Entscheidet euch stets für das Leben
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Liliana Segre
Entscheidet euch
stets für das Leben
Meine Lebensgeschichte
für junge Leute
Liliana Segre
Entscheidet euch
stets für das Leben
Meine Lebensgeschichte
für junge Leute
Friedrich Reinhardt Verlag
Bildnachweis:
Titelbild: Sophie Taueber-Arp. Ohne Titel (aus der Mappe
fünf Constructionen + fünf Compositionen,
Allianz-Verlag). 1941. Aargauer Kunsthaus Aarau.
© Foto: Peter Schälchli
Fotos S. 66–69: © Corriere del Ticino
Texthinweis: Im Text wird das generische Maskulin verwendet.
Dies ist der Übersetzung geschuldet. Wir möchten aber darauf
hinweisen, dass sich die in diesem Buch verwendeten Personenbezeichnungen
– sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf
alle Geschlechter beziehen.
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel:
«Scegliete sempre la vita. La mia storia raccontata ai ragazzi»,
© Edizioni Casagrande SA, Bellinzona, 2020
Alle Rechte vorbehalten
© 2025 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Projektleitung: Beatrice Rubin
Übersetzung: Rosmarie Biedermann
Korrektorat: Daniel Lüthi
Gestaltung: Siri Dettwiler
ISBN 978-3-7245-2725-1
Verlag: Friedrich Reinhardt AG, Rheinsprung 1,
4051 Basel, Schweiz, verlag@reinhardt.ch
Produktverantwortliche: Friedrich Reinhardt GmbH,
Wallbrunnstr. 24, 79539 Lörrach, Deutschland,
medien@reinhardt-medien.de
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt
für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre
2021–2025 unterstützt.
www.reinhardt.ch
Inhalt
Eine Blume, die es sorgfältig zu bewahren gilt
von Giulio Cavalli S. 7
Entscheidet euch stets für das Leben
Meine Lebensgeschichte für junge Leute S. 17
Interview mit Liliana Segre
von Bruno Boccaletti S. 70
Eine Blume,
die es sorgfältig zu bewahren gilt
von Giulio Cavalli
Liliana Segre ist wie ein Schmetterling auf Stacheldraht;
und daher ist sie so wertvoll wie eine Blume, die es sorgfältig
zu bewahren gilt, eine Art Juwel, nicht nur was ihre
Inhalte betrifft, sondern auch die Art und Weise ihrer Vermittlung,
für ihren ganzheitlichen Überblick und ihre Lehre
einer «Fürsorglichkeit in unserer Zeit», was sie seit Jahren
unter Jugendlichen vermittelt. Zudem ist sie eine vollkommen
normale, öffentliche Persönlichkeit, die uns zwingt,
über die Rolle von Zeitzeugen nachzudenken, in einer Phase,
in der alles und jedes zum Spektakel wird, alles zur organisierten
Begeisterung und alles völlig masslos als Keule
benutzt wird, um zu einer Schlagwaffe gegen den momentanen
politischen Gegner zu werden. Beim Lesen ihrer
Worte an Jugendliche, solch klaren und gemessenen Worten,
die an einen schriftlichen Text denken lassen, der aus
dem Gedächtnis rezitiert wird und nicht an das pure Gegenteil,
entdeckt man eine Art von lexikalischer wie auch
intellektueller «Ökologie» (im Sinne eines sparsamen Umgangs.
Anm. der Übers.), an die wir überhaupt nicht mehr
gewohnt sind, die jedoch der Weg ist, von dem wir ausgehen
müssen, um dem Verblassen der Erinnerung an einen geschichtlichen
Zeitraum entgegenzutreten, der nicht nur die
Vergangenheit betrifft, sondern quasi den Gegenpol zu
7
einem Heute darstellt, das unter einem ganz anderen Äusseren
auftritt, mit hohem Täuschungsvermögen sowie weniger
«spitzen Schnäbeln» als jene von damals, welche ein
Kind wie Liliana, jedoch nicht nur sie, sondern Millionen
Personen gleicherweise so weit gebracht haben, schuldig zu
sein, weil sie geboren worden waren.
