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Ein Sonntag in den Bergen Leseprobe

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Daniel de Roulet

Ein Sonntag in den Bergen

Ein Bericht

Aus dem Französischen

von Maria Hoffmann-Dartevelle

Limmat Verlag

Zürich



Im Gedenken an eine Jugendliebe (1948–2005)



01

An einem schönen Sonntag im Kalten Krieg habe ich oben

auf einem Schweizer Berg Axel Caesar Springers Chalet in

Brand gesteckt. Wie und warum, das will ich hier erzählen.

Zuvor aber möchte ich schildern, was mich dazu getrieben

hat, diese Tat zu gestehen. Auslöser war nur eine Bemerkung,

die mich im Innersten berührt hat:

Ich weiß nicht, ob es Ihnen so geht wie mir,

Tag für Tag bekämpfe ich das,

wofür ich mich als junger Mensch engagiert habe.

Der Mann, der diese Bemerkung macht, ist kein Geringerer

als der amtierende deutsche Bundeskanzler Gerhard

Schröder, jetzt, im August 2003, achtundzwanzig Jahre

nach meinem Anschlag. Wir sitzen unter einem großen,

weißen Zelt im Park eines Schweizer Hotels. Am Ende eines

glühendheißen Tages weht von den Bergen die Abendbrise

herab nach Lo carno und über den See. Rosenbeete von

erlesener Schönheit prangen inmitten leuchtend grüner

Rasenflächen. Hier werden Zierpalmen und Hecken mit

der Nagelschere gestutzt und jeder Parkbaum einzeln be -

gossen, damit sein Blattwerk die Gäste vor der sommerlichen

Hitze schützt.

Die Damen sind, wie auf der Einladungskarte erbeten,

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sommerlich elegant gekleidet. Die Herren dürfen ihre

Jacketts noch nicht ablegen. Unter der weißen Zeltplane

nähert sich das von einem großzügigen Zeitungsverleger

spendierte Bankett seinem Ende, gleich wird das Dessert

serviert. Zeit für eine kurze Rede. Der Mann, der das Wort

ergreift, ist genau so alt wie ich und sitzt mir gegenüber,

neben unserem Bundespräsidenten. Und er sagt den Satz,

der mich sofort aufhorchen lässt:

Ich weiß nicht, ob es Ihnen so geht wie mir,

Tag für Tag bekämpfe ich das,

wofür ich mich als junger Mensch engagiert habe.

Er blickt die Gäste an, schaut nach links, nach rechts, wägt

seine Worte ab. Was er sagt, klingt aufrichtig und ehrlich.

Ich mustere seine Leibwächter und seine Assistentin. Ob sie

es ge wohnt ist, ihren Chef frei sprechen zu hören? Kanzler

Schröder ist aufgestanden, hat seine Fingerspitzen auf den

Tisch gestützt und fühlt sich bei seiner Dankesrede sichtlich

wohl.

Nur die bessere Gesellschaft ist hier vertreten. Mein

rechter Nachbar hat sich mir als Vorstandsvorsitzender

eines großen Zürcher Finanzinstituts vorgestellt, zu meiner

Linken sitzt eine Berliner Psychiaterin. Ihrem verschwörerischen

Lächeln fühle ich mich näher. Vorhin haben wir

über ihre Praxis gesprochen, über die vielen Taschentücher,

die ihre Patientinnen und Patienten verbrauchen, um sich

während der Therapiestunden die Tränen zu trocknen. Da

spricht auch Kanzler Schröder von Tränen: «Ich weine oft

im Kino, besonders wenn der Film mich an eine Situation

erinnert, die ich selbst erlebt habe.» Und er er zählt von

einem Ereignis, das ihn, wie er sagt, besonders ge prägt hat.

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Es war der Sieg der bundesrepublikanischen Elf beim Endspiel

der Fußballweltmeisterschaft 1954 in unserer Hauptstadt

Bern. Zehn Jahre war er damals alt. Kürzlich, so berichtet

er noch, als das alte Berner Stadion abgerissen werden

sollte, habe die Schweizer Regierung ihm daraus eine fußballgroße

Grassode geschenkt. Die habe er in Berlin im Garten

des Kanzleramtes wieder einpflanzen lassen. «Manchmal

gieße ich dieses Stückchen Rasen», sagt er.

