zehnjährigen Burschen. Es war

mir eine Ehre, dann irgendwann bei

einem großen Turnier gegen ihn zu

spielen, und später war es Terry, der

darum bat, dass ich mich als Funktionär

für den Sport engagierte. Mit ihm

beim Weltverband WPBSA zusammenzuarbeiten,

war eine besondere Freude.

Er war ein brillanter Mann, hochintelligent,

äußerst unterhaltsam, und er

arbeitete leidenschaftlich daran, Snooker

ständig zu verbessern. Seine Arbeit

bei der Entwicklung des WPBSA-

Coaching-Programms wird nie vergessen

werden, eine Leistung, die unserem

Sport bis zum heutigen Tag

zugutekommt. Seine Erfahrungen gab

er an einen anderen großen Griffiths

weiter, seinen Sohn Wayne. Danke für

alles, nun heißt es Abschied nehmen.

Ruhe in Frieden, alter Freund!

JASON FERGUSON,

World Professional Billiards & Snooker Association

Karin Baal, 84,

Schauspielerin

„Sie hat eine

Generation

geprägt und wird

unvergessen

bleiben. Ihr Tod

reißt ein riesiges

Loch, nicht

nur in unserer

Familie“

THERESE LOHNER / THOMAS GAFFKUS

über ihre Mutter

Niels Arestrup,

75, Schauspieler

Mit der Kraft

seines Spiels

und einer beinahe

magnetischen

Anziehungskraft

vor der Kamera

von Jacques Audiard,

Bertrand

Tavernier, Julian Schnabel oder Albert

Dupontel hat er uns auf besondere Weise

beeindruckt. Er wird als einer unserer

größten Schauspieler in Erinnerung

bleiben. Niels Arestrup wurde unter

bescheidenen Verhältnissen in einer

Familie mit bretonischen und dänischen

Wurzeln geboren und fand seine Berufung

in der Schauspielschule von Tania

Balachova. Seine Leidenschaft galt

der Bühne, er trat zeit seines Lebens im

Theater auf und übernahm von 1989

bis 1993 die Leitung des Renaissance-

Theaters in Paris. Die größte Anerkennung

des französischen und internationalen

Publikums erfuhr er jedoch

auf der Leinwand. Er erhielt den César

für seine Rollen in „Diplomatie“ von

Volker Schlöndorff, in „Quai d’Orsay

von Bertrand Tavernier und in „Au revoir

là-haut“ von Albert Dupontel. Ich

spreche seiner Familie und seinen Angehörigen

mein tiefstes Mitgefühl aus.

RACHIDA DATI,

französische Kulturministerin

Fotos: imago images

102 FOCUS 50/2024


ieser Text

eigt evtl. Proleme

beim

ext an

E-BIKE

TEST 2025

DIE BESTEN

E-MOUNTAIN-

BIKES

So haben wir getestet

Für den FOCUS E-BIKE TEST 2025 haben wir mit unseren Partnern Velomotion

und PTLabs bereits jetzt 23 E-Bike-Modelle für die kommende Saison

getestet. Mehr als 20 Messwerte werden dabei auf dem Prüfstand im Labor

ermittelt, der anschließende Praxistest umfasst über 40 Kriterien, die für

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für den Offroad-Einsatz als auch für

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test


IMPRESSUM / SERVICE

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Telefon: 0 30/75 44 30-0,

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TAGEBUCH

von Helmut Markwort

Angela Merkel wird Multimillionärin

und geht wie ein Popstar auf Welttournee

Montag

Angela Merkels Memoiren-Marketing

läuft auf Hochtouren. Ihr Buch „Freiheit“

ist als Weltbestseller geplant.

In dreißig Sprachen ist es schon übersetzt.

Auch Chinesen können es kaufen.

In Deutschland gingen allein am ersten

Tag 35 000 Exemplare über die Theke.

Unterm Weihnachtsbaum kann Angela

Merkel sich als Multimillionärin fühlen.

Zwölf Millionen Euro soll ihr der Verlag

Kiepenheuer & Witsch zugesagt haben.

Diese Schätzung ist ernst zu nehmen,

denn sie stammt vom „Tagesspiegel“,

der wie der Buchverlag zur Holtzbrinck-

Gruppe gehört. In diesem Konzern ist

auch die „Zeit“ zu Hause, die mit einem

Vorabdruck bedacht wurde.

