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Sanfte Stadterneuerung Revisited

ISBN 978-3-98612-153-2

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Katharina Kirsch-Soriano da Silva,

Judith M. Lehner, Simon A. Güntner (Hg.)

SANFTE

STADT-

ERNEUERUNG

REVISITED

Wiener Handlungsstrategien

für den Bestand


Inhaltsverzeichnis

005 Dank

006 Sanfte Stadterneuerung Revisited:

Wiener Handlungsstrategien für den Bestand

Katharina Kirsch-Soriano da Silva,

Judith M. Lehner und Simon A. Güntner

Sanfte Stadterneuerung

011 im historischen Kontext

STADTPLANUNG & WOHNBAU

012 Bassena und Grätzel: Revitalisierung bestehender

Bausubstanz und Trendwende in der Planung

Christiane Feuerstein

019 In der grauen Stadt Wien einen neuen Weg

der Stadterneuerung entwickeln

Zeitzeugenbericht von Horst Berger

STADTENTWICKLUNG &

PROZESSORIENTIERUNG

023 Besser als neu: Über die notwendige Anreicherung

der Stadt mit neuen Aspekten

Erich Raith

028 Frauenalltag in der Stadt und gendersensible Planung

Zeitzeuginnenbericht von Eva Kail

STADTPOLITIK & GEOPOLITIK

032 Paradigmenwechsel und sich wandelnde Leitbilder

in der Stadt- und Planungspolitik

Gottfried Pirhofer

037 Ressortübergreifend und interdisziplinär arbeiten

Zeitzeugenberichte von Ewald Kirschner und

Gerhard Berger

GESETZGEBUNG &

RECHTLICHE GRUNDLAGE

041 50 Jahre Stadterneuerungsgesetz: Erkenntnisse

für die Herausforderungen der Stadterneuerung

im Klimawandel

Charlotte Damböck und Dragana Damjanovic

ALLTAG & SOZIALE VERHÄLTNISSE

052 Widerstände und Widersprüche: Biografisch

inspirierte Betrachtungen zur Sanften Stadterneuerung

Christoph Reinprecht

059 Aktiv gegen Wohnungsspekulation und Themen

im Stadtteil sichtbar machen

Zeitzeug:innenberichte von Peter Mlczoch und

Ula Schneider

INVOLVIERUNG & BETEILIGUNG

064 Top-down, Raunzen, Mitmachen: Beteiligung

im Kontext der Sanften Wiener Stadterneuerung

Gesa Witthöft

069 Gestaltung öffentlicher Plätze und Räume für Kinder

Zeitzeug:innenberichte von Timo Huber und

Christiane Klerings

HANDLUNGSFELDER & INSTRUMENTARIEN

075 Die Entwicklung eines Instrumentariums

der Sanften Stadterneuerung

Katharina Kirsch-Soriano da Silva

081 Zwischen- und Mehrfachnutzung als

Handlungs strategie

Zeitzeug:innenberichte von Jutta Kleedorfer und

Kurt Smetana

047 Sanierungsförderung initiieren und weiterentwickeln

Zeitzeuginnenberichte von Michaela Trojan

und Ursula Holzinger


Orte der Sanften

087 Stadterneuerung in Wien

Neue Herausforderungen

137 in der Stadterneuerung

088 Übersichtskarte

090 Orte der Sanften Stadterneuerung und ihre

visualisierten Haus- und Grätzelbiografien

Katharina Kirsch-Soriano da Silva,

Bernadette Krejs und Judith M. Lehner

093 TYPOLOGIE QUARTIER

Pilotgebiet Wichtelgasse

094 Ein gründerzeitliches Viertel wird zum

Experimentierfeld für neue Handlungsansätze

097 Wir leben in einer Großstadt, wir müssen das

Miteinander pflegen!

Zeitzeuginnenbericht von Ernestine Graßberger

101 TYPOLOGIE BLOCK

Blocksanierung Odeongasse

102 Ein urbaner Block erfährt in einem komplexen

Prozess schrittweise städtebauliche Verbesserungen

107 TYPOLOGIE WOHNHAUS

Revitalisierung Kauerhof

108 Ein ehemaliges Spekulationshaus wird unter

Einbeziehung seiner Bewohner:innen saniert

111 Das Engagement gemeinnütziger Wohnungsunternehmen

in der Sanften Stadterneuerung

Zeitzeugenbericht von Michael Gehbauer

115 TYPOLOGIE STRASSE

Lebendige Lerchenfelder Straße

116 Eine Einkaufsstraße erfährt vielfältige Maßnahmen

der Belebung und Attraktivitätssteigerung

121 TYPOLOGIE FREIRAUM

Gemeinschaftsgarten Wolfganggasse

122 Die Nachbarschaft etabliert gemeinsam mit

Künstler:innen einen Gemeinschaftsgarten

KLIMA & ZIRKULÄRES BAUEN

138 Retrofitting Stadterneuerung: Klima- und

zukunftsfitte Lösungen für Bestandsquartiere

Stephan Hartmann

139 Zirkuläres Wien: Strategien für einen Stadtumbau

mit Kreislaufwirtschaft

Bernadette Luger

WOHNUNGSMARKT &

LEISTBARES WOHNEN

141 Stadterneuerung im Kontext einer sich wandelnden

Wohnungsmarktdynamik

Robert Musil

142 Sanfte Stadterneuerung? Zwischen leistbarem

Wohnen und Verdrängungsdruck

Mara Verlič und Lukas Tockner

KOMMUNIKATION & KOOPERATION

144 Intensive Kommunikation und neue Kooperationen

Nicole Büchl

145 Die Gebietsbetreuung Stadterneuerung

als Unterstützerin in Involvierungs- und

Aushandlungs prozessen

Verena Mörkl

BAUKULTUR & SORGE FÜR DEN BESTAND

147 Neue alte Allianzen

Angelika Fitz

148 Die holistische Perspektive der Baukultur

und die gestaltbare Stadt

Robert Temel

SOZIALE TEILHABE & MITGESTALTEN

150 Herausforderungen und Chancen für eine partizipative

und klimagerechte Stadt

Monika Stumpf-Fekete

151 Soziale Inklusion und emanzipatorische Bildung

Christoph Stoik

125 Der Stadtumbau hat viele Facetten und fängt

im eigenen Umfeld an

Zeitzeuginnenbericht von Jutta Wörtl-Gössler

129 TYPOLOGIE MARKT

Leben am Schlingermarkt

130 Der Floridsdorfer Markt erhält ein neues Leitbild

und kooperativ entwickelte neue Impulse

132 Urban Manufacturing im Hinterhof und wie

der Brunnenmarkt wieder populär wurde

Zeitzeugenbericht von Hans Staud

154 Interviewverzeichnis

155 Autor:innen

156 Abbildungsverzeichnis

160 Impressum


Abb. 3


Sanfte Stadterneuerung im

historischen Kontext

011


012 SANFTE STADTERNEUERUNG IM HISTORISCHEN KONTEXT STADTPLANUNG & WOHNBAU

Bassena und Grätzel: Revitalisierung bestehender

Bausubstanz und Trendwende in der Planung

Christiane Feuerstein

Dieser Beitrag betrachtet die Entwicklung der Sanften

Stadterneuerung in Wien und den damit einhergehenden

Paradigmenwechsel in Stadtplanung und Wohnbau in ihrem

historischen Kontext. In den 1950er Jahren wurde in Erdberg

– mittels Abriss und Neubau – die erste Flächensanierung

durchgeführt. Proteste gegen am Spittelberg und im

Planquadrat geplante Abrissvorhaben unterstützten in den

1970er Jahren eine Trendwende im Umgang mit der historischen

Bausubstanz. Die Einführung der Schutzzone in die

Wiener Bauordnung (1972) und das Modellprojekt Ottakring,

in dem das 1974 in Kraft getretene Stadterneuerungsgesetz

(StEG) in Wien erstmals zur Anwendung kam, waren wichtige

Meilensteine auf dem Weg der Institutionalisierung des

Modells der Sanften Stadterneuerung. Im 1985 veröffentlichten

Wiener Stadtentwicklungsplan wurde die Stadterneuerung

zu einer der Leitlinien städtischer Entwicklung.

NEUE KOMMUNALE WOHNHAUSANLAGEN

NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG

In der Stadt Wien waren im Zuge des Zweiten Weltkriegs

187.305 Wohnungen beschädigt oder zerstört worden, davon

waren „36.851 (19,6 %) […] total zerstört, 50.027 (26,7 %) Wohnungen

schwer und 100.430 (53,7 %) Wohnungen leicht beschädigt“

(Marchart 1984: 31), sodass die Schaffung von

Wohnraum zu den dringlichsten Aufgaben der Nachkriegszeit

gehörte.

Die sozialistische Stadtregierung „lenkte ihre Energien

vornehmlich auf den Neubau von Gemeindewohnungen“ (Kos

2004: 280), war ihr doch, wie der Kulturhistoriker Wolfgang

Kos betont, „das Leben im finsteren Zinsbau mit Gangklosett

und Bassena sowieso ein Symbol inhumaner Ausbeutung“

(ebd.). Nach Kriegsende wurde daher das kommunale Wiener

Wohnbauprogramm wiederaufgenommen und in Favoriten

im August 1947 der Grundstein für eine der größeren von der

Gemeinde Wien errichteten Wohnhausanlagen gelegt. In der

nach dem schwedischen Ministerpräsidenten benannten Per-

Albin-Hansson-Siedlung (West) wurden 1000 Wohnungen in

zweigeschossigen Einfamilienhäusern und dreigeschossigen

Wohnbauten in Zeilenbauweise errichtet.

UMGANG MIT HISTORISCHER BAUSUBSTANZ I:

FLÄCHENSANIERUNG IN ALT-ERDBERG

Im bereits bebauten Stadtgebiet Wiens wurden die städtebauliche

Struktur, das Straßennetz und die Häuserblöcke, „im

Zuge des Wiederaufbaus nicht wesentlich verändert“ (ebd.: 282).