Es gibt also zwei Schröder. Der eine bekämpft heute das,

wofür er sich früher einmal engagiert hat, der andere

träumt beim Anblick eines Grasbüschels von der schönen,

verflogenen Jugend. Kein Wunder, dass er manchmal im

Kino weint, wenn diese beiden Schröder nicht mehr recht

zueinander finden.

Als er sich die Freiheit nimmt, sein Jackett abzulegen,

tun wir übrigen Männer es ihm nach. Ein willkommener

Windhauch entspannt die Atmosphäre. Ich frage mich, ob

dieser eine Satz «Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht

wie mir …» nicht der Geisteshaltung derer entspringt, die

sich an die schmale Gratwanderung zwischen Ironie und

Zynismus ge wöhnt haben. Sie vermeiden es, Fragen voll ins

Gesicht zu bekommen, indem sie einfach den Kopf einziehen.

Ich nehme Reden viel zu persönlich. Dabei müsste ich wissen,

wie man Worten ausweicht, selbst denen eines Schröder.

Aber genau diese Worte haben mich getroffen, weil ich sie

mir dummerweise zu Herzen genommen habe. Während

ich die zum Dessert gereichten tropischen Früchte genieße,

denke ich darüber nach, ob auch ich um ein besonders grünes

Gras büschel trauern würde, das ich in meiner eigenen

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Jugend betrachtet habe. Weinen die anderen Männer hier

auch im Kino, wie ich es tue? Hat besagter Satz auch sie

berührt? Bei mir löst er etwas Unerwartetes aus.

Plötzlich habe ich wieder den Anschlag vor Augen, das Chalet

oben auf dem verschneiten Berggipfel. Aber vor allem sie

sehe ich vor mir, meine damalige Freundin, die mir auf einmal

entsetzlich fehlt. Keine der Frauen in diesem Zelt hat

ihre grünen, von einer blonden Haarsträhne überschatteten

Augen. Und vor allem nicht ihre unbekümmerte Art,

laut aufzulachen. Sie hatte zarte Hände, die sich nie an

mich geklammert haben. Im Bett hielten ihre Arme mich

fest umschlungen und ließen mich nicht eher entkommen,

bis ich ihre vielen Fragen beantwortet hatte. Warum sind

die Flugpassagiere der ersten Klasse so ungehobelt? Warum

sind die Leute gerade dort so arm, wo die Strände so schön

sind? Wann wirst du über frischen Schnee laufen können,

ohne Spuren zu hinterlassen? Sie fand mich zu zögerlich,

warf mir vor, ich hielte Sonntagsreden und trüge nichts

dazu bei, unsere prachtvollen Berge von den Mistkerlen zu

säubern, die sich dort verkrochen. Ich wollte ihr beweisen,

dass sie sich irrte, wollte wenigstens dieses eine Mal zu meinen

Überzeugungen stehen. Sie würde schon erleben, wie

gut ich in verschneiten Berggegenden zurechtkam. Ich

würde ihr zeigen, dass ich zur Abwechslung auch mal ein

Held sein konnte. Ja, ich würde zur Tat schreiten.

Wenn sich ein sommerliches Essen in einem luftigen Zelt in

die Länge zieht, kann es zu allerlei persönlichen Gesprächen

kommen. Meinem rechten Nachbarn mache ich klar, dass

die Einkünfte aus meinen Romanen nicht an die Sitzungs-

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gelder seiner Verwaltungsräte herankommen. Mit der

Nachbarin zu meiner Linken, der Berliner Psychiaterin,

beginne ich eine ernste, fast zu ernste Unterhaltung. Ich

versichere ihr, hierzulande würde ein Politiker sich niemals

damit brüsten, dass er im Kino weint. Unsere Volkstribunen

seien starke Männer, zutiefst vom Konsens geprägte

Charaktere. Dann reden wir über die Beziehungen zwischen

Presse und Macht, und ich erzähle ihr von den Turbulenzen,

die der französische Journalismus derzeit durchlebt.

