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Leseprobe_Franke_Europa

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Europa



STEFAN FRANKE

EUROPA

Novelle


Mit freundlicher Unterstützung von

Stefan Franke: Europa

Novelle

Hollitzer Verlag 2025

Umschlaggestaltung und Satz: Daniela Seiler

Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, Wien 2025

Hollitzer Verlag

Trautsongasse 6/6

A-1080 Wien

kontakt@hollitzer.at

www.hollitzer.at

ISBN 978-3-99094-281-9


Mein Dank gilt noch immer F. K.

Für Bernd!



Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt.

Franz Kafka

Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr.

Dieser Punkt ist zu erreichen.

Franz Kafka



1

A

ls der zwanzigjährige Ted Brisko, der von seinen Eltern

nach Europa geschickt worden war, um die Sprache

seiner Mutter besser zu lernen und ein Auslandspraktikum

bei der Firma seines Onkels zu absolvieren, in dem bereits

im Landeanflug auf den Airport Berlin langsamer gewordenen

Flugzeug aus dem Fenster blickte, erkannte er

sofort das Brandenburger Tor. Von der Quadriga und der

Siegesgöttin Viktoria hatte ihm seine Mutter oft erzählt,

auch dass sie einst von Napoleon nach Paris entführt

und erst viele Jahre später unter großer Anteilnahme der

Öffentlichkeit wieder nach Berlin geholt worden war.

Seine Mutter hatte ihm eine lange Liste von Sehenswürdigkeiten

zusammengestellt, die er alle besichtigen sollte,

und wenn es seine Zeit erlauben würde, könnte er die

fünf wichtigsten Punkte bereits in den ersten Wochen gesehen

haben.

Das nahm er sich jedenfalls vor.

Die Fotos würde er anschließend auf Facebook – diese

Plattform war seiner Meinung nach nur noch etwas für

Oldies, also für seine Eltern gerade richtig – und Instagram

posten, damit hätte er allen den Kulturinteressierten vorgegaukelt

und den Auftrag erfüllt, so sein Gedanke.

Eine junge Frau, die er auf dem langen Flug kennengelernt

hatte, rief ihm im Vorübergehen, während er auf

seinen Koffer wartete, erwartungsvoll zu: »Man sieht sich

hoffentlich!«

9


»Dafür werde ich sorgen!«, antwortete Ted lachend und

winkte ihr freundlich zu.

Ted war ein attraktiver junger Mann, der Eindruck auf

Frauen machte, er wirkte so, als wäre er gerade einem Hollister-Werbespot

entsprungen: Surfer-Frisur, strahlend

weiße Zähne, Top-Figur. Ein Hoodie, Hang Loose-Jeans

und Nike-Sneaker komplettierten den lässigen Look.

Als er sich wieder dem Laufband widmete, merkte er,

dass sein Koffer noch immer nicht zu sehen war, während

alle anderen Reisenden ihr Gepäck schon erhalten hatten

und freudig, wenn auch von dem Langstreckenflug etwas

geschwächt, dem Ausgang zusteuerten. Ratlos machte er

sich auf die Suche nach der Lost- & Found-Station; das

Schlurfen und Scharren von tausend Menschenfüßen und

Koffern hallte in seinen Ohren und von der Ferne spürte

er, wie einen zarten Hauch, das Abheben und Landen der

Flugzeuge. Ohne weiter zu überlegen klopfte er mehrmals

an eine x-beliebige Tür, vor der er in seinem Herumirren

gelandet war.

»Es ist offen«, hörte er eine Stimme von innen rufen.

Ted öffnete sie sofort und erblickte einen kleinen Mann,

der auf den Knien mit einem schwarzen Koffer herumhantierte

und diesen offenbar auf das Genaueste untersuchte.

»Warum klopfen Sie wie ein Verrückter?«, fragte der

Mann.

»Ich suche verzweifelt die Lost- & Found-Station, da

mir mein Koffer abhandengekommen ist.«

»Das verstehe ich«, entgegnete der Mann, der nicht aufhörte,

den Koffer mit beiden Händen zu bearbeiten.

»Aber kommen Sie doch herein«, forderte er Ted schließlich

auf.

10


»Ich störe Sie sicherlich«, sagte Ted.