Was an Liliana Segre ganz besonders auffällt, ist ihre
Liebenswürdigkeit, die von all dem, was sie erlebt hat,
nicht übertüncht worden ist; dies ist auch ihre grösste Lektion,
diejenige, welche man quasi demontieren müsste, um
deren Mechanismen und verbindende Elemente sehen zu
können und zu verstehen, wie es also möglich ist, radikal
menschlich zu bleiben in unserer Zeit, in der Reflektion
über die Sentimentalität des Lebens (d. h. wie das Leben
selbst häufig eine Frage von Zwängen ist, welche die Geschichte
scheinbar in die Schublade von Vergangenem und
Abgeschlossenem ablegen will) als Zeichen von Schwäche
betrachtet wird. Liliana Segre ist der lebende Beweis dafür,
dass es eine Klarheit der Sicht wie auch eine Unerschütterlichkeit
der Werte gibt (in letzter Zeit abschätzig als «Gutmenschentum»
bezeichnet), die weiterhin die Fundamente
bleiben, auf die man mit einem ganz anderen Blick auf
die Gegenwart und die Vergangenheit bauen kann. Sie war
damals ja noch ein Kind, getrennt vom eigenen Vater, mit
seiner Hoffnung auf Flucht, die zerbricht angesichts der
falschen Vermutungen derjenigen, welche geglaubt haben,
ihr eigenes Leben retten zu können. All dies ist die Metapher
einer Welt, in der das «Recht auf Überleben» nur
noch ein Zugeständnis zu sein scheint, das ganz bestimmten
Kategorien von Menschen gewährt wird, als ob es
nicht eine einzige Menschheitsfamilie gäbe.
8
Doch warum ist Liliana Segre so unverzichtbar? Aus
einem sehr einfachen Grund: Die Schilderung in diesem
Buch ist ein ausführliches, detailliertes Manifest der Grossherzigkeit.
Allerdings leben wir in einer Zeit, in der Solidarität
und Grossherzigkeit oft als Schwäche empfunden
werden, die wir uns weder erlauben dürfen noch sollen,
um uns vor irgendwelchen imaginären Gegnern zu verteidigen.
Die Geschichte von Liliana Segre und von allen
Opfern der Shoah zeigt genau auf, was in dem Moment
geschieht, wo man uns zu überzeugen versucht, sich nur
um seine «ureigenen Angelegenheiten» zu kümmern, ausschliesslich
darum und um die unserer «nächsten Angehörigen»,
als ob ein irgendwie gearteter offener Blick auf die
Welt unsere Lieben sowie unsere eigene Unversehrtheit
gefährden würde. Nebst der Wiederkehr vieler Monstrositäten
in den letzten Jahren haben wir auch das Wiederauftauchen
einer «Entflechtung von äusserst gefährlichen
Verantwortlichkeiten» miterleben können, was uns dazu
treibt, dass man sich mit immer enger werdenden Bereichen
und Themen befasst. Überlegen Sie nur einmal, wie
viele Personen, die Sie gut kennen, sich nur dann wirklich
entspannt fühlen, abgesehen von der nationalen Situation,
wenn es auch in ihrer Stadt ruhig ist? Oder sind sie sogar
einfach entspannt, weil sie in einem ruhigen Viertel leben?