Aus unerfindlichen Gründen kommt sie auf eine der

großen Verlagsfiguren zu sprechen, auf Axel Springer, den

mittlerweile verstorbenen Chef des riesigen deutschen

Presseimperiums. Eine seiner Zeitungen, die Bild, erreicht

täglich eine Auflage von über vier Millionen, eine Zahl, die

nur noch von der japanischen Tagespresse übertroffen wird.

Weil sie eine Frau ist oder weil mir die Erinnerung an

Springer keine Ruhe lässt, gestehe ich ihr, dieser Typ sei für

mich das Symbol des Kalten Krieges schlechthin. Und wage

erstaunlicherweise hinzuzufügen: «Dieser Springer war

ein mieses Schwein.» Sie wundert sich nicht besonders über

die Vehemenz meiner Worte. Und wie so oft, wenn im Verlauf

eines Essens persönliche Nähe entsteht, erfahre ich auch

diesmal ein paar Dinge, von denen ich noch nichts wusste.

Axel Caesar Springer war fünfmal verheiratet. Seine

erste Ehe, aus der eine Tochter stammt, schloss er 1933 mit

einer Jüdin namens Meyer. 1938 ließ er sich scheiden, heiratete

ein Model und bekam einen Sohn. 1948 gelang es ihm,

den Engländern durch geschicktes Verhandeln die Erlaubnis

abzuringen, eine große Tageszeitung herauszugeben.

Auf die Frage, ob er Nazi gewesen sei, soll er geantwortet

haben: «Die Nazis hatten nicht genug Stil für mich.» Seine

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dritte Frau lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Schicksal

Israels. Aus seiner vierten Ehe stammt sein zweiter Sohn,

dessen junge Kinderfrau einige Jahre später seine fünfte

und letzte Ehefrau wurde. Der andere aber, sein älterer

Sohn, der unter dem Pseudonym Sven Simon als Fotograf

tätig war, hat sich das Leben genommen, ein Schicksalsschlag,

von dem sich der Vater nie erholt hat. Meine Tischnachbarin

beteuert nochmals:

– Auf jeden Fall war er kein Nazi.

– Und ich hatte geglaubt …

– Alles Mögliche, aber kein Nazi.

– Verdammt.

Beim Kaffee äußert Schröder vertraulich, seinen Italienurlaub

müsse er dieses Jahr schweren Herzens ausfallen lassen,

weil Berlusconi die Deutschen beleidigt habe. Außerdem

ist er der Meinung, der Irak dürfe nicht zu einem

zweiten Vietnam wer den.

Ich höre nur mit halbem Ohr zu; meine Gedanken kreisen

um das, was ich soeben erfahren habe. Nicht nur Schröders

Bemerkung hat mich getroffen, sondern auch die Er -

öffnung, dass Springer gar nicht der war, für den ich ihn

gehalten habe. Was, wenn er hier unter den Gästen wäre?

Würde ich mich bei ihm entschuldigen? Zum Beispiel mit

den Worten: «Ich habe Sie mal für ein mieses Schwein ge -

halten. Aber ein Nazi waren Sie anscheinend gar nicht. Und

Ihr Chalet oben auf dem Berg, hat es Ihnen nicht zu sehr

gefehlt?»

Als ich nachts in meinem Hotelbett liege und nicht schlafen

kann, schalte ich das Nachttischlämpchen wieder an und

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lese Schröders Bemerkung, die ich mir notiert habe. Ich

nehme mir vor, den Kanzler beim Frühstück darum zu bitten,

mir seine Gedanken näher zu erläutern: «Sie, Herr

Bundeskanzler, bekämpfen also tagtäglich …? Tatsächlich?

Haben Sie überhaupt noch Zeit für andere Dinge?»

