09.12.2024 Aufrufe

WELTKUNST, Chmnitz + Region, Herbst 2023

Eine alte Kulturlandschaft ist neu zu entdecken. 302 Meter hoch ist er, der Schornstein des Heizkraftwerks Chemnitz-Nord auf unserem Cover, den der französische Künstler Daniel Buren vor zehn Jahren in fröhliche Farben tauchte. Damit ist dieser Schornstein das vermutlich höchste Kunstwerk der Welt. Braunkohle wird hier bald nicht mehr verfeuert, dafür steht die Kultur mächtig unter Dampf. Mit dem Zuschlag für Chemnitz als europäische Kulturhauptstadt 2025 rücken eine Stadt und Region verstärkt ins Blickfeld, die in der Geschichte Großes geleistet haben, aber auch einige Wunden davontrugen. An die 37 Jahre, in denen Chemnitz in Karl-Marx-Stadt umbenannt war, erinnern etwa die Anfang der 1970er Jahre gebaute Stadthalle und das ehemalige Interhotel. Noch stärker prägten Bergbau und Industrialisierung diesen Landstrich und machen ihn zu einem kulturellen Fundus, den es wiederzuentdecken lohnt!

Eine alte Kulturlandschaft ist neu zu entdecken. 302 Meter hoch ist er, der Schornstein des Heizkraftwerks Chemnitz-Nord auf unserem Cover, den der französische Künstler Daniel Buren vor zehn Jahren in fröhliche Farben tauchte. Damit ist dieser Schornstein das vermutlich höchste Kunstwerk der Welt. Braunkohle wird hier bald nicht mehr verfeuert, dafür steht die Kultur mächtig unter Dampf. Mit dem Zuschlag für Chemnitz als europäische Kulturhauptstadt 2025 rücken eine Stadt und Region verstärkt ins Blickfeld, die in der Geschichte Großes geleistet haben, aber auch einige Wunden davontrugen. An die 37 Jahre, in denen Chemnitz in Karl-Marx-Stadt umbenannt war, erinnern etwa die Anfang der 1970er Jahre gebaute Stadthalle und das ehemalige Interhotel. Noch stärker prägten Bergbau und Industrialisierung diesen Landstrich und machen ihn zu einem kulturellen Fundus, den es wiederzuentdecken lohnt!

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Herbst 2023

CHEM NITZ +

Eine alte

Kulturlandschaft

ist neu

zu entdecken

REGION

Unter

Volldampf

Was Europas Kulturhauptstadt

2025

schon jetzt zu

bieten hat


BOM FOR

ZIO NÖS

BOMFORZIONÖS = SÄCHSISCH FÜR „GROSSARTIG“,

ABGELEITET VOM FRANZÖSISCHEN „BONNE FORCE“.

Leipziger Gewandhaus, Dresdener Semperoper, Sächsische Staatskapelle, Kunstsammlungen

Chemnitz, Thomaner- und Kreuzchor, Silbermann-Orgel, UNESCO Weltkulturerbe,

Montanregion Erzgebirge, Chemnitz - die Kulturhauptstadt Europas 2025 und und und...

Bomforzionös ist bei uns vor allem die Vielfalt an sächsischer Kunst und Kultur.

Lassen Sie sich vom sächsischen Glanz inspirieren!

www.so-geht-sächsisch.de


Editorial

Inhalt

COVER und Bild rechts: Hannes Wiedemann. Kunstwerk: Photo-souvenir: Daniel Buren, 7 Farben für einen Schornstein, Arbeit in situ, eins energie, Chemnitz, 2011-2014. Detail © DB/VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

302 Meter hoch ist er, der Schornstein des

Heizkraftwerks Chemnitz-Nord auf unserem

Cover, den der französische Künstler Daniel

Buren vor zehn Jahren in fröhliche Farben

tauchte. Damit ist dieser Schornstein das vermutlich

höchste Kunstwerk der Welt. Braunkohle

wird hier bald nicht mehr verfeuert,

dafür steht die Kultur mächtig unter Dampf.

Mit dem Zuschlag für Chemnitz als Europäische

Kulturhauptstadt 2025 rücken eine Stadt

und Region verstärkt ins Blickfeld, die in der

Geschichte Großes geleistet haben, aber auch

einige Wunden davontrugen. An die 37 Jahre,

in denen Chemnitz in Karl-Marx-Stadt umbenannt

war, erinnern etwa die Anfang der

1970er Jahre gebaute Stadthalle und das ehemalige

Interhotel (Abb.). Noch stärker prägten

Bergbau und Industrialisierung diesen Landstrich

und machen ihn zu einem kulturellen

Fundus, den es wiederzuentdecken lohnt!

4

Goldene Zeiten

Wie das »Manchester Sachsens«

einst einen Kulturboom erlebte

10

Auf Wandelpfaden

Der Skulpturenweg Purple Path

verbindet die Region

14

Born in Chemnitz

Diese Ausnahmekünstler hat

die Stadt hervorgebracht

16

Spaziergang

Zwischen Galerien und Gärten

blüht die freie Kulturszene auf

20

Aussicht auf Freiheit

Die anarchische Aktionskunst

der DDR-Gruppe Clara Mosch

22

Viel zu entdecken

Kulturtipps aus der Region

Noch mehr Geschichten über Stadt und

Region gibt es im WELTKUNST Spezial

Chemnitz, zu bestellen über shop.zeit.de

3


Goldene Zeit


en

Chemnitz galt einst als das

»Manchester Deutschlands«.

Angetrieben von der rasanten

Industrialisierung, die im

19. Jahrhundert begann, setzte

auch eine kulturelle Blüte ein,

die reiche Früchte trug

Text Michael Angele

Das 1930 eröffnete Kaufhaus Schocken (links) ist ein

architektonisches Highlight der Moderne. O.: Die Kinder

der Familie Esche, gemalt von Edvard Munch


S

Siebenunddreißig Jahre lang hieß Chemnitz Karl-Marx-Stadt. Marx

selbst war allerdings nie in Chemnitz, obwohl ihm die sächsische

Stadt am Rand des Erzgebirges reichhaltiges Anschauungsmaterial

für die industrielle Revolution in Deutschland geboten hätte. Im Jahr

1857, als Marx seine Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie«

veröffentlichte, war es der Thüringer Arzt und Schriftsteller Berthold

Sigismund, der in seinem Buch »Lebensbilder vom Sächsischen Erzgebirge«

die praktische Anschauung auf ein griffiges Bild brachte. Für

Sigismund war Chemnitz das »Manchester Sachsens«.

In der Tat traf der Besucher der Stadt in der Mitte des 19. Jahrhunderts

auf eine Silhouette, die von zahlreichen Fabriken und

Schornsteinen gezeichnet war. Verarbeitet wurde primär Baumwolle,

zeitweise verdiente jeder dritte werktätige Chemnitzer sein Brot

in der Textilindustrie. Speziell wurden Möbelstoffe, Tischdecken und

Strümpfe hergestellt. Die Webstühle dazu lieferte vor allem Louis

Schönherr mit seiner Sächsischen Webstuhlfabrik in Schlosschemnitz.

Schönherr hatte erst eine Ausbildung zum Weber gemacht,

dann als Drehjunge gearbeitet; er war nicht der einzige Chemnitzer

»Selfmademan«, wie Unternehmer aus einfachen Verhältnissen schon

damals genannt wurden. Da gab es auch Richard Hartmann, Sohn

eines Weißgerbers, der mit seinen Eisenbahnen zum Stolz der Stadt

wurde. Im Revolutionsjahr 1848 produzierte Hartmann seine erste

Dampflokomotive mit dem Namen »Glück auf«. In den Jahren darauf

erwiesen sich seine Lokomotiven gegenüber den britischen als konkurrenzfähig

und wurden weltweit exportiert. Hartmanns Sächsische

Maschinenfabrik war die größte Fabrik in Sachsen überhaupt.

Nicht zuletzt sie war es, die den Ruf von Chemnitz als dem »sächsischen

Manchester« begründete. Wenn der Schriftsteller Berthold Sigismund

vom Fuchsberg auf Chemnitz herunterblickte, sah er allein

sechs Kamine von Hartmanns Fabrik.

Allerdings schien das industrielle Antlitz der Stadt ein wenig

über ihr Innenleben hinwegzutäuschen. Anders als Manchester, das

Sigismund ebenfalls bereist hatte, fehlte der Stadt der kulturelle Feinschliff.

Weder glänzte sie mit einem Theater noch mit einem Orchester

oder mit »verschönernder Gartenkunst«. Auch nach »schönen Villen«

hatte sich der Literat in der Stadt vergebens umgesehen. Das

sollte sich ein paar Jahrzehnte später gründlich ändern.