Oder weil sie sich damit begnügen, in einer ruhigen Hausgemeinschaft
zu wohnen? Es ist wie ein Hinabsteigen zum
Treppenabsatz, das jegliche Lust und Neugier zunichte gemacht
hat, sich all dies zuzumuten, was sich in der Welt
ereignet, es hat jede Form der Empathie verkümmern lassen
und viele von uns in die Rolle von Hütern unseres
eigenen kleinen Hinterhofs verwandelt, wie wenn das, was
9
sich in zu grosser Distanz ereignet, (sei diese geografischer
oder auch zeitlicher, also historischer Natur) eine allzu
schwierige Beanspruchung sei, um sich damit befassen zu
müssen. Die Tragödie der Massenvernichtung der Juden
und diejenige des Rassismus im Allgemeinen ist zur Staatsräson
geworden, zu etwas, dem es nicht mehr gelingt, das
Interesse der jungen Generationen zu wecken und das zurückgestuft
wird auf Vergangenes, worüber schon allzu viel
geredet worden ist. Das Thema bleibt auf einige wenige
Seiten politischer Polemik beschränkt, als ob es überhaupt
nichts mit Humanität zu tun hätte, wo doch klare und
unverblümte Stimmen nötig sind, um es weiterhin fest im
Auge zu behalten. Aus diesen Gründen ist Liliana Segre
wie eine Blume, die es sorgfältig zu bewahren gilt.
Und dazu kommt noch das düstere, bedrückende
politische Momentum, welches zurzeit die ganze Welt
durchzieht. Wenn einerseits das Desinteresse und die
Gleichgültigkeit der Guten das wahre Virus sind, das die
Wiederkehr von finstersten Zeiten begünstigt, (was Liliana
Segre oft wiederholt) und die mangelnde Aufmerksamkeit
fördert, so setzen andererseits verschiedene politische
Gruppen das Spiel von der Seite aus mehr oder weniger
offen fort, und zwar mit dem Rückgriff auf den Faschismus
von Mussolini und den Nationalsozialismus von Hitler,
als ob dies alles bloss ein Risiko von Wahlen wäre. Man
verausgabt sich in Worten, die jene Zeiten beschreiben
sollen, zusätzlich vervielfacht sich die Sichtbarkeit von
Gruppen der extremen Rechten, solcher Gruppen, die
nicht einmal für die primitivste Information «geniessbar»
sind. Zwangsläufig damit verbunden ist die Zunahme von
rassistischen und faschistischen Aktionen. Mit gefährlicher
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Leichtfertigkeit gehen wir mit einem Hass um, der eigentlich
beschwichtigt schien, der jedoch mit neuen, subtileren
Methoden zum gleichen Zweck kultiviert wird. Mit dem
Verzicht, die Komplexität der Welt zu verwalten, sind wir
damit beschäftigt, auf mehr oder weniger imaginäre Gegner
hinzuweisen, um damit ohne oft völlig haltlose Geschichten
zu konstruieren und den Eindruck eines Belagerungszustands
wiederzugeben, der in jeglicher Form
weiterlebt. Es handelt sich nicht nur um eine Frage von
Rassismus gegenüber Schwarzen oder (neuerdings wieder)
gegen Juden, sondern bedeutet die Entideologisierung
einer erbarmungslosen Politik und einer lexikalischen
Kraftmeierei, die den Hass des einen gegen die anderen
schüren, um auf diese Weise die Welt einfacher zu regieren.
