Restauro 2/2025
Ethnologische Sammlungen
Ethnologische Sammlungen
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03/2025 ETHNOLOGISCHE SAMMLUNGEN
EDITORIAL
3
Liebe Leserin, lieber Leser,
ethnologische Sammlungen stehen derzeit wie kaum ein anderer musealer
Bereich im Zentrum internationaler Debatten. Sie sind gleichermaßen historische
Archive, Forschungsgegenstand und Prüfstein ethischer Verantwortung.
In dieser Ausgabe der Restauro widmen wir uns diesem hochaktuellen
und zugleich sensiblen Thema – und fragen: Was heißt es heute außereuropäisches
Kulturgut zu bewahren, zu erforschen und zu präsentieren?
Museen wie das GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig gehen hier
mutige neue Wege. Ihr Wandel hin zu einem „Netzwerkmuseum“ zeigt exemplarisch,
wie der Dialog mit Herkunftsgesellschaften gelingen kann –
kritisch, multiperspektivisch und partizipativ. Die Idee eines Museums als
Raum für Austausch statt für einseitige Deutung ist zukunftsweisend.
Doch auch die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmen
maßgeblich, wie mit kolonialem Erbe umgegangen wird. Während
in Deutschland erste Rückgaben wie die der Benin-Bronzen erfolgt sind,
fehlen in Österreich weiterhin klare gesetzliche Grundlagen. Die Forderung
nach einer kohärenten, internationalen Restitutionspolitik wird lauter
– und notwendiger.
Ein Blick auf das Weltmuseum Wien zeigt zudem, wie fragil und kostbar die
Bewahrung einzelner Objekte sein kann: Der dort ausgestellte Federkopfschmuck
aus Mexiko ist ein weltweit einzigartiges Kunstwerk – restauriert
in einem binationalen Projekt, sorgsam überwacht, nicht transportfähig. Er
steht sinnbildlich für die komplexen Fragen, die sich rund um Besitz, Verantwortung
und kulturelle Zugehörigkeit stellen.
Diese und viele weitere Themen erwarten Sie in dieser Ausgabe. Damit
möchten wir die dritte Restauro des Jahres als Einladung zur differenzierten
Auseinandersetzung mit ethnologischen Sammlungen – sowie als Plädoyer
für einen respektvollen, offenen Umgang mit unserem globalen Kulturerbe
– verstanden wissen. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und freue
mich, wie immer, über Feedback.
Herzlichst, Tobias Hager & Team
t.hager@georg-media.de
instagram: @restauro_zeitschrift
4 INHALT
6
„Wir haben uns auf den
Weg gemacht“
14
Wie Deutschland und Österreich
mit kolonialem Erbe umgehen
18
Fragile Schönheit
24
Schrittweise Wandlung
S.18
30
News
32
Kunst der
Erinnerung
40
Vom Wesen
der Dinge
46
News
S.12
6 INTERVIEW
„Wir haben uns auf den
Weg gemacht“
FRAGEN: JULIA MARIA KORN
INTERVIEW
Seit dem „postcolonial turn“ rücken Museumssammlungen mit außereuropäischem Kulturgut
vermehrt in den Fokus. Viele der Museen entwickeln neue Umgangsweisen mit den ihnen
anvertrauten Objekten. Zudem stellt die Politik vermehrt Gelder bereit, die unter anderem
Projekte in der Provenienzforschung unterstützen. Kerstin Volker-Saad berichtet über
die Herausforderungen dieser Sammlungen und erläutert die zukünftige Rolle der Museen.
7
1
1
Kerstin Volker-Saad ist
Ethnologin und unterstützt
und berät Museen.
Zwei aktuelle Projekte
von ihr widmen sich der
Friedenstein Stiftung Gotha
und dem KOLUMBA
Kunstmuseum in Köln.
8 INTERVIEW
2
2
Das Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum
wurde 2012 durch das
Atelier Brückner umgestaltet.
Mit seinen Vitrinen
schuf es für Besuchende
die Abrufmöglichkeit des
„Knowledge on Demand“.
Restauro: Welche Herausforderungen sehen Sie aktuell bei der
Präsentation ethnologischer Sammlungen in europäischen Museen?
