Schabbes, Schnitzel, Mehrbettzimmer
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Silvio Benz, Peter Bollag,
Gianna Chiara Danz,
Dodo Dürrenberger, Elio Leu (Hrsg.)
SCHABBES, SCHNITZEL,
MEHRBETTZIMMER
Leben im jüdischen
Altersheim «La Charmille»
in Riehen (1947–2002)
Alle Rechte vorbehalten
© 2025 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Projektleitung: Claudia ww
Korrektorat: Daniel Lüthi
Gestaltung: Célestine Schneider
ISBN 978-3-7245-2796-1
Verlag: Friedrich Reinhardt AG, Rheinsprung 1,
4051 Basel, Schweiz, verlag@reinhardt.ch
Produktverantwortliche: Friedrich Reinhardt GmbH, Wallbrunnstr. 24,
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Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit
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www.reinhardt.ch
Silvio Benz, Peter Bollag,
Dodo Dürrenberger, Elio Leu (Hrsg.)
SCHABBES, SCHNITZEL,
MEHRBETTZIMMER
Leben im jüdischen
Altersheim La Charmille
in Riehen (1947–2002)
Friedrich Reinhardt Verlag
INHALT
06
Grusswort des
Prädidenten Verein
La Charmille
07
Grusswort des
Gemeinderates
08
Silvio Benz
Schabbes, Schnitzel,
Mehrbettzimmer –
Einleitung
12
Von Gabriel Heim
Ein Aufbruch von
Anfang an Zur
Gründungsgeschichte
der Charmille
16
Gian Zubler
Ein neues Zuhause
Die Geschichte der
Charmille
BEWOHNER:INNEN
23
Barbara Häne
«Leider haben wir keine
Heime für Menschen, die
einiger Pflege bedürftig
sind.» Der Verband Schweizerischer
Jüdischer Flüchtlingshilfen
(VSJF) und die Charmille
29
Nava Rueff
Flucht, Internierung,
Exil, Heimat Betty und
Gertrud Isolani und ihre
Charmille-Geschichte
36
Carla Biesenbender
«Als Kind liebte ich Mazze,
jetzt drückt sie mir im
Magen» Hermann Kestens
letzte Jahre in der Charmille
44
Ladina Tschurr,
Vertrieben, geduldet,
angekommen Die Charmille
als Zufluchtsort und Neuanfang
jüdischer Fluchtbiografien
52
Elio Leu
«In einem jüdischen
Altersheim gibt es keine
Armen» Soziale Ungleichheit
in der Charmille
56
Silvio Benz
«Es kostet Herzblut, sein
Recht zu erkämpfen» Die
Geschichte der Berthe Lebrecht-
Mayer
RIEHEN
63
Prof. Dr. Erik Petry
Eine sehr lange jüdische
«Anwesenheit in der
Abwesenheit» Basel, Riehen
und das Judentum im historischen
Kontext
70
Von Antje Berendes
«Man grüsste noch
alle Leute» Das Altersheim und
seine direkte Nachbarschaft
76
Yanis Zidi
Aufbruch und Abbruch:
Die Charmille zieht um
2002 wurde die 55-jährige
Präsenz in Riehen beendet
MITARBEITER:INNEN ALTER TRADITIONEN
81
Dodo Dürrenberger
Wo sich Löwe und Pelikan
guten Morgen sagten Die
Heimleitungen der Charmille –
von 1947 bis 2002
90
Andreas Käser
Manchmal schroff, nicht
selten herzlich Gretel Epstein, die
erste Heimleiterin der Charmille
REZEPTE
97
113
Valentin Ammann
«Ich stehe und falle
mit der Charmille» Das
Wirken und Leben von
Gründer Lucien Levaillant
120
Benjamin Rossmann
«Dort nach oben ist man
gerne hingegangen» Die
Mitarbeitenden der Charmille
zwischen Ententanz und
Siebenschläfern
129
Sarah Heierli
«Man war zunächst
etwas skeptisch» Beschäftigungstherapie
in der Charmille
135
168
Rabbiner Moshe Baumel
Segen oder Fluch?
Das Alter im Judentum
Steffi Bollag
145
Elke Tomforde
Ein würdevolles Leben
führen Selbstkonzepte älterer
Menschen im Pflegeheim –
damals und heute
151
Frederic Baum
Alters- oder Pflegeheim?
Die Charmille und die historische
Versorgung lebensälterer
Menschen
161
Peter Bollag
Rauschende Seder-Abende
und eine wandernde
Laubhütte Das Jüdische Jahr
und der religiöse Alltag in der
Charmille
Vom Pinguin zum Kugel
Kulinarische Erinnerungen
an die Charmille
175
Jovan Ristic
«Was git’s hüt z’ässe?»