Im Gegensatz zu Deutschland, wo Stadtplaner:innen versuchten,

die Kriegszerstörungen für einen grundlegenden

Umbau der Städte zu nutzen, kam es in Wien nur in Ansätzen

zu einer rigorosen Neuordnung, wie im dörflichen Zentrum

von Alt-Erdberg im 3. Wiener Gemeinde bezirk. Hier waren

die lang gestreckten, niedrigen Häuser und Höfe mit den anschließenden

Ställen auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg

Abb. 4 Alt Erdberg vor den Assanierungsplänen

Abb. 5 Assanierung Alt Erdberg (1956–58)


013

zumeist von Fiakern und Fuhrwerkern „bewohnt‘‘ (vgl. Stadtbauamt

der Stadt Wien 1957: 199). Eine von der Forschungsstelle

der Stadt Wien für Bauen und Wohnen unter der Leitung

des Architekten Franz Schuster in den 1950er Jahren

erstellte Studie dokumentiert den schlechten Zustand der

Bausubstanz im Gebiet rund um die Hainburger Straße. Nur

20 Prozent der bestehenden Bebauung – zumeist die mehrgeschossigen

Häuser – wurden als erhaltenswert eingestuft.

Nachdem „von der Stadt ein als ‚heruntergekommen‘ eingestuftes

Gebiet angekauft worden“ (Kos 2004: 284) war, wurde

1956 mit den Abrissarbeiten der zumeist eingeschossigen

Bebauung begonnen, um Platz für neue (Wohn-)Bauten zu

schaffen.

Orientiert an den in den 1920er Jahren entstandenen

städtebaulichen Konzepten, die Licht, Luft und Sonne für alle

forderten und im städtebaulichen Ordnen, in der Rationalisierung

der Bauproduktion und im Einsatz neuer Technologien

die Lösung für die Wohnungsprobleme der gründerzeitlichen

Stadt sahen, entstand eine neue vier- bis neungeschossige

Bebauung. Sie schaffte Raum für Wohnungen und Geschäfte

und brachte neue städtebauliche Maßstäbe in das Quartier:

In einigen Bereichen wurden die Assanierungskonzepte der

Ersten Republik weitergeführt. Bereits in den 1920er Jahren

hatte man das Viertel als nicht erhaltungswürdig eingestuft

und Teile der Bebauung durch von der Gemeinde Wien errichtete

große Wohnhöfe, wie den Rabenhof und den Erdberger

Hof, ersetzt, sodass man einen Teil der neuen Bebauung

„als eine Ergänzung bzw. Fertigstellung des Rabenhofs

bezeichnen“ (Achleitner 1990: 136) könnte. Entlang der Gestettengasse

und der Hainburger Straße wurden Baulücken

geschlossen und am Fiakerplatz, dessen Name an die ursprünglichen

Bewohner:innen dieses Viertels erinnert, wurde

eine offene Bebauung vorgesehen.

Die zwischen 1956 und 1958 durchgeführte Assanierung

gehört zusammen mit der Flächensanierung Alt-Lichtental

im 9. Bezirk zu den wenigen rigorosen Neuordnungen,

den großräumigen „Kahlschlag“-Sanierungen, in Wien. Doch

selbst diese wurden – wie der Stadtplaner und Städtebautheoretiker

Leopold Redl feststellt – „vergleichsweise behutsam

durchgeführt“ (Redl 1994: 25). So betrafen in Lichtental die in

Abschnitten durchgeführten Abbrüche nur wenige Baublöcke.

UMGANG MIT HISTORISCHER BAUSUBSTANZ II:

REVITALISIERUNG DES BLUTGASSENVIERTELS

Zeitgleich wurde 1956 für das Blutgassenviertel hinter

dem Stephansdom der Ideenwettbewerb „Gesundung der

baulichen Verhältnisse im Wiener Altstadtgebiet“ (Stadtbauamt

der Stadt Wien 1956: 427) ausgeschriebenen. Um „die

Freiheit des Ideenwettbewerbs nicht zu beschränken“ (ebd.),

wurde die Einhaltung denkmalpflegerischer Vorschreibungen

„nicht als Bedingung gefordert, wohl aber in Zusammenhang

mit anderen Punkten gewertet. Jedenfalls wird die Wahrung

des historischen Charakters des engeren Planungsgebiets

verlangt. Es liegt nicht in der Absicht der Gemeinde Wien,

daß das Planungsgebiet ein rein kommerzieller ‚City‘-District

wird.“ (Ebd.) Das hier formulierte Ziel des Wettbewerbs – die

vorhandene Bausubstanz so weit wie möglich zu erhalten

und sie „mit dem Neuen harmonisch zu verbinden“ (Euler

1963: 85) – zeigt, wie unterschiedlich der kulturelle Mehrwert

bestehender Bausubstanz bewertet wurde. Während in der

Innenstadt die „Wahrung des historischen Charakters des

Planungsgebiets“ (ebd.) verlangt wurde und die Einhaltung

„denkmalpflegerischer Vorschreibungen erwünscht“ (ebd.),

wenn auch keine Bedingung war, wurden die einfachen Fuhrwerkerhäuser

in Alt-Erdberg, einem der ältesten Siedlungsgebiete

Wiens, als bauhistorisch nicht relevant betrachtet und

zum Abbruch freigegeben.

Die Jury betonte in ihrem Urteil, dass das Siegerprojekt

des Büros Theiss und Jaksch alle denkmalpflegerischen

und wirtschaftlichen Aspekte optimal erfülle und schrieb in

ihrem Bericht: „In baukünstlerischer Hinsicht ist der Entwurf

betont schlicht und unaufdringlich gehalten. Diese taktvolle

Zurückhaltung unterstreicht jedoch wirkungsvoll die Gesamtkonzeption

im Hinblick auf die behutsame Einbeziehung der

vorhandenen Altstadtatmosphäre“ (Stadtbauamt der Stadt

Wien 1956: 428). In den nächsten Jahren wurde jedoch

keiner der Entwürfe 1 weiterverfolgt, prallten doch – wie die

Arbeiter-Zeitung nahezu 10 Jahre später 1965 über den

Wettbewerb schrieb – „die Lösungsvorschläge – Erhaltung

oder Amerikanisierung – aufeinander. Schließlich siegte die

Wiener Atmosphäre über den Geist Chicagos: 1957 wurde

die Restaurierung des Blutgassenviertels ins Wohnbauprogramm

genommen.“ 2

Da es – abgesehen von der geringen Besonnung und der

schlechten sanitären Ausstattung – vor allem finanzielle Argumente

waren, die gegen eine Instandsetzung der Häuser

sprachen, fanden im Herbst 1960 zwischen der Stadtbauamtsdirektion

des Magistrats und den Architekturprofessoren

Friedrich Euler und Herbert Thurner Besprechungen statt.

Ziel war es – wie Euler selbst schrieb – die „Atmosphäre der

Altstadt so zu erhalten, daß ein bestimmter Personenkreis

um dieser Atmosphäre willen bereit ist, die verhältnismäßig

hohen Kosten der Instandsetzung zu tragen. Es soll ein Bereich

geschaffen werden, der seinen Bewohnern – vor allem

Künstlern und geistig Schaffenden – eine kultivierte Umwelt

und die Ruhe zur Besinnlichkeit bietet“ (Euler 1963: 86).

Ungeklärte Besitzverhältnisse verzögerten den Arbeitsbeginn

und so wurde erst im Januar 1963 mit der Sanierung der

Wohnungen und dem Einbau von Liften begonnen. Die Erdgeschosslokale

wurden an Galerien, Antiquitäten- und Keramikgeschäfte,

eine gemeinsame Ordination von Fachärzt:innen

sowie die Österreichische Gesellschaft für Architektur vermietet,

die hier ein neues Diskussionsforum und Dokumentationszentrum

einrichtete. Bekannte Künstler:innen wie der Bildhauer

Fritz Wotruba oder die Burgschauspielerin Käthe Gold zogen

in die im Mietrecht auf 80 Jahre vergebenen Wohnungen ein.

1 Den zweiten Preis erhielt das Projekt von

Roland Rainer, den dritten Preis erhielten die

Architekten Prehsler und Wanko und den vierten

Preis bekam Michel Engelhart.

2 Arbeiter-Zeitung vom 20.11.1965


014 SANFTE STADTERNEUERUNG IM HISTORISCHEN KONTEXT STADTPLANUNG & WOHNBAU

Abb. 6 Plandarstellungen des Innenhofs sowie

Auflistung der beteiligten Institutionen im Informationsfolder

der Projektgruppe Planquadrat

Abb. 7 Darstellung des Renovierungsgrades

der Gebäude rund um das Planquadrat

TRENDWENDE: PROTESTE, BÜRGER:INNEN-

INITIATIVEN UND FERNSEHEN

Während im 1. Bezirk Altwiener Häuser saniert und einem

beschränkten Kreis von Bewohner:innen und Gewerbetreibenden

zur Verfügung gestellt wurden, erwarb die Stadt

Wien im 7. Bezirk mehrere biedermeierliche Häuser, um an

deren Stelle einen Gemeindebau zu errichten. Waren doch an

dem „wegen seiner Geschichte als Prostituiertenviertel übel

beleumundeten ‚Spittelberg‘“ (Kos 2004: 286) viele Häuser

so baufällig, dass sie notdürftig abgestützt wurden und so

nicht mehr bewohnt werden konnten (vgl. Eppel 2004: 299).

Doch diesmal formierte sich – wie bereits zuvor gegen

den Abbruch der 1725 erbauten Florianikirche (Rauchfangkehrerkirche)

– eine Initiative, die gegen den Abriss protestierte.

Anrainer:innen, Architekt:innen und Künstler:innen gründeten

Anfang der 1970er Jahre die Interessengemeinschaft

Spittelberg und „riefen unter dem Motto ‚Rettet den Spittelberg!‘

eine der ersten Bürgerinitiativen ins Leben.“ (Ebd.)

Während die inmitten der Straße stehende Rauchfangkehrerkirche

trotz heftiger Diskussionen zugunsten einer

autogerechten Verbreiterung der Wiedner Hauptstraße am

30. August 1965 abgebrochen wurde, trugen am Spittelberg

Aktionen, Feste und Diskussionsveranstaltungen dazu bei,

den Abriss des biedermeierlichen Ensembles zu verhindern.