Kerstin Volker-Saad: Die Frage ist sehr weit gefasst, und eine
allgemeingültige Antwort erscheint mir kaum möglich. Sie
setzt voraus, dass ethnologische Sammlungen und ihre Aufbewahrungsorte
homogen sind – doch das Gegenteil ist der
Fall.
Besonders seit dem „postcolonial turn“ der letzten zehn Jahre
rückten Fragen zur Provenienz außereuropäischer Kulturgüter
in den Fokus. Zahlreiche Programme und Forschungsinitiativen
wurden gestartet, um die heterogenen Bestände und
Aufbewahrungsorte zu untersuchen.
Seit dem 19. Jahrhundert verlagerte man außereuropäisches
Kulturgut aus fürstlichen Kunstkammern in spezialisierte „Völkerkundemuseen“.
Viele dieser Objekte stammen jedoch aus
früheren Jahrhunderten, teils aus den Anfängen des globalen
Kulturkontakts im 15. Jahrhundert. Ethnographica finden
sich zudem in universalen Schlosssammlungen, bürgerlichen
(Museums-)Stiftungen, kirchlichen Einrichtungen, Schifffahrts-
oder Kunstmuseen. Auch Stadt- und Regionalmuseen
beherbergen oft Reste privater Sammlungen mit außereuropäischen
Objekten.
Sie sehen schon an der kurzen Aufzählung, wie komplex die
Ausgangssituation für Ihre Frage ist. Dennoch sind alle Institutionen
zumindest in Deutschland mit den Herausforderungen
konfrontiert, die etwa vor zehn Jahren im Zusammenhang
mit den Debatten um die Errichtung des Humboldt-Forums in
Berlin auch eine bemerkenswerte öffentliche Wirksamkeit entfalteten.
Die damit verbundene neue Sensibilität im Umgang
mit diesen außereuropäischen Kulturgütern manifestiert sich
auch in dem 2019 veröffentlichten „Ersten Eckpunktepapier
des Bundes und der Länder zum Umgang mit Sammlungsgut
aus kolonialen Kontexten“ mit seinen Leitlinien einer „3-Wege-
Strategie“. Es geht um Zugang – Transparenz – Kooperation:
Institutionen nehmen sich der systematischen Identifizierung
und Erforschung ihres außereuropäischen Kulturguts an, erschließen
es also wissenschaftlich und machen es öffentlich
zugänglich (oft durch Digitalisierung). Wenn Sie mich
also nach der Herausforderung der Präsentation von ethnologischen
Sammlungen fragen, nehme ich Bezug auf diese
Grundsatzentscheidung, da sie die Voraussetzung für alle
„Was wir in unserem Ethikverständnis
als wertschätzend verstehen, findet
nicht unbedingt in den Vorstellungen
von Menschen anderer Nationen eine
adäquate Entsprechung.“
weiteren musealen Aktivitäten bildet und auch Konsequenzen
für die Präsentation der Kulturgüter hat. Mein persönlicher
wissenschaftlicher Fokus ist jedoch nicht nur auf Sammlungsgut
aus kolonialen Kontexten gelegt, das würde den Ob-
INTERVIEW
9
jekten gar nicht gerecht werden. Es ist auch zu fragen: Stehen
sämtliche außereuropäischen Objekte einer Sammlung in
einem Unrechtskontext? Und welche öffentlichen Mittel werden
für diejenigen Artefakte bereitgestellt, die historisch für
Kulturaustausch und „Völkerverständigung“ stehen? Aber das
Postulat „Zugang – Transparenz – Kooperation“ ist ein sehr
geeigneter methodischer Ansatz für die Erschließung aller
Bestände mit außereuropäischen Artefakten.
Restauro: Welche Ansätze fördern eine respektvolle und zeitgemäße
Präsentation in Zusammenarbeit mit Herkunftsgesellschaften?
KVS: Ein sinnvoller Ansatz ist das „dialogische Prinzip“, das
darauf basiert, die Perspektiven der Herkunftsgesellschaften
aktiv einzubeziehen. Was wir in unserem Ethikverständnis als
wertschätzend verstehen, findet nicht unbedingt in den Vorstellungen
von Menschen anderer Nationen eine adäquate
Entsprechung. Wir fühlen uns geehrt, wenn aus unserer
Kunsttradition entstandene Objekte in einer Ausstellung öffentlich
gemacht werden. Genau gegenteilig verhält es sich
mit bestimmtem historischem „First Nation“-Kulturgut, das
rituellen Regeln unterworfen ist, die unserem Transparenzgebot
diametral gegenüberstehen.