Koscher leben in der Charmille
181
Silvio Benz
«… eine Erfrischung des
Geistes und Gemütes»
Die Charmille als kulturelles
Zentrum
Grusswort des
Präsidenten Verein
La Charmille
Dr. Marc Herz, Präsident Verein La Charmille
Als ich angefragt wurde, ob ich als Präsident des
Vereins La Charmille ein Grusswort zur Charmille-
Ausstellung und vor allem der damit verbundenen
Publikation verfassen möchte, habe ich mich sehr
über diese Anfrage gefreut. Mich verbindet nämlich
eine über vierzigjährige Geschichte mit der
Charmille.
Bereits als Dreizehnjähriger gehörte ich zu den
Jugendlichen, die regelmässig am Samstagmorgen
den neunzigminütigen Weg zur Charmille liefen,
um mit den Bewohnerinnen und Bewohnern den
Samstagmorgen-Gottesdienst zu begehen. Danach
gab es für alle Kaffee und Kuchen, liebevoll zubereitet
vom damaligen Chefkoch Michael Bollag.
An was ich mich gut erinnern kann, ist die warme
und gemütliche Atmosphäre und das Zusammensein.
Oft teilten die betagten Menschen mit uns
Jugendlichen ihre interessanten Lebensgeschichten,
bevor wir uns wieder auf den Heimweg machten.
Ausserdem verbrachten meine Grosseltern ihren
Lebensabend in der Charmille. Sie fühlten sich
dort in ihrem grossen Doppelzimmer, ausgestattet
mit ihren eigenen Möbeln, wie zu Hause. Mein
Vater besuchte seine Eltern mehrmals in der
Woche, und meine Schwester und ich schlossen
uns ihm immer wieder an. Durch diese Treffen
und das gemütliche Kaffeetrinken pflegten wir
die Beziehung zu unseren Grosseltern.
Nicht nur für meinen Vater und uns Kinder war die
Charmille ein wichtiger Ort der Begegnung. Auch
meine Mutter besuchte ihre Schwiegereltern und
arbeitete ausserdem als Freiwillige im Café der
Charmille, was ihr grosse Freude bereitete. So war
die Charmille für mich ein wichtiger Ort, der es
möglich machte, dass mehrere Generationen miteinander
im Gespräch verbunden waren.
Aus dieser Verbundenheit entstand mein Engagement,
welches nun auch schon über zwanzig Jahre
dauert. Die «alte» Charmille ging 2001/2002 in den
Holbeinhof über und änderte dadurch auch ihren
Charakter. Was geblieben ist, ist der Kaffee und
Kuchen nach dem Gottesdienst am Samstagmorgen.
Ich wünsche Publikation und Ausstellung viel
Erfolg, d. h. viele Leserinnen und Leser bzw. Besucherinnen
und Besucher, die sich die Charmille-Zeit
im Rahmen der Ausstellung und bei der
Katalog-Lektüre nochmals vor Augen führen
können.
6
Grusswort des
Gemeinderates
Dr. Stefan Suter, Gemeinderat
Es mag mit verblichener Jugend zusammenhängen,
aber es ist gleichzeitig eine ganz besondere
Freude, wenn man den Ausgangspunkt
einer Forschung und Ausstellung noch persönlich
erlebt hat. Dies ist bei mir mit dem jüdischen
Altersheim La Charmille der Fall, denn
es verbinden mich mannigfache Gedanken an
diesen Ort.
Gerne erinnere ich mich daran, wie wir als Kinder
bei der Charmille vorbeigegangen sind, um
auf ein in der Nähe gelegenes, schon meinem
Urgrossvater gehörendes, Grundstück zu gelangen.
Dort ernteten wir Äpfel und Birnen und
waren bei der Kartoffelernte behilflich. Nicht
vergessen habe ich, wie ein gut gekleideter, immer
fröhlicher, aber offenbar kognitiv beeinträchtigter
älterer Mann aus dem Heim uns jeweils
folgte und schmunzelnd beobachtete. Da
er immer einen Hut trug, erinnerte er uns an den
Hauptdarsteller des aus der damaligen Tschechoslowakei
stammenden Kinderfilms Pan Tau.
Einige Jahre später wurde ich zusammen mit
meinem Schulfreund kirchlicherseits gebeten,
vor Ostern an verschiedenen Orten ein Osterlamm
aus Kuchenteig abzugeben. Auf unserer
Liste stand auch das Altersheim La Charmille
und dort sollten wir die Gouvernante, Frau
Mathilde «Lucie» Businger, aufsuchen. Wir
liefen auf leisen Sohlen durch die alten knarrenden
Gänge, aber fanden weder die Gouvernante
noch sonst jemanden, der Bescheid wusste.