»Aber nein, wie könnten Sie mich stören? Sie lenken

mich vielmehr ab.«

Der Mann bat ihn mit einer einladenden Handbewegung

einzutreten. Als Ted der Aufforderung folgte wurde er von

einem grellen Licht so geblendet, dass er seine Augen für

einen Moment schließen musste. Erst als sich seine Augen

an die extreme Helligkeit gewöhnt hatten, bemerkte er,

dass er in einer Halle stand, in der unzählige schwarze Koffer

millimetergenau aneinandergereiht waren.

»Sie sind Amerikaner?«, fragte der Mann.

»Ja, vollkommen richtig. Mein Akzent hat mich wohl

verraten.«

»Sie sprechen nicht schlecht, keine Sorge.«

»Dann bin ich beruhigt, ich habe nämlich deutsche

Wurzeln, mütterlicherseits, es wäre also peinlich, wenn

ich …«

»So, so, mütterlicherseits also … Schließen Sie doch

bitte die Tür, ich kann es nicht ausstehen, wenn andauernd

fremde Leute bei offenstehender Tür hereinschauen und

nach dem Weg oder der Toilette fragen, außerdem zieht

es gewaltig und man holt sich den Tod, wenn man diesem

höllischen Luftzug permanent ausgesetzt ist.«

»Aber es ist doch kein Mensch zu sehen und von einem

unangenehmen Luftzug ist nichts zu spüren«, bemerkte

Ted.

»Ja, im Moment vielleicht nicht, aber das ist nur die

Ruhe vor dem Sturm.«

Ted wollte sich auf keine Diskussion einlassen und

schloss bereitwillig die Tür.

»Können Sie mir behilflich sein?«, fragte Ted.

11


»Wobei denn?«

»Wie schon gesagt: Mein Koffer ist verlorengegangen,

daher wollte ich Sie fragen, ob Sie mir bei der Suche helfen

könnten?«

»Vielleicht«, antwortete der Mann und deutete beiläufig

auf die unzähligen herumstehenden Koffer. »Wie heißen

Sie eigentlich?«

»Brisko«, antwortete Ted und reichte ihm in vorauseilendem

Gehorsam auch gleich seinen Reisepass.

Der Mann winkte mit einer abfälligen Handbewegung ab.

»Haben Sie Ihren Koffer sehr nötig?«

»Extrem nötig«, sagte Ted.

»Und wieso haben Sie ihn dann verloren?«

»Are you kidding me, der Koffer ist irgendwo beim

Transport verlorengegangen.«

Der Mann stand jetzt mühsam auf und streckte seine

vom langen Knien müde gewordenen Knochen, es machte

den Eindruck, als habe der Koffer doch sein Interesse

geweckt.

»Welche Farbe hat das gute Stück?«

»Schwarz«, sagte Ted, »es ist ein schwarzer Koffer.«

»Das macht es nicht einfacher«, erwiderte der Mann und

blickte müde auf die große Sammlung schwarzer Koffer.

»In Frankfurt oder München wäre Ihr Koffer vermutlich

nicht verlorengegangen, hier ist er höchstwahrscheinlich

nicht mehr zu finden.«

»Also macht es keinen Sinn, weiter nachzuforschen.

Wollen Sie mir das damit sagen?«

»Entweder ist der Koffer gestohlen oder er taucht doch

noch auf, dann landet er irgendwann zwangsläufig bei mir.

In 72 Stunden sollten wir mehr wissen.«

12


»Sie sind also für verlorengegangene Gepäckstücke verantwortlich?«,

fragte Ted misstrauisch, dem der Gedanke

überhaupt nicht behagte, dass sein Koffer vielleicht gestohlen

worden war.

»Eigentlich bin ich Pilot«, sagte der Mann.

»Sie sind Pilot«, fragte Ted erstaunt, »und sind für Koffer

verantwortlich? Sie machen sich über mich lustig.«

»Keineswegs! Ich bin dazu abkommandiert worden, es

gibt kaum noch Boden-Personal, jetzt muss ich mich nicht

nur um das Gepäck, sondern auch um Anfragen aller Art

kümmern, wenn ich nicht gerade Flugtickets verkaufe

oder beim Einchecken der Fluggäste helfe.«

»Europa ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe.

