Ausgabe 1/2008, 24. Jahrgang (pdf, 6.12 MB - Johannes Gutenberg ...
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Lauschangriff im Lager – neue Quellen zum Referenzrahmen<br />
des Krieges<br />
Von Sönke Neitzel<br />
Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu Wahrnehmungen<br />
und Deutungen von deutschen und<br />
italienischen Soldaten verspricht ganz neue, persönliche<br />
Einsichten in das menschenverachtende<br />
System der Nationalsozialisten.<br />
Kaum ein Feld der Zeitgeschichte ist so gut erforscht<br />
wie das „Dritte Reich“ und zugleich wird über kaum<br />
ein historisches Thema in der Wissenschaft wie in der<br />
Öffentlichkeit so sehr gestritten. Unterschiedliche<br />
Deutungen prallen immer dann besonders heftig aufeinander,<br />
wenn provokante Thesen zum Verhältnis<br />
„der“ Deutschen zum Nationalsozialismus aufgestellt<br />
werden. Kurz, wenn nicht Einzelne, sondern<br />
weite Teile der deutschen Gesellschaft auf ihre NS-<br />
Vergangenheit hin durchleuchtet werden. Die Debatten<br />
um die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“<br />
des Hamburger Instituts für Sozialforschung<br />
waren deswegen so kontrovers, weil praktisch jede<br />
deutsche Familie Angehörige in der Wehrmacht<br />
hatte. War also auch „Opa“ ein Verbrecher? Diese<br />
Frage mussten sich zahllose Kinder und Enkel der<br />
Zeitzeugengeneration stellen. Die Debatte um die<br />
Wehrmachtausstellung zeigt, wie wenig die bisherigen<br />
Forschungsergebnisse der Historiker bis dahin in<br />
das öffentliche Bewusstsein eingedrungen waren<br />
und wie viel weiße Flecken es noch gab. Und noch<br />
immer gibt es große Bereiche, über die nur wenig<br />
bekannt ist: Etwa, wie der Weg in den Krieg, dessen<br />
Verlauf und die Verbrechen von den Soldaten selbst<br />
wahrgenommen wurden. Dies mag überraschen. Gibt<br />
es denn nicht eine schier unüberschaubare Masse an<br />
Dokumenten, Briefen und Tagebüchern, die zu Genüge<br />
darüber Auskunft geben, wie die deutschen<br />
Soldaten – und damit ein Großteil der männlichen<br />
Bevölkerung – das „Dritte Reich“ und den Krieg rezipierten?<br />
Ist die Materialfülle auf den ersten Blick<br />
auch erdrückend, so wird auf den zweiten Blick deutlich,<br />
dass die Aussagekraft vieler Quellen begrenzt<br />
ist: Offizielle Dokumente sagen aufgrund ihres Entstehungscharakters<br />
meist wenig über die individuelle<br />
Perspektive aus. Private Tagebücher sind der Forschung<br />
nur in seltenen Fällen zugänglich und wurden<br />
meist nur von solchen Personen verfasst, die über einen<br />
höheren Bildungsgrad verfügten. Feldpostbriefe<br />
liegen zwar in sehr großer Zahl vor, sie eignen sich<br />
aber nur teilweise dazu, zeitgenössische Deutungen<br />
ihrer Autoren wiederzugeben. Die Forschung fand in<br />
den 1990er Jahren nämlich heraus, dass die meisten<br />
Soldaten,nicht zuletzt aus Rücksicht auf ihre Familien,<br />
in ihren Briefen eine Gegenwelt schufen, in der etwa<br />
der grausame Alltag des Krieges kaum vorkam.<br />
Die mentalitätshistorische Forschung hat somit<br />
das Problem, hinreichend dichtes Quellenmaterial<br />
über zeitgenössische Wahrnehmungen von Krieg und<br />
Politik zu erschließen. Sozialpsychologisch betrachtet<br />
sind aber gerade diese zeitgenössischen Wahrnehmungen<br />
von entscheidender Bedeutung dafür, welche<br />
Entscheidungen Handelnde vornehmen. Die Tatsache,<br />
dass Situationen und Gegebenheiten immer<br />
gedeutet werden und erst diese Deutungen die<br />
Grundlage für Schlussfolgerungen und Entscheidungen<br />
und damit auch für Handlungsergebnisse bilden<br />
hat etwa in der Holocaustforschung zu der lähmenden<br />
Konfrontation zwischen so genannten „Intentionalisten“<br />
und „Strukturalisten“ geführt – antagonistische<br />
wissenschaftliche Lager, die den Holocaust<br />
entweder auf Absichten oder auf strukturelle Entwicklungen<br />
zurückführen wollten. Handlungstheoretisch<br />
ist der Versuch, Handlungsergebnisse auf singuläre<br />
Ursachen zurückzuführen, genauso sinnlos<br />
wie die Absicht, Handlungsbereitschaften etwa von<br />
Holocausttätern auf Persönlichkeitsmerkmale zurückzuführen.<br />
Untersuchungen, die versuchen, die Ursachen<br />
für Entscheidungs- und Handlungsweisen<br />
eher in der Situation als in der Persönlichkeit zu lokalisieren<br />
(vgl. 1-5), sind einstweilen noch selten und<br />
nach wie vor mit dem bereits skizzierten Quellenproblem<br />
konfrontiert. Die bestehenden Forschungsdefizite<br />
treten umso deutlicher zutage, als einschlägige<br />
historische Untersuchungen etwa zur Mentalität<br />
von Tätergruppen kaum auf psychologische bzw.<br />
sozialpsychologische Ansätze zurückgreifen, und<br />
wenn sie das tun, meist psychoanalytische Theoreme<br />
heranziehen (6). Dies ist wenig zielführend, weil<br />
diese persönlichkeitstheoretisch und dispositionell<br />
orientiert sind und deshalb Konstitutions- und<br />
Veränderungslogiken von Gruppeneinstellungen und<br />
–mentalitäten nicht erfassen können.<br />
GESCHICHTE<br />
Gefangene deutsche Offiziere in<br />
der Idylle des Herrensitzes von<br />
Trent Park im November 1943.<br />
Sie ahnten nicht, dass der britische<br />
Geheimdienst ihre Gespräche<br />
belauschte.<br />
FORSCHUNGSMAGAZIN 1/<strong>2008</strong><br />
57<br />
Quelle: Privat