Dieser Schmutz, der die Luft in den Jahren von Liliana
Segre durchwehte, hat sich heutzutage in einen Bazillus
verwandelt, der jegliche Formen des Hasses annehmen
kann, wie Verachtung von armen Menschen, deren einzige
Schuld die Armut ist, Zurückweisung von Migranten,
die nicht akzeptieren können, bei «sich zu Hause» sterben
zu müssen und zu uns kommen und unsere hochwertigen
Klangteppiche beschmutzen. Es geht ebenfalls um die Verneinung
von Rechten gegenüber Armen und Verzweifelten,
weil man uns überzeugt hat, dass es nicht genug Rechte
für alle gäbe, zudem geht es um die Vergötterung des
starken Mannes, der uneingeschränkte Entscheidungsgewalt
innehaben sollte. «Dem heutigen Faschismus fehlt
bloss die Macht, um wieder zu dem zu werden, was er
schon einmal gewesen ist, das heisst die Anerkennung von
Privilegien und die der Ungleichheit», sagte der Holocaustüberlebende
und Schriftsteller Primo Levi in einem
11
RAI-Interview. Diese Meinung scheint bereits überholt
durch die Tatsache, dass Dämme eingebrochen sind, von
denen man nicht geglaubt hätte, dass dies passieren könnte:
Hätten wir uns vorgestellt, auch nur vor wenigen Jahren,
dass ehemalige Verfolgte oder deren Nachkommen
nationalsozialistische Symbole an ihrer Haustüre vorfinden
würden? Hätten wir je gedacht, dass ein Senator der
italienischen Republik als Quelle ein Buch zitieren würde
(das teilweise falsche Angaben enthält), welches von der
damaligen nationalsozialistischen Propaganda verwendet
worden ist, um Hass gegen die Juden zu schüren? (Hier
handelt es sich um den Juristen und Politiker Ignazio la
Russa, langjähriges Mitglied der Abgeordnetenkammer
und später des Senats, unter Silvio Berlusconi auch Verteidigungsminister,
heute Senatspräsident, Mitglied dreier
Rechtsparteien. Leider konnte der hier erwähnte Buchtitel
nicht eruiert werden. Anm. der Übers.) Hätten wir jemals
geglaubt, dass wir wieder Formulierungen lesen können,
die man vorher ja ausgedacht und für gut befunden wurden,
bevor man sie aufgeschrieben hat, wie derartige, auf
die wir in den sozialen Medien stossen? Nein, das Aufrechterhalten
von Demokratie auf der Welt ist viel labiler
als wir dies glauben möchten und auch eine zivilisierte
Lebensweise ist kein selbstverständlicher Automatismus,
der aus purer Gewohnheit und Tradition problemlos weitergeführt
werden kann. Antirassist zu sein ist heutzutage
keine wesentliche Voraussetzung, um öffentliche Ämter
bekleiden zu können, aber es bedeutet eben auch, sich in
einer Minderheit zu befinden, in einer tatsächlichen Minderheit.
Und sich dies nun bei gewissen Diskussionen eingestehen
zu müssen, ist schon schlimm genug. Das Satz-
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gebilde des «Ich bin zwar kein Rassist, aber ...» hat die Tore
einer Hölle voll von Hass geöffnet, eines Hasses, der sich
am Arbeitsplatz, auf der Strasse, in den Geschäften und
Kaffeebars verbreitet hat. Die Welt, wie sie sich nach fast
achtzig Jahren nach der Befreiung des Lagers Auschwitz
zeigt, ist eine Welt, die noch weit entfernt ist vom Ideal
des Friedens, der Versöhnung und der Wahrung der Menschenwürde.
Vielleicht sind auch aus diesem Grund die
Worte von Liliana Segre so notwendig.
Lassen Sie uns nun für einen Augenblick die Augen
schliessen und in die Zeit zurückblicken, als offenbar geworden
ist, was die Shoah eigentlich gewesen ist und wie
gross die Auswirkungen der von Hitler geplanten und auch
vom italienischen Faschismus so feige unterstützten «Endlösung»
waren. Denken Sie einmal an die damalige Befreiung
im Geist einer neu gewonnenen Einigkeit der
Mentalitäten und im Geist einer leidvollen, uns von der
Geschichte nahegebrachten Rettung. Stellen Sie sich weiter
all die Verzweiflung und all den Schmerz vor. Stellen
Sie sich die Schuldgefühle Europas vor, eines in sträflicher
Weise schuldig gewordenen Europas. Denken Sie an die
wiederholten Versprechen, in jedem einzelnen Haus, dass
all dies nie mehr geschehen würde, denken Sie an die
Schande der Peiniger, an die weltweite Trauer, die sich leise
und schmählich abgenutzt hat. Überlegen Sie, wenn
man Ihnen damals gesagt hätte, dass wir hier nach fast
achtzig Jahren immer noch gegen die gleichen Trugbilder
zu kämpfen haben, gegen das gleiche Verleugnen, obwohl
jene von Beginn an entlarvt worden waren. Bedenken Sie
weiter, ob man hätte glauben können, dass sogar heute
noch die Worte einer Holocaustüberlebenden (und dies
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gilt für die Worte aller Überlebenden) viel eher eine Spaltung
in unterschiedliche «Fangemeinden» als ein ernsthaftes,
ruhiges und respektvolles Zuhören bewirken würden.