Nach langem Zögern stellten wir das
Ostergebäck einfach auf einen Tisch und zogen
von dannen. Die Renovationsbedürftigkeit des
Heims machte einen nachhaltigen Eindruck auf
uns.
Es sind solche, letztlich unbedeutende Erinnerungen,
die das Leben prägen.
Die Geschichte des jüdischen Altersheims La
Charmille ist zugleich ein Stück Riehener Geschichte.
Der Gemeinderat ist deswegen sehr
dankbar und erfreut, dass hochkarätige Forscherinnen
und Forscher zusammen mit Interessierten
und Zeitzeugen für dieses Projekt
gewonnen werden konnten. Grosser Dank gilt
auch den Personen, die die Idee für diese Ausstellung
entwickelt haben, und jenen, die das
Projekt kritisch begleiteten.
7
Einleitung
Von Silvio Benz, Peter Bollag, Dodo Dürrenberger und Elio Leu
Es war der Abend des 24. Dezembers, wie üblich
in europäischen Breitengraden dunkel und kalt.
Ein 24. Dezember in den frühen 70er-Jahren.
Für einige ein heiliger, für andere ein gewöhnlicher
Winterabend, den man am besten gemütlich
im Haus verbrachte. Das Haus, oder
eher die Villa, stand am Ende Riehens, an der
Inzlingerstrasse 235 unweit der Grenze. Um die
Villa schmiegte sich ein schöner Park mit alten
Bäumen, die man aber jetzt im Dunkeln durch
das Fenster nicht mehr sah. Was allerdings nicht
zu übersehen war: eine Gestalt, die um die
Villa herumschlich. Nach einiger Zeit wurde
deshalb die Polizei gerufen, doch als die Beamten
mit ihrem Wagen angefahren kamen, war
die Person bereits verschwunden. Die besagte
Villa hiess Charmille und war ein jüdisches
Altersheim, weshalb hier an diesem 24. Dezember
keine besonders festliche Stimmung
herrschte. Man wartete bloss, wie gewöhnlich,
auf das Abendessen. Heute immerhin würde es
Wiener Schnitzel geben; im Vergleich mit dem
normalen Nachtessen, das oft aus einfachen
fleischlosen Speisen bestand, doch etwas Besonderes.
Die Polizisten vom Posten Riehen-
Dorf hingegen hätten diesen Abend trotz Dienst
vermutlich durchaus feierlich begangen, nur
war ihnen eben dieser Einsatz im Altersheim
in die Quere gekommen. Weil es in jenen Jahren
immer wieder zu Terroranschlägen auf jüdische
Institutionen gekommen war, nahm man das
Ganze durchaus ernst. Michael «Michy» Bollag,
der (jüdische) Koch des Hauses, hatte aber Mitleid
mit den Polizisten und warf kurzerhand
ein paar Schnitzel mehr in die Pfanne. «Was ist
schon dabei?», dachte er sich. Die Polizisten
waren davon hellauf begeistert und weil es an
diesem Abend wie meist an jedem 24. Dezember
nicht viel zu tun gab im friedlichen Riehen,
riefen sie per Funkgerät auch noch ihre restlichen
Kollegen in die Charmille. So kam es,
dass die Riehener Polizei am christlichen Heiligabend
im jüdischen Altersheim koschere
Wiener Schnitzel ass …
Diese und weitere Geschichten halten die Vergangenheit
des jüdischen Altersheims «La Charmille»
lebendig. Die Geschichten erzählen vom
Alltag und aussergewöhnlichen Festen, von
Traditionen und Brüchen – und stets von Men-
8
schen. Diese rücken wir in unserem Buch in den
Mittelpunkt. In den über fünfzig Jahren Charmille
wohnten und arbeiteten mehr als fünfhundert
Menschen im Altersheim, genaue Aufzeichnungen
existieren leider nicht mehr. Die
Charmille bot vielen Menschen eine Art Heimat,
die sonst keinen Platz in der Gesellschaft hatten.
Es waren vorwiegend alte jüdische Menschen,
aber auch jüngere Personen mit Behinderungen
oder Erkrankungen lebten im Heim. Entsprechend
gross war die Diversität, nur nannte man
das damals noch nicht so. Es unterschieden sich
die bisher gelebten Leben wie die geografischen
und sozialen Herkünfte.
Für viele Bewohner:innen war die Charmille
mehr als eine letzte Station im Leben. Für alle
verlagerte sich der Lebensmittelpunkt an den
Rand der Schweiz – eben nach Riehen. Längst
sind die letzten Bewohner:innen verstorben.