Dies bringt den ethnologischen Ansatz der „Multiperspektivität“
ins Spiel, bei dem unterschiedliche Sichtweisen nebeneinander
existieren, sich ergänzen, sich auch widersprechen,
wo es aber nie darum gehen kann, welche Sichtweise „richtig“
oder „wahr“ ist. So kommen verschiedene Informationen
zusammen, die sich gegenseitig kommentieren oder überlagern
und zu einem vielgestaltigen Mosaik beitragen.
Ein zeitgemäßer Ansatz zur Erschließung einer Sammlung
oder einer Präsentation geht also davon aus, dass nicht nur
eine Meinung oder kulturhistorische Einordnung richtig ist,
sondern mehrere möglich sind und so dem Betrachter die
Chance zu einer differenzierten Annäherung verschaffen. Das
Atelier Brückner hatte das bereits mit der Umgestaltung der
Dauerausstellung des Rautenstrauch-Joest-Museums 2012
in Köln ansatzweise ausgetüftelt, indem es Vitrinen kreierte,
die den Besucherinnen und Besuchern ein „Knowledge on
Demand“ ermöglichte. Mit unseren digitalen Möglichkeiten
können diese Ansätze im Sinne einer globalen Strategie mit
kooperativen Projektentwicklungen ausgebaut werden.
Restauro: Inwiefern hat die Debatte um die Dekolonialisierung
musealer Sammlungen Ihre Arbeit verändert?
KVS: Die Diskurse zur Dekolonialisierung sind nicht neu, sie
waren bereits in den 1980er-Jahren Bestandteil meines Ethnologiestudiums.
Insofern fragte ich mich bei manchen Diskussionen,
was daran eigentlich so grundstürzend neu ist.
Denn für (Museums-)Ethnologen ist eine Sensibilisierung für
Sprache, Ausdruck, Wertung, Handhabung, Objektbeschreibung,
aber auch die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit
außereuropäischen Partnern und das Erlernen einer indigenen
Sprache völlig normal. Insofern gab es auch schon frühzeitig
ein Bewusstsein für ein sogenanntes „Shared Heritage“.
Die kritische Weißseinsforschung musste auch nicht erst in
Workshops erlernt werden.
Tatsächlich ist aber eine neue Generation auf den Plan getreten,
die sich, ausgehend von einem radikalen Gerechtigkeitsdiskurs,
mit brutalen kolonialen Verbrechen befasst hat
und aus nachvollziehbaren Gründen entsprechende Konsequenzen
einforderte. Das hat u. a. auch dazu geführt, dass
zusätzliche öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt wurden,
die nicht nur eine (Neu-)Besichtigung der umfangreichen Depotbestände
zur Folge hatten, sondern auch ihre öffentliche
Zugänglichkeit über digitale Archive. Was sich hier so einfach
anhört, setzte allerdings voraus, dass enorm verkrustete
Strukturen aufgebrochen werden mussten, die zuvor einen
„barrierefreien“ Zugang zu den ethnologischen Sammlungen
erschwert hatten. Dieser neue Elan, der ja Bund, Länder und
Kommunen fast gleichermaßen erfasst hat, eröffnete vielen
Institutionen die Chance, ihre Ethnographica mit zusätzlichen
Forschungsgeldern – also auch mit zusätzlichen Fachexperten
– zu erschließen.
Restauro: Können Sie uns für ein solches Forschungsprojekt ein
Beispiel nennen?
KVS: Im Rahmen eines vom Bund und Land geförderten Digitalisierungsprojektes
„Gotha transdigital“ entwickelte ich
2020 den „‚Dialog der Welten‘ – Die Repräsentation des Fremden
– Perspektiven auf Gothaer Sammlungen“. Konkret geht
es um die exemplarische wissenschaftliche Erschließung der
Ethnografica im Bestand der Friedenstein Stiftung Gotha. Seit
drei Jahren erhalten wir auch eine Förderung von der Ernst
von Siemens Kunststiftung.
Derzeit gibt es unzählige Anfragen von Institutionen und Privatsammlern
mit einem großen Bedarf an Aufarbeitung, Klärung,
Einordnung und ethnologischer Expertise. Das allgemeine
Bewusstsein hat sich verändert, und Sammler, deren
Erben außereuropäisches Kulturgut nicht unreflektiert übernehmen
möchten, bieten Museen in Afrika die Artefakte an.