Für Chemnitz wiederum sprach, dass die sozialen Verwerfungen

geringer schienen als im britischen Manchester: Die Stadt habe

überhaupt »keine ungesunden, schmutzigen Arbeiterquartiere und

keine Schnapshäuser mit verthierten Trinkern«, notierte Sigismund,

sie habe »keine abschreckend zerlumpten Bettler auf den Straßen und

bedarf keiner Nachtasyle für Obdachlose«. Kurzum, dem sächsischen

Manchester ging es vergleichsweise gut, und das nicht nur gemessen

am englischen Vorbild, sondern auch am restlichen Erzgebirge, das

unter dem Niedergang des Bergbaus zu leiden hatte.

Ein weiterer imposanter Komplex, der die Silhouette der Stadt

prägte, bestand aus einer Maschinenfabrik, einer Eisengießerei und

einer Baumwollspinnerei. »Dieses Etablissement, welches sich durch

die unermüdete Thätigkeit seines Herrn Besitzers zu einem der bedeutendsten

in Chemnitz erhoben hat, liegt in der Nicolaivorstadt,

längs der Zwickauer Chaussee, wo es durch seine großartige Gebäudefronte

sogleich die Blicke auf sich zieht«, heißt es in dem 1856 erschienenen

Album der Sächsischen Industrie.

Der »Herr Besitzer« war ein gewisser Constantin Pfaff, der durch

zwei weitere Taten in die Annalen der Stadt einging: Er gab seine Fabriken

auf, schloss einen Vertrag mit der Stadt über deren Beleuchtung

und baute zu diesem Zweck 1853 das erste Gaswerk in Altchemnitz.

Und er zeugte im September 1862 eine Tochter, Margarethe, die

eine Karriere als Künstlerin einschlagen sollte, Mitglied der Künstlergruppe

Chemnitz wurde und sich den Traditionen der Stadt getreu

als Textilkünstlerin einen Namen machte.

Die industrielle Entwicklung in Chemnitz nimmt weiter an

Fahrt auf. 1870 zieht Moritz Samuel Esche von Limbach, dem bisherigen

Zentrum der Seidenstrumpfmanufaktur, nach Chemnitz.

16 Jahre später eröffnet er seine Strumpffabrik in der Moritzstraße,

hier gibt es den nötigen Eisenbahnanschluss. Mitinhaber der Firma

wird Herbert, der sich standesgemäß mit Johanna Luise – genannt

Hanni – Koerner verlobt, sie ist die Tochter eines Chemnitzer Tintenfabrikanten.

Das Paar lebt auf dem Kaßberg, dem größten bis heute

erhaltenen Gründerzeit- und Jugendstilviertel in Deutschland. Im

Oktober 1898 blättert Hanni in der neuen Ausgabe der Zeitschrift

»Dekorative Kunst«. Die Ausgabe widmet sich Henry van de Velde,

der als Erneuerer in Architektur und Design gefeiert wird. Das Paar

ist begeistert und bestellt bei van de Velde eine komplette Einrichtung.

Im darauffolgenden Jahr heiraten Hanni und Herbert, und als

sie von der Hochzeitsreise zurückkehren, finden sie ihre Wohnung

mit den neuen Möbeln ausgestattet vor.

Bilder S. 4: Arthur Köster/Kunstbibliothek, SMB/bpk; S. 5: akg-images; links: Hannes Wiedemann; rechts: akg-images; Leihgabe der Herbert Eugen Esche-Stiftung, 1997/Kunsthaus Zürich; Bildarchiv Foto Marburg

6


Ernst Ludwig Kirchner schuf 1926 den »Blick auf die

Chemnitzer Fabriken« (o.) Der Textilindustrielle Herbert

Esche (li. porträtiert von Edvard Munch) ließ sich von

Henry van de Velde 1902 eine Villa (u. deren Musiksalon)

einrichten. Damals entstanden auch die Jugendstil-

Häuser im Chemnitzer Stadtteil Kaßberg (linke Seite)

7


Auf dem Theaterplatz (ganz oben) wird das Opernhaus

eingerahmt von der Petrikirche und den Kunstsammlungen

Chemnitz. Zu deren Sammlung gehören

das »Kaffeehaus« (1889, oben) von Georges Mosson

und Wilhelm Lehmbrucks »Büste der Knienden« re.,

eine Gabe des jüdischen Mäzens Georg Mecklenburg

8


GOLDENE ZEITEN

Bilder: Hannes Wiedemann; unten: May Voigt und Bertram Kober/PUNCTUM, beide Kunstsammlungen Chemnitz

Herbert Esche und van de Velde schreiben sich nun Briefe, der

Belgier lebt in Weimar, auf Einladung seines Mäzens Harry Graf Kessler

auch mal in Berlin. Es ist aber in Paris, wo Esche das bewunderte

Multitalent endlich persönlich kennenlernt. Esche trifft auf einen

Mann, der »nicht nur im allgemeinen Urteil, sondern auch durch seine

Selbstdarstellung als ein Besonderer« gilt, wie sein Biograf Klaus-

Jürgen Sembach schreibt. Dem Dichter Stefan George nicht unähnlich,

verfügt van de Velde nicht nur über einen ausgeprägten

Stilwillen, sondern auch über ein beträchtliches Sendungsbewusstsein.

1902 erteilt ihm Esche den Auftrag, eine Villa samt Inneneinrichtung

zu entwerfen. Es ist das erste Haus, das van de Velde in

Deutschland baut, und ein Gesamtkunstwerk; von den Möbeln und

Teppichen bis zu Brieföffner und Visitenkarten erscheint alles aus einem

Guss. Das Herzstück bildet die zentrale Halle, von der die Räume

abgehen, darunter ein Musiksalon, die Dame des Hauses ist eine

passionierte Pianistin. Von außen hebt sich die Villa von den verschnörkelten

Bauten der Gründerzeit ab und erweckt mit den ungewöhnlichen

Fassadenproportionen den Eindruck monumentaler

Funktionalität. »Neuer Stil« nannte man das damals, später »Jugendstil«.

Der Jugendstil der Villa Esche ist freilich einer, dem »die Lieblichkeit

ausgetrieben wurde«, so die Autorin Cornelia Dörries. Das

Haus gilt schlicht als der erste Bau der Moderne in Deutschland.

Das nach außen dokumentierte Selbstbewusstsein des Fabrikantenbürgertums

will innen durch zeitgemäße Porträts aufgefangen

werden. Der gut vernetzte van de Velde schlägt den aufstrebenden

norwegischen Maler Edvard Munch vor, der gerade Mitglied der Berliner

Secession geworden ist und schon in Wien für Furore gesorgt

hat. Und so verbringt 1905 der später weltberühmte Maler fünf Wochen

in Chemnitz, um die Familie Esche zu porträtieren. Munch

wurde zu einem wichtigen Fixpunkt in der Chemnitzer Kunstwelt,

zwischen 1906 und 1929 ist er mit sechs Ausstellungen präsent.

Esche hatte sich indessen auch einen Ruf als Mäzen erworben.

Er ist nicht der Einzige unter den Chemnitzer Industriellen, und viele

von ihnen waren Juden. Die Ersten waren um 1870 in die Stadt gezogen

und wirkten primär im Textilgewerbe. So der Strumpffabrikant

Max Berger, der sich als Sammler von impressionistischer Kunst

einen Namen machte und Werke unter anderem von Max Beckmann

besaß. Auch das keine Ausnahme. Das jüdische Mäzenatentum entwickelte

sich vor dem Hintergrund eines eigenen, an Substanz oft beachtlichen

Kunstbesitzes, wie der Chemnitzer Historiker Jürgen

Nietzsche schreibt.

Der wohl bedeutendste Sammler zeitgenössischer Kunst war

Georg Mecklenburg, Inhaber der Färberei Kunath und Mecklenburg.

