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Geduld - SIFAT Heft 1/2025 - Leseprobe

Auf einer Schnecke reiten – was soll das wohl bringen? Sollte sich, wer etwas erreichen will, nicht bessere und schnellere Mittel der Fortbewegung suchen? Wozu das wiederum führen kann, macht ein mittelalterlicher Weisheitslehrer deutlich: Eines schönen Tages wanderte Eulenspiegel im Sonnenschein dahin. Plötzlich hörte er hinter sich ein lautes Getrappel und schaute sich um. In schneller Fahrt kam eine von zwei Pferden gezogene Kutsche auf ihn zu und hielt abrupt neben ihm an. Ein feiner Herr, der neben dem Kutscher saß, rief: „Sagt mal, wie lange dauert es noch bis zur nächsten Stadt?“ Eulenspiegel ließ sich einen Moment Zeit und erwiderte: „Wenn Ihr gemächlich weiterfahrt, ist es noch eine halbe Stunde. Doch bei dem Tempo, mit dem Ihr hier angebraust kamt, wird es viel länger brauchen.“ Der feine Herr schüttelte den Kopf und gab dem Kutscher ein Zeichen, schnell wieder loszufahren. Als Eulenspiegel weitergewandert war, sah er hinter einer Kurve die Kutsche mit einem zerbrochenen Rad im Straßengraben liegen. „Hab ich Euch nicht gesagt, dass es auf diese Weise viel länger dauern wird …“, sagte er im Vorbeigehen – und setzte wohlgemut seinen Weg fort. Geduld hat mit Gelassenheit, Vertrauen und Warten können zu tun. Falsch verstandene Geduld kann in Trägheit und Feigheit ausarten, während standhaftes Ausharren und Durchhaltevermögen gefragt sind. Doch Geduld haben heißt auch nicht, über alles hinwegzusehen, was geändert werden kann und sollte. Von der Geduld wird gesagt, sie sei das Geheimnis der Weisheit. Wir wünschen viel Interesse an dieser Textauswahl und Freude beim Lesen.

Auf einer Schnecke reiten – was soll das wohl bringen? Sollte sich, wer etwas erreichen will, nicht bessere und schnellere Mittel der Fortbewegung suchen? Wozu das wiederum führen kann, macht ein mittelalterlicher Weisheitslehrer deutlich:

Eines schönen Tages wanderte Eulenspiegel im Sonnenschein dahin. Plötzlich hörte er hinter sich ein lautes Getrappel und schaute sich um. In schneller Fahrt kam eine von zwei Pferden gezogene Kutsche auf ihn zu und hielt abrupt neben ihm an. Ein feiner Herr, der neben dem Kutscher saß, rief: „Sagt mal, wie lange dauert es noch bis zur nächsten Stadt?“ Eulenspiegel ließ sich einen Moment Zeit und erwiderte: „Wenn Ihr gemächlich weiterfahrt, ist es noch eine halbe Stunde. Doch bei dem Tempo, mit dem Ihr hier angebraust kamt, wird es viel länger brauchen.“ Der feine Herr schüttelte den Kopf und gab dem Kutscher ein Zeichen, schnell wieder loszufahren. Als Eulenspiegel weitergewandert war, sah er hinter einer Kurve die Kutsche mit einem zerbrochenen Rad im Straßengraben liegen. „Hab ich Euch nicht gesagt, dass es auf diese Weise viel länger dauern wird …“, sagte er im Vorbeigehen – und setzte wohlgemut seinen Weg fort.

Geduld hat mit Gelassenheit, Vertrauen und Warten können zu tun. Falsch verstandene Geduld kann in Trägheit und Feigheit ausarten, während standhaftes Ausharren und Durchhaltevermögen gefragt sind. Doch Geduld haben heißt auch nicht, über alles hinwegzusehen, was geändert werden kann und sollte. Von der Geduld wird gesagt, sie sei das Geheimnis der Weisheit. Wir wünschen viel Interesse an dieser Textauswahl und Freude beim Lesen.

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Zeitschrift für Universalen Sufismus

Grafik: Shutterstock

53. Jg.

Heft 1

April 2025

Geduld


Sufismus

ist eine uralte Weisheit und zugleich eine Methode der geistigen Schulung, die

Menschen befähigt, diese Weisheit in ihrem täglichen Leben zu verwirklichen.

Der Universale Sufismus

nach Hazrat Inayat Khan ist nicht auf bestimmte Dogmen, Rituale oder

spirituelle Techniken festgelegt.

Der Universale Sufismus baut eine Brücke über die Unterschiede und Grenzen,

die Menschen und Religionen voneinander trennen. Er ermöglicht auch, die

eigene Religion besser zu verstehen und zu leben, weshalb jeder diesen Weg

gehen kann, unabhängig von der Religionszugehörigkeit.

Hazrat Inayat Khan

wurde am 5. Juli 1882 in der indischen Stadt

Baroda geboren. Seine hoch angesehene Familie

war durchdrungen vom Geist mystischer Religiosität

und von der Liebe zur klassischen indischen

Musik. Inayat Khan war von Kind auf in Kontakt

mit den geistigen Traditionen des Islam wie des

Hinduismus, in einer Atmosphäre freundlicher

Toleranz über alle konfessionellen Grenzen hinweg.

Im Jahre 1910 bekam er von seinem spirituellen

Lehrer, Abu Hashim Madani, der der Sufi-

Tradition der Chishtis angehörte, den Auftrag,

den Sufismus in den Westen zu bringen. Hier

wurde er der Begründer und das geistige Oberhaupt

(Pir-o-Murshid) der Sufi-Bewegung und ihrer esoterischen Schule, des

Sufi-Ordens (heute Inayatiyya), und er schuf den Universellen Gottesdienst.

Längere Zeit lebte er in Suresnes bei Paris, von wo er oft zu Reisen in die

ganze westliche Welt aufbrach. Seine Vorträge füllen die 13 Bände seiner „Sufi-

Botschaft“. Er starb am 5. Februar 1927 in New Delhi.

Hazrat Inayat Khans Lehre und die seiner Nachfolger ist geprägt von einer

umfassenden Toleranz, einer Verehrung und Liebe zu allen Prophetinnen und

Propheten und Heiligen der Menschheit und einem Verständnis gegenüber der

Vielfalt der religiösen Traditionen und Lebenserscheinungen.