Daher ist es quasi eine staatsbürgerliche Verpflichtung,
Texte von Liliana Segre zu veröffentlichen, sie zu
lesen, sie nochmals zu lesen und sie auch lesen zu lassen,
so dass sich in unseren Herzen die Geschichte eines Mädchens
einprägen kann, eines Mädchens, das dem Schicksal
dankbar sein muss, Grossmutter geworden zu sein.
In seinem 1964 auch auf Deutsch erschienenen
zweiten Buch «Die Atempause» schreibt Primo Levi: «So
klang für uns auch die Stunde der Freiheit dunkel und trüb
und erfüllte unsere Seelen gleichzeitig mit Freude und einem
schmerzhaften Gefühl der Scham, so dass wir unser
Bewusstsein und unsere Erinnerung reinwaschen wollten
von all dem Hässlichen, das dort lag. Gleichfalls mit Kummer,
weil wir fühlten, dass dies nicht würde geschehen
können, dass sich niemals mehr etwas so Gutes und Reines
würde ereignen können, um unsere Vergangenheit ganz
auszulöschen, dass die Zeichen der Verletzung für immer
in uns bleiben würden, sowohl in den Erinnerungen derer,
die dabei gewesen sind, als auch an den Orten, wo es geschehen
ist und in den Beschreibungen, die wir uns davon
machen würden. Denn niemand hat jemals besser als wir
die unversöhnliche Natur der Verletzung erfassen können,
welche sich wie eine Ansteckung ausbreitet; und all dies
stellt das entsetzliche Privileg unserer Generation und meines
ganzen Volkes dar. Es ist töricht zu glauben, dass die
menschliche Gerechtigkeit eine solche Verletzung tilgen
kann. Sie ist eine unversiegbare Quelle des Bösen; sie zerbricht
Körper und Seelen der Untergegangenen, sie löscht
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sie aus und lässt sie verbittern, sie erhebt sich als Schändlichkeit
über die Unterdrücker, sie hinterlässt Spuren des
Hasses bei den Überlebenden und wuchert auf tausend
Arten, sogar gegen den Willen aller, quasi im Verlangen
nach Rache, aus Gründen des moralischen Nachgebens,
der Verweigerung, der Müdigkeit, der Resignation.»
Was tun wir denn nun, um jene Schmach abzuwaschen?
Wenig, viel zu wenig. Aber was könnten wir tun?