Doch Zeugnisse von den so verschiedenen Menschen
haben wir noch heute in Form von liebevollen
Erinnerungen an einen Frack, bissigen
Briefen, empathielosen Akten der Fremdenpolizei
und vielem mehr. Das Kapitel «Bewohner:innen»
widmet sich verschiedenen Biografien
und in diesem Zusammenhang auch
einer gewissen sozialen Ungleichheit, die selbst
in der überschaubaren Mini-Welt der Charmille
existierte.
Das Dorf Riehen seinerseits ist seit dem Zweiten
Weltkrieg enger verbunden mit der jüdischen
Geschichte der Schweiz. Über die Eiserne
Hand an der Grenze Riehens versuchten
jüdische Menschen vor dem mörderischen
Antisemitismus der Nazis zu fliehen. Später
öffnete eben die Charmille ihre Tore und bot
in der Nachkriegszeit gerade den verfolgten
Jüdinnen und Juden hier ein Heim. Das zweite
Kapitel behandelt den Kontext des Judentums
in Basel und in Riehen, erzählt Geschichten
über die dörfliche Nachbarschaft der Charmille
und schildert auch, wie das Heim 2002 die
Villa verliess und in die Stadt zog – näher zur
jüdischen Gemeinde.
Prägend für die Charmille waren allen voran die
Mitarbeiter:innen, gerade die alte Garde, die das
Heim über Jahrzehnte betreute und begleitete.
Ihnen, den Charmillaner:innen, wendet sich das
dritte Kapitel zu und lässt neben den prominentesten
Figuren, Gretel Epstein und Lucien Levaillant,
auch Raum für die Erzählungen noch
lebender Heimleiter:innen und Mitarbeiter:innen.
Alter und Altern ist unweigerlich ein wichtiger
Teil jedes Altersheims. Gibt es ein spezifisch
jüdisches Altern? Welche Herausforderungen
bringt das Älterwerden mit sich und wie gingen
die Charmille und ihre Bewohner:innen damit
um? Und – war die Charmille jetzt eigentlich
ein Alters- oder ein Pflegeheim? Diese Fragen
behandelt das vierte Kapitel.
Jede Gemeinschaft hat ihre Traditionen und ist
bis zu einem bestimmten Grad auch auf sie
angewiesen. Religiöse, kulturelle und kulinarische
Traditionen: Sie alle hatten in der Charmille
einen hohen Stellenwert. Der Birnenkugel
aus Michy Bollags Küche, die sonntäglichen
Konzerte oder der samstägliche Fussmarsch
von Basel nach Riehen – alle sind untrennbar
mit der Charmille verbunden und bilden das
letzte Kapitel des Buches.
9
Mitarbeiterinnen vor dem Eingang des Hauptgebäudes.
10
11
Ein Aufbruch von Anfang an
Zur Gründungsgeschichte
der Charmille
Von Gabriel Heim, Publizist, Autor und Regisseur
Am 31. Januar 1942 notierte die 32-jährige Basler
Arztgattin Hanna Schüler in ihr Tagebuch:
«Da das Problem akut geworden ist, wird man
Morgenabend nochmals zusammenkommen.»
Ihre Notiz bezog sich auf ein Treffen, das zur
Gründung eines jüdischen Altersheims im Büro
des Basler Advokaten und Mäzen Lucien Levaillant
stattgefunden hatte. Schon seit über fünf
Jahren befassten sich Mitglieder der Jüdischen
Gemeinde mit der Notwendigkeit eines eigenen
Altersheims. Die Suche nach der Finanzierung
gestaltete sich allerdings schwierig. «Langsam
wurde jedoch die Frage der Unterbringung von
älteren schweizerischen und in unserem Lande
wohnenden ausländischen Juden brennend. […]
Nachrichten über Deportationen von Juden,
Notschreie um Einreisevisen in unser Land gehören
zum täglichen Brot. […] Nach der Evakuierung
des jüdischen Altersasyls in Hegenheim
zu Beginn des Zweiten Weltkrieges drängte sich
der Gedanke eines jüdischen Altersheims in
Basel von neuem auf» 1 , beschreibt Hanna Schüler
1967 in ihrem Aufsatz für das heimatliche
Jahrbuch z’Rieche die damalige Lage. Die Notwendigkeit
eines religiös geführten Heims für
Betagte war durch den Zustrom auch älterer
Jüdinnen und Juden unumgänglich geworden.
Zudem lag in dem 1903 gegründeten Altersheim
des ehemaligen «Judendorfs» Lengnau (AG), wo
auch Mitglieder der Basler Gemeinde Aufnahme
finden konnten, eine lange Warteliste auf. Es
musste also gehandelt werden. Die kriegsbedingte
Isolierung, welche die bis dahin oft genutzte
Unterbringung betagter Basler Jüdinnen
und Juden im grenznahen Sundgau unmöglich
gemacht hatte, zwang mit Nachdruck dazu, sich
nun selbst zu helfen. Im Dezember 1942 konnte
endlich ein erstes, für diesen Zweck geeignetes
Mietobjekt im Basler Gundeldinger-Quartier,
das «Bachofenschlössli», bezogen werden.