Inhaltsverzeichnis

Geduld

Vorwort der Redaktion 4

Hazrat Inayat Khan: Geduld 5

Hazrat Inayat Khan und Pir Zia Inayat Khan:

Was wir in den Goldenen Regeln über Geduld erfahren können 7

Pir Zia Inayat Khan: Über das Maßhalten 10

Nawab Pasnak: Auf der Suche nach Geduld 14

Neil Douglas-Klotz: 99. As-Sabur (Ausdauer) 16

Vier Geschichten zu Aspekten der Geduld 18

Geshe Pema Samten: Geduld üben, Ruhe bewahren 20

Dirk Stemper: Geduld 24

Dalai Lama: Der kluge Egoismus: Geduld und universelle Verantwortung 28

Noemi Berger: Hillels Geduld 33

Udo Hahn: Geduld – Alles kann sich ändern 35

Hildegard von Bingen: Zorn – das 6. Laster des Menschen 40

Dietrich Bonhoeffer: Trübsal bringt Geduld 42

Dietrich Bonhoeffer: Von guten Mächten 42

Anselm Grün: Der Engel der Geduld 44

Elisabeth Mariam Müller: Geduld und Gottvertrauen im Islam 46

Lex Hixon: Eine Einführung in islamische Spiritualität 50

Texte aus den Heiligen Schriften der Weltreligionen 52

Mandalas zum Ausmalen – Herkunft und Bedeutung 55

Drei Gedichte:

Adalbert Ludwig Balling: Geduld 57

Rainer Maria Rilke: Was mich bewegt 58

Marie Luise Kaschnitz: Geduld 59

Blick aus dem Fenster 59

Buchbesprechung: Jan Ilhan Kizilhan: Nachtfahrt der Seele

– Von einem, der auszog, das Licht zu suchen 60

Neuerscheinung: Pir Zia Inayat Khan: Die Mystik des ewigen Seins 61

Impressum 62

Hazrat Inayat Khan: Worte zur Geduld 63

SIFAT 1 | 2025 – Geduld 3


Vorwort der Redaktion

Liebe Leserinnen und Leser,

auf einer Schnecke reiten – was soll das wohl bringen? Sollte sich, wer etwas

erreichen will, nicht bessere und schnellere Mittel der Fortbewegung suchen?

Wozu das wiederum führen kann, macht ein mittelalterlicher Weisheitslehrer

deutlich:

Eines schönen Tages wanderte Eulenspiegel im Sonnenschein dahin. Plötzlich hörte

er hinter sich ein lautes Getrappel und schaute sich um. In schneller Fahrt kam eine

von zwei Pferden gezogene Kutsche auf ihn zu und hielt abrupt neben ihm an. Ein

feiner Herr, der neben dem Kutscher saß, rief: „Sagt mal, wie lange dauert es noch

bis zur nächsten Stadt?“ Eulenspiegel ließ sich einen Moment Zeit und erwiderte:

„Wenn Ihr gemächlich weiterfahrt, ist es noch eine halbe Stunde. Doch bei dem

Tempo, mit dem Ihr hier angebraust kamt, wird es viel länger brauchen.“ Der feine

Herr schüttelte den Kopf und gab dem Kutscher ein Zeichen, schnell wieder loszufahren.

Als Eulenspiegel weitergewandert war, sah er hinter einer Kurve die Kutsche

mit einem zerbrochenen Rad im Straßengraben liegen. „Hab ich Euch nicht gesagt,

dass es auf diese Weise viel länger dauern wird …“, sagte er im Vorbeigehen – und

setzte wohlgemut seinen Weg fort.

Geduld hat mit Gelassenheit, Vertrauen und Warten können zu tun. Falsch verstandene

Geduld kann in Trägheit und Feigheit ausarten, während standhaftes

Ausharren und Durchhaltevermögen gefragt sind. Doch Geduld haben heißt

auch nicht, über alles hinwegzusehen, was geändert werden kann und sollte.

Von der Geduld wird gesagt, sie sei das Geheimnis der Weisheit. Wir wünschen

viel Interesse an dieser Textauswahl und Freude beim Lesen.

Bei solch verschiedenartigen Bedeutungen lohnt es sich, sich mit dem Thema

Geduld näher zu befassen. Dazu haben wir wieder eine Reihe von Texten zusammengestellt,

die von unterschiedlichen Standpunkten aus Beiträge liefern.

Wir wünschen viel Interesse an der Textauswahl und Freude beim Lesen.

Die Redaktion:

Hans-Peter Baum, Claudia Nüssen, Armaiti Winkler-Reber

4 SIFAT 1 | 2025 – Geduld


Hazrat Inayat Khan: Geduld

Hazrat Inayat Khan

Geduld

Je größer das Ziel deines Strebens, umso mehr Geduld ist erforderlich. Es gibt

in der menschlichen Natur eine ungeduldige Seite, die einem das Gefühl gibt,

man müsse auf der Stelle den Gipfel erreichen. Wer jedoch ungeduldig auf sein

Ziel zustrebt, geht oft fehl. Beim Klettern gibt es Stufen, die man gemächlich

erklimmen sollte. Man sollte das Ziel und die Stufen, die noch zu bewältigen

sind, gleichzeitig fest im Auge haben. Ohne Geduld beim Ersteigen der Stufen

und beim Überwinden der nötigen Entfernung zum Ziel wird man irgendwann

scheitern. Dies zeigt, dass es auf dem Pfad der Verwirklichung drei Hauptpunkte

zu beachten gilt: Stetigkeit in der Konzentration, das angestrebte Ziel fest vor

sich zu halten; gleichzeitig, sich offenen Auges der vor einem liegenden Schritte,

die bis zum Ziel bewältigt werden müssen, bewusst zu sein; und der dritte Punkt

ist die geduldige Ausdauer.

Geduld ist die schwierigste Sache im Leben; ist sie einmal gemeistert, wird

der Mensch Meister aller Schwierigkeiten sein. Mit anderen Worten könnte

man Geduld als die Kraft des Durchhaltevermögens bezeichnen, das zum Erreichen

der gewünschten Dinge oder Umstände nötig ist. Man bezeichnet den Tod

als das Schlimmste im Leben, tatsächlich ist Geduld aber häufig schlimmer als

der Tod. Wer sich verzweifelt um Geduld bemüht, würde sogar den Tod diesem

Zustand vorziehen.

Geduld ist eine Lebenskraft, eine spirituelle Kraft, die größte Tugend, die

ein Mensch haben kann. denn sie ist das Kreuz, an dem der Geduldige gekreuzigt

wird. Und so wie Auferstehung der Kreuzigung folgt, so folgen Erfolg und

Glück den schwierigen Geduldsproben. Die Intelligenz achtet auf die Schritte

hin zum Ziel, und dadurch trägt die geduldige Arbeit Früchte. Geduld und

Intelligenz werden so zu Flügeln der Konzentrationskraft. Durch diese Kraft

wird der gewünschte Gedanke so festgehalten, dass er sich nicht mehr ändert.

Wer sich nicht zwischen zwei Dingen entscheiden kann, ist zu bedauern.

Ihm fehlt Konzentration. Zielstrebigkeit ist der Hauptschlüssel zur Konzentration.