Der Spittelberg wurde 1973 – auf Basis der ein Jahr zuvor

vom Wiener Gemeinderat beschlossenen Altstadterhaltungsnovelle

– als eines der ersten Gebiete zur im Flächenwidmungs-

und Bebauungsplan ausgewiesenen Schutzzone

erklärt. Diese Änderung der Wiener Bauordnung ermöglichte

der Stadt Wien eine vom – in einem Bundesgesetz geregelten

und ausschließlich auf ein Gebäude beziehungsweise eine

Liegenschaft bezogenen – Denkmalschutz unabhängige Aus -

weisung von Gebieten, die wegen ihres charakteristischen

Stadtbildes als erhaltungswürdig betrachtet wurden. Mit diesem

Instrument wollte man die Innere Stadt und historische

Viertel vor Verödung und spekulativer Vernachlässigung

schützen und historische bauliche Strukturen, charakteristische

Ensembles sowie für eine bestimmte Umgebung typische

Straßenräume und Hofsituationen bewahren. Um die mit

dem Erhalt oftmals verbundenen finanziellen Mehrkosten zu

reduzieren, wurde 1973 der Wiener Altstadterhaltungsfonds

eingerichtet, der öffentliche Mittel für die Konservierung und

Restaurierung zur Verfügung stellte (vgl. Koller 1973: 156).

An der sich abzeichnenden Trendwende im Umgang mit

der historischen Bausubstanz waren jedoch nicht nur Proteste

und Bürger:inneninitiativen, sondern auch das zu Beginn der

1970er Jahre noch relativ neue und dennoch weit verbreitete

Fernsehen beteiligt. Beeinflusst von der damals international

intensiv diskutierten Idee der Revitalisierung von Hinterhöfen

durch die Entfernung von Hoftrakten (Schlagwort Entkernung)

sollten auch in Wien – in Anlehnung an die großzügigen

Wohnhöfe der Gemeindebauten der 1920er und 1930er Jahre –

gründerzeitliche Hinterhöfe in Gartenhöfe umgestaltet werden.

Die Vorzüge des Wohnhofs gegenüber gründerzeitlichen

Höfen waren bereits 1927 in der von der Gemeinde

Wien herausgegebenen Publikation Das Neue Wien betont


015

Abb. 8 Entwurf der Gartenhofgestaltung nach den Ergebnissen des Planquadrat-Spiels

worden: „Stets wird das Augenmerk darauf gerichtet, so große

Höfe zu erzielen, daß sie eine gärtnerische Ausschmückung

zulassen und die Sonne möglichst alle Räume erreichen kann.

Während beim Arbeiterwohnhaus der Vorkriegszeit die Kinder

mit ihren Spielen auf die Straße verwiesen wurden, hat

der Gartenhof der Gemeindebauten neben der Bedeutung

der Beleuchtung und Belüftung auch die wichtige Aufgabe,

Spielfläche für die Kinder und Ruhe für die Erwachsenen

zu bieten.“ (Stadt Wien, zit. nach Voitl / Guggenberger / Pirker

1977: 31f.)

Für die zwischen 1974 und 1976 im Hauptabendprogramm

des ORF ausgestrahlte Fernsehdokumentation Planquadrat 3

wurde daher als Projektgebiet ein von der Mühlgasse, der

Schikanedergasse, der Margaretenstraße und der Preß gasse

begrenzter Baublock ausgewählt. Der Flächenwidmungsplan

von 1966 sah – ganz im Sinne einer autogerechten Verkehrsplanung

– eine Verbreiterung der Mühlgasse, den Ab riss der

an diese angrenzenden Häuserzeile und die Umgestal tung

des verbleibenden Blockinneren in einen öffentlichen Park vor.

Die erste, am 14. Mai 1974 zur Hauptsendezeit um

20.00 Uhr ausgestrahlte Sendung mit dem Titel Planquadrat:

Stadterhaltung – Stadterneuerung „fand großen Widerhall

und löste eine Reihe von weiteren Kontakten zwischen

ORF Team und interessierten Bürgern, Studenten und Fachleuten

aus“ (Kainrath / Potyka / Zabrana, 1980: 8). In weiterer

Folge entwickelten eine Gruppe von Studierenden der TU

Wien, ein Architektenteam um Hugo Potyka, das später

offiziell von der Stadt Wien beauftragt wurde, sowie das

ORF-Team (die Journalist:innen Elisabeth Guggenberger

und Helmut Voitl) mit Bewohner:innen Konzepte zur gemeinsamen

Nutzung der durch Mauern und Zäune voneinander

getrennten Innenhöfe (vgl. Feuerstein 2009). Die am

15. August 1975 eröffnete Ausstellung Planquadratinformation

dokumentierte den Beteiligungsprozess und machte

Vorschläge zur Revitalisierung der vom Abbruch bedrohten

Häuser. In dem 2 Jahre später, am 6. Oktober 1977, zwischen

dem inzwischen gegründeten Gartenhofverein und der

Stadt Wien abgeschlossenen Vertrag wurde die Betreuung

und Pflege des von der Stadt Wien ausgestalteten Gartens

durch den Verein vereinbart.

MODELL OTTAKRING

Im Mai 1974 trat, fast zeitgleich mit der ersten Sendung

über das Planquadrat, das die Assanierung von Wohngebieten

betreffende Stadterneuerungsgesetz (StEG) 4 in Kraft. Da

viele der sich überwiegend im privaten Besitz befindlichen

3 Die vier Teile der Dokumentation sind auf

der Website des Gartenhofvereins Planquadrat

(https://planquadrat.weebly.com) abrufbar.

4 Bundesgesetz vom 3. Mai 1974

(BGBl. Nr. 287).


016 SANFTE STADTERNEUERUNG IM HISTORISCHEN KONTEXT STADTPLANUNG & WOHNBAU

spätgründerzeitlichen Gebäude nach dem Zweiten Weltkrieg

mehr oder weniger notdürftig in Stand gesetzt worden waren

(vgl. Kos 2004: 280), war die „mangelhafte Ausstattung zumindest

der Hälfte der Wohnungen der in einem Gebietsteil

vorhandenen Häuser“ (§6 Abs 1 StEG) ein entscheidendes

Kriterium für die Auswahl und Festlegung von Assanierungsgebieten.

Doch waren auch weitere bauliche und soziale Kriterien

bei der Ermittlung städtebaulicher Problemgebiete zu

berücksichtigen und so wurde die magistratsinterne Arbeitsgruppe

„Stadterneuerung und Bodenbeschaffung“ (vgl. Stadt

Wien 1978) gegründet und ein ca. 4,3 Hektar großes Untersuchungsgebiet

in Ottakring 5 ausgewählt, in dem nahezu „alle

Problemsituationen des dichtbebauten Gebietes anzutreffen

waren: ein Zufallsgemenge von Bebauungstypen und Nutzungsformen,

eine für das dichtbebaute Gebiet charakteristische

Bevölkerungsstruktur, geringes Erneuerungspotential,

unzureichendes Naherholungsangebot“ (Roth 1984: 188).

In den 49 vorwiegend in der Gründerzeit errichteten Häusern

lebten 1000 Einwohner:innen (vgl. Gräsel / Wasner/Huber

1983: 12). Von den 650 Wohnungen waren 50 Prozent kleiner

als 45 Quadratmeter, 53 Prozent schlecht belichtet und 67 Prozent

hatten nur über den Gang Zugang zu Wasser (Bassena)

und WC (vgl. Stadt Wien 1978: 4). Die Höfe im Blockinneren

waren mit Nebengebäuden verbaut oder wurden als Autostellplätze

genutzt. Für die Grundlagenermittlung wurden Baupläne,

Gewerbeakte und Grundbuchsurkunden ausgewertet

und im Herbst 1974 wurde ein Informationsbus aufgestellt,

in dem sich Magistratsbeamt:innen im persönlichen Kontakt

über die Wünsche und Beschwerden der Bevölkerung

informierten (vgl. Kainraith 1979: 127). Basierend auf diesen

Untersuchungen wurde am 30. Januar 1975 von der Bezirksvertretung

die Erklärung zum Assanierungsgebiet beantragt.

Um die Versorgung mit Grünraum im dicht bebauten

Gebiet zu verbessern, wurde als erste Sofortmaßnahme in

einer Baulücke in der Lambertgasse auf die Errichtung eines

Wohnbaus verzichtet und von der Bezirksvertretung

am 12. Mai 1975 deren Umgestaltung in einen „Minipark“ beschlossen.

6 Im Sommer 1975 wurden von der Magistratsabteilung

21 drei Architekturteams 7 mit der Erstellung von

Entwicklungskonzepten für das Gebiet beauftragt. Die Ergebnisse

wurden gemeinsam mit den vom Magistrat erhobenen

Unterlagen in einer am 26. November 1975 von

Bürgermeister Leopold Gratz eröffneten Ausstellung in den

Räumen des Kauz Beisl, einem typischen alten Wiener

Wirtshaus, präsentiert.

Nachdem im Juni 1977 der Wiener Gemeinderat den Erlass

einer Assanierungsverordnung und eine Änderung des

Flächenwidmungs- und Bebauungsplans beschlossen hatte,

wurde das Gebiet 1978 als erstes Assanierungsgebiet (gemäß

dem Stadterneuerungsgesetz von 1974) in Wien ausgewiesen.

Die Urbanbau (gemeinnützige Bau-, Wohnungs- und

Stadterneuerungsges.m.h.H.) wurde mit der „Gebietsbetreuung

laut Stadterneuerungsgesetz auf 2 Jahre durch die Stadt

Wien“ (Kainrath 1979: 128) beauftragt. Gleichzeitig wurde an

sie ein Forschungsauftrag des Bundesministeriums für Bauten

und Technik „zur Analyse der Vorgänge im Assanierungsgebiet“

(ebd.) vergeben. Bereits am 30. Juli 1978 wurde das

Extrazimmer eines von der Ottakringer Brauerei verwalteten

Gasthauses in der Friedrich-Kaiser-Gasse 69 als Informationslokal

bezogen und damit erstmals eine ständige Gebietsbetreuung

vor Ort eingerichtet. 8 Der aktuelle Stand der

Erneuerungsmaßnahmen wurde für alle sichtbar an einem

Modell dargestellt. In den folgenden Jahren standen die Althausinstandsetzung

und die Beratung bei Maßnahmen zur

Wohnungsverbesserung im Zentrum der Arbeit. Im öffentlichen

Raum gehörten die Einrichtung der ersten Wohnstraße

in der Wichtelgasse sowie Verbesserungsmaßnahmen von

Grün- und Erholungsflächen zu den wichtigsten im Projektgebiet

bis 1983 umgesetzten Veränderungen. 9

PARADIGMENWECHSEL UND INSTITUTIONALI-

SIERUNG DER SANFTEN STADTERNEUERUNG

Eine ausschließlich auf abstrakten Daten basierende

Methode der Stadtanalyse sowie der technokratische Ansatz

der räumlich-funktionalen Stadtplanung, die sich an einer

„Phantomfigur einer industriegesellschaftlichen Normalexistenz“

(Eisinger 2006: 108) orientierte, kamen in der Mitte

der 1960er Jahre im internationalen architektonischen und

städtebaulichen Diskurs in die Kritik. 10 Der 1972 vom Club of

Rome veröffentlichte Bericht Die Grenzen des Wachstums

und die wirtschaftlichen Folgen der Ölkrisen der 1970er Jahre

stellten die Idee des technischen Fortschritts infrage.