Der Sohn eines Kaufmanns stammte ursprünglich aus Königsberg

und amtierte sechs Jahre lang als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde,

sein Haus lag direkt neben der Synagoge. Welche starke Rolle die

Kunst im Leben Mecklenburgs und seiner zweiten – in Auschwitz ermordeten

– Frau Margarethe einnahm, zeigt ein Brief seines Sohnes

Georg an die Kunsthistorikerin Gabriele Juppe: »Da standen die Kolbe-Bronzen

(…), der große Hochofen ›Eisengießerei‹ von Robert Sterl

hing im großen Zimmer. Daneben andere Ölgemälde: ein Porträt der

Frau Erich Heckels und ein Apachentanz von Segall. Dann Emil Noldes

wildes ›Liebespaar‹. Dann hingen noch Ölgemälde von Carl Hofer,

Max Pechstein, ein blühender Garten von Max Liebermann, ein

kleines Selbstbildnis von Gustaf Schaffer, außerdem Zeichnungen

von Oskar Kokoschka, auch eine Munch-Zeichnung.«

Die Kunst erblühte jedoch nicht nur in den Innenräumen der

privaten Villen. Mit dem 1909 fertiggestellten und vom sächsischen

König eingeweihten Theaterplatz erhielt die Stadt gleich zwei kulturelle

Highlights: ein Opernhaus und das König-Albert-Museum, das

9

Die Kunst erblühte in den Räumen

privater Villen und an öffentlichen

Orten wie dem Theaterplatz.

heute die Kunstsammlungen Chemnitz beherbergt. Das Museum

war geprägt von einer progressiven, von bürgerlichem Engagement

unterstützten Erwerbungspolitik, von deren reichen Früchten – etwa

bei den Expressionisten – es bis heute zehrt.

Zurück zu Georg Mecklenburg, der in erster Ehe mit der 1916

verstorbenen Lucie Manasse verheiratet gewesen war. Die Manasses

sind eine weitverzweigte Familie, vermutlich ist Lucie daher nicht direkt

verwandt mit Georg Manasse, der sich als Geschäftsführer des

Warenhauses Schocken einen Namen gemacht hat. In Chemnitz eröffnete

Schocken allerdings relativ spät eine Filiale. Der Inbegriff des

goldenen Zeitalters ist das Kaufhaus Tietz, 1913 als Sachsens »vornehmstes

und größtes Geschäftshaus« in der Moritzstraße eingeweiht.

Das Haus begeistert mit »60 Spezial-Abteilungen unter der

Leitung erster Fachleute« und »circa 25 000 Quadratmeter Flächeninhalt«,

so die damalige Reklame-Prosa. Das neoklassizistische Gebäude

hat Wilhelm Kreis entworfen, der für Tietz schon in Köln und

Elberfeld Kathedralen des Konsums errichtet hatte. Rasch entwickelt

sich das Tietz zum Magneten. Das bedeutet nicht nur, dass die Damenkonfektionsabteilung

im ersten Stock vergrößert werden muss,

es kommt auch eine Speiseeis-Erzeugungsanlage im vierten Stock

dazu und im zweiten Stock eine Konditorei, die sich an der Eleganz

des Berliner Kaufhauses Wertheim orientiert. Last, but not least eröffnet

eine Abteilung für Kunst. Einkaufen wird zum rundum kuratierten

Erlebnis: Im Mai 1927 zählt das Kaufhaus sage und schreibe

1250 Angestellte, denen 110 Haustelefone und zahlreiche Aufzüge zur

Verfügung stehen. Es gibt ein Krankenzimmer, falls sich ein Kunde

mal übernehmen sollte, und selbstverständlich werden die Waren frei

Haus geliefert. Öffentliche Konzerte runden das Gesamterlebnis ab.

Die Konkurrenz: Simon Schocken aus Zwickau besitzt schon

zahlreiche Warenhäuser in Deutschland, als er endlich auch in Chemnitz

eins bauen lässt. Allerdings nicht irgendeines. Nach den Plänen

des Architekten Erich Mendelsohn eröffnet im Mai 1930 ein Monument

der Moderne, das mit seiner geschwungenen Front Eleganz und

Sachlichkeit verbindet, und in der Nacht, wenn die durchgehenden

Fensterreihen hell beleuchtet sind, eine magische Wirkung entfaltet.

Im Hotel »Stadt Gotha« erläutert Simon Schocken der lokalen Presse

sein Konzept. Schocken ist auch ein Büchermensch, besitzt sogar einen

eigenen Verlag, aber hier setzt er einen dezidiert sachlichen Akzent,

der die schnörkellose Architektur quasi in Verkaufsstrategie

übersetzt: »Nichts in unserem Hause ist so, wie es im Allgemeinen

erwartet wird. Wir sind ein Warenhaus, das keine Sonderveranstaltungen

macht, keine Inventur-, keine Saison-Ausverkäufe, keine Weißen

Wochen, keine 95-Pfennige-Tage.«

Das Kaufhaus Schocken eröffnet in einer Zeit, in der die Weltwirtschaftskrise

von 1929 auch dem Manchester Sachsens zusetzt. Das

goldene Zeitalter neigt sich dem Ende zu. Chemnitz war immer SPD-

Hochburg gewesen, bald darauf ist die Partei verboten und Hitler

Ehrenbürger der Stadt. Schocken wandert nach Palästina aus; 1938

wird er gezwungen, seinen Konzern zum Ramschpreis zu verkaufen.

Das Warenhaus Tietz meldet am 3. Januar 1939, zwei Monate nach der

Reichspogromnacht, Konkurs an. Heute ist es ein Kulturkaufhaus.

Und im restaurierten Schocken befindet sich nun das Staatliche Museum

für Archäologie. ×


Auf Wandelpfaden

Ein neuer Skulpturenweg soll als Projekt der Europäischen

Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 fast vierzig Gemeinden verbinden.

Wir sprachen mit Kurator Alexander Ochs über das Vorhaben

Interview Lisa Zeitz

Oben: Nevin Aladağs Installation »Color Floating« leuchtet über einem Teich in Zwönitz. Rechte Seite: Im Kurpark Bad Schlema

markiert die Bronze »Stacks« von Tony Cragg die Stelle, wo sich früher der Wismut-Schacht 7b in die Erde grub

10


11


A

Alexander Ochs stammt aus dem Fränkischen, wie man seinem

rollenden R noch anhört. Viele Jahre hat er in Peking und in Berlin

gelebt, im vergangenen Jahr ist er nach Chemnitz gezogen. Mit

seiner Erfahrung im Kunsthandel, seinen Verbindungen zu

Künstlerinnen und Künstlern der Gegenwart und seinem bürgerschaftlichen

Engagement ist er die treibende Kraft hinter dem

Purple Path, der in der Region rund um Chemnitz mit zeitgenössischer

Kunst auf vielen Ebenen neue Impulse setzt.

WELTKUNST Wie würden Sie das Projekt des Purple Path in wenigen

Worten beschreiben?

ALEXANDER OCHS Es ist ein Pfad, der gemeinsam begangen wird.

Er entsteht prozesshaft. Am Ende wird es vermutlich der umfangreichste,

nachhaltigste Skulpturenpark in Europa, denn

das Projekt soll noch mindestens zwanzig oder fünfundzwanzig

Jahre weitergehen. Die europäische Kulturhauptstadt

Chemnitz 2025, die mich gebeten hat, das Projekt zu

entwickeln, ist meines Wissens die erste Stadt, die Kunst –

in diesem Fall Skulptur und Räume – ankauft und das Geld

eben nicht für Museen oder die Renovierung von Gebäuden

ausgibt, sondern sagt: »Ja, wir stellen die Kunst ins Zentrum

einer kulturellen Aussage, in einem Transformationsprozess,

den diese Region braucht.«

WK Hat die Farbe Lila eine besondere Bedeutung?

AO Die liturgische Farbe Lila ist sowohl die Farbe der Passion,

also der Empathie und des Mitleidens, als auch die Farbe im

Advent, das heißt des Aufbruchs.

WK Wenn man sich die Landkarte anschaut, dann geht der

Purple Path im Zickzack von Chemnitz aus in alle Richtungen,

Mittweida im Norden, Freiberg und Seiffen als westlichste

Punkte, Annaberg-Buchholz und Schwarzenberg im

Süden und Zwickau im Westen. Wie viele Kilometer lang ist

dieser Parcours?

AO Das sind rund 250 Kilometer, alles in allem, wobei wir nicht

davon ausgehen, dass wir die an einem Tag abfahren!

Der Galerist und Kurator Alexander Ochs initiierte den Purple Path

WK

AO

WK

AO

WK

AO

Wie haben Sie all diese unterschiedlichen Gemeinden und

Institutionen für das gemeinsame Projekt begeistert?

Im Verlauf der vergangenen Jahre habe ich viele Ausstellungen

in Kirchen und in Diözesanmuseen kuratiert. In der Bewerbungsphase

zur Kulturhauptstadt 2025 ging man wohl

davon aus, »wenn der Kirchen kann, dann muss er auch Erzgebirge

können«. Tatsächlich ist es so, dass dieses Erzgebirge

den Sozialismus überdauernd kulturell christlich fundiert

geblieben ist. Das Narrativ haben wir in langen Diskussionen

gefunden. Es heißt: »Alles kommt vom Berg her.« Der

Bergbau ist die Klammer und auch der Schlüssel im Verständnis

unseres Unterfangens. Aus dem Berg sind Silber,

Erze, Zinn, Kaolin, Kobalt, Uran und andere Mineralien gewonnen

worden, aus denen die Kunst besteht, die wir ausgewählt

haben. Dazu kommt mit James Turrell zum Beispiel

die Lichtmetapher, die Sehnsucht der Bergleute nach Licht.