12
Eine Postkarte des Sanatoriums La Charmille", das im Sommer 1907 von Dr. med. Alfred Jaquet-Paravicini eröffnet wurde.
Schon bei der ersten Belegung setzte sich
die Hälfte der Bewohnenden aus Emigrant:innen
zusammen, die in Basel Zuflucht gefunden
hatten. «Bei den übrigen Insassen», schreibt
Hanna Schüler, «handelt es sich um Schweizer
oder Basler Bürger. Von Anfang an galt ein
Prinzip: Im jüdischen Heim gibt es keine Armen.
Die Pensionspreise mussten gedeckt werden,
sei es von den Insassen selbst, sei es von Fürsorge-Institutionen
oder Drittpersonen.» 2
Dass das Mietobjekt nur ein Provisorium
sein konnte, um den akut gewordenen Bedarf
zu mildern, war bei allen Beteiligten von Anfang
an unbestritten. Man musste also auf die
Suche nach einem Objekt gehen, das vor allem
langfristig Abhilfe schaffen konnte. Zudem war
die Lebenserwartung der Bevölkerung rasch
ansteigend: Als die AHV 1948 eingeführt wurde,
betrug die Lebenserwartung für Frauen 69,
für Männer 65 Jahre, 3 Tendenz steigend. Die
Initianten hatten bei ihrer Suche nach einem
geeigneten Objekt und bei der Kalkulation der
Kosten also auch eine längere Verweildauer
der Bewohnenden zu bedenken.
In Riehen wurde man mit dem verwaisten
Sanatorium «La Charmille» endlich fündig,
denn: «In den Jahren des Zweiten Weltkrieges
war in den Gebäulichkeiten der Charmille kein
Leben mehr. Die Türen des Sanatoriums waren
verschlossen.» 4 Der am 16. September 1942
unter der Leitung von Lucien Levaillant gegründete
Trägerverein Jüdisches Heim La Charmillen
konnte 1946 die stattliche Liegenschaft
des Privat-Sanatoriums von den Nachkommen
des Gründers, Professor Alfred Jaquet, erwerben.
«Damit wurde eine Gebäudegruppe über-
13
Die Charmille wurde
zu mehr, als was sich
ihre Gründer und
Förderer erdenken, ja
erhoffen konnten.
«
nommen», schreibt Hanna Schüler 1967, «die
im Prinzip für einen der neuen Zielsetzung
nicht wesensfremden Zweck erbaut war. Im
Bericht an die Mitglieder des Vereins und eventuelle
Donator:innen wurde ein Kostenvoranschlag
von ca. Fr. 700 000.— für Ankauf und
Umbau präsentiert. Bei Durchführung dieser
Aufgabe stellte sich aber bald heraus, dass die
für den Umbau projektierte Summe längst nicht
ausreichte. Es mussten 1,5 Mio. Franken in Form
einer 1. und 2. Hypothek aufgenommen werden,
um den Bau zu dem gestalten zu können – ein
behagliches und gleichzeitig mit allen notwendigen
sanitären Einrichtungen versehenes Zu-
Legende xxx
14
Die Einladung und das Programm zur Eröffnungsfeier der Charmille, die am 30. November 1947 stattfand.
hause für seine Insassen.» So sollte es bis zur
Eröffnung im November 1947 noch eine Zeit
dauern.
Hanna Schüler spricht an, was die Charmilleim
Besonderen auszeichnete; das behagliche
Zuhause. Dennoch konnte es nicht nur Idylle
gewesen sein. Dazu lag die Charmille zu unmittelbar
an der Grenze zum noch viele Jahre
nach dem Krieg so verhassten und mit viel
Angst und Verlust behafteten Deutschland.
Doch trotz dieser langen Schatten gelang es
den Bewohnenden, das Haus an der Grenze zu
einem festgefügten Kokon ihrer – wenn auch
nicht immer gemeinsam geteilten – geistigen
Herkunft zu gestalten und zu erleben. Die Charmille
wurde zu mehr, als was sich ihre Gründer:innen
und Förder:innen erdenken, ja erhoffen
konnten. Sie wurde zum behüteten
Mikro kosmos eines erwachenden jüdischen
Lebens auf deutschsprachigem Boden. Unter
ihrem Dach kamen Menschen aus allen Schichten
der jüdischen Bevölkerung zueinander:
«Akademiker, Kaufleute, Handwerker, Schneiderinnen,
Lehrerinnen, [Schriftsteller:innen,
Anm. d. A.] – sie kamen aus Basel und anderen
Orten der Schweiz, aus Europa, aus den USA
und von anderen Ländern», zählt Hanna Schüler
die Bewohnerschar auf. Gemeinsam gestalteten
diese Menschen, die das Schicksal
zum Lebensende hierhergeführt hatte, die
Charmille zu einem Ort des Aufbruchs, dessen
vielstimmiger Klang nachhallt.