Nachdem sich, wie der deutsche Architekturhistoriker

Werner Durth in seinem 1977 erschienenen Buch Die Inszenierung

der Alltagswelt. Zur Kritik der Stadtgestaltung ausführte,

bereits in „der Architektur die traditionellen Deutungsmuster

des Funktionalismus zur Lösung anstehender Probleme

weithin als untauglich erwiesen hatten“ (Durth 1977: 33),

drängte sich „ein Wechsel der Sichtweise auch im Städtebau

auf: eine Umorientierung von weitgreifenden Entwicklungsplänen

auf eine vergleichsweise bescheidene ‚Politik der

Stadtgestaltung‘, der jetzt aber nicht mehr nur die objektiv

gegebenen, räumlich-materiellen Zusammenhänge der Stadt-

Gestalt, sondern die im täglichen Handlungsablauf der Menschen

aktuellen Stadt-Erscheinungsbilder und Erlebnisfolgen

zum Gestaltungsobjekt wurden“ (ebd.). Dies führte zu einem

5 Das Untersuchungsgebiet war von der

Ottakringer Straße, der Eisnergasse,

der Grüllemeiergasse, der Kuffnergasse, der

Thaliastraße und der Wattgasse begrenzt.

6 Die Parkanlage wurde vom Büro Hautmann

entworfen und vom Stadtgartenamt gestaltet

(vgl. Stadt Wien 1978: 14).

7 Die drei Teams waren das Büro Hautmann,

das Büro Hlaweniczka und das Büro PAI

(Holubowsky, Janig und Lindner).

8 In den übrigen ausgewählten Erneuerungsgebieten

Ulrichsberg, Gumpendorf, Storchengrund,

Wilhelmsdorf, Himmelpfortgrund und Währing

wurden zwischen 1977 und 1979 Untersuchungen

gestartet und Gebietsbetreuungen eingerichtet

(vgl. Berger 1984).

9 Das Informationslokal der Gebietsbetreuung

Ottakring wurde im April 1984 geschlossen und

die Gebietsbetreuung in das neue Stadterneuerungs -

gebiet Neulerchenfeld verlagert, mit dessen Be -

treuung die Stadt-Projekt GmbH beauftragt wurde.

10 Exemplarisch stehen dafür die Publikationen

von Kevin Lynch (The Image of the City, 1960,

deutsch 1965), Jane Jacobs (The Death and Life

of Great American Cities, 1961, deutsch 1963),

Alexander Mitscherlich (Die Unwirtlichkeit unserer

Städte. Anstiftung zum Unfrieden, 1965) oder

Aldo Rossi (L’Architettura della Città, 1966,

deutsch 1973).


017

„Paradigmawechsel im Städtebau“ (ebd.). Man versuchte nun

„‚Stadt‘ nicht mehr nur von oben, sondern partiell auch aus

der Perspektive der Benutzer sehen zu lernen, um Ansätze

‚subjektbezogener‘ Gestaltungs- und Steuerungsmöglichkeiten

entwickeln zu können“ (ebd.). Diese Akzentverschiebung

führte zu einer Aktualisierung theoretischer Konzepte, methodischer

Ansätze und einer verstärkten Koope ration mit

anderen wissenschaftlichen Disziplinen sowie zu einer

Neuorientierung der bis dahin üblichen Stadtsanierungspraxis.

Exemplarisch stehen dafür das Modell der Sanften

Stadterneuerung in Wien und die IBA-Altbau unter der Leitung

von Hardt-Waltherr Hämer in Berlin (Kreuzberg), wo in Pilotprojekten

sowohl Möglichkeiten der behutsamen Modernisierung

und Umnutzung bestehender Gebäude als auch partizipative

Modelle der Beteiligung von Bewohner:innen erprobt wurden.

Auch in Wien wurden nun die Probleme in ihrem konkreten

Gebietszusammenhang betrachtet und die Sanierungsziele

leiteten sich, wie die beiden Stadtforscher Leopold Redl

und Hans Hovorka betonen, „in erster Linie nicht von abstrakten

Bedarfsberechnungen ab, sondern entstehen aus dem

Diskurs am Ort des Geschehens, dem Stadtteil. In diesem

hätte das Wissen des Alltags eine der Wissenschaft und den

Fachdisziplinen gegenüber gleichberechtigte Rolle“ (Hovorka /

Redl 1987: 32). Dieser Paradigmenwechsel war begleitet von

der Entdeckung einer anderen Ästhetik, die in der Auseinandersetzung

mit dem Unfertigen eine Möglichkeit sah, den

Konventionen des funktionalen Städtebaus mit seinen allgemeinverbindlichen

Normen des Geschmacks zu entkommen.

Die Bedeutung der Ästhetik betont auch der seit 1975 in

der Wiener Stadtverwaltung tätige Architekt Wilhelm Kainrath,

wenn er über die Anfänge der Sanften Stadterneuerung

schreibt: „Damals ging man in die alten Wohnviertel des

19. Jahrhunderts und verwehrte den Flächenabriss. Einerseits

waren die Häuser egal, aber die Menschen sollten nicht

vertrieben werden, anderseits genoß man die neu entdeckte

Ästhetik des Historismus und das farbige Gemisch verschmuddelten

proletarisch-kleinbürgerlichen Lebens. Soziale

und ästhetische Anliegen vermischten sich, formten bald eine

Einheit, die taktisch so oder andersherum zu wenden war.

Ohne ästhetische Überzeugungen wären die sozialen Anliegen

jedenfalls nicht kräftig genug gewesen.“ (Kainrath 1988: 216).

In den 1980er Jahren unterstützte die Postmoderne, die in

Kunst, Literatur, Film und Architektur einen emotionaleren

Zugang zur Stadt suchte, eine Hinwendung zur Stadtbau geschichte

– eine Haltung, die sich auch im Wiener Stadtentwicklungsplan

von 1985 widerspiegelte, in dem Stadterneuerung

und -erweiterung nicht mehr als Gegensätze, sondern als

einander ergänzende Vorhaben der Stadtentwicklung gesehen

wurden. Um die Umsetzung der in ihm formulierten Ziele

zu unterstützen, wurden zwischen 1984 und 1989 weitere

Gebiets betreuungen eingerichtet und 1984 wurde der Wiener

Bodenbereitstellungs- und Stadterneuerungsfonds (heute:

wohnfonds_wien) gegründet.

Wie bereits dargelegt, trugen die von Alexander Mitscherlich

beklagte Unwirtlichkeit unserer Städte (1965), die vornehmlich

die Neubausiedlungen am Stadtrand betraf, sowie die

Energiekrise und die vom Club of Rome erkannten Grenzen

des Wachstums zu einer Trendwende in der Stadtentwicklungspolitik

bei, die bis dahin (nicht nur) in Wien vor allem am

Neubau orientiert war. Die Sanierung des Gebäudebestands

war mit einer Rückbesinnung auf städtische Qualitäten

verbunden, die zu einer Wertschätzung alter, bis dahin vernachlässigter

Stadtquartiere führte. An die Stelle einer additiven

Betrachtung von sozialen, ökologischen, ökonomischen

und (städte-)baulichen Aspekten traten eine integrierende

Sicht auf die Stadt, die alle Aspekte des städtischen Lebens

erfasst, sowie eine prozessorientierte stadtpolitische Programmatik.

Heute – 50 Jahre nach der Einführung des Stadterneuerungsgesetzes

in Österreich – sind in Anbetracht des Klimawandels

bereits damals diskutierte Themen – wie ein behutsamer

Umgang mit dem Vorhandenen, Nutzungsvielfalt in

den Quartieren, die Wiederverwendung von Baumaterialien

sowie die Schönheit des Gebrauchten – wieder hoch aktuell.

Die in vielen Lebensbereichen dominierende ökonomische,

vermessende, bewertende und optimierende Sicht wird zunehmend

kritisiert und die Notwendigkeit einer anderen Haltung

gegenüber Lebewesen und Ökosystemen intensiv diskutiert.

Das Arbeiten mit dem Bestand – die Instandsetzung,

das Um- und Weiterbauen – und ein sparsamer Umgang

mit (materiellen) Ressourcen sowie gemeinwohlorientierte

Kooperationen und Beteiligungskonzepte können für die

Planung regionaler und urbaner Räume neue Perspektiven

eröffnen (vgl. Bahner / Böttger / Holzberg 2020; Fitz / Krasny

2019). Weiterführend ist hier die von Joan Tronto formulierte

kritisch-feministische Care-Ethik. Sie fordert neue Formen

des Zusammenlebens, Wirtschaftens und Haushaltens, die

wiederum Veränderungen in den institutionellen, planerischen,

räumlichen und gebauten Strukturen nach sich ziehen

können (vgl. Tronto 2019).


018 SANFTE STADTERNEUERUNG IM HISTORISCHEN KONTEXT STADTPLANUNG & WOHNBAU

Literatur:

Achleitner, Friedrich: Österreichische Architektur

im 20. Jahrhundert. Ein Führer in vier Bänden

(Bd. III/1). Salzburg / Wien 1990

Bahner, Olaf / Böttger, Matthias / Holzberg,

Laura (Hg.): Sorge um den Bestand. Zehn

Strategien für die Architektur. Berlin 2020

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Durth, Werner: Die Inszenierung der Alltagswelt.