Man muss sich seines Zieles ununterbrochen bewusst sein und darf dem

Geist keine Ablenkung erlauben. Auch Dinge, die nützlich, schön und besser als

das Ziel erscheinen, müssen als Versuchungen verstanden werden. Das einmal

gewählte Ziel, dessen Verwirklichung man in Angriff genommen hat, muss auch

erreicht werden, oder aber man sollte kein Ziel im Leben haben.

Was man im Leben wertschätzt, ist es auch wert, angestrebt zu werden, gleich-

SIFAT 1 | 2025 – Geduld 5


Hazrat Inayat Khan: Geduld

gültig ob es von materiellem oder spirituellem Nutzen ist. Wer eine gewünschte

Sache mit den Schwierigkeiten oder Kosten ihrer Realisierung aufrechnet, kennt

weder den wirklichen Wert der Sache noch den Weg, sie zu bekommen. Als erstes

muss man auf dem Pfad lernen, die gewünschte Sache höher zu bewerten als

den dafür zu zahlenden Preis. Auch wenn die Sache die Kosten nicht wert ist, so

besagt doch das Gesetz der Verwirklichung, dass ein gewünschtes Ziel zu jedem

Preis erreicht werden muss.

Bedeutende Menschen, die in ihrem Leben Großartiges vollbrachten, haben

in dieser Weise erfolgreich gehandelt. Nichts in der Welt konnte sie vom einmal

angepeilten Ziel abbringen. Sie waren auch bereit, für ihr Ziel mit dem Leben

zu bezahlen. Wer sich von dieser Einstellung bei der spirituellen Suche leiten

lässt, wird die Einheit mit Gott erfahren, denn die wahrhaft Suchenden bleiben

niemals auf halbem Wege stehen. Entweder sie gewinnen, oder sie verlieren sich

selbst. Hatha-Yoga bedeutet Enthaltsamkeit oder Strenge, dem Willen unbedingt

zu folgen; nichts anderes kann stattdessen befriedigen. Die sich entmutigen

lassen und auf halbem Wege umkehren, werden nie ein Ziel erreichen.

Insbesondere ein Mensch, der voller Hoffnung einen Schritt auf dem göttlichen

Pfad vorangeht und dann voller Zweifel zwei Schritte zurück, dieser wird

insgesamt zurückgehen oder sich auf der Stelle bewegen. Durch das ernsthafte

Verfolgen des Zieles, sei dieses himmlisch oder irdisch, mit der Bereitschaft alles

zu opfern, erreicht die Seele wonach sie strebt: Vollkommenheit, die einzige

Befriedigung im Leben.

Fortschritte auf dem Weg zur Verwirklichung bewirken manchmal ein übersteigertes

Selbstvertrauen in den Erfolg. Wenn dies zur falschen Zeit geschieht,

entsteht daraus eine Art Nachlässigkeit, und oft schwächt dies die Begeisterung.

Zum Beispiel baut jemand ein Haus und ist besonders bei den Details sehr

sorgfältig und aufmerksam. Rückt dann die Fertigstellung näher, denkt er vielleicht:

„Da bis jetzt alles gut gelaufen ist, wird das letzte Stück mit Sicherheit

auch noch gelingen.“ Dann wird er möglicherweise nachlässig, verliert einiges

an Begeisterung und Sorgfalt fürs Detail, was Enttäuschung nach sich ziehen

kann. Deshalb sind Selbstvertrauen, Begeisterung und Aufmerksamkeit Kräfte,

die ökonomisch verwendet werden müssen und nicht verschwenderisch.

Die zu Beginn der Arbeit vorhandene Kraft muss bis zum Ende ausreichen.

Wenn sie auf halbem Wege einbricht, ruiniert dies oft das ganze Unterfangen.

Stolz ist ein großer Feind des Menschen. Manchmal ist ein Mensch stolz auf das

vor ihm liegende große Ziel, das er erreichen will. Auch wer einen Teil seiner

Arbeit beendet hat, entwickelt Stolz in der Hoffnung, dass er nun auch noch

den Rest schaffen wird. Aber Stolz blendet in all seinen Formen; ein stolzer

6 SIFAT 1 | 2025 – Geduld


Hazrat Inayat Khan und Pir Zia Inayat Khan: Goldene Regeln zum Thema Geduld

Mensch kann seinen Weg nicht klar sehen. Wurde irgendein Ziel im Leben

erreicht, so ist es weise, den Verdienst dafür nicht sich selbst zuzuschreiben,

sondern diese Kraft und Weisheit in dem Allmächtigen Gott zu erkennen.

Hat ein Mensch im Leben etwas erreicht, geschieht es oft, dass er davon

gefangen gehalten wird, wie eine Spinne in ihrem Netz. Freiheit ist die Natur

des Lebens, und keine noch so großartige Errungenschaft ist wünschenswert,

wenn sie über die Freiheit der Seele herrscht. Deshalb muss man immer darauf

achten, über den erreichten Dingen zu stehen, statt darunter. Meister ist, wer

die Dinge und Umstände des Lebens beherrscht; und derjenige wird zum Sklaven,

der von den Dingen dieser Erde kontrolliert wird.

Des Lebens größtes Geheimnis ist die Kontinuität der Entwicklung. Hört

Entwicklung auf, so ist das wie der Tod, und solange der Mensch sich entwickelt,

kann Sterblichkeit ihn nicht berühren. Ob mit oder ohne Erfolg, wenn

die Seele etwas zu erreichen wünscht, muss die Suche fortgesetzt werden, und

durch Zielstrebigkeit wird eine Brücke von der Erde zum Himmel gebaut und

vom Menschen zu Gott.

aus: Hazrat Inayat Khan, Meisterschaft – Spirituelle Verwirklichung in dieser Welt,

Verlag Heilbronn 2018, S.34-36

Hazrat Inayat Khan und Pir Zia Inayat Khan

Was wir in den Goldenen Regeln über Geduld

erfahren können

GOLDENE REGEL 4

Mein gewissenhaftes Selbst, übe Beständigkeit in der Liebe.

Diese Regel soll uns daran erinnern, der Liebe treu zu sein, keinen Ablenkungen

nachzugeben und nicht in Gleichgültigkeit zu verfallen. Sie soll uns erinnern,

immer wieder zurückzukehren zu dem tiefen Gefühl im Herzen, das uns mit

allem vereint, was wahr, gut und schön ist, das heißt, mit allem, was existiert.

GOLDENE REGEL 5

Mein gewissenhaftes Selbst, brich nie dein Ehrenwort,

was immer auch geschieht.

Diese Worte verweisen auf unsere Ehre, die bewusste Verpflichtung gegenüber

unserem Ideal. Sie erinnern uns daran, dass wir, wenn wir ein Versprechen gege-

SIFAT 1 | 2025 – Geduld 7


Hazrat Inayat Khan und Pir Zia Inayat Khan: Goldene Regeln zum Thema Geduld

ben haben, dieses Versprechen in Ehren halten müssen, auch wenn es ein Opfer

bedeutet. Wenn wir verantwortlich und zuverlässig sein wollen, jemand, auf den

man sich verlassen kann, dann ist unser Wort unsere Verpflichtung, und es ist

unbedingt erforderlich, sie zu erfüllen.