Am nächsten Morgen sitzen wir zu etwa dreißig Leuten,

vor allem Männer reiferen Alters, im Park desselben Hotels

zu sammen. Schröder trägt keine Krawatte mehr. Begleitet

wird er nur noch von einer Assistentin, einer bildhübschen

Deutschen mit rastlos umherwanderndem Blick, unter dem

Gürtel offenbar ein besonders flaches Kleinkaliber. Zwei

Stunden lang erläutert der Staatsmann Schröder die Politik,

die ihm vorschwebt, auf nationaler Ebene, für Eu ro pa.

Seine Stringenz beeindruckt mich. Ihm meine Frage zu

stellen, getraue ich mich nicht mehr. Doch ich höre ihm

aufmerksam zu und habe das Gefühl, hinter sein Geheimnis

gekommen zu sein. Schröder wäre nicht der Machtmensch,

der er heute ist, wären nicht die beiden anderen

Facetten seiner früheren Persönlichkeit in ihm lebendig

geblieben: der junge, leidenschaftliche Sozialist und der

melancholische Fußballspieler.

Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht wie mir … Ich

wie er? Nein, auf Machtergreifung war ich nie erpicht, ebensowenig

zog es mich in die Parteipolitik, selbst damals

nicht, als es galt, Parteien aufzubauen, um die Massen zur

Revolution zu führen. Ich war kein passionierter Sozialist,

und auch Fußball lässt mich eher kalt. Anders der Langstreckenlauf.

Und ab und zu die Rolle des Untergrundpatrioten.

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Noch lange nach dem Brand des Alpenchalets, lange nach

dem Ende des Kalten Krieges habe ich felsenfest geglaubt,

Springer sei Nazi gewesen. Sollte ich mich tatsächlich geirrt

haben, werde ich mich jetzt beeilen müssen, um der Lächerlichkeit

zu entgehen. Allmählich wird es Zeit, dass ich all das

zu begreifen versuche, was ich damals zwischen den starren

Fronten nicht wahrgenommen habe. Und so be schließe ich

in jenem Schweizer Hotel, während der deutsche Kanzler

seine Zu kunfts visionen ausbreitet, noch einmal den Tatort

in den Bergen aufzusuchen. Und wenn nötig, fahre ich

auch bis nach Hamburg. Jetzt, da der nächste Krieg begonnen

hat, will ich den Kalten Krieg durchschauen, jene Zeiten,

als wir noch Sonntagsterroristen waren. Das schulde

ich denen, die wir einst mit dem großspurigen Satz bedacht

haben: «Wir müssen später einmal unseren Kindern in die

Augen blicken können.»

Hier ist also mein Geständnis. Wer aber in seinem geheimen

Garten noch nie ein besonders grünes Grasbüschel begossen

hat, sollte dieses Buch wieder schließen.

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02

Eines Morgens im Januar 1975 stieg ich in Gstaad aus dem

Zug, um einen Anschlag zu verüben. Der Boxer Mohammed

Ali hatte sich soeben seinen Weltmeistertitel zurückgeholt.

Ich war dreißig und sah aus wie ein Einheimischer, der das

Wochenende auf der Skipiste verbringen wollte. In meinem

Rucksack steckten neben meiner Waschtasche ein Brecheisen,

eine Axt und ein Fernglas. Die Mütze saß mir tief im

Gesicht, und auf der Schulter trug ich ein Paar Ski. Ich liebte

rasende Abfahrten durchs winterliche Weiß, seit ich den

Pariserinnen beibrachte, wie man über unsere verschneiten

Hänge glitt. Ge kommen war ich mit der kleinen, blauen

Schmalspurbahn, die vom See hinaufklettert ins Oberland

und dabei einige Dör fer, darunter auch Rougemont, und

mehrere Tunnel durch quert und die Sprachgrenze passiert.

Gegen zehn Uhr morgens hielt die Bahn, nachdem sie die

Schlucht Les Allamans verlassen hatte, in der deutschen

Schweiz. Wann genau sie in dem vornehmen Bahnhof eintraf,

kann ich heute nicht mehr sagen. Inzwischen bin ich

sechzig und mir bleiben nur noch meine eigenen Erinnerungen,

um von jenem Abenteuer zu erzählen. Es gibt niemanden

mehr, der mir sagen könnte, mit welchem der kleinen,

blauen Züge ich damals gekommen bin.