Zur Kritik der Stadtgestaltung. Braunschweig 1977

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niemals war. Wien 2004, S. 298–303

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in Wien“. In: Der Aufbau, Nr. 3/4, 1963,

S. 85–88

Feuerstein, Christiane: „Anfänge der sanften

Stadterneuerung. Die Entdeckung der alltäglichen

Stadt“. In: Feuerstein, Christiane / Fitz, Angelika:

Wann begann temporär? Frühe Stadtinterventionen

und sanfte Stadterneuerung in Wien. Wien /

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Fitz, Angelika / Krasny, Elke (Hg.): Critical Care.

Architecture and Urbanism for a Broken Planet.

Wien / Cambridge (Massachusetts) / London 2019

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in größeren Städten am Beispiel

Assanierungs gebiet Ottakring. Kurzfassung,

hg. von Urbanbau. Wien 1983

Hovorka, Hans / Redl, Leopold: Ein Stadtviertel

verändert sich. Bevölkerungsaktivierende

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Kainrath, Wilhelm: Stadterneuerung und Bodenordnung.

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Geschäftsgruppe Stadtplanung, Stadtstrukturplanung).

Wien 1979

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Höhepunkt und Abschluss der Moderne“.

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Texte 1971–1986. Wien 1988, S. 208–227

Kainrath, Wilhelm / Potyka, Hugo / Zabrana,

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Koller, Rudolf: „Altstadterhaltung im Aspekt des

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Kos, Wolfgang: „Wiederaufbau und Zerstörung.

1945 bis 1975: Wie die Pragmatiker in den

Gegenwind gerieten“. In: Kos, Wolfgang / Rapp,

Christian (Hg.): Alt-Wien. Die Stadt, die niemals

war. Wien 2004, S. 280–290

Marchart, Peter: Wohnbau in Wien 1923–1983.

Wien 1984

Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit

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Redl, Leopold: „Über den Alltag der Stadterneuerung“.

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Texte. Konzepte. Stadtplanung. Stadtgestaltung.

Wien / Köln / Weimar 1994, S. 25-32

Roth, Ernst: „ … Am Beispiel Ottakring, ein

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1974–1984. Das Wiener Modell. Wien 1984,

S. 185–190

Stadtbauamt der Stadt Wien (Hg.): „Ideenwettbewerb,

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In: Der Aufbau, Nr. 10, 1956, S. 427–432

Stadtbauamt der Stadt Wien (Hg.): „Leistungen

und Aufgaben unserer Stadt. Sanierung Erdberg“.

In: Der Aufbau, Nr. 5, 1957, S. 199–204

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am Beispiel Ottakring 1974–1978. Wien 1978

Tronto, Joan C.: „Caring Architecture“. In: Fitz,

Angelika / Krasny, Elke (Hg.): Critical Care.

Architecture and Urbanism for a Brocken Planet.

Wien / Cambridge (Massachusetts) / London 2019,

S. 26–41

Voitl, Helmut / Guggenberger, Elisabeth / Pirker,

Peter: Planquadrat. Ruhe, Grün und

Sicherheit – Wohnen in der Stadt. Wien 1977



086

Abb. 56


Orte der Sanften

Stadterneuerung in Wien

087


088 ORTE DER SANFTEN STADTERNEUERUNG IN WIEN

ÜBERSICHTSKARTE

A PILOTGEBIET WICHTELGASSE

B BLOCKSANIERUNG

ODEONGASSE

C REVITALISIERUNG KAUERHOF

D LEBENDIGE LERCHENFELDER

STRASSE

E GEMEINSCHAFTSGARTEN

WOLFGANGGASSE

F LEBEN AM SCHLINGERMARKT

A

D

C

E


089

F

B


090 ORTE DER SANFTEN STADTERNEUERUNG IN WIEN

Orte der Sanften Stadterneuerung und ihre

visualisierten Haus- und Grätzelbiografien

Katharina Kirsch-Soriano da Silva,

Bernadette Krejs und Judith M. Lehner

Ein Blick auf konkrete Beispiele zeigt Stadträume und

Orte, an denen Sanfte Stadterneuerung wirksam wurde. Dabei

werden Transformationen dieser Räume im Laufe der

Zeit sichtbar, können Veränderungsprozesse nachgezeichnet

werden. Das folgende Kapitel zeigt ausgewählte Orte, denen

sich die Sanfte Stadterneuerung im Laufe ihrer Entwicklung

gewidmet hat. Haus- und Grätzel biografien, die in einer weiter

unten beschriebenen Lehrveranstaltung entwickelt wurden,

zeichnen die Geschichten dieser Orte nach, verdeutlichen die

Bandbreite des Handlungsrepertoires und illustrieren gleichzeitig

eine Typologie von räumlichen Interventionsebenen.

Dabei bedarf es eines visuellen Mediums wie jenem der

Zeitleiste, um die komplexen Transformationen der Räume

und Prozesse der Sanften Stadterneuerung mit historischen

Ereignissen und spezifischen Akteurskonstellationen in verschiedenen

räumlichen Typologien verstehen zu lernen. Ausgewählte

Erzählungen von Zeitzeug:innen ergänzen im Sinne

der Oral History das Verständnis der Zeitgeschichte und der

Entwicklungen einzelner Orte und Typologien.

EINE TYPOLOGIE RÄUMLICHER INTERVENTIONS-

EBENEN DER SANFTEN STADTERNEUERUNG

Quartier – Die räumliche Ebene des Quartiers bezeichnet

einen Stadtteil oder ein Viertel. Sie verweist auf nachbarschaftliche

Beziehungen, Alltagswege und Nahversorgungseinrichtungen

in einem lokalen Umfeld. Sie bietet Potenzial

für eine spezifische stadträumliche Identität und Formen der

Identifikation und Zugehörigkeit. Das Pilotgebiet für Stadterneuerung,

das von der Stadt Wien rund um die Wichtelgasse

in Ottakring 1974 definiert wurde, nahm bewusst die Quartiersebene

mit einer überschaubaren Bewohner:innenzahl

in den Blick, um quartiersbezogene Konzepte für die Stadterneuerung

zu entwickeln und eine Partizipation möglichst

vieler Menschen in diesem Gebiet zu ermöglichen.

Block – Die Blockrandbebauung ist ein charakteristisches

Element der gründerzeitlichen Stadt. Ein Häuserblock

umfasst dabei in der Regel mehrere Gebäude und Liegenschaften.

Besondere Potenziale bieten die im Blockinneren

befindlichen Hofflächen für liegenschaftsübergreifende Konzepte.

Im Rahmen von Blocksanierungen wurde ab 1989 die

räumliche Ebene des Blocks verstärkt in den Blick genommen,

um städtebauliche Strukturverbesserungen zu erreichen.

Die Blocksanierung Odeongasse in der Leopoldstadt

beleuchtet, dass die langwierige Umsetzung viel Koordination

und Aushandlung zwischen verschiedenen Akteur:innen erfordert.

Wohnhaus – Die Ebene des Wohnhauses und der einzelnen

Wohnungen stand insbesondere in den ersten Jahren

der Sanften Stadterneuerung stark im Fokus. Dabei ging es

darum, die Ausstattung von Gebäuden und Wohneinheiten

auf zeitgemäße Wohnanforderungen anzuheben – mit Lifteinbau,

Barrierefreiheit oder Beseitigung des Substandards.

Das Beispiel der Revitalisierung des Kauerhofs zeigt in diesem

Kontext, wie ein Mietwohnhaus in privaten Händen über viele

Jahre zum Spekulationsobjekt wurde und es später dennoch

gelang, eine leistbare und bedarfsorientierte Sanierung unter

Einbeziehung der Bewohner:innen durchzuführen.

Straße – Traditionell waren es innerstädtische Einkaufsstraßen,

in denen sich in den Erdgeschosslokalen vielfältige

Geschäfte ansiedelten und der Nahversorgung für die Wohnbevölkerung

dienten. Mit dem Strukturwandel von Handel

und Gewerbe, der Etablierung von Einkaufszentren und Onlineshopping

stehen Einkaufsstraßen vor neuen Herausforderungen.

Das Beispiel der Lebendigen Lerchenfelder Straße,

welche die Bezirke Neubau und Josefstadt miteinander

verbindet, zeigt Handlungsstrategien zu deren Belebung und

nachhaltigen Nutzung. Die Erdgeschosszone, als durchlässige

Zone, die den Straßenraum erweitert, steht dabei ebenso

im Fokus wie die Attraktivierung des öffentlichen Straßenraums.

Freiraum – Bereits in den ersten Stadterneuerungsgebieten

stand nicht nur die Sanierung von Gebäuden im Vordergrund,

sondern auch die Schaffung von Grün- und Freiräumen.

Dabei galt es – insbesondere im dicht verbauten Stadtgebiet –,

kreativ zu sein: von der Nutzung von Baulücken über die Zusammenlegung

von Hofflächen bis zur Begrünung von Fassaden

und Dächern und der Schaffung von Mikrofreiräumen.

Das Freiraumprojekt Wolfganggasse in Meidling beleuchtet,

wie sogar eine Straße zum gemeinsamen Freiraum und einem

der ersten Gemeinschaftsgärten Wiens werden konnte.

Markt – Auch Märkte wurden – ähnlich wie Einkaufsstraßen

– etwa ab den 2000er Jahren zu Schwerpunkten

der Stadterneuerungstätigkeit. Der Markt fungiert als Ort des

Handels, des Austausches und der Begegnung in der Stadt,

in vielen Fällen auch als Ort des Temporären und des Ephemeren.

So werden an Straßenzügen oder Plätzen zu bestimmten

Wochentagen und Zeiten Markstände aufgebaut und abgebaut.

An anderen Standorten sind sie befestigte und fixe

Kioske oder Markthallen. Das Projekt Leben am Schlingermarkt,

das die Entwicklung des Floridsdorfer Markts begleitet,

zeigt verschiedene Interventionsstrategien unter dem Dach

eines gemeinsamen Leitbilds für den Markt auf.

HAUS- UND GRÄTZELBIOGRAFIEN RECHERCHIEREN

Wie lassen sich Entwicklungen der gebauten Umwelt im

Zusammenhang mit dem Entstehen eines Stadterneuerungsprogramms

durch eine Vielzahl von Akteur:innen greifbar und

verstehbar machen? Diese Frage stellten sich die Autor:innen

dieses Textes mit Studierenden der Architektur und Raumplanung

der Technischen Universität Wien im Sommersemester

2023. Während Partizipationsprozesse oftmals in

Berichten und Zeitungsartikeln beschrieben werden, ist das

Nachzeichnen räumlicher Konfigurationen und ihrer Veränderungen

eine Herausforderung. Wir wollten dennoch entlang

der oben genannten Typologien der Sanften Stadterneuerung

die Schnittstellen von Gebäuden, öffentlichen Räumen und


091

Quartieren in diesem Transformationsprozess sowie die sozialen

Aspekte wie Partizipation zusammenschauend analysieren.