Unglaublich viel. Man müsste eine gemeinsame Kultur des
Erinnerns schaffen, die von den historischen Ereignissen
ausgeht, woraus sich mehr entwickeln sollte als eine knappe
Seite der Geschichte, die bloss widerwillig in den Schulen
durchgearbeitet wird. Man müsste von der dezimierten,
zugeschütteten Menschlichkeit berichten,
mittlerweile zu einer Art von Teufelszeug geworden, mit
Stillschweigen ringsumher. Man müsste erklären, dass die
menschliche Engstirnigkeit jedes Mal hervorbricht, wenn
Angst vor jemandem zusammen mit Verachtung und Hass
als Herrschaftsmethode verwendet werden, man müsste in
aller Eile lernen, dass der Rassismus nie aus der Mode
kommt und sich jedes Mal mit einer anderen Zielsetzung,
aber mit demselben bösartigen Hintergrund wieder neu
blicken lässt. Man müsste uns ein für alle Male darlegen,
dass wenn die kleinen Gesten unterschätzt werden, man
in der Folge auf deren spektakuläre Explosionen gefasst
sein muss. Man müsste sich die italienische Verfassung
wieder einmal durchlesen und deren Prinzipien in seine
eigenen einbeziehen und nicht nur die einzelnen Artikel
auswendig lernen. Man müsste einen neuen Wortschatz
finden, um von dem unsäglichen Leid zu berichten, welches
auf unseren Schultern lastet. Man müsste wieder ler-
15
nen, freundlich zu sein, und zwar im besten Sinn des Wortes,
jene Freundlichkeit, die aus Übereinstimmung von
Absichten, von Empfindungen, also aus wahrer Empathie
besteht. Es bleiben uns noch gewaltige Aufgaben, wozu
wir allerdings Handlungsmaximen brauchen, und zwar
jederzeit. Dieses Buch, diese Sätze, bilden so etwas wie
einen unerlässlichen Werkzeugkasten, der uns helfen mag,
sich orientieren zu können in dem, was wir gewesen sind
und in dem, was wir uns nicht erlauben können, es nochmals
zu werden.
16
Entscheidet euch stets für das Leben
Meine Lebensgeschichte
für junge Leute
17
Auf den folgenden Seiten wird
die Rede veröffentlicht, welche
Liliana Segre am 3. Dezember
2018 an der Universität der
italienischen Schweiz in Lugano
gehalten hat. An der von Micaela
Goren Monti, Präsidentin der
Goren Monti Ferrarri Foundation
angeregten und organisierten
Veranstaltung haben Hunderte
Schüler der Tessiner
Gymnasien teilgenommen.
Bei dieser Gelegenheit hat sich
Manuele Bertoli, Chef des
Erziehungs- Kultur- und
Sportdepartements des Kantons,
bei Liliana Segre öffentlich
entschuldigt, zum ersten Mal
nach 75 Jahren, und zwar für das
Verhalten der Grenzwachen, die
am 8. Dezember 1943 sie selbst,
ihren Vater und zwei Cousins an
der Grenze zurückgewiesen und
wieder nach Italien überstellt
hatten. Dort sind sie inhaftiert
und schliesslich nach Auschwitz
deportiert worden. Als Liliana
Segre den Saal betrat, sind all die
jungen Zuhörer aufgestanden
und haben ihr applaudiert.
18
Noch bevor ich mich als Senatorin 1 , als Überlebende und
als Zeitzeugin sehe, bin ich eine Grossmutter. Mich interessieren
Kinder und Jugendliche, mit ihren wachen Augen,
ihren noch lauteren, wunderbaren Gefühlen, ihrem
Verstand, der interessiert ist an dem, was gerade passiert,
interessiert auch an sich selbst und an der eigenen Zukunft,
die zum grossen Teil in ihren Händen liegt. Es sind
sie, denen ich diese Geschichte erzählen möchte.
Denn ich bin ja nicht immer eine über neunzigjährige
Frau gewesen, auch ich war mal ein Kind, ein kleines
Mädchen. Jedes Mal, wenn mir Bianca, meine geliebte
Oma mütterlicherseits, ihre Jugendfotos gezeigt hat – was
sie sehr gerne tat, Bilder, worauf sie als kleines Kind, als
heranwachsendes Mädchen und als junge Braut zu sehen
war, dachte ich: «Gab es wirklich Zeiten, in denen meine
Grossmutter so aussah?» Es schien mir fast nicht möglich,
sie in solchen Fotografien wiederzuerkennen, die sie als
anmutiges, graziöses weibliches Wesen des beginnenden
zwanzigsten Jahrhunderts darstellten. Heute versuche ich
mich zurückzuhalten, aber manchmal hätte ich Lust, so wie
meine Oma Bianca zu zeigen, dass auch ich ein hübsches
Kind, eine attraktive junge Frau gewesen bin. Doch ich
halte mich wie gesagt zurück und hoffe sehr, dass es meine
Enkelkinder sind, die dies einmal von mir sagen werden.