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Doch eines weiß ich noch, es war ein schöner Tag. Ich

hatte die Vorhersagen studiert, um sicherzugehen, dass wir

nicht in einen Schneesturm geraten würden. In jenen

längst vergangenen Zeiten gab es kaum Satelliten. Heraufziehende

Wolken kündigte das Radio erst ein, zwei Tage

vorher an, und an Neujahr wusste noch niemand, wie hoch

an Dreikönigen der Schnee auf den Pisten liegen würde.

Gerade gingen die Weihnachtsferien zu Ende. Wie jedes

Jahr hatte ich einige Tage bei meinen Eltern verbracht,

unter einem Baum voll glitzernder Girlanden und funkelnder

Engel, die meine Mutter aus Silberpapier gebastelt

hatte. Und im Vertrauen auf den Wetterbericht für den

nächsten Tag hatte ich die große Entscheidung getroffen:

Ich würde zur Tat schreiten.

Meine Handschuhe waren der wichtigste Teil meiner

Ausrüstung. Ich trug zwei Paar übereinander, Lederfäustlinge

über Seidenhandschuhen, die so dünn waren, dass

man damit problemlos alles anfassen konnte, ohne Fingerabdrücke

zu hin terlassen. Über einer Wollstrumpfhose trug

ich ein Paar Jeans und sah aus wie einer aus der Gegend,

dem die Kälte nichts anhaben kann. Im Dorf, in dem ich

aufgewachsen bin, haben wir uns immer lustig gemacht

über die Touristen in ihren wattierten Schneeanzügen. Ich

hatte außerdem einen dieser dicken, marineblauen Wollpullover

mit Schulterknöpfen an, die man in den Läden für

Us-Armeebestände kaufen konnte. Meine wendbare Windjacke

zeigte sich vorerst von ihrer dunklen Seite. Zu gegebener

Zeit wollte ich sie umdrehen, denn will man sich im

Winter tarnen, so kommt man, wie die Schneehühner wissen,

an der weißen Farbe nicht vorbei.

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In jenen längst vergangenen Zeiten schrieb ich keine

Ro ma ne und brachte persönliche Gedanken nur selten zu

Papier. Das Glück benötigt keine Niederschrift. Ich hatte

meine festen Überzeugungen und wurde getragen von der

Hoff nung auf eine Welt der Gleichberechtigung. (Heute

bräuch te ich einen besseren Halt, um Berge zu versetzen.)

Trotzdem erinnere ich mich noch, dass die Bundesrepublik

Deutschland in München erneut die Fußballweltmeisterschaft

ge wonnen hatte, gegen Holland und dank Beckenbauer.

(Ge nau, der, der in zwischen über Golfplätze hinkt.)

Ich verfasste also damals nichts außer jenen dreisten ano nymen

Bekennerschreiben, die einsatzbereit in meinem Rucksack

lagen. Zirka fünfzehn Briefe steckten in bereits frankierten

und an verschiedene Zeitungsredaktionen ad res sierten

Briefumschlägen und kündigten ein Ereignis an, das un mittelbar

bevorstand.

Ich hatte die Kommuniqués auf einer Schreibmaschine,

Marke ibm, getippt, auf dem damals gängigen Büromodell.

Es hatte den Vorteil, dass man den Kugelkopf auswechseln

konnte. Würde die Maschine eines Tages von der Polizei

ge funden, so wäre sie unmöglich zu identifizieren. Jede

Schreibkraft besaß mehrere dieser Golfbällchen, die sie je

nach Korrespondenz austauschte. Ich hatte in meinem Büro

eine solche Kugel mitgehen lassen und ein bisschen daran

herumgefeilt, denn ich spekulierte darauf, dass die wissenschaftliche

Polizei bei der Analyse meiner Schriften diese

Spuren unterm Mikroskop ent deckte. Sie waren meine Un -

terschrift, eine Art digitaler Sig natur, noch ehe man diesen

Begriff verwendete.