Dem Anspruch der Sanften Stadterneuerung folgend,

die baulichen, aber auch die architektonisch weniger sichtbaren

sanften Interventionen der Prozessgestaltung zu berücksichtigen,

recherchierten die Studierenden und Lehrenden

sowohl mit visuellen als auch narrativen Methoden. Während

die Hausbiografien die Veränderungsprozesse von historischen

Wohnhäusern sichtbar machen sollten, zeichneten

Grätzel- oder Quartiersbiografien die Entwicklung von Stadtteilen,

Wohnumfeld und öffentlichen Räumen nach. Die Recherche

in Archiven mit Materialien zur Sanften Stadterneuerung,

Ortsbegehungen und Interviews zur Erforschung von

Räumen und deren Geschichten führten schließlich zu einem

umfangreichen Datenmaterial, welches durch das Medium

der Zeitleiste zusammengefügt wurde. Die in diesem Kapitel

präsentierten und ausgewählten Orte mit ihren verschiedenen

Schwerpunkten in der Entwicklung der Sanften Stadterneuerung

und Gebietsbetreuung basieren auf den Studienarbeiten

dieses gemeinsamen Lehrforschungsprojektes.

DRAWING TIMELINES – LERNPROZESSE

NACHZEICHNEN

Durch das Medium der Timeline – Zeitleiste – werden

unterschiedliche Orte der Sanften Stadterneuerung untersucht

und beforscht. Die Biografien von Quartieren, Gebäuden

und Protagonist:innen werden visuell erfasst und durch

die chronologische Sortierung entlang des Zeitstrahls werden

ausgewählte Narrative der Wiener Stadtgeschichte zugänglich.

Das Zeichnen als visuelles Erfassen und die damit

verbundene Auswahl von Orten, Ereignissen und Stimmen

werden zur Untersuchungsmethode und zeichnen bestimmte

Geschichten der Sanften Stadterneuerung auf. So werden

vergessene und nicht sichtbare Erzählungen und Zusammenhänge

freigelegt und zugänglich gemacht. In unterschiedlichen

visuellen Techniken (Skizzen, Illustrationen, Plandarstellungen)

werden die gesammelten Daten zu vielschichtigen,

multiperspektivischen Erzählungen. Das Bild, die Zeichnung

oder die Timeline machen Wissen sichtbar und stellen es

somit zur Diskussion und (Neu-)Verhandlung.

Bilder sind Medien, durch die wir in Beziehungen miteinander

und zu unserer Umwelt treten können. Wir interagieren

mit ihnen und sie produzieren dabei Bedeutung. Visuelle

Darstellungen generieren somit ein gesellschaftliches Gedächtnis,

sie sind Teil einer kollektiven Wissenspraxis und formen

einen Gesellschaftskörper mit. Sie repräsentieren nicht

nur unsere Wirklichkeit, sondern sie konstruieren sie auch

mit. Das Zeigen und Darstellen der Geschichte der Sanften

Stadterneuerung in Wien in den hier versammelten Timelines

ist daher mehr als ein bloßes Abbilden vergangener und

bestehender Ereignisse. Vielmehr werden Beziehungen und

Verbindungen sichtbar, die auch für die zukünftige Stadtentwicklung

relevant sind.

Nishat Awan beschreibt in „Mapping Otherwise: Imagining

other possibilities and other futures“ (2017: 35), welche

Möglichkeiten durch das Zeichnen (von Timelines) generiert

werden können. Das in ihnen abgebildete Wissen ist partiell

und situiert (vgl. Krejs 2024: 30), immer unvollständig und

kunstvoll ergänzt und zeigt eine Auswahl an bestimmten

Erzählungen und Bedeutungen. Das Medium Bild ist nicht

neutral, es steht in Zusammenhang mit gesellschaftlichen

Gebrauchsformen, technologischen Erfindungen und politisch-ökonomischem

Begehren (vgl. ebd.). Doch die Auswahl

und Anordnung eines kuratierten Wissens über Orte der

Sanften Stadterneuerung ist eine Chance, Räume, Quartiere

und Städte in Zukunft in diesem Sinne weiterzudenken.

Die hier versammelten Timelines zeigen einen sorgsamen

gemeinsamen Umgang mit unserer Umwelt in unterschiedlichsten

Maßstäben auf, es sind Zeichnungen, die die

Geschichte und die Gegenwart erkennen, um die Zukunft

weiterdenken zu können. Die Zeichnungen legen Zusammenhänge

frei und eröffnen neue Sichtweisen auf das, was

kommen kann oder, wie Nishat Awan (2017: 39) schreibt:

„They are ways of exploring different possibilities or futures

by giving voice to other narratives and uses of space“ – denn

Bilder repräsentieren nicht nur unsere Welt, sie konstruieren

sie auch mit.

Literatur:

Awan, Nishat: „Mapping Otherwise: Imagining

other possibilities and other futures“. In: Schalk,

Meike / Kristiansson, Thérèse / Mazé, Ramia (Hg.):

Feminist Futures of Spatial Practice: Materialisms,

Activisms, Dialogues, Pedagogies,

Projections. Baunach 2017, S. 33–41

Haraway, Donna: „Situated Knowledges: The

Science Question in Feminism and the Privilege

of Partial Perspective“. In: Feminist Studies,

Bd. 14, Nr. 3, S. 575–599

Krejs, Bernadette: Instagram Wohnen – Architektur

als Bild und die Suche nach gegenhegemonialen

Wohnbildwelten. Bielefeld 2024



TYPOLOGIE QUARTIER

093


094 ORTE DER SANFTEN STADTERNEUERUNG IN WIEN TYPOLOGIE QUARTIER

Ein gründerzeitliches Viertel wird zum

Experimentierfeld für neue Handlungsansätze

A PILOTGEBIET WICHTELGASSE

1160 WIEN

zu einem stärker partizipativen Instrument umfunktioniert:

Gespräche vor Ort in Form einer Interviewserie mit Bewohner:innen.

EIN PILOTGEBIET FÜR STADTERNEUERUNG

Das Stadterneuerungsgesetz von 1974 war der Ausgangspunkt

dafür, ein konkretes Pilotgebiet für Stadterneuerung

in Wien zu definieren. Dieses wurde zum Experimentierfeld

für neue Handlungsansätze, zum „Modellversuch der

konkreten Implementation von Stadterneuerung als neue Materie

politischer Praxis in einem institutionell nicht geregelten

Zwischenraum“ (Svoboda / Knoth / Weber 1985: 152). Von der

Stadt Wien wurde dabei ein von gründerzeitlicher Bausubstanz

geprägtes Gebiet rund um die Wichtelgasse im Bezirk

Ottakring ausgewählt, das ungefähr 2000 Bewohner:innen

umfasste. Dies erschien aus soziologischer Sicht als eine

sinnvolle Größe, um die lokale Nachbarschaft zu involvieren

und gebietsbezogene Konzepte zu entwickeln. Auf Antrag der

Bezirksvertretung und Beschluss des Gemeinderates hin begannen

vorbereitende Untersuchungen im Sinne des Stadterneuerungsgesetzes.

Bemerkenswert war, dass es zunächst

Mitarbeiter:innen des Magistrats waren, die sich vor Ort begaben.

Auch drei Architekturteams wurden für die Entwicklung

konkreter planerischer Entwürfe hinzugezogen. Im Sinne

eines Pilotgebiets wollten die beteiligten Akteur:innen der

Stadt Wien methodische und inhaltliche Herangehensweisen

entwickeln sowie Erfahrungen sammeln, um diese dann auf

andere Gebiete in der Stadt mit ähnlichen Problemlagen zu

übertragen.

VON DER ANALYSE GEBIETSBEZOGENER DATEN

ZUR PARTIZIPATIVEN ERHEBUNG

In einem ersten Schritt führte das Team des Magistrats

strukturelle Analysen des Gebiets durch. Dabei wurden unter

anderem Wohnungsgrößen, Wohnungsausstattungen und

der Substandard betrachtet. Als Quelle dienten Daten aus

der Häuser- und Wohnungszählung sowie der Volkszählung.

Ergänzt wurden diese durch Informationen der Baupolizei in

Hinblick auf festgestellte Baugebrechen sowie durch Besichtigungen.

Der nächste Schritt war es, die Erkenntnisse aus

der Gebietsanalyse – in Kooperation mit dem Bezirk – vor

Ort auszustellen und zu diskutieren. Nach der Präsentation

entstand die Idee, einen noch größeren Teil der Bevölkerung

einzubeziehen, um deren Perspektiven und Bedarfslagen in

Erfahrung zu bringen. Horst Berger, der das Pilotgebiet von

Magistratsseite begleitete, formulierte diesen Gedanken folgendermaßen:

„Wir müssen im Sinne der Partizipation mit

der Bevölkerung reden.“ (Interview H. Berger). Dies war eine

neue Herangehensweise, die bislang etablierte Verfahren der

Stadt infrage stellte und neu interpretierte. Die gemäß dem

Stadterneuerungsgesetz vorgesehene Einsichtnahme in die

Untersuchungsergebnisse wurde im Pilotgebiet in Ottakring

MIT EINEM BUS VOR ORT IM GESPRÄCH

MIT BEWOHNER:INNEN

Die Präsenz im Gebiet erfolgte mit einem Informationsbus.

Die per Post angeschriebenen Haushalte im Umfeld

wurden zu persönlichen Gesprächen eingeladen. Für viele

gab es dennoch zunächst eine gewisse Hemmschwelle,

den Bus aufzusuchen und das Gesprächsangebot zu nutzen.