Ich dachte immer, dass wir Amis durchgeknallt sind, aber

jetzt sehe ich, dass es noch Steigerungen gibt.«

»Vielleicht ist Ihr Koffer doch nicht verloren, aber heute

kann ich nichts mehr ausrichten, jedenfalls werde ich Sie

verständigen, wenn er wieder auftaucht. Bitte füllen Sie

noch der guten Ordnung halber dieses Formular aus, auch

wenn es bei den unzähligen Verlustanzeigen vermutlich

aussichtslos ist.«

Der Mann drückte ihm ein A4-Blatt und einen Stift in

die Hand.

»All right«, sagte Ted und begann das Formular auszufüllen.

»Ein Pilot, wirklich erstaunlich, wer hätte das gedacht«,

sagte Ted, der in seinem Gedankengang blieb, »ich wollte

eigentlich auch Pilot werden, wenn ich nicht nach Europa

respektive Deutschland hätte kommen müssen, wäre ich

wohl bei der US Air Force gelandet.«

»Warum mussten Sie überhaupt nach Europa kommen?«

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»That’s a long story«, sagte Ted und blickte den Mann

fast flehentlich an, als bitte er inständig um Nachsicht für

das Nichteingestandene.

»Vergessen Sie es, ich bin einfach nur neugierig, es wird

schon einen Grund geben, der mich aber nicht zu interessieren

hat«, sagte der Pilot, und Ted wusste nicht recht, ob

er mit dieser Wortmeldung die Erzählung dieses Grundes

einfordern oder abwehren wollte.

»Ich könnte ja noch immer Pilot werden, meinen Eltern

ist es gleichgültig, was ich werde, sie legen nur größten

Wert darauf, dass ich eine abgeschlossene Ausbildung vorweisen

kann, mehr fordern sie nicht«, meinte Ted mehr zu

sich als zu dem Mann.

»Meine Stelle wird demnächst frei«, bemerkte der Pilot

emotionslos.

»Sie kündigen?«, fragte Ted erstaunt.

»Die Umstände haben sich in den letzten Monaten

enorm verschlechtert, verstehen Sie, aber für einen jungen

Mann, der eine Chance erkennt und auch noch Ziele

vor Augen hat, könnte es eine Möglichkeit zur Verwirklichung

seiner Träume sein.«

»Vielleicht«, sagte Ted nicht sehr überzeugt.

»Bitte vergessen Sie, was ich eben gesagt habe, Pilot

können Sie noch immer werden, derzeit ist die Gesamtlage

alles andere als rosig, wenn ich es recht bedenke, daher rate

ich Ihnen jetzt doch entschieden davon ab. Wenn Sie in

Berlin studieren wollen, könnten Sie es zu etwas bringen,

da lachen Sie dann alle Piloten aus, wir haben hier ganz

ausgezeichnete Universitäten, müssen Sie wissen, wenn

Sie mich fragen, sind es die besten in ganz Europa, aber das

ist nur meine ganz bescheidene Meinung.«

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Kurz verstummte der Mann.

»Vom Tellerwäscher zum Millionär«, schrie er plötzlich

auf, »den amerikanischen Traum in Europa leben und

umsetzen, was für ein Gedanke.«

Dann lachte er laut. Offenbar war er von seiner Überlegung

begeistert.

»Zum Studieren fehlt mir das Geld und die Zeit, außerdem

muss ich ein Praktikum absolvieren.«

»Es ist möglich«, sagte der Mann, »wenn man über genügend

Ausdauer und Disziplin verfügt, kann man es auch

neben dem Praktikum bis zum Doktor schaffen.«

»Diese Ausdauer fehlt mir völlig«, meinte Ted, »ich war

ein ganz miserabler Schüler, der Abschied vom Schulbetrieb

ist mir nicht sonderlich schwergefallen. Und die

deutschen Universitäten fordern ihre Studenten ganz

bestimmt, eine Voraussetzung, wenn man zu den besten

Ausbildungsstätten Europas gehört, wie Sie behaupten.

Deutsch spreche ich auch nur schlecht. Das spricht nicht

für ein erfolgreiches Studium, wenn Sie mich fragen. Und

Ausländern tritt man in Deutschland mit einer gewissen

Skepsis gegenüber, wie ich gehört habe.«

Teds Deutsch war keineswegs schlecht, es wirkte nur

aufgesetzt, etwas altmodisch, nicht passend für einen jungen

Mann. Seine Mutter hatte sich immer sehr gewählt

ausgedrückt, sie pflegte mit ihm ein besonders gehobenes

Deutsch zu sprechen.