Zum Anschlag selbst formulierte ich verschiedene Texte,

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je nach Zeitung und Leserschaft. Den deutschsprachigen

Blättern schrieb ich, die Aktion stünde in der Tradition des

Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Bei den frankofonen

verwies ich auf die Grundwerte der Demokratie,

die sogenannten Depeschenagenturen dagegen informierte

ich nur über die nackten Tatsachen und schloss mein

Schreiben mit einer kämpferischen Parole. Ich hatte auch

einen Um schlag für eine italienischsprachige Tageszeitung

vorbereitet. Im Tessin halten die Leute ohnehin jeden deutschen

Mer cedes fahrer für ein ehemaliges ss-Mitglied. Mein

Text endete un gefähr so: «Wir haben hier zwei Sorten von

Ausländern, die, die beim Bau unserer Tunnel und Alpenstaudämme

verrecken, und die, die sich unsere Berge kaufen.

Raus mit den Nazis und Dritte-Welt-Ausbeutern, die

unsere herrlichen Alpen als Schlupfwinkel missbrauchen!

Aber ein bisschen plötzlich, Kameraden!» Von den Kommuniqués

der Weathermen, jener radikalen amerikanischen

Studenten, die damals den Pentagon in Angst und Schrecken

versetzten, hatte ich gelernt, dass man so ironisch wie

möglich klingen musste, um überhaupt eine Chance zu

haben, ein Bekennerschreiben in den Zeitungen der sogenannten

Klassenfeinde unterzubringen.

In Gstaad angekommen, versicherte mir ein kurzer

Blick, dass der Berg sich nicht von der Stelle gerührt hatte.

Vom Bahn hof aus konnte ich mein Ziel erkennen: einen

schwarzen Punkt, der sich deutlich vom Horizont abhob.

Ich wollte sichergehen, dass dort oben alles ruhig war. Kein

verdächtiger Rauch, kein kreisender Hubschrauber.

Ich war aus der französischen Schweiz angereist, meine

Freun din kam aus der deutschen. Es dauerte nicht lange, da

stieg auch sie mit Rucksack und Ski aus der kleinen, blauen

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Bahn. Nur eines machte mich stutzig, als ich ihr entgegenging:

Auf ihrer Windjacke prangte eine Us-Fahne. Das war

überhaupt nicht ihr Stil. Sie küsste mich lange in aller Öf -

fentlichkeit. Immerhin hatten wir uns zwei Wochen nicht

gesehen. Es war ihr nicht gelungen, frei zu bekommen, da

ihr Chef ihr die Jahresinventur aufgebrummt hatte. Wie

immer war sie die schönste aller Frauen, sagen wir, aus der

ganzen deutschen Schweiz. Als wir uns wieder voneinander

lösten, trat sie ein paar Schritte zurück, damit ich ihr

Sternenbanner bewundern konnte. In jenen längst vergangenen

Zeiten flatterte die amerikanische Fahne auf den

Bordellen Südvietnams und um hüllte die letzten Bomben,

die auf Nordvietnam fielen. Präsident Nixon war soeben

über den Watergate-Skandal gestürzt. Sie fragte mich auf

deutsch:

– Wie findest du meine Tarnkleidung?

– Lässt sie sich wenden?

– Gehen wir immer noch ins Palace Hotel?

– Ich halte mein Wort. Ich habe telefonisch gebucht.

Sie hatte nicht vergessen, dass ich ihr als Weihnachtsgeschenk

eine Nacht im Gstaader Palace Hotel versprochen

hatte. Der Scherz würde mich die Hälfte meines Architektengehalts

und einen gehörigen Gewissenskonflikt kosten,

aber Liebe macht blind, oder fast.

In den verschneiten Straßen fuhren die Kutscher der

Luxushotels ihre in Decken und Pelzmäntel gehüllten Fahrgäste

auf Pferdeschlitten durch den Urlaubsort spazieren.