So ging das Bearbeitungsteam auch dazu über, sich auf die

Straße zu stellen und mit den vorbeigehenden Menschen

zu sprechen. Diese Phase der Information und Partizipation

erstreckte sich über acht Wochen und ermöglichte es, insgesamt

rund 220 Gespräche zu führen und zu protokollieren

– so wurden rund 10 Prozent der Wohnbevölkerung und

mehr als 20 Prozent der Haushalte im Gebiet erreicht. Die

Dokumentation der Gespräche erfolgte durch Protokolle, die

während des Gesprächs mittels Schreibmaschine verfasst

und im Anschluss von den Interviewenden und Interviewten

unterzeichnet wurden. Die auf diese Weise formulierten

Wünsche und Vorstellungen flossen in die Entwicklung von

Maßnahmen im Gebiet ein. Eine wesentliche Folge der Gespräche

war, „dass weniger technokratisch gedacht wurde“

(ebd.) und Maßnahmen differenzierter konzipiert wurden.

Die Gespräche zeigten beispielsweise, dass nicht für alle der

Substandard in den Wohnungen das größte Problem darstellte.

So schilderte eine Bewohnerin in der Lambertgasse,

die auf den Rollstuhl angewiesen war, dass sie nur einmal

in der Woche mit Unterstützung ihres Neffen die Wohnung

verlassen könne. Die Errichtung eines Lifts in ihrem Haus

war für ihre Lebensqualität und sozialen Beziehungen in der

Nachbarschaft von größerer Bedeutung als der Einbau einer

Toilette in ihrer Wohnung. Auf Basis der identifizierten Bedarfslagen

wurde in der Folge begonnen, an Verbesserungsmaßnahmen

von Wohnungen und Häusern zu

arbeiten.

DIE ERSTE WOHNSTRASSE ENTSTEHT,

DER ERSTE BAUM IM STRASSEN-

RAUM WIRD GEPFLANZT

Die Arbeit vor Ort machte zudem

ersichtlich, dass Verbesserungen

in Wohnung und Wohnhaus für

viele Bewohner:innen wesentlich

waren, jedoch auch Maßnahmen

im Wohnumfeld gewünscht wurden.

Dies führte zu Umgestaltungen

im öffentlichen Raum, die als

erste sichtbare Sofortmaßnahmen Bezug

zu den Bevölkerungswünschen herstellten

und in kürzester Zeit umgesetzt werden

konnten: die Reparatur eines Kanaldeckels


095

in der Wattgasse oder das Pflanzen eines Baums in der

Friedrich-Kaiser-Gasse im Rahmen einer Pressekonferenz,

„wo sogar der Bürgermeister gekommen ist. […] Sensationell.

Eine Platane!“ (ebd.). Inspiriert von internationalen Beispielen

aus Holland und der Schweiz, wurde die Wichtelgasse selbst

zur ersten Wohnstraße Österreichs. Die Idee war, durch eine

Verkehrsberuhigung und Geschwindigkeitsbeschränkung auf

Straßenzügen in Wohngebieten auch Räume zum Verweilen

und Spielen zu eröffnen. Die Straßenverkehrsordnung sah

damals allerdings Wohnstraßen oder Spielstraßen noch nicht

vor. So wurde in der Wichtelgasse „mit Hilfe von Juristen ein

Wald an Schildern aufgestellt, der die Nutzung definiert, die

dort möglich sein soll: mit Autos langsam fahren, reduzierte

Parkmöglichkeiten, Kinder spielen auf der Straße“ (ebd.).

EIN HÄUSERBLOCK ÖFFNET SICH ALS PARK FÜR

DIE NACHBARSCHAFT

Im dicht verbauten gründerzeitlichen Stadtgebiet gab es

zudem nur wenige Grün- und Erholungsflächen. So war es

eine weitere Strategie, für die Öffentlichkeit zugängliche Parks

zu schaffen. Um rasch auch für die Bewohner:innen Aktivitäten

und Ergebnisse im Gebiet sichtbar zu machen, realisierte

die Stadt zunächst einen kleinen Park in der Lambertgasse,

indem eine brachliegende Baulücke zu einer nutzbaren

Grünfläche umfunktioniert wurde. Ein größeres Parkprojekt

stellte der sogenannte Wichtelpark dar. Ausgangspunkt war

eine weitere Baulücke in der Wichtelgasse,

die für eine Wiederbebauung

zu klein erschien und Einblicke

in das Innere

des Gebäudeblocks bot. So entstand die Überlegung, diese

Flächen als Park für die Nachbarschaft zu öffnen und die

Baulücke als Eingang in diesen Park zu gestalten. In Zusammenarbeit

mit der Liegenschaftsverwaltung der Stadt

Wien wurden weitere Grundstücke erworben und der öffentliche

Park wurde in der Mitte des Baublocks umgesetzt. Die

ursprüngliche Idee, direkte Zugänge von diversen umliegenden

Straßenzügen zum Park zu schaffen, scheiterte allerdings

am Widerstand von Liegenschaftseigentümer:innen,

öffentliche Durchgänge durch ihre Wohnhäuser zu ermöglichen.

Damit wurde bereits zu Beginn auch das potenzielle

Konfliktfeld zwischen den verschiedenen Eigentümer:innen

und Bewohner:innen der umliegenden Wohnhäuser und den

vielfältigen Nutzungen und Nutzer:innen der öffentlichen

Freifläche sichtbar. Um insbesondere die jungen Nutzer:innen

aktiv zu involvieren, bemalte ein Künstler gemeinsam mit

interessierten Jugendlichen die Feuermauer im Eingangsbereich

des Parks. Die Bemalung zeigte Porträts der Jugendlichen

und förderte so deren Identifikation mit der öffentlichen

Parkanlage.

ERRICHTUNG EINES GEMEINDEBAUS UND

NUTZUNG VON ABWÄRME DER OTTAKRINGER

BRAUEREI

Die wohnungspolitische Ausrichtung der Stadt, zusätzlichen

Wohnraum – insbesondere in Form

von kommunalem Wohnbau – zu schaffen,

zeigte sich nicht nur durch

größere Wohnanlagen

im Rahmen

Abb. 57 Bildcollage Innenhöfe

der Wichtelgasse


096 ORTE DER SANFTEN STADTERNEUERUNG IN WIEN

TYPOLOGIE QUARTIER

der Stadterweiterung, sondern auch in Baulücken im Rahmen

der Stadterneuerung. So entstand in der Eisnergasse auf

einem Teil der ursprünglich für den Park angekauften Grundstücke

auch ein Gemeindebau. Dieser markierte die Rückkehr

des Gemeindebaus in die gründerzeitlichen Gebiete und war

das damals größte Wohnbauareal in der Bestandsstadt. Der

Verein Grüne Insel setzte sich zunächst gegen die Bebauung

ein – schlussendlich wurde der Wohnbau jedoch in die Planung

integriert und der Bebauungsplan mit Parkfläche und

Wohnbebauung am Blockrand beschlossen. In ökologischer

und technischer Hinsicht konnte beim Gemeindebau zudem

ein besonders innovatives Element integriert werden: In Zusammenarbeit

mit der Ottakringer Brauerei wurde die „erste

Kraftwärmekopplung Österreichs“ (ebd.) umgesetzt, um mit

Abwärme aus der Brauerei die Wohnanlage in der Eisnergasse

zu heizen.

VOM INFORMATIONSLOKAL IM HINTERZIMMER ZUR

GEBIETSBETREUUNG STADTERNEUERUNG

Das gesamte Gebiet wurde 1978 auf Basis der Voruntersuchungen

nach dem Stadterneuerungsgesetz als Assanierungsgebiet

ausgewiesen. In der Praxis waren es aber vor

allem Überarbeitungen von Flächenwidmungs- und Bebauungsplänen,

in die planerische Konzepte der Stadterneuerung

Eingang fanden. Wesentliche Charakteristiken der Herangehensweise

im Pilotgebiet in Ottakring war zudem die

persönliche Präsenz und die intensive Kommunikation mit

Bewohner:innen, Eigentümer:innen, Betriebsinhaber:innen

und weiteren lokalen Akteur:innen. Aufbauend auf den Erfahrungen

aus den Gesprächen mit dem Informationsbus

richtete die Stadtverwaltung in der Folge ein Informationslokal

für Stadterneuerung ein – im Hinterzimmer eines lokalen

Gasthauses. Dieses fungierte als Raum für Besprechungen,

Ausstellungen und Veranstaltungen. Es war Grundlage

für die Idee einer im Stadtteil verankerten Gebietsbetreuung.

Ab 1977 definierte Wien fünf weitere Stadtviertel für die Gebietserneuerung

– Gumpendorf, Ulrichsberg, Himmelpfortgrund,

Wilhelmsdorf und Storchengrund – und beauftragte

vorwiegend magistratsexterne Teams mit einer Gebietsbetreuungstätigkeit

vor Ort. Für eine weitere Gebietsbetreuung

im Karmeliterviertel war ein Team der Stadt Wien selbst

verantwortlich. Gerade in Hinblick auf die Involvierung der

lokalen Bevölkerung konnten aus dem Pilotgebiet Wichtelgasse

wertvolle Lernerfahrungen mitgenommen werden:

„Die bisher gemachten Erfahrungen zeigen, dass Vertrauen,

Wissensstand, Planungsverständnis und die Mitwirkungsbereitschaft

der Bevölkerung behutsam aufgebaut werden

müssen. […] Interessenskonflikte müssen in Ruhe ausgetragen

und Festlegungen bei der Planung erst dann getroffen

werden, wenn die in Gang befindliche Entwicklung ausgereift

ist. Diese behutsame, zeitaufwendige Vorgangsweise ist Voraussetzung

für eine von der ansässigen Bevölkerung mitgetragene

Erneuerung.“ (Berger 1984: 7) Ein gebietsbezogener

Handlungsansatz, eine Sensibilität für verschiedene lokale

Bedarfslagen sowie eine entsprechende Prozessgestaltung

wurden damit in den Fokus einer Sanften Stadterneuerung

gerückt.

Abb. 59 Park Wichtelgasse

Abb. 58 Erste Wohnstraße in der Wichtelgasse

mit neuem Verkehrsschild

Abb. 60 Informationsbus im Pilotgebiet Wichtelgasse


097

Wir leben in einer Großstadt,

wir müssen das Miteinander pflegen!