GOLDENE REGEL 6

Mein gewissenhaftes Selbst, begegne der Welt in allen Lebenslagen

mit einem Lächeln.

Es ist normal zu lächeln, wenn die Umstände günstig sind. Die Herausforderung

dieser Regel besteht darin, dass wir lernen zu lächeln, auch wenn wir in

Not sind; auch wenn wir müde, überfordert und erschöpft sind, immer noch

zu lächeln, wenn nicht mit unserem Mund, so doch mit dem, was Inayat Khan

„die lächelnde Stirn“ nennt, das heißt mit einem Gesicht, das strahlt. Was ist

mit diesem Lächeln gemeint? Ein Lächeln auf den Lippen ist wunderbar. Wenn

er von der „lächelnden Stirn“ redet, dann meint er damit, dass man Liebe,

Verständnis, Vergebung und Segen ausstrahlt. All das geht von einem Gesicht

aus, das freundlich und offen für die Welt ist. Noor Inayat Khans letzte Worte

sind im wahrsten Sinne wie ein Lächeln angesichts entsetzlicher Gewalt und

Dunkelheit. Sie zog es vor, nicht in gleicher Weise mit feindseligen Worten zu

reagieren. Mitten in einer Atmosphäre von Gewalt die Fähigkeit zu haben, die

Freiheit zu verkünden, kann nichts anderes als ein Lächeln sein. In jeder Lage

können wir darüber nachdenken: „Was für ein Lächeln ist die beste Antwort auf

den gegebenen Augenblick?“ Ist es ein Lächeln der Lippen, der Stirn, oder ist es

ein Wort? In allen Situationen besteht die Möglichkeit eines Lächelns. Noor ist

der beste Beweis für diese Aussage.

Es gab einmal ein Dorf, das war umgeben von einer hohen Mauer, und

die Dorfbewohner fragten sich immer, was wohl hinter dieser Mauer lag. Es

war terra incognita, der Ort des Mysteriums. Von Zeit zu Zeit wagte es ein

unerschrockener Mensch, über die Mauer zu steigen, aber diese wagemutigen

Erkunder kehrten nie zurück. Und so blieben die Dorfbewohner im Dunkeln.

Schließlich hatte jemand von ihnen eine Erleuchtung. Er dachte, wenn ich mir

ein Seil umbinde und über die Mauer steige, kann mich mein Freund zurückholen,

und dann wird das Geheimnis gelüftet. Dieser Mann erklomm also die

Mauer, erreichte die andere Seite und wurde zurückbefördert. Aber es gab ein

Problem. Alle waren begierig herauszufinden, was der Mann über dieses fremde

Land jenseits der Mauer zu berichten hatte. Sie stellten ihm endlose Fragen,

doch er antwortete nicht; tatsächlich sprach er überhaupt nicht mehr. Von diesem

Tag an war er stumm, aber die Dorfbewohner bemerkten, dass eine Verän-

8 SIFAT 1 | 2025 – Geduld


Hazrat Inayat Khan und Zia Inayat Khan: Goldene Regeln zum Thema Geduld

derung in ihm vorgegangen war: Immer trug er in seinem Gesicht ein breites,

strahlendes Lächeln. Und die Mauer war seitdem bekannt als die „Mauer des

Lächelns“. Das Lächeln ist ein natürlicher Ausdruck eines Zustands inneren

Friedens, und es bringt anderen Menschen Frieden. Aber es stimmt auch, dass

das Lächeln, angewandt als Übung, uns helfen kann, unseren Frieden zurückzugewinnen,

wenn wir unsere innere Ruhe verloren haben. Das Lächeln bringt

also nicht nur Frieden zum Ausdruck, sondern ruft ihn auch im Innern hervor.

GOLDENE REGEL 9

Mein gewissenhaftes Selbst, halte dein Ideal unter allen Umständen hoch.

Diese Regel ruft uns auf, unser Ideal hochzuhalten. Wenn wir darüber nachdenken,

erkennen wir möglicherweise, dass die Essenz unseres Ideals die verborgene

Vollkommenheit in uns selbst ist, die Gegenwart des Göttlichen. Mein Vater

sagte immer, dass das Gebet die kreativste aller Tätigkeiten ist. Oberflächlich

betrachtet erscheint es als ein wenig kreativer Akt. Während wir uns draußen in

der Welt aufhalten und Dinge tun und Sachen herstellen, sind diejenigen, die

beten, scheinbar unproduktiv. Wenn wir jedoch die göttlichen Namen anrufen,

dann öffnen wir unser Herz, um die göttlichen Qualitäten im Innern zu empfangen.

Und so werden wir neu erschaffen nach dem Bild Gottes. Wenn wir

dann handeln, so ist es das göttliche Handeln, das durch uns wirkt. Die Persönlichkeit

Gottes blüht auf und offenbart sich in unserer Persönlichkeit, die sich

entfaltet, tiefer und weiter wird.

Diese Regel erinnert uns auch daran, dass eine Veränderung der Umstände

um uns herum keine Rechtfertigung für eine Veränderung unseres Ideals sein

kann. Großzügigkeit und Freundlichkeit müssen auch angesichts von Schwierigkeiten

aufrechterhalten werden, sonst spiegeln wir einfach nur, was auf uns

zukommt, und stehen nicht entschlossen zu dieser höheren Lebenseinstellung,

die unser Ideal ist. Achten Sie auf die Versuchung, den Einflüssen, die auf Sie

einwirken, nachzugeben und dadurch von der klaren inneren Führung durch

Ihr eigenes Gewissen abzuweichen. Versuchen Sie, Ihr Ideal unter allen Umständen

hochzuhalten. Beobachten Sie, wie schnell das geschehen kann, innerhalb

eines Augenblicks und ohne nachzudenken. Plötzlich ist man in bloßes Reagieren

abgerutscht. Wer stattdessen innehält und nachdenkt, kann vielleicht der

Versuchung Einhalt gebieten und in aller Klarheit an seinem Ideal festhalten.

Man kann sein Selbst daran erinnern, dass der Wert, der darin liegt, sein Ideal

hochzuhalten, nicht vergleichbar ist mit den unbedeutenden Vorteilen, die man

gewinnt, wenn man seine Ideale verleugnet. Im Moment mögen diese Vorteile

attraktiver erscheinen, während sein Ideal hoch halten vielleicht bedeu-

SIFAT 1 | 2025 – Geduld 9


Pir Zia Inayat Khan: Über das Maßhalten

ten würde, diese Gewinne aufzugeben. In den Augen der Welt würden wir mit

unserer Entscheidung sehr schlecht dastehen. Aber wir würden den hohen Wert

unserer Entscheidung erkennen und wüssten, auch Gott kennt ihren Wert.

