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DAS BEWEGTE KLASSENZIMMER
von Ramone Lahrzal
Das bewegte Klassenzimmer - ein kleiner Einblick in die Arbeit unserer ersten Klasse
Wer morgens vor Unterrichtsbeginn an der ersten Klasse vorbeikommt, der bleibt gerne noch
einen Moment stehen, um zu schauen und manchmal auch zu staunen, was sich darinnen abspielt.
Der Bewegungsparcours, der zum Balancieren, Rutschen, Hüpfen, Kriechen, auf dem Bauch
ziehen, rollen und vielem mehr einlädt, ist dabei gerade auch von den Schülerinnen und Schülern
der anderen Unterstufenklassen heiß begehrt. Sie stehen mit neugierigen Gesichtern an der Tür
und freuen sich, wenn sie eine Runde mitmachen dürfen. In den Tagen vor den Herbstferien wurde
unsere Autobahn jeden Tag wieder gerne von den Erstklässler*innen aufgebaut. Die Bänkchen
wurden kurzerhand als Straße gestellt, auf der sich die Kinder, auf dem Bauch vorwärtsziehend, an
Ampeln vorbei, über Berge, an Schranken und durch einen Kreisverkehr bewegten. Das Kind, das
die Ampel spielte, hatte dabei die Fäden in der Hand und musste bei manchem Stau die Ampelphasen
etwas länger schalten.
Kurz nach acht, wenn alle Erstklässler*innen im Klassenzimmer angekommen sind und auch die
letzten Ankömmlinge eine Runde auf der Autobahn unterwegs waren, rufe ich zum Aufräumen
und die Kinder wissen, dass die Bänkchen nun zu einem großen Kreis aufgestellt werden. In die
Mitte kommt ein kleines Tischchen mit einer Kerze. Dann folgt das alltägliche Morgenritual mit
Morgenspruch, verschiedenen Liedern, Sprüchen, Spielen und Reimen. Wir haben viel Platz zum
Bewegen, im Kreis, auf den Bänkchen und außerhalb des Kreises. Durch die Kreisform erleben
die Kinder die Gemeinschaft innerhalb der Klasse intensiv, jedes Kind kann alle Mitschüler*innen
und auch die Lehrerin und die Klassenhelferin gleich gut wahrnehmen. Ich selbst als Lehrerin bin
sitzend mit den Kindern auf Augenhöhe, wo ich doch bei frontal ausgerichteter Sitzordnung meist
im Stehen unterrichtete. Im Unterrichtsgespräch erzählen die Kinder nicht nur mir als Lehrerin
ihre Erlebnisse, sondern ihren Mitschüler*innen, wodurch
die zuhörenden Kinder aufmerksam der Erzählung folgen können.
Am Ende dieses ersten Teils dürfen die Schüler*innen, die zu
Hause fleißig waren, ihre Schätze zeigen, dabei im Kreis u
mhergehen und jeder hat die Möglichkeit die schönen
Zuhausearbeiten zu bestaunen.
Dann heißt es „die Schreibstube darf jetzt aufgebaut werden“ und die Kinder richten sich immer
zu zweit ihren Arbeitsplatz ein. Die bunten Sitzkissen kommen nun zum Einsatz und die Kindern
sitzen wie auf einem Sattel auf dem aufgestellten mit Korkgranulat gefüllten Kissen. Nun stehen
die Bänkchen frontal zur Tafel, wo ein neuer Lerninhalt eingeführt wird und dienen als Arbeitstisch.
Jetzt soll die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, was ich an der Tafel zeige. Durch den
direkten Bodenkontakt mit Knie, Schienbein und Fußrücken haben alle Kinder, auch die kleineren,
guten Halt, was das aufmerksame Arbeiten unterstützt. Eine feste Sitzordnung brauchte es bisher
noch nicht und die wechselnden Sitzpartner ermöglichen den Kindern viele verschiedene Kontakte
zu knüpfen. Nach unserer Hofpause stellen die Kinder dann die Bänkchen so auf, wie sie zum Vespern
sitzen möchten. Große Gruppentische entstehen, der große Teppich in der Mitte des Raumes
wird zum Picknicken benutzt und die Patinnen und Paten aus der 9. Klasse, die gerne ihre Pause
in der ersten Klasse verbringen, finden im fröhlichen Gewusel auch noch ihren Platz. Zur anschließenden
Erzählzeit dürfen sich die Kinder frei einen Platz suchen, auf dem sie zehn Minuten lang
verweilen können.
Nach dem Fachunterricht treffen sich die Kinder im Klassenzimmer dann zum Tagesabschluss,
wiederum im großen Kreis, denn nun wollen wir die guten Taten sammeln, die wir heute erlebt
haben oder auch selbst geschaffen haben. Nach diesem gemeinschaftlichen Abschluss werden die
Kinder in den Hort verabschiedet.
Mein Eindruck nach den ersten Wochen im bewegten Klassenzimmer ist durchweg positiv. Die
Flexibilität, die durch die handlichen Bänkchen entsteht, kombiniert mit dem vielen freien Platz in
unserem großzügigen Raum möchte ich nicht mehr missen. Das gemeinschaftliche Erleben durch
die häufige Kreisform hat dazu beigetragen, dass viele Kinder schon nach kürzester Zeit alle Namen
gelernt hatten. Die Bewegungsparcours halten viele Situationen bereit, in denen sich die Kinder
gegenseitig helfen und ein achtsamer Umgang unerlässlich ist. Die sozialen Fähigkeiten eines
jeden sind hier gefragt. Die Kinder beginnen ihren Schultag mit Bewegung, was das Lernen enorm
unterstützt. Der gemeinsame Tagesabschluss hat für mich eine große Kraft im gemeinschaftlichen
Zusammensein und ich als Lehrerin kann die Stimmung der Klasse und die sozialen Prozesse gut
erspüren und in meiner Rückschau als Vorbereitung für den nächsten Schultag einfließen lassen.
Für mich persönlich ist die Arbeit im bewegten Klassenzimmer täglich ein großes Geschenk und
ich kann mir das Unterrichten einer ersten Klasse gar nicht anders vorstellen. Bedanken möchte
ich mich beim Basarkreis, der meine Idee, das bewegte Klassenzimmer auch an unserer Schule
anzubieten, gleich positiv aufgenommen und der Finanzierung des Mobiliars (rund 9000 Euro aus
den Einnahmen des alljährlichen Adventbasars) zugestimmt hat. Die Schreinerei Benzing fertigte
uns dann die tollen Bänkchen aus heimischem Eschenholz an. Vielen Dank an Katharina Binkert
und ihren Mann für die schöne Holzarbeit. Herzlichen Dank auch an Selma Rose aus der 9. Klasse,
die mühevoll während der Sommerferien vierzig Kissen für uns genäht hat.
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