Zeitzeuginnenbericht von

Ernestine Graßberger

Langjährig im Bezirk Ottakring politisch aktiv,

seit 1976 Bezirksrätin, 1980–1994 Bezirksvorsteher-Stellvertreterin

und 1996–2004

Bezirksvorsteherin

DIE KLEINTEILIGE ARBEIT DER GEBIETSBETREUUNG –

DAS MITEINANDER STÄRKEN UND DIE MENSCHEN FRAGEN

Ich finde, das war ein großer Schritt, dass man damals begonnen hat, das

Miteinander zu stärken und auch die Menschen zu fragen, wie sie sich das vorstellen.

Das war kein leichter Weg. Die Wichtelgasse zum Beispiel, der Park und

die Menschen, die dort wohnten und einzogen – da gab es viel Egoismus: „Das

gehört mir, das bin ich, und so bleibt es, da will ich keine anderen dabeihaben.“

Die Gebietsbetreuung organisierte viele Ausstellungen, Besprechungen und Veranstaltungen

– aber es war ein sehr, sehr mühsamer Weg. Ich erinnere mich

noch an den Bus in Ottakring. Die Menschen standen neugierig davor – „Was ist

das?“ – und nahmen das persönliche Gespräch auf. Es wurde auf alle Rücksicht

genommen und möglichst verständnisvoll kommuniziert: „Sie haben auch recht,

aber Sie müssen bedenken, wir leben in einer Großstadt. Wir leben nicht auf einer

Insel und man muss das Miteinander pflegen.“ Ich habe verstanden, dass die neu eingezogenen Bewohner

des Gemeindebaus in der Eisnergasse sich dachten: „Da kommen die Kinder und machen Lärm.“ –

„Ja, Kinder machen Lärm, Ihre Kinder haben auch Lärm gemacht oder, wenn sie noch Kinder kriegen,

werden die Lärm machen.“ Es waren diese kleinteiligen Prozesse, welche die Gebietsbetreuung damals

ausmachten. Später hatte ich dann das Gefühl, das Quartiersmanagement ist zu großflächig geworden.

Das weiterhin kleinteilige Arbeiten wäre für die Kontakte mit den Menschen in den Gebieten besser gewesen.

AUCH IN DER BEZIRKSPOLITIK EIN MITEINANDER

Wir hatten als Bezirksvertretung regelmäßig Besprechungen mit der Gebietsbetreuung, tauschten

uns über Themen und Projekte im öffentlichen Raum sowie zu bestimmten Wohnhäusern aus. Das haben

oft auch Bezirksräte gemacht. Zu meiner Zeit als Bezirksvorsteherin habe ich nicht alles persönlich

verfolgt – die Bezirksräte haben sich verschiedener besonderer Themen angenommen. Zum Beispiel

gab es, als wir damals die U-Bahn nach Ottakring bekamen, einen Bezirksrat, der das begleitet hat. Die

Menschen haben als Bezirksvorsteherin von mir nie „ich“ gehört, sondern immer „wir“. Unsere Partei

hat sich im Laufe der Zeit im Bezirk aber auch sehr verändert. Ich bin im Jahr 1980 Bezirksvorsteher-

Stellvertreterin geworden, die erste Frau, und das in Ottakring. Damals hatten wir in Ottakring noch

31 Sektionen, heute sind es, glaube ich, noch fünf. Ich habe früher alle Sektionen besucht. Wenn ich in

die Sektion gekommen bin, meistens um acht Uhr abends, früher ist sich das nie ausgegangen, wussten

die anwesenden Sektionsmitglieder häufig schon mehr als ich. Für die politischen Nachrichten war

damals das Fernsehen maßgeblich – ich hatte untertags meist keine Zeit, im Fernsehen die Nachrichten

zu sehen; die meisten aus der Sektion hatten schon ferngeschaut und die aktuellen Neuigkeiten gehört.

Gemeinsam haben wir dann diskutiert – in die Sektionen zu kommen, war für einen Politiker interessant.

WIRTSHÄUSER, GESCHÄFTE UND PENSIONISTENCLUBS ALS ORTE

DES ZUSAMMENKOMMENS

Ottakring hatte früher an jeder Ecke ein Wirtshaus. Das war nicht nur, weil die Leute ins Wirtshaus

essen gegangen sind, das war auch Kommunikation. Man ist am Nachhauseweg noch zu Fuß ins Gasthaus,

hat mit seinen Freunden zwei Achterl Wein getrunken und ist heim. Früher waren die Leute auch

beim Greissler einkaufen und haben mit den anderen geplaudert, die dort gestanden sind. Es war eine

schöne und lustige Zeit. Man ist gerne zusammengesessen, hat gerne geredet. Man hat auch anders mit

den Menschen gesprochen – das ist nicht von oben herab gekommen, das war so im Fluss.

Das Problem von teuren Strom- und Gaspreisen, das wir heute wieder haben, gab es auch nach

dem Krieg. Viele Frauen, die allein zuhause waren, weil ihre Männer vom Krieg noch nicht zurück waren,

sind am Nachmittag in die Pensionistenclubs gegangen, um Heizkosten zu sparen. Dort war geheizt

und die Frauen mussten somit ihre Wohnungen erst um vier oder fünf Uhr heizen. In den damals sogenannten

Wawaclubs haben sich die Frauen auch zusammengetan, haben miteinander diskutiert, gestrickt

oder sich gegenseitig um Rat gefragt. Ich kann es bei meiner Tochter jetzt wieder ein bisschen

sehen – die geben sich untereinander die Kleider und Sportsachen für die Kinder weiter. Das ist so im

Lauf unter Freunden. Da funktioniert das Miteinander im Kleinen schon wieder, beginnt wieder.


GEBIETSBETREUUNG

098 ORTE DER SANFTEN STADTERNEUERUNG IN WIEN TYPOLOGIE QUARTIER

A PILOTGEBIET WICHTELGASSE

1160 WIEN

GRAFIK: Nina Bernard,

Sebastian Plachetzky,

Allen Buess

mit Bernadette Krejs

öffentlicher

Raum

PLÄNE ZUR ERSTEN

WOHNSTRASSE

Die Pläne zur ersten

Wohnstraße in der

Wichtelgasse waren

inspiriert von Beispielen

aus den Niederlanden.

Informationsblatt zur

neuen Verkehrslösung,

Juli 1980

1970 1975 1980

partizipativer

Raum

STADTERNEUERUNGS-

GEBIETE

Mit der Festlegung von Untersuchungsgebieten

nach dem

Stadterneuerungsgesetz durch

die Stadt Wien begannen

die ersten Maßnahmen zur

Sanften Stadterneuerung. Das

Grätzel rund um die Wichtelgasse

war das Pilotgebiet der

Stadterneuerung in Wien.

NEUE PARKS ENTSTEHEN

In einer kleinen Baulücke entstand in der

Lambertgasse ein öffentlicher Park. Später wurde

durch den Ankauf verschiedener Liegenschaften

der größere Wichtelpark geschaffen. Direkte Zugänge

von verschiedenen Seiten in diesen Park

wurden allerdings von den meisten Eigentümer:innen

der umliegenden Häuser nicht ermöglicht.

ERSTE PARTIZIPTIONS ANSÄTZE

Um vor Ort Befragungen durchführen

zu können, wurde in einem mobilen

Bus ein „Büro“ eingerichtet. Dort, im

Informationsbus, konnten Bewohner:innen

ihre Probleme und Wünsche erstmals

direkt gegenüber Mitarbeiter:innen der

Stadt äußern.

ERSTE GEBIETS BETREUUNG

Aus einem Informationslokal

in einem Gasthaus entstand die

erste Gebietsbetreuung in Wien.

PARTIZIPATIONS PROJEKTE

Durch verschiedene partizipative

Projekte wie die Bemalung einer

Feuermauer oder ein gemeinsames

Eröffnungsfest wurden interessierte

Bewohner:innen eingebunden.

INFORMATIONSLOKAL


GEBIETSBETREUUNG

099

Aufnahme der Wohnstraße

Wichtelgasse, 1984

23 km

IMMER MEHR

WOHNSTRASSEN

Die Kilometeranzahl der

Wohnstraßen in Österreich

hat sich seit der Eröffnung

der Wichtelgasse

verzehnfacht.

BEGEGNUNGSZONEN

Begegnungszonen sollen

zusätzlich zu Wohnstraßen

und Fußgänger:innenzonen

den Menschen mehr Platz

auf den Straßen bieten.

44 km

400 m

1985

1990 1995 2000 2005 2010 2015

2020

GEMEINDEBAU MIT INNOVATIVER

ENERGIE VERSORGUNG

Im Zuge der Bautätigkeiten des Wichtelparks

wurde auch ein neuer Gemeindebau

an der Ostseite des Parks errichtet.

Dessen Beheizung erfolgt durch die

Abwärme der Ottakringer Brauerei.

Das Modell zum Pilotgebiet

Wichtelgasse wurde im Bezirk

ausgestellt und gemeinsam mit

Interessierten diskutiert.

KONFLIKTE

Einige Bewohner:innen und

Architekturstudierende

gründeten den Verein „Grüne

Insel“, der sich gegen den

Gemeindebau und für einen

großflächigen Park einsetzte.

Der Verein übernahm auch

die Verwaltung eines

Gartenhäuschens, welches

als Teffpunkt für Eltern diente.

GEBIETSBETREUUNGEN AN

WEITEREN STANDORTEN

Nach Fertigstellung des Wichtelparks

schloss die Gebietsbetreuung Ottakring

ihren Standort in der Friedrich-Kaiser-

Gasse und zog in ein neues Infor ma -

tions lokal nach Neulerchenfeld. Von

Ende der 1970er bis in die 1980er Jahre

wurden auch in anderen Bezirken

weitere Gebietsbetreuungen eröffnet.

ÖFFENTLICHE

NUTZUNG

Seit Jahren wird der

Wichtelpark durch die

Wiener Kinderfreunde

betreut und ist für die

Öffentlichkeit zugänglich.

STEP


160 IMPRESSUM

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Ein Verlag der Walter de Gruyter GmbH, Berlin / Boston

Das Copyright für die Texte liegt bei den Autor:innen.

Das Copyright für die Abbildungen liegt bei den

Fotograf:innen / Inhaber:innen der Bildrechte.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Planmappe Stadterneuerung

in Wien am Beispiel Ottakring

Lektorat und Korrektorat: Miriam Seifert-Waibel, Hamburg

Gestaltung und Satz: Maria Kanzler, Studio Sirene, Wien

Lithografie: Bild1Druck, Berlin

Gedruckt in der Europäischen Union

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de

abrufbar.

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