Oder das Holz, ausgehend von dem sächsischen Bergrat von

Carlowitz, dem Schöpfer des forstlichen Nachhaltigkeitbegriffs

in der Zeit um 1700. Der Purple Path ist Geschichtenerzähler.

Mit den Materialien geht es zurück in die Geschichte

des Bergbaus, in die Industrialisierung.

Die Region hat eine unglaublich vielfältige und wechselvolle

Geschichte, von den Silberfunden im 12. Jahrhundert bis

zu den KZ-Außenlagern des 20. Jahrhunderts, die ebenfalls

auf der Karte des Purple Path eingezeichnet sind.

Ja, wir lassen kein Thema aus. In Oederan zum Beispiel wurde

1943 der Künstler Igor Mitoraj gezeugt, geboren als Sohn

eines französischen Kriegsgefangenen und einer polnischen

Fremdarbeiterin, die sich dort getroffen haben. So landet auf

meiner Künstlerliste plötzlich ein Igor Mitoraj. Ich werde

gefragt: »Warum er?« Das ist genau der Grund, wir thematisieren

die Geschichte der Unterdrückung im Dritten Reich.

Gedenkstätten werden wir neu markieren, zusammen mit

dem Münchner Künstler Rainer Viertlböck. Wir helfen so,

auch diesen düsteren Teil der Geschichte aufzuarbeiten. Ein

Thema ist auch die Ausbeutung Sachsens und Thüringens

durch die Wismut AG: Die Sowjetunion hat 60 Prozent ihres

gesamten Uranbedarfs von dort geholt. Die Friedhöfe liegen

voll mit Lungenerkrankten, sie starben an der Schneeberger

Krankheit. Es kommen so viele Geschichten

zusammen! Was wir am Ende erzählen, ist ein großes neues

Sittengemälde der gesamten Region.

Wie kommt dabei die Kunst ins Spiel?

Die Kunst gibt uns die Möglichkeit – ohne dass wir sie instrumentalisieren

–, Hinweise auf historische Ereignisse zu

geben. Diese Methode tragen alle 39 Bürgermeisterinnen

und Bürgermeister mit. Die Form des Purple Path entstand

vor drei Jahren aus der sogenannten Chemnitzer Spinne,

den im Nahverkehrssystem mit der Stadt assoziierten Gemeinden.

Als ich mir das angeguckt habe … man fährt immer

hinein nach Chemnitz und hinaus, »nei« und »naus«.

Man landet aber im Nowhere-Land, das heißt man fährt im

Zug nach Hainichen, und es ist Schluss, oder nach Mittweida,

Schluss. Da haben wir gesagt: »Wir schaffen das alles zusammen.«

Vielleicht entsteht eine neue kulturelle Identität.

Bilder S. 10: Daniela Schleich/Purple Path; S. 11: Hannes Wiedemann; links: Archiv Alexander Ochs; rechts: Corina Gertz/Purple Path; Hannes Wiedemann. Für Nevin Aladağ, Tony Cragg, Corina Gertz und Richard Long gilt: VG Bild-Kunst, Bonn 2023

12


Purple Path

Mittweida

Purple Path

Freiberg

Hohenstein-Ernstthal

Chemnitz

Augustusburg

Oben: Richard Longs »Petrified

Wood Circle« in der St. Jakobikirche

in Chemnitz. Links: Als

Leuchtkästen werden die von

Corina Gertz fotografierten

Trachtenträger Teil des Purple

Path. Auf dem Kunstpfad re.

schon zu sehen sind u.a. diese

Arbeiten: 1 Tony Craggs Bronzeskulptur

»Stack«, 2 Uli Aigner

»One Million«, 3 Nevin Aladağ

»Color Floating«, 4 Friedrich

Kunath »Include me out«, 5 Carl

Emanuel Wolff »Wildschweine«

Zwickau

Aue-Bad Schlema

1

2 5

Lößnitz

4

Zwönitz

3

Zschopau

Thalheim

Ehrenfriedersdorf

Annaberg-Buchholz

Schwarzenberg

Seiffen

WK

AO

WK

AO

WK

AO

Wie bringen Sie die Künstler mit den Orten zusammen?

Wir haben immer wieder in vielen Bürgermeisterkonferenzen

abstrakt über die Kunst gesprochen, und Arbeiten gezeigt

ohne sie zuzuordnen. Wir bekommen von dem irischamerikanischen

Künstler Sean Scully die Skulptur »Coin

Stacks«. Sein Großvater war übrigens Bergarbeiter. Scullys

Skulptur hat die Form gestapelter Münzen. Wir bauen sie in

Schneeberg zwischen der St. Wolfgangskirche mit dem Cranach-Altar

und dem Rathaus auf. Im 16. Jahrhundert gab es

hier den ersten Bergarbeiterstreik in Deutschland überhaupt.

Wenn aus ganz Europa Besuch kommen wird, um die Skulptur

von Scully an dieser Stelle zu sehen, dann erfahren wir

so diese Geschichte.

Nevin Aladağ hat ein Werk beigesteuert, das auch auf einen

speziellen Industriezweig Bezug nimmt.

Ja, ich habe schon erwähnt, wie wichtig das Licht ist. Zwönitz,

wo es übrigens heute noch einen Nachtwächter mit

Laterne gibt, der an Maria Lichtmess den Winter abbläst,

war ein Zentrum der Strumpfindustrie. Ein großes Strumpfunternehmen

produziert noch heute dort. Die Künstlerin

hat schon vor Jahren Strumpfhosen dieses Betriebs über

Leuchtkörper gespannt. Wir haben ihr Werk »Color Floating«

mit bedeutendem Engagement des dortigen Bürgermeisters

und seines Teams im Austelpark über einem wunderbar

wild zugewachsenen Teich installiert. Dort leuchtet

Nevin Aladağs Arbeit als Anspielung auf die Strumpfindustrie

und spiegelt die Sehnsucht der Bergleute nach Licht.

Wie kann man die Landschaft am besten erleben? Empfehlen

Sie das Fahrradfahren?

Es gibt überall Radfahrer, vor allem mit Mountainbikes. Stellen

Sie sich die Landschaft als ein sanft hügeliges Mittelgebirge

vor, das man mit dem Rad überall bewältigen kann,

durchzogen von wilden Bächen und Flüssen. Einer der

höchsten Punkte ist die Dittersdorfer Höhe in Amtsberg,

von dort schauen Sie ins Tal bis nach Chemnitz auf die Esse

von Daniel Buren. Dort wird Olaf Holzapfel eine Arbeit errichten.

Als Bezugspunkt hat er eine Königlich Sächsische

Triangulierungsstation gefunden, ein Thema, das ihn schon

bei der Documenta 14 beschäftigte.

WK Faszinierend, wie er dort mit Fachwerk arbeitet ...

AO Sachse eben. (lacht) Außerdem freue ich mich auf ein Werk

von Alicja Kwade in Marienberg. Die Stadt war abgebrannt

und ist als Barockstadt auf einem Renaissancegrundriss wieder

aufgebaut worden. In der Mitte gibt es einen riesigen

quadratischen Marktplatz, für den die Künstlerin mit sächsischem

Sandstein Kugeln und Quader schafft, schräg gegenüber

dem werdenden Weltkulturerbezentrum.

WK Klingt vielversprechend. Was gibt es jetzt schon zu sehen?

AO Friedrich Kunaths bronzene Fichten in Thalheim und Tony

Craggs Bronzeplastik »Stack« im Aue-Bad Schlema sind installiert,

auch Nevin Aladağ in Zwönitz und Carl Emanuel

Wolffs Bronzewildschweine in Ehrenfriedersdorf. Tanja Rochelmeyer

hat mit großer Unterstützung der Deutschen

Bahn in Flöha eine tolle Arbeit gebaut. Richard Longs Steinkreis

in der Kirche St. Jakobi in Chemnitz ist ebenfalls Teil

des Purple Path. Uli Aigners Porzellanarbeit »One Million«,

die gerade in Berlin im Museum für Ur- und Frühgeschichte

zu sehen war, wurde im August vor der alten Dampfbrauerei

in Lößnitz enthüllt. Und man kann natürlich alle diese

wunderbaren Schlösser, Burgen und Kirchen besichtigen,

Bergbau-, Textil-, Papier-, Auto- und Maschinenbau-Museen

besuchen, und man kann dort sehr gut essen gehen. Es gibt

Thermalbäder, Saunen und riesige Naturschutzgebiete.