»Hat sich das also schon bis nach Amerika herumgesprochen?

Wie auch immer. Mein direkter Vorgesetzter ist zum

Beispiel Pole. Er heißt Fibak. Ein tüchtiger Mann, sehr fleißig

und diszipliniert. Aber ist das denn zu glauben, ein Pole

ist der Vorgesetzte eines Deutschen. Bitte missverstehen

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Sie mich nicht, ich beklage mich keineswegs, aber irgendwie

ist das eine groteske Konstellation. Ein Pole befehligt

uns Deutsche auf einem deutschen Flughafen und einer

deutschen Fluglinie. Wer hätte das jemals gedacht? Es ist

natürlich nur eine Momentaufnahme, aber wohl richtungsweisend

für ganz Europa. Mir ist vollkommen klar,

dass das für Sie sehr irritierend sein muss, da sie doch erst

angekommen sind, aber es ist einfach zu schlimm, als dass

ich darüber hinwegsehen könnte.«

Und während er das alles sagte, schlug er mit der Hand auf

den schwarzen Koffer und schüttelte mehrmals den Kopf.

»Ich bin schon für so viele Fluglinien geflogen« – und

er nannte zehn Namen hintereinander, als sei es ein Wort,

Ted wurde dabei ganz wirr im Kopf – »und habe einen

richtig guten Job gemacht, ich bin sogar ausgezeichnet

worden, war ein Arbeitstier ganz nach dem Geschmack

meiner Arbeitgeber, man lebt um zu arbeiten und nicht

umgekehrt, so lautete mein damaliges Motto, rückblickend

betrachtet«, jetzt atmete er einmal tief ein und aus,

machte eine Pause und setzte mit ruhiger Stimme fort,

»rück blickend betrachtet war das ein großer Fehler, die

meisten der genannten Fluglinien gibt es schon seit Jahren

nicht mehr, das muss man sich einmal vorstellen, Mitarbeiter

wurden ausgequetscht und ausgebeutet bis zum

Gehtnichtmehr«, und wieder machte er eine Pause, holte

Luft, als wäre es sein letzter Atemzug, dann schrie er völlig

überraschend: »Gewinnmaximierung und Profitgier!«

Ted erschrak, einen solchen Gefühlsausbruch hatte er

nicht erwartet.

»Und hier werde ich von Fibak zum Kofferzählen eingeteilt,

hier bin ich nichts wert und sind meine Dienste

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unerwünscht, laut Fibak bin ich ein schlechter Pilot, außerdem

werde ich nach dem Kollektivvertrag bezahlt, völlig

zurecht und folgerichtig, wie Fibak nicht müde wird zu

betonen. Verstehen Sie das? Ich nicht. Und dann wundert

man sich, wenn es einen Rechtsruck im Land gibt.«

»Das ist wirklich mehr als ungerecht«, sagte Ted aufgeregt

und mitfühlend.

Er hatte fast vergessen, dass er erst vor wenigen Minuten

in einer für ihn noch fremden Stadt angekommen war.

»Waren Sie schon bei der Geschäftsführung?«, fragte er

den Piloten.

»Mein Gott, Sie verstehen nichts, gehen Sie lieber, ehe

ich mich noch weiter ärgern muss. Sie hören mir ja überhaupt

nicht zu, was ich sage, und fragen so, als wären Sie

sechs Jahre alt.«

Der Mann machte eine kurze Nachdenkpause, setzte

dann fort:

»Wie soll ich mich denn an die Geschäftsführung wenden?«

Und wieder atmete der Mann schwer und legte beide

Hände über das Gesicht.

»Das Top-Management ist doch nicht zu erreichen,

jedenfalls nicht für einen kleinen Angestellten wie mich,

die Gesellschafter sind die Länder Berlin und Brandenburg

sowie die Bundesrepublik Deutschland, es gibt einen

Geschäftsführer Operations, einen Geschäftsführer Personal

und die Vorsitzende der Geschäftsführung, eigentlich

beschäftigt man sich nur mit seinesgleichen, performt also

nur nach innen, alles unterliegt einem strengen Kodex, der

das Handeln bis ins kleinste Detail regelt, von den strengen

Compliance-Regeln spreche ich da noch überhaupt nicht,

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