Ich verzeichne auch in einigen Bevölkerungsschichten ein
wachsendes Interesse für Ethnologische Museen, das jedoch
oft politisch motiviert und aus meiner Sicht von einem eindimensionalen
Unrechtsverständnis getragen und ideologisch
aufgeladen ist. Gleichwohl hat das dazu geführt, dass großartige
außereuropäische Artefakte auch von Menschen gewürdigt
werden, die deren Existenz bis dahin eher leidenschaftslos
zur Kenntnis genommen hatten. Ein bleibendes Verdienst
ist jedoch, dass die Geschichte(n) über diese Kunst nun wieder
intensiver erforscht werden, oft interdisziplinär und mit
Expertinnen und Experten aus den Herkunftsstaaten. Die
zum Teil vernachlässigten Objekte wurden von Restauratoren
in die Hand genommen, objekterhaltend bearbeitet, und ihre
ursprüngliche Strahlkraft wurde wieder hergestellt. Dort, wo
die Recherchen Unrechtskontexte ans Licht brachten, konnten
diese weiterverfolgt werden, um Rückgaben anzubahnen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese auch schon vor der
Verabschiedung des Eckpunktepapiers zur Praxis im bilateralen
Austausch mit internationalen Museen gehörte.
Restauro: Wie gestalten Sie die Zusammenarbeit mit Vertreterinnen
und Vertretern der Herkunftsgesellschaften?
KVS: Die Projekte, die ich derzeit betreue, befassen sich mit
Kulturgut aus unterschiedlichen Weltregionen. Die intensivsten
Kontakte bestehen mit Kolleginnen und Kollegen aus Museen
in Indonesien, hauptsächlich Java, mit Einrichtungen in
Äthiopien, Ägypten, Namibia, Kamerun und der Türkei. Für die
außereuropäische Kunst in der Friedenstein Stiftung Gotha
wären weitere Kontakte v. a. zu Institutionen in Papua-Neuguinea,
Australien, Indien, Pakistan, Nord- und Südamerika sowie
Westasien wünschenswert.
Konkret muss man sich meine Bemühungen so vorstellen,
dass ich analog zum Sammlungsbestand Kontakt mit den
20 ETHNOLOGISCHE SAMMLUNGEN
2
2
In einer hermetisch
verschlossenen Vitrine
ruht die Federkrone
auf schwingungsgedämpftem
Untergrund –
behutsam geschützt vor
Licht, Erschütterungen
und der Zeit.
ETHNOLOGISCHE SAMMLUNGEN
Der Wiener Federkopfschmuck aus Mesoamerika ist fragil, stabil und einer der größten
Schätze des Wiener Weltmuseums. Und der ganzen Welt. Denn er ist der Einzige, der
sich erhalten hat. Erstmals erwähnt wurde er 1596 als Teil der Sammlungen auf Schloss
Ambras. Mittlerweile ist er gut erforscht und wurde in einem binationalen mexikanischösterreichischen
Projekt restauriert.
21
Das Objekt liegt ruhig und ist stabil. Es wird, muss und darf
nicht bewegt werden – weder für Fotos noch für Reisen. Seine
Vitrine ist hermetisch abgedichtet, die Auflage schwingungsgedämpft,
das Licht nie stärker als 50 Lux.
So beschreibt Oberkonservatorin Renée Riedler die Ausstellungssituation
des berühmten Federkopfschmucks im Weltmuseum
Wien. Er gehört zweifellos zu den berühmtesten
Sammlungsobjekten des Weltmuseums. Mit 500 Federn vom
Quetzal, dem Kotinga, dem Rosalöffler, dem Cayenne-Fuchskuckuck
und dem Eisvogel ist er nicht nur besonders prächtig.
Er ist „das letzte bekannte Exemplar weltweit“, heißt es in der
Museumswerbung. Im 16. Jahrhundert, als solche Federarbeiten
in Mesoamerika zum Schmuck von Herrschern, Göttern,
Priestern und Kriegern hergestellt wurden, gab es viele solcher
Federarbeiten. Davon zeugen Darstellungen auf Stelen, Graburnen,
Tempelfassaden, Wandmalereien und Zeichnungen in
Codices. Diese Darstellungen waren auch eine der Grundlagen,
um den Wiener Federkopfschmuck zu erforschen und ihn
überhaupt als Kopfschmuck zu identifizieren.