WK Und wie kommt die Kunst bei den Leuten der Region an?

AO Super, sie wird gefeiert. Es gibt eine große parteiübergreifende

Beteiligung. Wir bauen die Werke mit Leuten aus

den Kommunen zusammen auf, da ist man natürlich in einem

5000- oder 10 000-Seelen-Ort sofort verankert. Die

Menschen sind stolz, dann kommt zur Einweihung die

Bergmanns kapelle oder der Posaunenchor, und für Tony

Cragg wurde sogar eine riesige Torte gebacken. So entstehen

kleine Volksfeste. Alle bereiten sich auf 2025 vor, die

Bürgermeister machen Englischkurse. Es wird verstanden:

Wir laden die Welt ein. ×

13


Born

in

Nina Kummer

Berühmt ist sie in erster Linie nicht für ihre Kunst, sondern

für ihre Musik: In der Chemnitzer Band Blond spielt Nina

Kummer, 1997 in Burgstädt geboren, Gitarre und singt

zusammen mit ihrer Schwester, der Schlagzeugerin Lotta

Kummer, und Johann Bonitz am Bass und Synthesizer. Im

April erschien »Perlen«, das zweite Studio album der Band.

Neben der Musik macht Nina Kummer aber auch mit ihrer

poetischen, schriftlastigen Malerei auf sich aufmerksam.

Karl Schmidt-Rottluff

Der Sohn eines Mühlenbesitzers kam

1884 in Rottluff im Westen von Chemnitz

auf die Welt. Seinen Geburtsort führte er

seit dem Architekturstudium in Dresden

1905 im Namen. Im selben Jahr gründete

er mit E. L. Kirchner, Fritz Bleyl und Erich

Heckel die Künstlergruppe Brücke:

die Geburtsstunde des Expressionismus!

Den Nazis verhasst, fand seine Kunst

nach dem Krieg wieder Anerkennung.

Den größten Bestand seiner Arbeiten,

rund 500 Werke der Malerei (oben:

»Junger Mann mit Pfeife«, um 1919),

Grafik und Skulpturen, besitzen

die Kunstsammlungen Chemnitz.

Marianne Brandt

Als Frau an leitender Stelle am Bauhaus, das

war eine Seltenheit: Die Chemnitzerin

Marianne Brandt, geb. Liebe (1893–1983),

schuf Entwürfe für die Metallwerkstatt

am Bauhaus in Weimar, die modernes Design

bis heute prägen. Mit Erfindungsreichtum

kombinierte sie Kreis, Kugel, Quadrat und

Dreieck und verpasste Alltagsobjekten

mit Materialien wie Opalglas, Messing,

Aluminium und Ebenholz einen neuen Look.

Links: Teekanne aus dem Jahr 1924,

versteigert im Auktionshaus Schuler.


Chemnitz

Hätten Sie’s gewusst? Die

Reihe der Talente in Kunst,

Fotografie und Design,

die aus Chemnitz (bzw.

Karl-Marx-Stadt) und der

Umgebung stammen, ist

erstaunlich. Manche blieben

in der Heimat, andere zogen

in die Welt. Wir stellen

sechs von ihnen vor

Olaf Nicolai

Seit dem Barock ist er der erste Künstler,

der ein Werk für das Grüne Gewölbe in

Dresden schuf: Seine Uhr dort zeigt nur

die Sekunden an. 1962 in Halle geboren,

wuchs er in Karl-Marx-Stadt auf, wo sein

Bruder, der Musiker und Künstler Carsten

Nicolai, zur Welt kam. Promovierter

Germanist, nahm Nicolai an der Documenta

und der Biennale von Venedig teil.

Für »Yeux de Paon« (u., Kunstsammlungen

Chemnitz) bezog er sich auf Dekorationsmuster

bulgarischer Keramik.

Andreas Mühe

In Karl-Marx-Stadt 1979 geboren, machte er in Berlin

eine Ausbildung zum Fotolaboranten und wurde

dort ab 2001 ein international gefragter Fotokünstler.

Für sein Projekt »Mischpoche« hat er 2019 im

Hamburger Bahnhof seine lebenden und toten Familienmitglieder

fotografisch vereint, indem er etwa

seinen berühmten Vater, den Schauspieler Ulrich

Mühe, als Wachsfigur wiederauferstehen ließ (oben).

Hans Brockhage

In Chemnitz ist er präsent durch die kunstvoll verschalten Wände

des Kongresszentrums, in der Designwelt durch den 1950 entworfenen

Schaukelwagen (o., versteigert bei Quittenbaum). Hans

Brockhage (1925–2009) stammte aus Schwarzenberg, wurde im

Krieg schwer verwundet, begann dann eine Lehre als Holzbildhauer

und studierte ab 1947 an der Dresdner Akademie. Dort gestaltete

er, betreut von Mart Stam, visionäres Spielzeug. Später

war er Dozent an der Hochschule für industrielle Formgestaltung

Halle, Burg Giebichenstein und Professor in Schneeberg.

15


Spaziergang

Wo die Kunst aufblüht

Von Tim Ackermann

Fotos Hannes Wiedemann

Das frei stehende Gebäude in der Augustusburger

Straße gab 2010 dem Verein Klub

Solitaer seinen Namen. Im Haus befinden sich

die coole Bar Lokomov und die Galerie Hinten


Bilder S. 14: Bertram Kober/PUNCTUM/Kunstsammlungen Chemnitz; Anja Jurleit; Bauhaus-Archiv Berlin; Courtesy Schuler Auktionen; S. 15: Andreas Mühe; Quittenbaum Kunstauktionen, München; Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin.

Für Karl Schmidt-Rottluff; Marianne Brandt; Andreas Mühe und Olaf Nicolai gilt: VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Beim Streifzug

durch die freie

Kulturszene von

Chemnitz wird

eine enorme

positive Energie

spürbar: Viele Orte

entstehen, weil

Menschen

das Stadtleben

gemeinsam

gestalten wollen.

Auch ehemals

triste Viertel

verwandeln sich

so in spannende

Kreativ-Kieze.

Gut vernetzt: Die Illustratorin Stephanie

Brittnacher, hier in der Bar Lokomov, führte uns

an besondere Chemnitzer Orte. Einer davon

ist der Kiezgarten Zietenaugust, um den sich

Robin Lögler und Tine Bauer kümmern (re.)

Aus dem Chemnitzer Märchenreich

der unbegrenzten Möglichkeiten

ragt der Sonnenberg

noch einmal wie ein leuchtender

Gipfel auf. Komfortabel

und hübsch ist es zwar nicht,

das alte Arbeiterviertel im

Osten der Stadt. Die Mietskasernen

der Gründerzeit mit ihren

beigefarbenen und backsteinbraunen

Fassaden warten

irgendwie immer noch auf den

Zauberstab der Gentrifizierungsfee.

Auch muss man erwähnen,

dass Armut, Arbeitslosigkeit

und Drogenkonsum im Viertel

drei hartnäckige Probleme

darstellen. Doch wer sich damit

arrangieren kann, findet hier

einen unkomplizierten Kiez

voller Freiräume. Kein Wunder,

dass die jungen Kreativen sich

auf dem Sonnenberg tummeln.

»Stadtwirtschaft« steht in

fetten bunten Lettern über der

Tür, neben dekorativ abgeblättertem

Putz: Im aufgegebenen

Betriebsgebäude der Chemnitzer

Stadtreinigung in der Jakob-

straße arbeiten heute Kulturschaffende.

Verabredet sind wir

mit Stephanie Brittnacher, die

hier ihr Atelier hat. Die Illustratorin

wird uns an diesem Tag

durch die freie Kulturszene der

Stadt führen. Man kann ihr vertrauen,

dass sie sich im urbanen

Gewusel und Gestrüpp zurechtfindet:

Brittnacher hat unter

anderem das Corporate Design

für die Kulturhauptstadtkampagne

Chemnitz 2025 und ein

Chemnitz-Wimmelbildbuch

gestaltet. Aufgewachsen ist sie

in Rheinland-Pfalz und Hessen,

doch schon während ihres

Studiums in Mainz lernte sie

ein paar Menschen aus Sachsen

kennen: »Die Chemnitzer

waren die coolsten!«, sagt sie

mit einem Lachen. 2013 kam sie

tatsächlich durch eine Beziehung

hierher. Und blieb.