In der Stille unserer aufrichtigen Kontemplation kommt es genau da rauf an.

Wenn wir diese Welt verlassen, dann verlassen wir sie mit den Idealen, die wir

unverletzt hochgehalten haben.

aus: Hazrat Inayat Khan, Pir Zia Inayat Khan, Ritterschaft des Herzens,

Herausgeber: Inayatiyya Deutschland e.V., Verlag Heilbronn 2021

Hazrat Inayat Khan (* 5. Juli 1882 in Baroda; † 5. Februar 1927 in Neu-Delhi) ist der

Gründer des Internationalen Sufi Ordens und der Internationalen Sufi-Bewegung. Er

gilt als Wegbereiter zahlreicher sufischer Organisationen in Europa und den USA.

Pir Zia Inayat Khan ist ein Gelehrter und Lehrer des Universalen Sufismus in der Tradition

seines Großvaters Hazrat Inayat Khan. Zia Inayat-Khan ist Präsident von „The

Inayatiyya“ und Gründer der Suluk Academy, einer Schule für kontemplative Studien

in den USA und in Europa. Zusammen mit Shaikh al-Mashaikh Mahmood Khan

leitet er den Ritterorden der Reinheit.

Pir Zia Inayat Khan

Über das Maßhalten

E

ntlang des Weges lass Harmonie deine Richtschnur sein. Damit meine ich

den festen Entschluss, die Nerven deiner Freunde und Feinde zu beruhigen,

anstatt sie zu reizen.

Nimm einmal an, ein Bekannter ist in einem aufgebrachten Zustand,

beschimpft dich auf alles andere als höfliche Weise und wirft dir ein Vergehen

vor, an dem du deines Wissens nach völlig unschuldig bist. Wie wirst du reagieren?

Wenn in deinem Herzen nicht Frieden und Geduld wohnen, wird das

Feuer dieses Gesellen auch dich entzünden. Dann wirst du ebenfalls qualmen

und rauchen. Aber stell dir vor, dass du stattdessen innehältst und atmest. Sage

dir, die Hitze dieses Herren ist nicht meine Sache, ich beschränke mich darauf,

sein erzürntes Gemüt zu besänftigen, bis die Wahrheit allmählich an den Tag

kommt und Klarheit schafft, so dass er wieder zu seiner rücksichtsvollen Haltung

mir gegenüber zurückfindet.

Wenn du verstanden hast, dass die Art, wie andere dich behandeln, wenig

über deine Qualitäten und viel über die Qualitäten der anderen aussagt, wirst

10 SIFAT 1 | 2025 – Geduld


Pir Zia Inayat Khan: Über das Maßhalten

du von dem Zwang, auf gleiche Weise wie sie zu reagieren, befreit sein. Ein

Derwisch genoss einst seinen Spaziergang, als plötzlich Trompeten in seinen

Ohren dröhnten und ein Lakai ihn roh beiseitestieß und schrie: „Mach den Weg

frei.“ Mit gelassener Miene antwortete der Derwisch: „Genau deswegen.“ Einen

Augenblick später erschien ein Ghazi auf einem Pferd und bat um seine Aufmerksamkeit:

„Mein Herr, Seine Majestät wird auf diesem Wege entlangkommen.

Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir den Gefallen tun und zur

Seite gehen würden.“ Der Derwisch nickte und antwortete: „Genau deswegen.“

Gleich darauf erschien der Sultan auf dem Rücken eines Elefanten.

Als er den Derwisch erblickte, stieg er vom Elefanten herab und verbeugte

sich schweigend. Der Derwisch lächelte und sagte: „Genau deswegen.“

Schließe deine Augen und beobachte deinen Atem. Konzentriere dich

zunächst auf dein Einatmen. Während du einatmest, nimm die Atmosphäre

deiner Umgebung auf. Sauge den Duft des Ortes ein, an dem du dich befindest.

Lass diesen Duft und die Wesen, die sich in seinem Einflussbereich aufhalten,

deinen Körper, deinen Geist, dein Herz und zuletzt deine Seele ganz erfüllen.

Dann halte deinen Atem an. Tauche ein in dein Zentrum, deine ewige Natur,

den unwandelbaren Zeugen in der Tiefe deiner Psyche. Nimm deinen inneren

Zustand wahr, die Gestimmtheit deiner Seele. Beim Ausatmen beobachte, wie

die Klangfarben deines inneren Wesens durch dein Herz, deinen Geist und Körper

nach außen strömen, so dass sie schließlich in deinem Blick aufscheinen und

in deinen Fingerspitzen ein Kribbeln auslösen.

Spüre jetzt ganz bewusst die Ebbe und Flut deines Atems: wie beim Einatmen

die Anforderungen der Außenwelt auf dich einstürmen und wie beim

Ausatmen deine Seele der Welt ihren Stempel aufsetzt. Möglicherweise scheinen

diese zwei Bewegungen zuerst nicht gut zusammenzupassen. Aber beobachte sie

mit Geduld. Allmählich wird ein unerwartetes liebevolles Gefühl in dir aufsteigen.

Die Welt bleibt die Welt und deine Seele bleibt sie selbst, doch langsam

entsteht ein Band der Zuneigung und des Einklangs zwischen beiden. Dieses

Band ist Harmonie, und das ist das Geheimnis des Lebens.

Harmonie beruht auf Gelassenheit, auf dem tiefen Frieden der Seele. Diese

innere Ruhe ist der Gegenpol zu Erregung und Zerstreutheit. Gelassenheit

zu üben heißt, an der Schwelle der Unendlichkeit zu stehen und dabei in einer

gegebenen Situation zwar die Notwendigkeit zum Handeln zu sehen, trotzdem

aber Ruhe und Klarheit zu bewahren und nicht einfach blind zu reagieren.

Einst war Hazrat 'Ali – möge Gott sein Antlitz ehren – in einen Kampf mit

SIFAT 1 | 2025 – Geduld 11


Pir Zia Inayat Khan: Über das Maßhalten

einem wütenden Widersacher verwickelt. Nach und nach gewann der Löwe

Gottes die Oberhand. Als sein Feind zu Boden stürzte, hob 'Ali seinen Arm, um

ihm mit dem Schwert den tödlichen Hieb zu versetzen. Da spuckte als letzte

Geste seines Widerstands der gefallene Krieger seinem siegreichen Gegner ins

Gesicht. Sofort wurde 'Alis erhabenes Antlitz rot vor Zorn. Der unterlegene

Angreifer zuckte zusammen und erwartete seinen Untergang. Der Löwe Gottes

aber steckte sein Schwert in die Scheide und ging fort. Verblüfft erhob sich der

Kämpfer und folgte ihm, um zu erfahren, warum er verschont geblieben war.