Gut gehüteter Schatz
Denn sein Weg aus dem Aztekenreich nach Wien ist nicht lückenlos
belegbar. Eine erste Erwähnung gibt es in den Sammlungen
von Schloss Ambras 1596. Das Nachlassinventar der
Waffensammlung und Kunstkammer von Erzherzog Ferdinand
II. von Tirol auf Schloss Ambras verzeichnet „ain Mörischer
Huet von langen schönen gleissenden, grienlechten vnd gulden
federn, oben hinauf mit weissen rot vnd blawen federn,
mit gulden Roslen, vnd geflunder ausgesetzt, hat vorn auf der
Stirn, ain ganz gulden Schnabl“. Bezeichnung und Wertschätzung
änderten sich in den folgenden Jahrzehnten. Ab 1621
wurde er als „indianisch“ bezeichnet, ab 1788 als „Schürze“,
heißt es in der Beschreibung der Sammlungsgeschichte von
Christian Feest, die Teil der 2012 erschienenen Publikation zur
Erforschung und Restaurierung des „Altmexikanischen Federkopfschmucks“
ist. Denn der im Nachlassinventar erwähnte
goldene Schnabel war verloren gegangen und damit auch das
Wissen, dass es ein Kopfschmuck war. Er galt zeitweise als
Federrock oder Federmantel, später als Standarte. Ab 1855
war zumindest klar, dass es sich um ein Sammlungsobjekt aus
Mexiko handelt, denn zu diesem Zeitpunkt wurden die Federn
des Quetzals identifiziert. Dass der Lebensraum des prächtigen
Vogels und der Herstellungsort des Kopfschmucks nicht
identisch sein müssen und wahrscheinlich auch nicht waren,
schränkt die genaue Bestimmung des Herstellungs- und Herkunftsortes
ein. Heute wird vermutet, dass mit den Federn gehandelt
wurde und sie auch als Tributzahlungen aus eroberten
Gebieten zu den Azteken kamen.
Erst ab 1908 setzte sich die Interpretation durch, dass es sich
doch um einen Kopfschmuck handeln müsse. Die Auswirkungen
falscher Zuschreibungen waren da schon immens. Denn
die erste Restaurierung im Jahr 1878 ging davon aus, dass das
30 NEWS
Restaurierung der
„Très Riches Heures“
von Dr. Gloria Ehret
Zur TEFAF in Maastricht pilgern alljährlich im März Heerscharen
von Kunstsammlern, Museumskuratoren, Kunsthändler-Kollegeninnen
und -kollegen und Kunstliebhaber aus aller Welt. Gilt
diese „Stiftung für Expertise, Exzellenz und Vielfalt in der globalen
Kunstgemeinschaft“ doch als Veranstalterin der bedeutendsten
Kunst- und Antiquitätenmesse nicht nur in Europa. Weniger
bekannt dürfte sein, dass sie sich mit ihrem 2012 gegründeten
„TEFAF Maastricht Museum Restoration Fund“ intensiv für die
professionelle Restaurierung und wissenschaftliche Forschung
an bedeutenden Kunstwerken in Museen beteiligt und diese
jährlich bezuschusst. Dafür nimmt sie Förderanträge für Kunst
in allen Formen und aus allen Epochen entgegen. Im Jahr 2025
ist das Musée Condé im französischen Château de Chantilly der
Begünstigte. Und es geht dabei um die Restaurierung der „Très
Riches Heures“ des Duc de Berry. Das reich bebilderte mittelalterliche
Stundenbuch kennen leidenschaftliche Liebhaber der
Buchmalerei und selbst Fachleute meist nur von Abbildungen,
bestenfalls als Faksimile. Denn diese berühmteste mittelalterliche
illuminierte Handschrift war nur Fachleuten nach Anmeldung
und zuletzt jahrzehntelang gar nicht mehr zugänglich.