Der Arbeitsraum der Illustratorin

im Obergeschoss der

Stadtwirtschaft hat mattgrau

gestrichene Wände, helle Dielen,

ein paar Grünpflanzen in

den Ecken. Ein Wohlfühlort,

der auch noch zu einer sehr

günstigen Miete zu haben war:

»Um die 100 Euro warm«, sagt

Brittnacher, »aber beim Einzug

war der Holzboden noch nicht

drin, und es gab viel zu renovieren.«

Schaut man sich ihr Studio

nun an, wird schnell klar,

dass es nur eine Vision und

etwas Arbeit braucht, um sich

in Chemnitz gut einzurichten.

Eine Erkenntnis, die sich wie

ein Leitmotiv durch diesen Tag

ziehen wird.

Selbstverständlich ist mittlerweile

auch den Chemnitzer

Politikern aufgegangen, dass

der Sonnenberg als Künstlerviertel

nur ein Imagegewinn

sein kann. Und so steigen wir

jetzt die Treppe hinunter in den

alten Betriebshof der Stadtwirtschaft,

wo in einigen Garagen

an Autos geschraubt und in

anderen schon Zukunftspläne

realisierungsreif geschmiedet

werden: Als Interventionsfläche

der Kulturhauptstadt 2025 und

17


Nationales Projekt des Städtebaus

ist das Gelände im Fokus,

wenn es um die Frage nach dauerhaft

gut angelegten Fördereuros

geht. Dazu befragen wollen

wir Octavio Gulde, den

Community Manager der Stadtwirtschaft,

der hinter einer Tür

mit der alten Aufschrift »Fahrzeugprüfung«

an einem großen

Tisch mit vielen Stühlen sitzt.

»Wir brauchen zugängliche

Räume für Kreative«, sagt Gulde,

und genau das soll die Stadtwirtschaft

idealerweise schon

2025 im großen Stil bieten: fünf

Gebäude, verteilt auf drei Höfe,

insgesamt 6000 Quadratmeter

Nutzfläche. Das meiste »niedrigschwellig

saniert«, damit

anschließend die Miete gering

ausfällt, aber es ist auch ein kleiner

Neubauteil geplant. Ein

gemeinschaftlich genutztes

Lager wird es geben. Einen Veranstaltungssaal.

Und eine Kiezkantine

als Begegnungsstätte.

»Das Ziel ist, gemeinschaftlich

mit den Leuten im Hof ein

Betreibermodell für die Stadtwirtschaft

auszuarbeiten«, sagt

Gulde. Über Letzteres soll schon

im nächsten Jahr entschieden

werden. Bis dahin werden die

vielen Stühle an Guldes Tisch

gut genutzt. »Für mich jedenfalls

waren die ersten Treffen zu

dem Thema sehr motivierend«,

sagt Stephanie Brittnacher, als

wir den Hof verlassen.

Wenn die neue Stadtwirtschaft

aufblüht, dann tut sie das

in einer Nachbarschaft, die sich

längst durch gewachsene kulturelle

Strukturen auszeichnet:

Kaum 50 Meter sind es bis zur

Tür der Galerie Glaskasten, wo

uns Selina Müller empfängt.

Die zwei kleinen Räume waren

über die Sommermonate ungenutzt,

zuletzt stellten hier neun

Die freie Szene

denkt solidarisch

und kämpft

gemeinsam gegen

den wachsenden

Rechtsextremismus

in der Stadt.

Künstlerinnen und Künstler

zum Fokusthema »Feminine

Fiction« aus. Die nicht kommerzielle

Galerie wird vom Verein

Klub Solitaer betrieben, der sich

bei zwei Immobilien auf dem

Sonnenberg engagiert: Ein Käufer

mit Vision erwarb die vom

Abriss bedrohten Gebäude,

sanierte sie und übergab sie in

die Obhut des Klub Solitaer.

Mehr als ein Dutzend Ateliers

wurden so geschaffen, dazu

Werkstätten, ein Fotolabor, das

auf dem Nachlass des Berliner

Fotografen Michael Schmidt

basiert und zwei Galerien.

»Unsere Aufgabe ist die Stadtteilentwicklung«,

erklärt Selina

Müller, zuständig für Community

Building beim Verein.

Wichtig ist ihr dabei auch der

soziale Aspekt, wie sie erklärt:

»Die Ateliers vermieten wir

zu Betriebskostenpreisen, weil

wir die Häuser auch zu den

Betriebskosten bekommen.«

Nun muss man kurz erwähnen,

dass der generöse Eigentümer

der bekannte Chemnitzer

IT-Unternehmer Lars Faßmann

ist. Er ist mit der Designerin

Mandy Knospe liiert, die auch

als ehrenamtliche Vorständin

des Klub Solitaer e. V. fungiert.

Das Power-Couple engagiert

sich sehr für die Stadt. Faßmann

ließ sich 2020 sogar als

partei loser Kandidat zur Oberbürgermeisterwahl

aufstellen

und landete auf einem respektablen

vierten Platz.

Auf dem Weg zum zweiten

Standort des Klub Solitaer geht

es nun die Zietenstraße hinab.

Wir schlüpfen kurz in die offene

Tordurchfahrt eines leer stehenden

Mietshauses. Und sind

plötzlich im Paradies: ein großer

verwunschener Garten mit

Beeten, Gewächshäusern, einer

Hollywoodschaukel. Üppigstes

Grün. Der Zietenaugust

genannte Nachbarschaftsgarten

wird vom Verein Gute Zieten

betreut. »Seit fünf Jahren richten

wir den Garten her. Für

meine WG ist es unser grünes

Wohnzimmer geworden«, sagt

Robin Lögler. Ein Clou ist die

finnische Sauna, die immer

donnerstagabends angefeuert

wird. Wie es dazu kam, erzählt

Tine Bauer von Gute Zieten.

Mit dem Finnland Institut und

der Helsinki Urban Art NGO

hätten zwei Botschafter des

skandinavischen Lebensgefühls

direkt bei den Gartenfreunden

angefragt: »Können wir bei

euch eine Sauna bauen?« Sie

konnten – und in neun Tagen

stand die robuste Schwitzhütte.

Eine weitere schöne Geschichte

über die Chemnitzer Dynamik

des Einfach-mal-Machens.

Freiräume wurden auch

in der Augustusburger Straße

genutzt, wo wir mit dem

Lokomov das zweite Haus des

Klub Solitaer besuchen, das

als frei stehendes Gebäude dem

Verein den Namen gab. Das

Lokomov ist eine Bar, die ihr

Publikum in Vorwendezeiten

zurückversetzt: Drehsessel aus

DDR-Produktion stehen unter

Lampenarrangements aus dem

Palast der Republik in Ostberlin.

Wer möchte, kann sich hier

mit Perlen der sozialistischen

Brettspielkunst wie »Karree«

oder »Logica« vergnügen. Und

auf der Rückseite des Gebäudes

lohnt sich die nicht kommerzielle

Galerie Hinten, wo zuletzt

Fotografien der Chemnitzer

Künstlerin Natalie Bleyl zum

Thema »Ortsfremd« zu sehen

waren. Im Lokomov ist das

Publikum freigeistig, tolerant

und divers. »Es ist wichtig, der

rechten Raumnahme eine linke

Raumnahme entgegenzusetzen

und Orte zu schaffen, die zum

Beispiel auch migrantischen

Menschen Sicherheit geben

können«, erklärt Selina Müller.

Sie berichtet, dass sich im Nachbarstadtteil

Hilbersdorf die

Neonaziszene weiter ausbreitet.

Am frühen Nachmittag verlassen

wir den Sonnenberg und

laufen in die Innenstadt: Die

Galerie Borssenanger in der

Straße der Nationen ist eine

kommerzielle Kunsthandlung,

die im Ort jedoch fast die Rolle

eines kleinen Kunstvereins

übernimmt. Wer die Tradition

der lokalen Szene begreifen

will, kann hier die entsprechenden

Werke anschauen – und

natürlich auch kaufen. »Es ist

18


FREIE SZENE

fast ein bisschen ein gesellschaftlicher

Auftrag, diese

Künstler zu zeigen«, sagt Galeristin

Henriette Schneidewind.

Im Programm ist etwa Jan

Kummer mit seiner inhaltlich

vielschichtigen Hinterglasmalerei,

die er »Eglomisierung«

nennt. Oder Steffen Volmers

zarter Surrealismus. Oder die

jüngste Generation wie das Kollektiv

Bikini Kommando. 1997

wurde die Galerie gegründet,

vor acht Jahren übernahmen

Schneidewind und ihr Mann

Ulf Kallscheidt das Geschäft.