Hazrat 'Ali antwortete: „Als du mir ins Gesicht spucktest, hast du meine Wut

entfacht. Ärger aber ist für mich kein angemessenes Motiv für meine Handlungen.“

Gelassenheit ist der Schlüssel zur Stärke. Die Hand, die vom Affekt geführt

wird, verfehlt gar zu leicht ihr Ziel. Meisterschaft beruht auf ruhigen Nerven

und festem Charakter. Misstraue dir, mein Sohn, wenn dein Blut kocht. Wenn

dein Herz in deiner Brust rast und dein Atem flach und schnell geht, dann

stecke dein Schwert in die Scheide und halte deinen Mund. Kämpfe zu einer

anderen Zeit oder bitte um Frieden.

Wenn du im Glauben gefestigt und in deiner Seele still bist, dann wird dein

Ziel das richtige, deine Zunge Silber sein, und alles, worauf du deinen Geist

konzentrierst, wirst du mit müheloser Sicherheit ausführen. Du wirst keine milden

Gaben von der Welt brauchen und sie auch nicht erwarten, und wenn dich

das Schicksal herausfordert, wirst du seine Schleudern und Pfeile mit unverzagter,

heiterer Gelassenheit ertragen.

Hast du wahre Gelassenheit erreicht, verwandle dich in eine Naturkraft.

Schau, wie die Erde den Müll verarbeitet, den die Menschen auf ihrem Rücken

anhäufen, und wie das Meer bereitwillig die schädlichsten Giftstoffe aufnimmt.

Der Himmel hat Raum für alles und jedes, und irgendwie bewahrt er dabei

seine Reinheit. Die Elemente kennen die Bedeutung der Stabilität und inneren

Stärke, denn sie waren hier von Anfang an. Auch du bist immer schon hier

gewesen, nur weißt du es nicht. In diesem Wissen liegt die Wurzel der Seelenstärke.

Vielleicht hast du von Sultan Ibrahim Adham gehört, dem König, der seinen

Thron verließ, um nach dem Wahren zu suchen. Nach zehn Jahren des

Herumwanderns fand er Scheich Fuzayl ibn 'Ayaz und wusste, dass er seinen

Meister gefunden hatte. Der Scheich nahm ihn in seinen Kreis auf, entdeckte

aber bald in ihm Restspuren königlicher Arroganz. Um seine Persönlichkeit von

diesem – wenn auch nur leichten – Makel zu reinigen, trug er ihm auf, täglich

den Abfall in einem Korb wegzutragen. Eines Tages, als Ibrahim gerade seine

12 SIFAT 1 | 2025 – Geduld


Pir Zia Inayat Khan: Über das Maßhalten

Aufgabe erledigen wollte, wies der Scheich einen anderen Schüler an, den Korb

umzukippen. Ibrahim reagierte spontan mit vorwurfsvollen Worten, doch dann

besann er sich, sammelte den Müll wieder ein und ging seines Weges. Etwas

später befahl der Scheich erneut, seinen Korb umzuwerfen. Dieses Mal hielt

Ibrahim seinen Mund, warf aber dem Übeltäter einen frostigen Blick zu. Als

der Scheich davon erfuhr, schüttelte er sanft seinen Kopf. Nach einiger Zeit wiederholte

der Scheich den Test. Jetzt schaute Ibrahim den Störenfried überhaupt

nicht mehr an. Er kniete einfach nieder und sammelte den auf dem Boden

verstreuten Müll wieder ein. Als der Scheich das hörte, füllten sich seine Augen

mit Tränen, und er ernannte Ibrahim zu seinem Nachfolger.

Ibn Gahmuret, die Suche deiner Seele begann am Anfang der Zeit, und sie

wird erst am Ende der Zeit ihren schicksalhaften Abschluss finden. Zwischen

dem Ursprung und dem Ziel wird dir alles Mögliche gezeigt werden. Alles, was

du sehen sollst, wird dir am Ende gezeigt worden sein, weil es gezeigt werden

musste. Es ist alles ein Zeichen der Wahren, und die Wahre kann nicht anders

sein, als sie ist, denn in der Tat ist die Wahre alles, was ist. Deshalb gib dich

zufrieden und lerne, das Schicksal zu lieben. Beherzige die Worte des weisen

Dhu'n-Nun, der sprach: „Zufriedenheit ist die Ruhe des Herzens mitten in den

Wechselfällen des Schicksals.“

Zufriedenheit führt zu einer gewissen Zurückhaltung, einer mühelosen

Ernsthaftigkeit. Der Freund des Schicksals bleibt unbeeinflusst vom wechselnden

Wetter ständig vorbeiziehender Gedankenwolken, die den Himmel seines

Geistes trüben. Ein Wächter steht zwischen seinen Leidenschaften und seinen

Handlungen. Dieser Wächter ist seine ruhige Meisterschaft, seine sanfte Selbstbeherrschung.

Er duldet keinen Mangel an Liebenswürdigkeit und Anstand. Ist

auch seine durstige Kehle so trocken wie die Sahara, er wird den Becher, der vor

ihm steht, nicht anrühren, bevor es angemessen ist, aus ihm zu trinken.

Die Weisen kennen die Weisheit des Maßhaltens. Da die Gesundheit unseres

Körpers von einer ausgeglichenen Gemütsverfassung abhängt, erfordert ein

gesundes Leben eine Ausgewogenheit in unseren Gewohnheiten und Aktivitäten.

Alles ist gut, wenn es maßvoll gehandhabt, und schlecht, wenn es ins Extrem

geführt wird. Fehlt die angemessene Ausgewogenheit, dann wird aus Großmut

Verschwendung, Interesse verwandelt sich in Einmischung, Mut wird zu Tollkühnheit

und Reinheit entwickelt sich zu Prüderie.

Mit zunehmender Weisheit wächst die Liebe zur Einfachheit. Luxusgüter

verlieren ihren Glanz, und man lernt, die größte Befriedigung und Freude aus

SIFAT 1 | 2025 – Geduld 13


Nawab Pasnak: Auf der Suche nach Geduld

den einfachsten Dingen zu beziehen. Die Erde unter unseren Füßen, der Himmel

über uns und die Bäume, deren Zweige sich sanft im Wind hin und her

bewegen, werden zu Requisiten jenseitiger Glückseligkeit. Dann geschieht, was

Hazrat 'Ali gesagt hat: „Wer Weizenbrot isst, vom Wasser des Euphrats trinkt

und im Schatten ruht, der ist im Paradies.“

Wenn wir die grandiosen Wahnvorstellungen und eitlen Extravaganzen hinter

uns gelassen haben und uns den simplen Freuden des Lebens zuwenden, dann

wirkt unweigerlich die kosmische Ordnung mit und eröffnet uns ihre Wunder.