Ich bin also auch Kind gewesen, ein jüdisches Mailänder
Mädchen aus einer italienischen Familie, die man
wohl als patriotisch bezeichnen kann. Mein Onkel Amadeo
war ein überzeugter Faschist, so wie viele bürgerliche
1
Seit 2018 ist Liliana Segre senatrice a vita, d. h. auf Lebenszeit. Solche Senatoren,
also Mitglieder der zweiten Kammer des ital. Parlaments, werden vom Präsidenten
der Re publik für besondere Verdienste ernannt, sei es auf wissenschaftlichem,
künstlerischem oder literarischem Gebiet. (Anm. der Übers.)
19
Italiener jener Jahre. Gleich einem Tsunami, wie man heute
wohl sagen würde, waren die ersten Anzeichen eines
Antisemitismus und eines Rassismus hereingebrochen,
welche man so vorher in Italien noch nie erfahren hatte;
aber man war davon überzeugt, dass es keinen Regen geben
und dass Unwetter fernbleiben, auf solche Signale also
nichts Wichtiges folgen würde. All dies dachte man damals
genauso, wie wenn ein Gewitter im Anzug ist und man in
der Ferne Donnergrollen hören und Blitze sehen kann.
Dann allerdings, gegen Ende des Sommers 1938, erreichte
uns die Nachricht, dass ich nicht mehr in die Schule
gehen durfte, in jene staatliche Schule, die ich seit jeher
besucht hatte. Ich erinnere mich noch ganz genau an jene
Worte: «Ausgeschlossen», «Du bist ausgeschlossen worden.»
Es ist schrecklich, im Alter von acht Jahren hören zu
müssen, dass man von der Schule verwiesen ist; du hast ja
nichts getan und glaubst, ein ganz gewöhnliches Kind zu
sein, weder ein besonders artiges noch ein ungezogenes
Kind, einfach eines unter vielen, gleich all den anderen.
Doch ich war nicht gleich wie die anderen, ich bin die
Einzige der ganzen Klasse gewesen, die nicht mehr in die
Schule gehen durfte, die Einzige, auf die mit dem Finger
gezeigt worden ist mit den Worten: «Die da ist die Segre.»
Die Regeln der guten Manieren sagten doch: «Man zeigt
nicht mit den Fingern auf Leute», was mir immer grossen
Eindruck gemacht hat. Doch die Personen, die dies taten,
waren möglicherweise nicht so wohlerzogen. Wenn ich in
der Nähe meiner alten Schule vorbeikam, zeigten sie mit
dem Finger auf mich und sagten: «Das ist die Segre, die
nicht mehr zur Schule kommen darf, weil sie Jüdin ist.»
Unter den Familien meiner Schulkameradinnen gab es nur
20
Im Buch «Entscheidet euch stets für das Leben»
wird die Geschichte von Liliana Segre
vorgestellt, einer Holocaustüber lebenden
und engagierten Menschenrecht lerin.
Unermüdlich sprach Segre mit Jugendlichen
über ihre Erlebnisse und wurde so zu
einer wichtigen Stimme für Toleranz und
Verständnis. Besonders in ihrer Rede in Lugano,
wo sie Hunderte von Schüler:innen
ansprach, wird deutlich, wie wichtig ihr
Engagement für die junge Generation ist.
Im Interview mit Bruno Boccaletti reflektiert
die Autorin ihre Erinnerungen und
äussert ihre Besorgnis über den wieder
aufkommenden Antisemitismus. Sie betont
die Notwendigkeit, Vorurteile aktiv zu bekämpfen
und für eine respektvolle Gesellschaft
einzutreten.
Mit ihrem Werk lädt Liliana Segre dazu ein,
sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Es ist eine ermutigende Erinnerung
an die Bedeutung von Toleranz und Respekt
in unserer heutigen Welt.
ISBN 978-3-7245-2725-1