Als Ur-Chemnitzerin ist Schneidewind

bestens in der Kunstszene

vernetzt: »Hier ist alles eng

verbunden«, sagt die Galeristin.

»Manchmal ist es ein Fluch,

aber in der Regel ist es ein

Segen.« Allerdings sei leider

auch die Sammlerschaft in der

Stadt überschaubar. »Im Osten

war es lange nicht so etabliert,

Kunst zu kaufen. Das ändert

sich erst allmählich.«

Als letzte Station an diesem

Tag machen wir uns auf zum

Weltecho. Das Kulturzentrum

im Haus »Kammer der Technik«

in der Annaberger Straße gilt

als Nachfolger des Voxxx – eines

sagenumwobenen Kultur- und

Partyorts im Chemnitz der

Nachwendezeit. Als dieser 2005

schloss, schien die Ära der grenzenlosen

Freiheiten vorbei. Einiges

hat sich jedoch ins Weltecho

herübergerettet: Die Produzentengalerie

Voxxx etwa, einst von

Künstlern wie Carsten Nicolai

und Frank Maibier gegründet,

wird von Maibier als Galerie

Oscar im Erdgeschoss des Kulturzentrums

geleitet. Heute findet

man im Weltecho außerdem

das Team des Kunstfestivals

»Begehungen«, das immer im

August verlassene Orte innerhalb

oder außerhalb von Chemnitz

bespielt. Es gibt eine Bar,

eine Theaterbühne, einen Club

und ein Programmkino.

Und welche Zukunftsthemen

stehen an für die Chemnitzer

Kulturszene? Das fragen wir

im Weltecho Julia Voigt, ehrenamtliches

Vorstandsmitglied

des Vereins Hand in Hand, der

die verschiedenen Akteurinnen

und Akteure miteinander vernetzt.

»Fast alle Menschen, die

in der Subkultur tätig sind,

haben sich uns nach und nach

angeschlossen«, erzählt Voigt.

Als breite Branchenvertretung

kann der Verein gegenüber der

Stadtverwaltung wichtige Themen

platzieren: »Im Moment

probieren wir, ein Nachtmanagement

zu etablieren, das die

Bedürfnisse aller Menschen, die

nachts unterwegs sind, berücksichtigt.«

Sind die Verbindungen

in der freien Szene tatsächlich

so solidarisch, wie es den

Anschein hat? »Ich glaube, dass

der Zusammenhalt in der Stadt

immens ist – aus einer Notwendigkeit

heraus«, sagt Voigt:

»Wir haben ein enormes, weiter

anwachsendes Problem mit

Rechtsextremismus und rechten

Parteien, die falsche Narrative

benutzen, indem sie behaupten,

die Kulturhauptstadt GmbH

würde linksextreme Kultur fördern.

Man darf dieses Problem

nicht verleugnen. Und dennoch

gibt es auch uns alle hier, die

kämpfen und die Stadt nicht

den falschen Leuten überlassen

wollen.« Ein Jahr lang hat die

gebürtige Chemnitzerin mal

woanders gelebt, dann kehrte sie

zurück. »In anderen Städten

hat mir das Gefühl gefehlt, alles

Mögliche schnell realisieren zu

können«, sagt Voigt. »In Chemnitz

kriegst du alles, worauf du

Lust hast, schon irgendwie hin.

Das ist wirklich fantastisch!«

Das Kulturzentrum Weltecho (li. Seite) wird von

zwei Vereinen betrieben. In einem ist Julia

Voigt (li. u.) Mitgeschäftsführerin. Links: Ausstellung

von Thomas Judisch und Stefan Krauth

in der Galerie Borssenanger. Unten: Die

alte Stadtwirtschaft soll Kreativen Platz bieten


Aussicht

auf

Freiheit

Die Gruppe Clara Mosch gab es nur wenige Jahre. Aber was ihre

Künstlerinnen und Künstler ab 1977 in Karl-Marx-Stadt bewegten,

bleibt bis heute ästhetisch und politisch einzigartig

20


CLARA MOSCH

Bild links: László Tóth/Kunstsammlungen Chemnitz/Stiftung Carlfriedrich Claus Archiv; rechts: Lindenau-Museum Altenburg/Archiv Ralf-Rainer Wasse; Bernd Borchardt/VG Bild-Kunst, Bonn 2023

W

Was geht in diesen Köpfen vor? Drei Männer hängen nackt in einem

Baum und amüsieren sich, die Stimmung scheint gut hier auf Rügen.

»Baumbesteigung« heißt das Spektakel von 1979, das als schwarz-weiße

Fotografie bis heute gegenwärtig ist. Ein harmloser Zeitvertreib

der Künstlergruppe Clara Mosch oder doch mehr? Darüber rätseln

die Mitarbeiter der Staatssicherheit und überlegen, wie sich die Gruppe

am besten zersetzen ließe.

Das Interesse der Stasi ist nachvollziehbar. Mit der Gründung

von Clara Mosch entsteht 1977 in Karl-Marx-Stadt etwas, das sich nur

schwer einordnen lässt. Kontrollieren noch weniger, denn die fünf

Künstlerinnen und Künstler – Dagmar Ranft-Schinke und Thomas

Ranft, Michael Morgner, Gregor-Torsten Schade und Carlfriedrich

Claus – sind überaus umtriebig. Sie gründen eine Produzentengalerie

im Stadtteil Adelsberg, stellen dort ihre eigenen Werke und die

geschätzter Kollegen aus. Und sie unternehmen immer wieder Ausflüge

ins Erzgebirge oder an die Ostsee, wo sie ihre Aktionen unter

freiem Himmel durchführen, Diese Pleinairs sind anarchisch, kurzlebig

und vordergründig ideologiefrei: Die Künstler klettern halt auf

eine Platane. Das mag ästhetisch umwerfend aussehen, unterläuft aber

wohl kaum das System. Die Kritik allerdings ist inhärent. Denn die

Platane wurde gestutzt, darf nicht wachsen, wie sie will. Über ihre

Entwicklung bestimmen andere mit brutaler Gewalt.

Das Subversive ist ein Markenzeichen von Clara Mosch. Allein

der Name: Den Funktionären vor Ort erzählen die Künstler, es handle

sich um die historische Figur einer Chemnitzer Kommunistin. Tatsächlich

fügt sich Clara Mosch aus den Nachnamen aller fünf Gruppenmitglieder

zusammen: CLA = Claus, RA = Ranft, MO = Morgner

und SCH = Schade. Ihre geplante, kleine Galerie darf aber so nicht

heißen, man droht ihnen mit Haft, wenn sie die Ansage ignorieren.

Und bietet ihnen stattdessen an, eine Galerie des Kulturbundes zu

eröffnen, in der Hoffnung, sie dadurch in den Griff zu bekommen.

Der Name aber hängt in der Luft. Er klingt verheißungsvoll und

wird zur Frage ihrer Identität. So entsteht die avantgardistische Truppe

fast von selbst. Das Programm entwickelt sich erst danach, als Ausdruck

einer »Form des Andersseins«, die Ranft für sich und seine sehr

unterschiedlichen Freunde reklamiert. Ranft ist ein grafisches Genie,

Morgner ein passionierter Maler und Carlfriedrich Claus mit seinen

delikaten Zeichnungen ein legendärer Eremit. »Es gab kein Manifest«,

erklärt Michael Morgner. Bloß eine kreative Lust auf Freiräume:

»Wir waren die friedlichsten Menschen der Welt, wir wollten

Spaß haben wie junge Künstler, und die sind mit Richtmikrofonen

hinter uns hergerannt.«

Während Morgner sich an die immer

noch präsente Vergangenheit erinnert, sitzt

er in seinem Archiv, einem historischen Haus

auf dem Chemnitzer Kaßberg, wo alle paar

Monate Arbeiten von Kollegen, Weggefährten

und Freunden gezeigt werden. Fast wie

zu Clara-Mosch-Zeiten, als er und Thomas

Ranft die Galerie im Kulturbund leiteten.

Anfangs sitzt ein Funktionär mit im Gremium

und wird bei der Programmgestaltung

regelmäßig überstimmt. Im Jahr darauf sitzen

dort schon zwei, danach immer mehr. Die

Künstler haben nichts mehr zu sagen, das Programm machen nun

andere. »Deshalb sind wir 1982 auseinandergegangen«, resümiert

Morgner. Es ist das formelle Ende von Clara Mosch – auch wenn die

Aktionen unter freiem Himmel bis 1986 weitergehen.