Das liebeskranke Kreisen der Sterne und Planeten, die jährlich wechselnde

Pracht und Schönheit der vier Jahreszeiten, der Flug der Zugvogelschwärme

hoch am Himmel, der Rhythmus der tosenden Wellen, die sich brechen, wo

das Land dem Meer begegnet und der Mond seine Herrschaft ausübt – diese

und eine Million anderer Anzeichen für eine Harmonie jenseits menschlicher

Vorstellungen leihen der Musik unserer Reise über die Erde ihre Stimme.

aus: Pir Zia Inayat Khan, Ritterliche Tugenden im Alten Orient,

Verlag Heilbronn 2016, S. 121-126

Pir Zia Inayat Khan ist ein Gelehrter und Lehrer des

Universalen Sufismus in der Tradition seines Großvaters

Hazrat Inayat Khan. Zia Inayat-Khan ist Präsident von

„The Inayatiyya“ und Gründer der Suluk Academy, einer

Schule für kontemplative Studien in den USA und in

Europa. Zusammen mit Shaikh al-Mashaikh Mahmood

Khan leitet er den Ritterorden der Reinheit.

Nawab Pasnak

Auf der Suche nach Geduld

Kürzlich kam von jemandem die Frage auf, wie man geduldiger werden kann

– und wer hat sich das nicht schon gewünscht? Dennoch ist solch eine Frage

so, als würde jemand an dem einen Ufer eines Flusses stehen und zu sich sagen:

„Ich stehe am Ufer der Ungeduld, und ich glaube, dass am anderen Ufer die

Geduld ist. Wie kann ich hinüberkommen?“ Doch es gibt die beiden Ufer nur,

weil der Fluss fließt.

14 SIFAT 1 | 2025 – Geduld


Nawab Pasnak: Auf der Suche nach Geduld

Es gibt viele Dinge, kleine und große, die unsere Geduld auf die Probe stellen.

Wie Hazrat Inayat Khan anmerkte: „Das Leben ist schwierig, selbst für

die Reichen“. Der Ursprung der Ungeduld ist jedoch die Trennung von etwas,

wahrscheinlich verbunden mit dem Gefühl, dass „ich“ keine Kontrolle habe.

Wenn wir in diesem Zustand der Dualität verharren, werden wir von Augenblick

zu Augenblick durch das Leben gehen, manchmal vorübergehend zufrieden,

manchmal entmutigt, weil uns die Zufriedenheit genommen wurde, aber

niemals wirklich in Frieden; Frieden finden wir nur, wenn wir die Einheit alles

Lebens entdecken.

Die Lösung für das Problem der Ungeduld ist daher, wie Hazrat Inayat Khan

oft riet, sich über die Situation zu erheben. Dadurch wird unser Horizont weiter,

sodass wir nicht auf den kleinen, entmutigenden Raum eingegrenzt sind. Es

erinnert uns auch daran, dass unser „Ich“, das nicht die Kontrolle ausübt, Teil

eines größeren „Ichs“ ist, das vielleicht andere Absichten verfolgt.

Um auf unser Bild vom Flussufer zurückzukommen: Während der Fluss ins

Meer fließt, kann das eine Ufer in einem Moment grün und einladend sein,

während das gegenüberliegende Ufer felsig und unwegsam ist; an der nächsten

Biegung kann sich die Situation umkehren. Aber der Fluss bleibt unbekümmert

bei diesen Wechseln; er fließt weiter und folgt seiner Bestimmung, um sich

schließlich mit dem gewaltigen und einladenden Meer zu vermengen.

Und während der Fluss fließt, geht die Lektion der Geduld weiter, wie Hazrat

Inayat in Gayan, Gamakas, sagt:

Geduld ist die Lektion, die ich mir selbst gegeben habe

von dem Moment an, als ich die Erde betrat;

Seitdem habe ich versucht, sie zu praktizieren,

aber es gibt noch mehr zu lernen.

aus dem Blog: https://innercall.towardthe1.com/looking-for-patience

von Nawab Pasnak Übersetzung: H.-P. Baum

Nawab Pasnak ist Sufi-Lehrer in der

Internationalen Sufibewegung.

SIFAT 1 | 2025 – Geduld 15


Buchbesprechung: Nachtfahrt der Seele – Von einem, der auszog, das Licht zu suchen

Buchbesprechung:

Jan Ilhan Kizilhan: Nachtfahrt der Seele

– Von einem, der auszog, das Licht zu suchen

Schon lange lag dieses Buch auf meinem Schreibtisch. Es war mir nach meiner

Iranreise von einer Bekannten empfohlen worden. Als ich endlich begann, es

zu lesen, hat es mich tief beeindruckt und gefesselt. Jan Ilhan Kizilhan arbeitet

als Trauma Therapeut und Leiter des Studiengangs Soziale Arbeit, Psychische

Gesundheit und Sucht an der Dualen Hochschule in Stuttgart.

einem kurdischen Dorf in Syrien. Allein dies ist schon lesenswert, weil seine

Schilderungen seinen eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund

sehr eindrucksvoll beschreiben. Man fragt sich, wie ein kleiner Junge mit den

zum Teil erniedrigenden Erfahrungen als Angehöriger der jesidischen Glaubensgemeinschaft

den Weg zum Trauma Therapeuten und einer Professur hat schaffen

können. Für mich ein leuchtendes Beispiel von kindlicher Willensstärke.

Der zweite Erzählstrang handelt von seinen Zweifeln, der Fragestellung, ob

er seine traumatisierten Patienten und Patientinnen überhaupt angemessen

behandeln könne, weil er um die Macht des individuellen kulturellen Backgrounds

weiß. Auch dieser Aspekt des Buches ist berührend, denn er schildert

das Ringen eines Menschen um verantwortungsvolles Handeln, in dem Wissen

um das schwere Leiden, das seine Patienten und Patientinnen quält. Er fragt

sich, ob er überhaupt etwas Positives bewirken könne.

Unerwartet erhält er eine Einladung von iranischen Fachkollegen, den Iran

zu besuchen und sich dort auf die Spuren der Heilkunst der Zoroastrier zu

begeben. (Für mich selbst haben sich beim Lesen immer wieder Aha-Erlebnisse

ergeben, weil ich die genannten Stationen dieser Reise selbst besucht habe.)

Prof. Kizilhan lässt sich auf die Unterweisung durch eine alte und weise Heilerin

ein, die ihn in die Lehren des Zarathustra einführt. Zunehmend geling t

es ihm, sich einer ganzheitlichen Wahrnehmung hinzugeben. Er lernt bei der

Heilerin, sich auf eine teils schmerzhafte Reise zu sich selbst zu begeben. Das

Schicksal will es, dass ihm nach seiner Rückkehr nach Deutschland die Landesregierung

Baden-Württembergs den Auftrag erteilt, aus einem Auffanglager

tausend vom IS-Terror schwerst traumatisierte Frauen zur Behandlung in

Baden-Württemberg auszuwählen und die schwersten Fälle zu behandeln. Eine

unglaubliche Aufgabe des Dienstes an der Menschlichkeit.

