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Paul Pawlowitsch – eine Skizze - Rotes Antiquariat

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Seite 30 I Januar 2011<br />

ren“ Kräfte und wird als zu gemäßigt kritisiert. Spätestens seit Spätsommer 1904 wird<br />

immer wieder über sein Ausscheiden gemunkelt, doch trotz des periodischen Ärgers<br />

und schlechter Behandlung bleibt Weidner bis zur Mainummer 1906 im Amt. Unter<br />

s<strong>eine</strong>r Leitung des Blattes kommt es zwar zu einigen Beschlagnahmen, aber hauptsächlich<br />

wegen literarischer Stoffe (so z.B. ein Multatuli-Text in der Übersetzung<br />

Wilhelm Spohrs), nicht wegen explizit politischem Material. 1<br />

Der Nachfolger Weidners wird Sepp Oerter, der im Mai 1906 mit Familie nach Berlin<br />

zieht und die Redaktion des „Freien Arbeiters“ übernimmt. Ihm wird im Laufe der Zeit<br />

genau das Gegenteil vorgeworfen, nämlich <strong>eine</strong> zu scharfe Schreibweise, die die<br />

Zeitung durch die vielen Beschlagnahmen schädigt und viele Genossen ins Gefängnis<br />

bringt. Ab Sommer 1906 bis Jahresende erfolgen acht Beschlagnahmen, 1907 sind es<br />

sieben. Finanziell geht es aber immerhin so gut, dass ab 1.1.1907 das 4-seitige Blatt mit<br />

<strong>eine</strong>r ebenso großen 4-seitigen Beilage erscheint. 2 Besonders beliebt ist bei den<br />

Staatsorganen zu dieser Zeit die Beschlagnahme der „Antimilitarismus“-Beilage, die<br />

mindestens drei Mal erfolgt. Im Februar 1907 ergeht es der Antimilitarismus-Nummer<br />

(No. 8) des „Freien Arbeiters“ ebenso.<br />

Die verschärfte Verfolgung der antimilitaristischen Propaganda ist offensichtlich, und<br />

der „Freie Arbeiter“ bzw. die Redakteure bekommen teils erstaunliche Strafen zudiktiert.<br />

Bestes Beispiel ist Rudolf Oestreich, der von November 1904 bis September 1907<br />

<strong>–</strong> mit kl<strong>eine</strong>ren Unterbrechungen, in denen kürzere Strafen abgesessen werden <strong>–</strong> das<br />

Blatt verantwortlich zeichnet und auch als Verleger firmiert. Am 30. September 1907<br />

soll Oestreich s<strong>eine</strong> angesammelte Reststrafe von etwas über neun Monaten antreten.<br />

Am Morgen des Tages wird er wegen Hochverrats verhaftet. Der Vorwurf stützt sich<br />

vor allem auf den Artikel „Anarchismus und Antimilitarismus“ in No. 38, der die<br />

Antimilitarismus-Resolution des Amsterdamer Anarchistenkongresses abdruckt, gekürzt<br />

um die Stellen, aus denen <strong>eine</strong> Aufforderung zu Gewalttaten hätte gelesen werden<br />

können. Doch der Reichsanwalt beruft sich auf den ungekürzten Text, der im<br />

Schweizer „Réveil“ erschienen ist, und schließt auf Hochverrat.<br />

Eine Woche vor der Verhandlung vor dem Leipziger Reichsgericht wird Oestreich im<br />

Februar 1908 wegen der Broschüre „Krieg dem Kriege“ von Domela Nieuwenhuis aus<br />

dem Verlag des „Freien Arbeiters“ zu <strong>eine</strong>m Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt. 3<br />

Vom Reichsgericht wird Oestreich die Woche darauf zusätzlich wegen Hochverrats<br />

und Aufforderung zu strafbaren Handlungen zu drei Jahren Zuchthaus (der Reichsanwalt<br />

hatte nur zwei gefordert) und 5 Jahren Ehrverlust verurteilt. 4<br />

Die Politische Polizei versucht während dieser Phase der verstärkten antimilitaristischen<br />

Propaganda um Anfang 1907, auch Sepp Oerter mit dem „Freien Arbeiter“ in<br />

Verbindung zu bringen und ihm die Hauptredaktion nachzuweisen. Dazu soll die<br />

Staatsanwaltschaft nach Möglichkeit Drucker, Setzer usw. unabhängig voneinander<br />

und zeitgleich vernehmen. Verwertbare Erkenntnisse ergeben sich vorerst aber nicht.<br />

Oerters Schreibweise ist auch nur <strong>eine</strong>s der Probleme, die er dem „Freien Arbeiter“ bereitet.Er<br />

ist ein Lebemann,„ein besonderer Liebhaber alkoholischer Getränke und käuflicher<br />

Weiber“ (O-Ton Politische Polizei) und gönnt sich ein luxuriöses Leben. Dazu gibt<br />

1 1904 erfolgen drei Beschlagnahmen, die nicht alle zu Verurteilungen führen, 1905 bis Mai 1906 k<strong>eine</strong>.<br />

2 Von Oktober 1905 bis Ende 1906 erschienen 4-seitige Beilagen in kl<strong>eine</strong>rem Format, wöchentlich<br />

wechselnd:„Antimilitarismus",„Generalstreik",„Freie Literatur" und „Die Canaille", ein zeitweise von Erich<br />

Mühsam verantwortetes „Witzblatt"; ab 1909 erscheint die Beilage nur noch 2-seitig.<br />

3 Das Urteil wird in der Revision aufgehoben, dann aber in der erneuten Verhandlung bestätigt.<br />

4 Erst im Dezember 1911 verlässt Oestreich nach viereinhalb Jahren mit erschütterter Gesundheit die<br />

preußischen Strafanstalten.

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