Die Zeit bis dahin ist großartig produktiv. »Viele unserer Aktionen,

die wir aus Spaß begonnen haben, wurden unvermittelt Ernst«,

erzählt Morgner. Seine im Video festgehaltene Seeüberschreitung in

Gallentin 1981 ist solch ein Gag, der als Reenactment der biblischen

Szene beginnt, in der Jesus über das Wasser wandelt. Bei Clara Mosch

wird die Aktion zum Symbolbild des in der DDR untergehenden

Künstlers. Morgner gefällt der Gedanke, die giftgrüne Entengrütze

mit großer Geste zu teilen. Was er erst hinterher weiß: Der Grund in

dem verschlickten See ist extrem morastig, er geht beinahe unter.

Die »Mehl-Art« im Jahr 1980 in Glauchau ist ein Reflex auf die

damals allgegenwärtige Mail-Art. Bloß schreibt man keine Briefe,

sondern backt sich konspirativ Kunst auf großen Blechen. Man kann

sie essen und die Beweisstücke so vernichten. »Smollichs Stuhl« entsteht

zwei Jahre zuvor. Aus Fundholz baut sich Ranft direkt am Meer

einen monumentalen Sitz, auf dem er selbst wie ein Kleinkind wirkt.

Sein Blick geht raus aufs Wasser Richtung Skandinavien. Aber wer

will beweisen, dass er damit die Reisebeschränkungen kritisiert?

Manifest werden die Aktionen in den Aufnahmen des 2017 verstorbenen

Ralf-Rainer Wasse. Obwohl sich der begnadete Fotograf

später als janusköpfiger Freund entpuppte, der seine Abzüge gleichzeitig

der Stasi überließ, schätzen die Künstler seine Arbeit bis heute:

Ohne Wasses Impressionen wären ihre Pleinairs reine Erzählung.

Irgendwann hatte diese, von Morgner apostrophierte »wunderbare

Reibung« dann ein Ende. Jeder ging seinen Weg. Dagmar Ranft-

Schinke lebt wie Morgner und Thomas Ranft in Chemnitz, 1997 erhielt

sie den Kulturpreis Brandenburg »Sonnensegelring« für ihr

farbstrahlendes, expressionistisches Œuvre. Gregor-Torsten Schade,

heute Kozik, lebt und arbeitet außerhalb der Stadt. Carlfriedrich

Claus, mehr als ein Jahrzehnt älter als die übrigen Clara-Mosch-Mitglieder,

starb schon 1988. Michael Morgner bekam dieses Jahr als einer

der »bedeutendsten Künstler der Gegenwart« das Bundesverdienstkreuz

verliehen, seine Bilder und Skulpturen befinden sich in

den Sammlungen zahlreicher Museen. ×

Die vergrößerte Pass-

Seite rechts sollte das

Plakat zur Galerie-Eröffnung

werden. Legendär

waren Pleinair-Aktionen

wie »Tripel-Spiegelei«

(u., 1986) oder »Baumbesteigung«

(li. S., 1980)

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MADE IN SACHSEN

Die Hallen stammen aus der Zeit, als Audi noch

nicht latinisiert war, sondern Horch hieß. Wir

befinden uns im AUGUST HORCH MUSEUM, an einem

Ursprungsort der Autoindustrie. 1904 zog

der Gründer mit seiner Firma von Köln nach

Zwickau und rief hier fünf Jahre später ein neues

Unternehmen ins Leben, das er nach einem verlorenen

Rechtsstreit in Audi umbenannte. Heute

umfasst das Museum inklusive der Horch-Villa

und des Kontorgebäudes 6500 Quadratmeter

und zeigt rund 200 Exponate, darunter Autos von

1911 und den letzten Trabant von 1991.

SPANNENDE

GESCHICHTEN

In Chemnitz und

Umgebung gibt es

viele interessante

Museen

zu entdecken

Reichtum einer Stadt

Die städtischen Museen bilden das kunsthistorische

Epizentrum von Chemnitz, und die langjährige

Direktorin Ingrid Mössinger wie ihr Nachfolger

Frédéric Bußmann haben mit ihren Ausstellungen

und Initiativen immer wieder für überregionale

Aufmerksamkeit gesorgt. Ein Bürgerverein

und mäzenatische Industrielle brachten die

Kunstsammlungen Chemnitz auf den Weg, die in

dem prachtvollen Belle-Époque-Bau am Theaterplatz

beheimatet sind. Die Bestände haben wichtige

Schwerpunkte in der Kunst des 19. Jahrhunderts,

der deutschen Moderne (vor allem mit dem

Chemnitzer Schmidt-Rottluff und seinen

»Brücke«-Freunden) bis hin zur Zeit der DDR und

zur Gegenwart. Eine Besonderheit ist die große

Textilsammlung, die um 1900 als Vorbilder-Fundus

für die einheimische Industrie gegründet wurde.

Zu den Kunstsammlungen gehören das Carlfriedrich-Claus-Archiv,

das Schloßbergmuseum, die

Burg Rabenstein und das Henry van de Velde

Museum in der Villa Esche. Den bedeutendsten

Zuwachs brachte im Jahr 2007 die Sammlung des

Münchner Kunsthändlers Alfred Gunzenhauser,

für die eigens das Museum Gunzenhauser eingerichtet

wurde. Ein neusachlicher Sparkassenbau

der 1920er-Jahre verwandelte sich in ein Schatzhaus

der klassischen Moderne - mit einer der größten

Otto-Dix-Kollektionen als Höhepunkt.

Bilder: KT Kultur, Tourismus und Messebetriebe Zwickau GmbH (Kultour Z.); Hannes Wiedemann (2); LfA/smac, Michael Jungblut; Aleh Varanishcha/istockphoto


UNTERNEHMERGEIST

Seit Jahrhunderten zählt Sachsen, speziell die Regionen

Chemnitz, Erzgebirge und Vogtland, zu den wichtigen

deutschen Industriezentren. Viele technische Entwicklungen

von weltweiter Bedeutung hatten und haben hier

ihren Ursprung. Dazu gehören die Innovationen des

sächsischen Erzbergbaus ebenso wie die Impulse für

den Werkzeug- und Textilmaschinenbau oder die Leistungen

für den Fahrzeugbau und die Büromaschinentechnik.

Von diesem Unternehmergeist zeugen die

Artefakte und Vorführexponate im INDUSTRIEMUSEUM

CHEMNITZ. Seit nunmehr zwanzig Jahren ist es in den

denkmalgeschützten Fabrikgebäuden einer ehemaligen

Gießerei in der Zwickauer Straße beheimatet.

Schocken mit Scherben

Antike und Mittelalter, präsentiert in einem prominenten

Baudenkmal der Moderne: Das ist das

smac, kurz: Staatliches Museum für Archäologie

Chemnitz in Erich Mendelsohns Warenhaus

Schocken. Die ge schwungene Fassade bestimmt

auch die Ausstellungsarchitektur, wo 6200 Fundstücke

Auskunft über die Geschichte Sachsen

von den frühen Jägern und Sammlern bis zur heutigen

Kulturlandschaft geben. Im Herbst beginnt

eine Schau zur Entwicklung des Wohnens.

REISE INS MITTELALTER

Sachsens schönste Ritterburg thront auf einem malerischen

Felsen am Flusslauf der Zschopau, rund 40 Kilometer nördlich

von Chemnitz. Im Jahr 1384 erstmals urkundlich erwähnt, ist

die BURG KRIEBSTEIN im Kern spätgotisch und wurde im

Lauf der Jahrhunderte immer wieder erweitert. Im Inneren lassen

sich der Rittersaal, das Schatzgewölbe mit seinen Wandmalereien,

die Burgkapelle, Turm, Brunnenstube, Jagdzimmer

und die Wohnräume der Familie von Arnim besichtigen.

Für Kinder bietet das Museum im Sommer eine interaktive

Schnitzeljagd durch die mittelalterlichen Gemäuer.

IMPRESSUM Herausgeber ZEIT Weltkunst Verlag GmbH, Boxhagener Str. 18, 10245 Berlin Chefredakteurin Dr. Lisa Zeitz Director Editorial Matthias Ehlert (V.i.S.d.P.)

Art Director Anja Büchner Redaktion Tim Ackermann, Lou Ulla Brunk (Bild), Virginie Calvet (Grafik), Christiane Meixner, Catherine Peter (Bild), Dr. Sebastian Preuss,

Simone Sondermann, Clara Zimmermann Verlag Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg

Head of Publishing Bianca Schwarz Anzeigenleiter Michael Menzer CP & Business Development Lara Rath, lara.rath@weltkunst.de Herstellung Jan Menssen

Lithografie Twentyfour Seven Creative Media Services GmbH Druck Frank Druck GmbH & Co. KG, Preetz

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