1
Schüler, Hanna: Das jüdische Heim La Charmille in Riehen,
in: Jahrbuch z’Rieche 1967, S. 13.
2
Ebd.
3
Bundesamt für Statistik. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/
home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/alter.html
4
Jaquet-Dolder, Nicolas: Das Sanatorium La Charmille und
sein Begründer. In: Jahrbuch z’Rieche 1967, S. 10.
15
Ein neues Zuhause
Die Geschichte der Charmille
Von Gian Zubler, Student Geschichte und Sportwissenschaften
«In diese Zeit der Atomisierung der Menschenrechte
fällt die Gründung unseres Heims. Es
war ein letzter Zufluchtsort, nichts mehr, nichts
weniger.» 1
Mit diesen Worten beschrieb Lucien Levaillant,
erster Präsident und Mitgründer des Altersheims
La Charmille, an der Einweihungsfeier
des 1959 zusätzlich gebauten Pflegeheims
die Bedeutung des Heimes in der Zeit des
Zweiten Weltkrieges. Mitten im Zweiten Weltkrieg
waren Nachrichten über die Deportationen
jüdischer Personen alltäglich, die Gräueltaten
der Nazis nahmen ein ungeheures
Ausmass an. Die Sozialarbeit der jüdischen
Gemeinde arbeitete deshalb in den Schweizer
Städten unter Hochdruck. Beispielsweise wurde
im Sommercasino in Basel für mittellose
und unter Arbeitsverbot stehende Geflüchtete
gekocht. 2 Bereits 1937 war die Idee eines jüdischen
Altersheimes in Basel präsent, wegen
fehlender finanzieller Mittel wurde das Projekt
jedoch vorerst ad acta gelegt. Doch da zu Beginn
des Zweiten Weltkrieges das jüdische
Altersasyl im französischen Hegenheim evakuiert
werden musste und es vergeblich war,
im ersten jüdischen Altersheim der Schweiz,
das bereits 1903 im aargauischen Lengnau
eröffnet worden war, freie Plätze zu suchen,
wurde das Problem der Unterbringung der älteren
jüdischen Bevölkerung immer dringlicher.
Das im Dezember 1942 durch den Verein «Jüdisches
Altersheim» bezogene Bachofenschlössli
am Fusse des Bruderholz-Quartiers bot mit
seinen freundlichen Zimmern und gemütlichen
Gemeinschaftsräumen fünfundvierzig Menschen
Platz und wurde durch die Alphonse- und
Eugénie-Levy-Stiftung finanziert, deren Vorsitzender
Lucien Levaillant war. Die Dringlichkeit
der Einrichtung wird im Kontext des Zweiten
Weltkrieges deutlich: Knapp die Hälfte der
16
Der Altbau von der Seite mit Sonnenterasse.
damaligen Bewohnenden suchte im Altersheim
Schutz vor der Judenverfolgung. Zudem war
und ist ein jüdisches Heim notwendig, da nur
ein solches den Bedürfnissen der älteren jüdischen
Bevölkerung gerecht werden kann: die
Zubereitung des Essens nach den Vorschriften
der Kaschrut, das Feiern der jüdischen Festtage
sowie auch die Geborgenheit einer jüdischen
Gemeinschaft. 3
Raus aufs Land!
Die Probleme beim Bachofenschlössli lagen im
auf fünf Jahre befristeten, unverlängerbaren
Mietvertrag sowie im beschränkten Platzangebot,
da die Warteliste stetig wuchs. Dies führte
dazu, dass sich die Verantwortlichen nach einem
grösseren geeigneten Objekt umsahen. Fündig
wurden sie an der Inzlingerstrasse 235 in Rie-
17
Der Altbau von hinten, in den unteren Fenstern spiegeln sich die Bäume des Parks.
hen: Dort stand das ehemalige Sanatorium für
Stoffwechsel- und Herzerkrankungen seit Beginn
des Zweiten Weltkrieges leer und konnte
am 1. September 1946 vom Verein «Jüdisches
Altersheim» erworben werden. 4 Das von Alfred
Jaquet-Paravicini gegründete Sanatorium wurde
1907 in Riehen eröffnet und hinterliess dem
Altersheim nicht nur die Räumlichkeiten, sondern
auch den anmutigen Namen «La Charmille».