Es lohnt sich, diese „Suche nach dem Licht“ des Jan Ilhan Kizilhan lesend und

mitfühlend nachzuvollziehen.

Armaiti Winkler-Reber

Nachtfahrt der Seele – Von einem, der auszog, das Licht zu suchen

Europa Verlag 2018, ISBN 978-3-95890-162-9

60 SIFAT 1 | 2025 – Geduld


Neuerscheinung vom Verlag Heilbronn

Die Mystik des unendlichen Seins

Leitfaden für die innere Reise

Im Fluss der endlosen Seele

„Die Reise der Seele ist eine, auf die wir uns alle begeben

haben. Es ist eine Reise des Wunderbaren, der

Herausforderung und der Entfaltung. Es ist ein Segen,

eine solche Reise in Gesellschaft großer Seelen zu

unternehmen. Und genau diesen Segen vermittelt

dieses Buch. Hier finden wir nicht nur die Weisheit

von Hazrat Inayat Khan, sondern auch die von Pir Zia

Inayat Khan. Ihre beiden Stimmen vereinigen sich in

einem Reisehandbuch, das nicht nur gelesen, sondern

auch genutzt und wertgeschätzt werden sollte.“

– David Spangler, Autor von „journey into Fire“

„Die Mystik des ewigen Seins“ enthält 180 ausgewählte Texte von Hazrat Inayat

Khan aus „Die Seele – woher und wohin“, begleitet von Pir Zia Inayat Khans

Kommentaren und kontemplativen Praktiken zu jedem Thema. Dieses Buch

steht für sich allein, kann aber auch als Sprungbrett für ein weitergehendes

Studium von Inayat Khans Lehren über die Seele verwendet werden.

„Unsere physische Existenz ist ein vorübergehendes Intervall zwischen der

Präexistenz der Seele und dem drohenden Jenseits. Für einen vorausschauenden

Menschen ist es nie zu früh, die jenseitigen Welten zu betreten. Diese

unsichtbaren Welten sind die verborgenen Dimensionen dessen, was hier und

jetzt bereits vor uns liegt. Jeder Schritt bringt die Seele auf dem Pfad des Erwachens

weiter und näher an den ewigen Geliebten.“

– Pir Zia Inayat Khan

„Ein wirklich wunderbares Buch – eine unschätzbare Orientierungshilfe für

alle, die sich in einer verwirrenden und verwirrten Welt verloren fühlen.“

– Anne Baring, Autorin von The Dream of the Cosmos

Pir Zia Inayat Khan | April 2025 | 380 Seiten | € 29,90 | ISBN 978-3-936246-55-1

Dieses Buch ist auch als PDF-Book über unsere Homepage erhältlich | € 24,90

engl. Originaltitel: Immortality, A Traveler's Guide

Unsere Bücher sind über Ihre Buchhandlung oder über unseren Verlagsshop

www.verlag-heilbronn.de erhältlich

SIFAT 1 | 2025 – Geduld 61


Impressum | Mitteilungen vom Verlag Heilbronn

Impressum

SIFAT – Zeitschrift für Universalen Sufismus

ISSN 1420-1712

Gegründet 1972 von Karima Sen Gupta, von 1997 - 2016 von Marita Ischtar Dvořák und

Wolfgang Huraksh Meuthen herausgegeben

Herausgeber und Redaktion:

Hans-Peter Baum hpbaum@nord-com.net 0049-(0)421 353528

Claudia Nüssen claudianuessen@t-online.de 0049-(0)40 215439 (V. i. S. d. P.)

Regina Armaiti Winkler-Reber rwinklerreber@posteo.de 0049(0)731-7187642

SIFAT

erscheint in der Regel dreimal jährlich zum Selbstkostenpreis

Preise ab 2020: € 18,00 pro Jahr für 3 Hefte inkl. Versand – Abonnement

Geschenk-Abonnement – € 18,00 für 3 Hefte (1 Jahr)

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€ 3,80 als PDF-Book Einzelkauf über unseren Shop | ABO € 11,00

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Folgende SIFAT-Hefte sind noch lieferbar:

Heft 3 / 2024 – Schönheit

Heft 2 / 2024 – Dankbarkeit

Heft 1 / 2024 – Einheit

Heft 3 / 2023 – Freude

Heft 2 / 2023 – Abschied

Heft 1 / 2023 – Freiheit

Heft 3 / 2022 – Frieden

Heft 2 / 2022 – Angst ausatmen – Mut einatmen

Heft 1 / 2022 – Hoffnung

Heft 3 / 2021 – Nächstenliebe

Heft 2 / 2021 – Heilung

Heft 1 / 2021 – Klangbrücken

Heft 3 / 2020 – Kraftquellen

Heft 1 / 2020 – Die Erde lieben • Heft 2 / 2020 – AUFeinander achten

Heft 3 / 2019 – Religion und Wissenschaft II

Heft 1 / 2019 – Glaube und Zweifel • Heft 2 / 2019 – Religion und Wissenschaft

Heft 3 / 2018 – Mutige Frauen – Gelebte Spiritualität

Heft 1 / 2018 – Sehnsucht der Seele • Heft 2 / 2018 – Sonderheft: Noor-un-Nisa Inayat Khan

Heft 3 / 2017 – Geschwisterlichkeit • Heft 2 / 2017 – Gerechtigkeit • Heft 1 / 2017 – Opfer u. Opfern

Heft 2 / 2016 – Religion und Liebe • Heft 1 / 2016 – Ein menschenfreundlicher Islam

62 SIFAT 1 | 2025 – Geduld


Hazrat Inayat Khan: Worte zur Geduld

Hazrat Inayat Khan

Worte zur Geduld

Mangel an Geduld hungert die Tugend aus. (406)

Wer den Begriff Einheit nicht erfassen will, wird eines Tages von der Einheit

erfasst werden. (979)

Seit meinem ersten Schritt im Leben habe ich mir Geduld als Lektion auferlegt;

unablässig habe ich sie seither zu üben versucht, doch bleibt noch mehr

zu lernen übrig. (497)

Gesegnet sind, die im Dienst der Wahrheit geduldig vorwärtsstreben und

nicht ermatten. (556)

Mut sei dein Schwert, Geduld dein Schild, mein Streiter. (672)

Gleich einem Baum im Wald harrt mein Herz in Geduld. (721)

Erhabene Natur, durch dein geduldiges Warten lehrst du mich Geduld. (752)

aus: Gayan, Vadan, Nirtan (Zahl), Verlag Heilbronn, 1996

Geduld ist ein Prozess, den eine Seele durchlebt, um sich zu veredeln. (1786)

aus: The Complete Sayings of Hazrat Inayat Khan, Sufi Order Publications, 1978

Übers. Hans-Peter Baum

SIFAT 1 | 2025 – Geduld 63


As-Sabur

Geduld

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