1411 bis 1416 von den berühmten Brüdern Limburg für Johannes,
Herzog von Berry, den Bruder des französischen Königs
Karl V., geschaffen, blieb sie unvollendet, denn Auftraggeber
und Künstler starben im gleichen Jahr 1416. In den 1440er-Jahren
hat Barthelemy d`Eyck das Werk vollendet. 1485/89 wurde
es für Herzog Karl V. von Savoyen von dem französischen Miniaturisten
und ab 1486 von dessen Hofminiator Jean Colombe
ergänzt. 1856 hat Herzog Heinrich von Orléans und Herzog
von Aumale, Sohn des letzten französischen Königs Ludwig-
Philippe, Schloss Chantilly mit der Sammlung von Werken des
Spätmittelalters über die Renaissance bis ins 19. Jahrhundert
geerbt. 1886 hat er das Schloss von Chantilly und die ganze
Sammlung mit der einmaligen Prachthandschrift als Vermächtnis
dem „Institut de France“ überlassen. Er verfügte, dass diese
wegen ihrer Fragilität und ihres Wertes nicht außerhalb Chantillys
ausgestellt werden dürfe. Eine Besichtigung im Schloss war
nur Fachleuten nach Abmeldung gestattet.
Die „Très Riches Heures“ gelten als das berühmteste illustrierte
Manuskript des 15. Jahrhunderts. Es enthält 208 hochformatige
Blätter mit den Maßen 21,5 zu 30 Zentimeter. Rund die Hälfte ist
ganzseitig bebildert und gibt ebenso zauberhafte wie dokumentarische
Einblicke in die höfischen Lebensformen jener Zeit. Die
zwölf ganzseitigen Kalenderblätter schildern Szenen der jeweils
jahrestypischen Tätigkeiten im Wandel der Natur, meist vor dem
Hintergrund der herrschaftlichen Schlösser. Nach der geplanten
Restaurierung ergibt sich nun erstmals nach Jahrzehnten
wieder die Möglichkeit, diese berühmteste illuminierte Handschrift
des Mittelalters in einer Ausstellung in Chantilly zu besichtigen.
Sie ist vom 7. Juni bis 5. Oktober 2025 geplant.
1
Mithilfe des „TEFAF
Maastricht Museum
Restoration Fund“ wird
das Stundenbuch „Très
Riches Heures“ des Duc
de Berry restauriert.
NEWS
31
1
50 INTERVIEW
„Es bedarf immer wieder
des kritischen
Anstoßes von außen“
FRAGEN: JULIA MARIA KORN
INTERVIEW
Das Münchner Museum Fünf Kontinente beleuchtet in seiner aktuellen Sonderausstellung
„Der Kolonialismus in den Dingen“ nicht nur globale Verflechtungen, sondern
auch die eigene Sammlungsgeschichte. Im Gespräch mit Kurator Richard Hölzl sowie
den Restauratorinnen Jessica Bekesi und Carolin Binninger diskutieren wir, welche Herausforderungen
ethnologische Museen heute bewältigen müssen – und welche Rolle die
enge Zusammenarbeit von Restaurierenden und Kuratierenden dabei spielt.
51
1
1
Diese Ahnenfigur (Anito)
stammte von den Philippinen
und wird in der
aktuellen Sonderausstellung
im Museum
Fünf Kontinente in München
gezeigt.
52 INTERVIEW
wirtschaftliche Ausbeutung oder die militärische Eroberung
von Gebieten durch Kolonialtruppen und die deutsche Kaiserliche
Marine geht. Zu sehen sind aber auch Werke, die
antikolonialen Protest und postkoloniale Kritik verkörpern. Ein
Beispiel ist der „Tangué“ der Bele Bele – einst eine Trophäe
der Eroberung Kameruns, nun ein Symbol für Debatten um
koloniales Erbe und Restitution.
Die ausgestellten Werke verlieren nicht ihren künstlerischen
oder spirituellen Wert, sondern werden noch bedeutender,
wenn man sie als Zeugen der historischen Phase der Gewaltherrschaft
begreift. Das wollen wir mit der Präsentation unterstreichen.
2
In der Ausstellung setzt
sich das Museum auch
mit seiner Geschichte
auseinander. Historische
Fotografien, wie hier der
Blick in die Gestaltung
des „Kamerun-Saals“ um
1900 illustrieren diese.
Restauro: Das Museum Fünf Kontinente präsentiert aktuell die
Ausstellung „Der Kolonialismus in den Dingen“. Worum geht es,
und was erwartet die Besucherinnen und Besucher?