Wichtig ist die Erscheinung zum Weihnachtsgeschäft.

Dass zusätzlich eine Neuwahl

das Interesse an Merkels Positionen

beleben könnte, stand in keiner Kalkulation.

Immerhin schreibt sie wohlwollend

über ihren möglichen Nach-Nachfolger

Friedrich Merz. Noch viel häufiger und viel

freundlicher erwähnt sie den früheren amerikanischen

Präsidenten Barack Obama.

Weltbestseller Angela Merkels Erinnerungsbuch

ist mit optimaler Strategie gestartet

Die 23 Nennungen sind kein Zufall. Holtzbrincks

amerikanischer Verlag hatte schon

lange arrangiert, dass Obama und Merkel

in Washington heute Abend gemeinsam

das Buch vorstellen.

Anschließend geht Merkel auf Tour wie

ein Popstar. Paris, Barcelona, Mailand und

Amsterdam sind die nächsten Stationen.

Derweilen brummt daheim das Weihnachtsgeschäft.

„Freiheit“ ist ein bequemes

Weihnachtsgeschenk. Mit dem happigen

Preis von 42 Euro und dem Umfang

von 740 Seiten macht es was her. Politisch

Interessierte werden sich freuen und

zwischen den Zeilen suchen. Aber da ist

nichts versteckt. Angela Merkel ist als

Autorin so vorsichtig wie als Kanzlerin.

Wer vom Buch überrascht wird, kann es

weiter verschenken oder wenigstens die

Bilder ansehen. Eins steht fest: Im Bett ist

der Zweipfünder nur mühsam zu lesen.

Angela Merkel hat dagegen vorgesorgt.

Ihr Buch gibt es auch zum Hören. Dauer:

fast 24 Stunden. Die Sprecherin ist klug gewählt.

Die erstklassige Corinna Harfouch

ist 70 wie Merkel, in der DDR geboren und

veredelt mit ihrer Stimme alle Selbstrechtfertigungspassagen.

Mittwoch

Wenn es morgens um sechs klingelt,

muss es kein Lieferant sein. Bei

einem Rentner in Unterfranken

standen zwei Polizisten vor der Tür. Sie

kamen mit einem Durchsuchungsbeschluss

ins Haus und nahmen ein Tablet

mit. Hintergrund der Aktion war ein Strafantrag

des Wirtschaftsministers Robert

Habeck. Den hatte der Rentner auf dem

Kurznachrichtendienst X als „Schwachkopf

Professional“ bezeichnet. Zu diesem

Hauptanzeiger

Minister

Habeck

fühlte sich

805-mal

beleidigt und

hat verärgerte

Bürger angezeigt

Zweck hatte er ein Werbefoto einer Haarfirma

bearbeitet. Nach der Hausdurchsuchung,

die viele als unverhältnismäßig

klassifizierten, entstand eine Debatte

über Beleidigung von Politikern mit überraschenden

Ergebnissen. Es stellte sich

heraus, dass der Bundesminister Habeck

von September 2021 bis August 2024 insgesamt

805 Strafanzeigen wegen Beleidigung

oder Bedrohung gestellt hatte.

Ihm folgt auf Platz zwei die Außenministerin

Annalena Baerbock mit 513 Anzeigen.

Dritter Minister unter den Anzeigern

war der FDP-Mann Marco Buschmann

mit 26 Anzeigen. Von Christian Lindner,

Karl Lauterbach und Nancy Faeser ist

keine einzige Anzeige bekannt, obwohl

auch sie regelmäßig Ziel von Hasskommentaren

sind. Grundlage der meisten

Verfahren ist der § 188 des Strafgesetzbuchs

mit dem Titel: „Gegen Personen

des politischen Lebens gerichtete Beleidigung,

üble Nachrede und Verleumdung“.

Die Tat muss geeignet sein, „sein öffentliches

Wirken erheblich zu erschweren“.

Ich finde, der freundlich auftretende Herr

Habeck erschwert als 805-facher Verfolger

sein öffentliches Wirken selbst.

Fotos: Reuters

106 FOCUS 50/2024


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Einmalzahlung im 36. Monat automatisch gutgeschrieben, sodass sie sich auf 0,– € reduziert. Gratis Telefonieren und Surfen gilt nicht für Sonder- und Premiumdienste, Verbindungen aus Deutschland ins Ausland

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