Die Herkunft des Namens ist auf Jaquets
Frau zurückzuführen, die an der Juragrenze, im
ehemaligen Klöster Lützel aufwuchs, wo es
einen von alten Hagebuchen umfassten Weg
gab; eine sogenannte «Charmille». Beim Bau
des Sanatoriums wurde – nach dem Vorbild des
Klostergartens – ein von Hagebuchen umrahmter
Wandelweg erschaffen. 5
Eine Gemeinschaft entsteht
Nach der Übernahme musste das ehemalige
Sanatorium entsprechend dem neuen Zweck
umgebaut werden, so richtete der Verein im
zweiten Stock Zimmer für Pflegebedürftige und
Bettlägerige ein und baute die Küche zu einer
der besteingerichteten Grossküchen für koschere
Verpflegung in der Schweiz um. Im No-
18
vember 1947 war es dann so weit und die ersten
rund fünfundvierzig Bewohnenden konnten
vom Bachofenschlössli in die Charmille ziehen.
Anfangs fehlten einige Türen, der Speisesaal
war noch ohne Boden und fünfundvierzig Handwerker
arbeiteten weiterhin am Umbau, je ein
Personen- und Essenslift standen den Bewohnenden
jedoch bereits zur Verfügung. Speziell
und einzigartig an der Charmille war die grosse
Heterogenität der Bewohnenden. Ob arm
oder wohlhabend, aus Amerika, Osteuropa oder
der Schweiz, in die Charmille kamen ältere
Menschen aus den verschiedensten Ländern
und Schichten zusammen und fanden dort
unter einem Dach alle ihr neues Zuhause. Auch
wenn der Begriff Multikulturalität noch unbekannt
war, kann das damalige Leben in der
Charmille bereits damit charakterisiert werden.
Gemeinsam war vielen Bewohnenden eine Vergangenheit,
in der sie viel durchgemacht hatten
und die geprägt war von Flucht, Emigration,
Verlust und Angst. 6 Die Belegung stieg schnell
auf hundert Bewohnende, die selten in Einzelund
meist in Mehrbettzimmern lebten und von
siebenundzwanzig Angestellten betreut wurden.
Mit der Zeit sank die Anzahl der Bewohnenden,
weil es anfangs noch lauter Mehrbettzimmer
gab und nur zwei Einzelzimmer. Der gesamte
Platz des Gebäudes wurde genutzt, um alle
unterzubringen: So wurde zu Beginn sogar die
elegante Eingangshalle von sechzehn Personen
bewohnt. In den letzten Jahren der Charmille
bot das Heim nur noch neunundsechzig Menschen
Platz. 7
Durch den Umzug und den neu gewonnenen
Platz erhielt die Charmille die Möglichkeit, ein
kulturelles und religiöses Programm durchzuführen.
Die Bewohnenden konnten ein vielfältiges
und buntes Angebot nutzen: Von literarischen
und musikalischen Darbietungen
über Vorträge, Filmvorführungen oder Theatervorstellungen
bis zu Kleinkunst und Kabarett
war alles dabei. Später wurde zusätzlich eine
Beschäftigungstherapie eingeführt. 1956 konnte
der Betraum zu einer richtigen Synagoge
umgewandelt werden, wobei die Israelitische
Gemeinde Liestal der Charmille drei Thorarollen
und eine Synagogenbestuhlung vermachte,
da sie selbst aufgrund des Wegzuges
der meisten Mitglieder auf die Abhaltung von
Gottesdiensten verzichten musste. 8
Umbau – Neubau – Abbruch
Die Charmille erlebte eine ähnliche Entwicklung
wie die Altersheime in der ganzen Schweiz, die
Menschen wurden stetig älter und älter. Dies
hatte zur Folge, dass die Bewohnenden zunehmend
pflegebedürftig wurden und sich 1957
bereits ein Drittel von ihnen in der Pflegeabteilung
befand. Ein Neubau war daher unausweichlich,
weshalb der Verein 1958 mit dem
Bau eines Pflegeheims begann, das Mitglieder
der Behörden und Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens am 20. Dezember 1959 im grossen
Festsaal des Stadtcasinos in Basel feierlich
einweihen konnten. Ähnlich wie beim Alters-
Anfangs fehlten einige Türen,
der Speisesaal war noch ohne
Boden und fünfundvierzig
Handwerker arbeiteten
weiterhin am Umbau.
«
19
heim waren auch beim Pflegeheim bald alle
dreissig Betten belegt. 9 Im Pflegeheim waren
die Türen der Zimmer breiter und es gab einen
Bettenlift für den Transport der Patient:innen.