Richard Hölzl: Wir zeigen gut 120 Ausstellungsstücke, die uns
auf verschiedene Weise helfen, brennende Fragen zu beantworten:
Wie groß ist der Anteil an kolonialem Raubgut in den
Beständen des Museums Fünf Kontinente? Welche unterschiedlichen
Formen kolonialer Aneignung spiegeln sich in
diesen Beständen? Das reicht von ökonomischen Machtunterschieden
oder religiösem Druck, Bedrohung oder Raub bis hin
zu Kulturgut, das während des Genozids gegen die Herero und
Nama erbeutet wurde. In der Konsequenz formulieren wir die
Geschichte des Museums seit der Gründung 1862 neu. Der
Faktor Kolonialismus spielt dabei eine viel wichtigere Rolle.
Denn um 1900 war dieses Museum eine koloniale Einrichtung,
die vom deutschen Kolonialismus profitierte und ihn stützte.
Wer die Ausstellung besucht, sieht eine große Vielfalt von
Werken – aus unterschiedlichsten Materialien, von hoher
Qualität, verbunden mit wichtigen kulturellen Traditionen aus
den Herkunftsgebieten in Afrika, Asien und Ozeanien. Jedes
dieser Ausstellungstücke hat seine eigene Geschichte. Sie
steht aber in größeren Zusammenhängen, ob es um die Verbreitung
des Christentums im Rahmen kolonialer Herrschaft,
Restauro: Wie beeinflusste der Kolonialismus die Sammlungspolitik
des Museums Fünf Kontinente im 19. und frühen 20. Jahrhundert?
RH: Zur Gründungszeit war das Museum ein Ort, an dem
koloniale und nicht koloniale Sammlungen des Königreichs
Bayern zusammenkamen. Objekte aus dem in Bayern bewunderten
chinesischen Kaiserreich des 18. Jahrhunderts fanden
sich neben Stücken aus der portugiesischen Kolonie Brasilien
oder aus kolonialen Kriegsgebieten in Nordindien. Das änderte
sich ab den 1880er-Jahren. Nicht nur bekam das Museum
mit Max Buchner (1846–1921) einen kolonialen Eroberer als
Leiter, sondern es kamen auch immer mehr Kolonialisten, die
Kulturgut aus den Kolonien einlieferten. Diese Stücke wurden
dann als Trophäen kolonialer Eroberung gezeigt. In der
Ausstellung ist z. B. „Buschiris Dolch“ zu sehen, der von dem
Kolonialoffizier Karl von Gravenreuth nach München gebracht
wurde. Er sollte den Sieg über Abushiri ibn Salim al-Harthi (ca.
1837–1889) symbolisieren. Abushiri führte den Widerstand
gegen die deutsche Besetzung der ostafrikanischen Küste an.
Er wurde 1889 von Kolonialsoldaten erhängt.
Nach 1918 verringerte sich die Bedeutung des Kolonialismus,
allerdings kamen noch Jahrzehnte nach Ende der Kolonialherrschaft
Stücke aus deutschen Kolonien ans Museum – aus
dem Nachlass von Kolonialoffizieren, von ihren Kindern und
Enkelkindern.
Restauro: Wie trägt die Ausstellung zur aktuellen Debatte über
den Umgang mit kolonialem Erbe in Museen bei?
RH: Sie dokumentiert, was wir bisher über die koloniale Herkunft
des Kulturguts am Museum Fünf Kontinente wissen
– die Ergebnisse von gut einem Jahrzehnt Provenienzforschung.
Damit wollen wir zu einer sachlichen Debatte um
den zukünftigen Umgang mit dem kolonialen Erbe beitragen.
Die Erforschung der Herkunft der Bestände ist an Museen
wie unserem eine Daueraufgabe. Wir gehen von mehreren
zehntausend Objekten mit kolonialem Erwerbshintergrund
aus und beziehen dabei alle Weltregionen mit ein. Insofern
präsentieren wir einen Zwischenstand. Wir möchten auch zeigen,
dass die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe
(einschließlich möglicher Rückgaben) ein großer Gewinn für
Museen sein kann: Sie ermöglicht neue regionenübergreifende
Beziehungen und schafft Glaubwürdigkeit, wenn wir uns in
anderen Ausstellungen mit zentralen Fragen der Gegenwart
und Zukunft befassen.