Auf einer Anhöhe im Zentrum von Gstaad funkelte das

Palace Hotel über alle zehn Etagen wie eine mehrstöckige

Sahnetorte. Seine Türmchen und Zinnen und sogar die zu

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Ehren unserer ausländischen Gäste gehissten Fahnen sahen

aus, als seien sie aus Zuckerguss. Wir beschlossen, zu Fuß

zum Hotel zu gehen, jeder mit seinen Ski über der Schulter.

Meine Freundin hatte bereits Felle unter die ihren ge spannt,

was das Bild, das sie von sich vermitteln wollte – junge

amerikanische Touristin auf Skiurlaub in den wohlbehüteten

Schweizer Alpen – ein wenig trübte. Der Rest passte besser:

die unter einer Pelzmütze hervorlugenden blonden

Haare, der hellrosa Lippenstift (in jenen längst vergangenen

Zeiten hochmodern) und die auf die Mütze abgestimmten

Fäustlinge. Wir hatten vor, uns im Hotel als Mann und

Frau auszugeben, ich selbst würde mich als Arzt vorstellen,

mit starkem Zürcher Akzent und einem Namen aus der

Zürcher Gegend. Sie freute sich schon auf diese kleine In szenierung

und wiederholte noch einmal meine Begründung

dafür:

– Man muss also leben wie der Klassenfeind.

– So kommt man besser hinter seine Schandtaten.

– Hast du die Stelle auf dem Berg schon ausgemacht, Daniel?

– Nicht so laut! Warte, bis wir auf dem Zimmer sind.

Ich hatte noch nie in einem Palace Hotel übernachtet, einmal

nur war ich ins Zürcher Grandhotel Dolder zu einer

Hochzeit eingeladen worden. Wenn ich daran zurückdachte,

musste ich jedes Mal lächeln. Ich hatte dem Portier die

Schlüssel meiner Ente überlassen, damit er sie ins Parkhaus

brachte. Er aber war so einen kleinen Citroën noch nie ge -

fahren, hatte zu stark aufs Gaspedal gedrückt und einen

Satz ins Rosenbeet gemacht. Dank jener Einladung wusste

ich, wie man sich an einem solchen Ort benimmt. Der Gast

eines Grandhotels bekundet mit jeder Geste seine Gering-

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schätzung gegenüber all dem Luxus, der ihm auf Schritt

und Tritt begegnet. Er versteht den Eindruck zu vermitteln,

die hilfreichen Hände, die sich emsig um ihn bemühen,

seien Luft, schlicht und einfach inexistent.

Da wir kein Auto hatten, mit dem wir am roten Teppich

hätten vorfahren können, nahmen wir einen verschneiten,

mit Splitt bestreuten Weg. Vornehme Herrschaften kamen

uns entgegen, in Wolfspelze gehüllte Männer um die Fünfzig,

russische Comtessen mit Persianerkappen. Wir zwinkerten

uns zu und hatten wohl beide Lampenfieber, als wir

im Begriff waren, die Bühne des Theaters der Extravaganz

zu betreten.

Alles an diesem Märchenschloss gefiel ihr. Der Schnee auf

unserem Balkon, die Lämpchen an den Zweigen der Parkbäu

me, die sogar tagsüber leuchteten. Sie mochte das Lä -

cheln der Pagen, die Bücklinge des Chasseurs, die Spiegel

im Aufzug, in dem sie mich küsste. Und später, in unserem

Zimmer, die Bibliothek mit den Büchern, die sich nicht öffnen

ließen, den Fernseher und die Waage im Badezimmer,

die Schale mit exotischen Früchten, die Kerzenleuchter auf

den Nachttischen, die bereit hängenden Bademäntel, ja,

und natürlich die goldfarbene Zahnbürste, die sie gerne

mitgenommen hätte. Aber wir waren inkognito hier abgestiegen.

Den Uniformierten an der Rezeption hatte ich eine

gestohlene Kreditkarte vorgelegt, von der sie einen Abzug

erstellt hatten. Am nächs ten Tag würde ich bar bezahlen

und man wür de den Kartenbeleg vor meinen Augen zerreißen.

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