Das Parterre und das erste Stockwerk wurden
für die Unterbringung von chronisch Kranken
eingerichtet, zusätzlich gab es Untersuchungsund
Behandlungszimmer. Einladend waren für
die Bewohnenden vor allem die Liegeterassen,
auf der sie an der frischen Luft das schöne
Wetter geniessen konnten. Durch grosse Fenster
konnten die Bewohnenden bei schlechtem
Wetter die schöne Natur rund um das Heim
beobachten. Zuoberst gab es im neuen Pflegeheim
zusätzlich noch einige Einzelzimmer. 10
1988 zog der Verein Jüdisches Heim La Charmille
aus Platzgründen eine Verlegung nach
Basel in Betracht. Unter der Voraussetzung,
dass eine Synagoge in der Nähe des Heimes
sein musste, fanden die Verantwortlichen lange
keinen geeigneten Standort. Erst 1996 konnte
das neue Projekt «Holbeinhof» vorgestellt
werden. Dabei schloss sich der Verein mit dem
Alterspflegeheim Leimenstrasse zusammen,
das aufgrund seines Alters bauliche und konzeptionelle
Mängel aufwies. Eine Stiftung, die
der Verein «Jüdisches Altersheim La Charmille»
und das Bürgerspital Basel zusammen gründeten,
übernahm dabei die Trägerschaft. Im
Projekt waren hundertvierzehn Betten geplant,
wovon die Hälfte jüdischen Bewohnenden zur
Verfügung stehen sollten. Im Januar 2002 wurde
der moderne Komplex eröffnet und sechzig
Bewohnende aus der Charmille zogen in den
Holbeinhof. Dort lebten und leben sie mit nichtjüdischen
Menschen unter einem Dach zusammen.
Dabei erfolgt die Verpflegung separat
durch eine koschere und eine nicht-koschere
Küche. Ihren Bräuchen und Gepflogenheiten
können die Bewohnenden ihren Bedürfnissen
entsprechend nachgehen, die Beit Yosef-
Synagoge ist nur knapp vierhundert Meter vom
Hohlbeinhof entfernt; auch im Heim selbst
existiert eine Synagoge. 11
In den fünfundfünfzig Jahren La Charmille
in Riehen entstanden viele Erinnerungen. Das
Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichsten
Hintergründen, viele gefeierte
Feste und kulturelle Anlässe machten die Charmille
zu einem aussergewöhnlichen Ort, welcher
der Wohnüberbauung Inzlingerpark wich
und deshalb leider heute nicht mehr steht. 12
1
Festschrift: Zur Einweihungs des Alterspflegeheim «La
Charmille», Basel/Riehen 1959, S. 46.
2
Schüler, Hanna: Das jüdische Altersheim La Charmille in
Riehen, in: Jahrbuch z’ Rieche 1967, S. 12–19.
3
Schüler: Das jüdische Altersheim La Charmille, S. 12–19.
4
Schüler: Das jüdische Altersheim La Charmille, S. 12–19.
5
Jaquet-Dolder, Nicolas: Das Sanatorium La Charmille und
sein Begründer, in: Jahrbuch z’Rieche 1967, S. 5–11.
6
Schüler: Das jüdische Altersheim La Charmille, S. 12–19 &
Riehener Zeitung, 16.11.2001 & tachles, 21.5.2021, S. 12–13.
7
Riehener Zeitung, 16.11.2001.
8
Schüler: Das jüdische Altersheim La Charmille, S. 12–19 &
tachles, 21.5.2021, S. 12–13.
9
tachles, 21.5.2021, S. 4–5.
10
Schüler: Das jüdische Altersheim La Charmille, S. 12–19.
11
Knobel, Luzia: La Charmille, in: Gemeindelexikon Riehen &
Riehener Zeitung, 26.4.1996 & Riehener Zeitung, 16.11.2001.
12
Knobel: La Charmille.
20
In der koscheren Küche brutzelt das Schnitzel.
Einige Bewohnende des Altersheims rüsten
Kartoffeln fürs Mittagessen. An Sonntagen
wechseln sich im Speisesaal der lokale Jodelverein,
renommierte Solistinnen und der Synagogenchor
ab. Hier kreuzen sich die Wege von
Bewohnenden, Angestellten und Angehörigen.
Es entstehen die Geschichte und Geschichten
des jüdischen Altersheims «La Charmille», das
von 1947–2001 in Riehen stand.
Dieses Buch erzählt einige dieser Geschichten,
basierend auf Gesprächen mit Zeitzeug:innen
und Archivrecherchen. Die Beiträge beschäftigen
sich mit Festen, dem Altersheim-Alltag im
jüdischen Jahreslauf und mit den vielseitigen
Biografien. Das Buch vertieft zudem die gleichnamige
Ausstellung im MUKS Museum Kultur &
Spiel Riehen.
ISBN 978-3-7245-2756-5