Restauro: Was sind aus konservatorischer Sicht besondere Herausforderungen
bei der Ausstellung gewesen?
Jessica Bekesi: Stabile Klimabedingungen und die Präsentation
der Objekte können bei der Erstellung und Installation
INTERVIEW
53
der neuen Ausstellung eine Herausforderung darstellen. Verschiedene
Materialien haben oft unterschiedliche ideale Umgebungsbedingungen,
und wenn ein einzelnes Objekt eine
Vielzahl verschiedener Materialien enthält, kann es schwierig
sein, die richtige stabile Umgebung zu bestimmen. Auch die
Präsentation der Objekte kann eine Herausforderung darstellen,
da das Objekt an seinen stabilsten Punkten gestützt werden
muss und die Befestigungslösung nicht immer offensichtlich
oder einfach ist. Barrieren, Umgebungsüberwachung und
zusätzliche Stützen helfen uns, einige dieser Herausforderungen
zu bewältigen.
Carolin Binninger: Konservatorische Herausforderungen gibt
es generell bei jeder Ausstellung; vor allem stabile Klimabedingungen,
Licht und weitere Schutzmaßnahmen (Diebstahl,
Berührung, Beschädigung/Vandalismus, Schädlinge etc.).
Durch die Materialvielfalt vieler Objekte, die in der aktuellen
Sonderausstellung gezeigt werden, ist die Ermittlung der jeweiligen
Parameter (Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Lichteintrag)
nötig, um alle Objekte gleichermaßen bestmöglich zu
schützen, vor allem, wenn sie sich gemeinsam in einer Vitrine
befinden. Ist ein Objekt besonders empfindlich hinsichtlich
Luftfeuchtigkeit, Temperatur und/oder Licht, bekommt es
eine eigene Ausstellungslösung.
Restauro: Es gibt häufig den Vorwurf, dass ethnologische Museen
einen eurozentristischen Blick haben. Welche Maßnahmen
ergreift das Museum in der Ausstellung, um die Perspektiven der
Herkunftsgesellschaften zu integrieren?
RH: Dieser Vorwurf ist nicht einfach beiseitezuschieben. Museen
stehen innerhalb lange etablierter Strukturen, und es
bedarf immer wieder des kritischen Anstoßes von außen, der
Reibung und Bewegung erzeugt. Provenienzforschung zu
kolonialen Kontexten kann letztlich nur gelingen, wenn sie im
ständigen Austausch mit Partnern und Partnerinnen in den
Herkunftsländern der Bestände geschieht. Wer die Ausstellung
besucht, kann nicht nur die Ergebnisse der Zusammenarbeit
sehen, sondern sich auch auf die Blickwinkel von Forschenden
aus dem Kameruner Grasland und aus Tansania
einlassen. Wir zeigen einen Dokumentarfilm des Kameruner
Wissenschaftlers Prof. Dr. Albert Gouaffo und ein Interview mit
der Archäologin Dr. Nancy Rushohora zu Museumsstücken
aus kolonialen Kriegs- und Eroberungszügen.
Restauro: Wie reagiert die zeitgenössische Kunst auf die koloniale
Vergangenheit, und gibt es in der Ausstellung Beispiele für
solche Auseinandersetzungen?
RH: Die Reaktion ist sehr vielfältig und bedient sich aller möglichen
künstlerischen Ausdrucksformen. In der Ausstellung präsentiert
die Historikerin und Lyrikerin Alma Simba aus Daressalam
(Tansania) ein Gedicht mit dem Titel „Cold Hubris“. 2023
hat sie damit eine Antwort auf das doch häufig „forensische“
und distanzierte Vorgehen der Provenienzforschung formuliert
und nachdrücklich auf die Gewalt kolonialer Aneignung
und die resultierenden Traumata verwiesen. Das ist eine Herausforderung,
die die weitgehend dokumentarische Sprache
unserer Ausstellung mit einem Fragezeichen versieht.
Restauro: Wie sah die Zusammenarbeit zwischen dem Restaurierungsteam
und dem Kurator aus? Welche Überlegungen gab es?
JB: In der Anfangsphase der Ausstellungsgestaltung gibt der
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Diese Leopardenfigur
stammt aus Benin. Das
Museum kaufte ein Leoparden-Pärchen
für die
Sammlung, gab aber eine
Figur 1956 wieder an den
Kunsthandel ab.