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Ulrich H. J. Körtner: Gott verstehen (Leseprobe)

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Ulrich H. J. Körtner

Gott verstehen

Aufgaben und Grenzen

theologischer Hermeneutik


Ulrich H. J. Körtner, Dr. theol. habil., Dr.

h. c. mult., Jahrgang 1957, ist seit 1992

Ordinarius für Systematische Theologie

(reformiert) an der Evangelisch-Theologischen

Fakultät der Universität Wien.

Von 2001 bis 2022 war er auch Vorstand

des Instituts für Ethik und Recht in der

Medizin der Universität Wien.

Körtner bekam 2016 das Ehrenkreuz für

Wissenschaft und Kunst I. Klasse der

Republik Österreich verliehen und im

selben Jahr von der Österreichischen

Akademie der Wissenschaften den Wilhelm-Hartel-Preis

für sein Gesamtwerk.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2025 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH . Blumenstr. 76, 04155 Leipzig

Printed in Germany

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts

dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG

ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an

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Cover: Mario Moths, Marl

Satz: ARW-Satz, Leipzig

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

ISBN 978-3-374-07879-0 // eISBN (PDF) 978-3-374-07880-6

www.eva-leipzig.de


Vorwort

Unter dem Titel „Gott verstehen“ hat der katholische Theologe

Eugen Biser vor mehr als 50 Jahren Erwägungen zum Verhältnis

von Mensch und Offenbarung vorgelegt, die den hermeneutischen

Grundzug aller Theologie einsichtig machen. Verstehen

ist der Leitbegriff nicht nur aller Hermeneutik, somit auch einer

theologischen Hermeneutik, sondern auch einer Theologie die

sich insgesamt als Hermeneutik begreift, wie dies die Vertreter

hermeneutischer Theologie im 20. Jahrhundert herausgearbeitet

haben. Theologie ist Hermeneutik des Glaubens, Glauben

aber eine Weise des Verstehens, und zwar nicht etwa einzelner

Glaubensaussagen oder Glaubenszeugnisse, sondern der menschlichen

Existenz in ihrem Gottes- und Weltbezug. „Glaube“, so

Biser, „ist Verstehen“ 1 , genauer gesagt „verstehende Aneignung

des Offenbarungswortes“ 2 , in welcher der Glaubende auch zu

einem neuen, nämlich heilsamen und lebensverändernden Verständnis

seiner selbst findet. Das war schon die grundlegende

Einsicht Rudolf Bultmanns, der die einprägsame Formel „Glauben

und Verstehen“ geprägt hat. Als Weise des Verstehens hat

der Glaube den Charakter der Antwort. Er antwortet auf das an

den Menschen ergangene Wort Gottes, auf seinen Ruf und seine

Anrede. Wie der Glaube hat darum auch alle Theologie responsorischen

Charakter.

1 Eugen Biser, Gott verstehen. Erwägungen zum Verhältnis Mensch und

Offenbarung, München 1971, 138.

2 Biser, Gott verstehen (s. Anm. 1), 139.

5


Vorwort

Hermeneutik nun ist die Theorie des Verstehens, seiner Bedingungen

und Möglichkeiten, aber auch seiner Hindernisse,

seiner Grenzen und seines möglichen Scheiterns. Ist der Glaube

ein Verstehen, so die theologische Hermeneutik ein Verstehen

des glaubenden Verstehens. Hermeneutische Theologie, wie ich

sie verstehe, bezeichnet nicht etwa nur eine Teildisziplin der

Theologie oder eine Teilaufgabe ihrer Einzeldisziplinen. Sie verhält

sich auch nicht zum Verstehen des Glaubens als metatheoretische

Beschreibung und Analyse der Objektsprache des

Glaubens, sondern sie ist genau darin und nur soweit im strengen

Sinne des Wortes theologisch, wie sie ihrerseits als reflektierter

Vollzug glaubenden Verstehens gelten kann.

Die eigentliche Herausforderung der Theologie, um nicht zu

sagen Provokation, besteht in der Annahme, dass das Verstehen

des Glaubens nicht nur eine Weise menschlichen Selbstverstehens,

sondern in einem distinkten Sinne zugleich ein Verstehen

Gottes ist. Vorausgesetzt ist damit die Möglichkeit, dass Gott

überhaupt von uns Menschen verstanden werden kann und

nicht etwa nur die Chiffre für ein unnennbares Geheimnis oder

eine Leerstelle in einer Theorie metaphysischer Letztbegründung

ist. Der Titel „Gott verstehen“ spricht, wie Eugen Biser schreibt,

„von der höchsten, heute freilich weithin verdunkelten Hoffnung

des Menschen, Gott nicht nur über sich, sondern bei sich zu

haben: als den Partner des Gesprächs, das er selbst durch seine

offenbarende Selbsterschließung aufnahm“ 3 .

Verstehen lässt sich Gott nur, wenn er sich selbst in einer uns

verständlichen Weise zu verstehen gibt, mit anderen Worten sich

uns offenbart, wobei es sich um die Offenbarung seiner selbst

handelt, durch die, metaphorisch gesprochen, die Existenz des

von der Selbstoffenbarung Gottes getroffenen Menschen wie

auch die Welt im Ganzen, Geschichte und Gesellschaft in einem

3 Biser, Gott verstehen (s. Anm. 1), 7.

6


Vorwort

neuen Licht erscheinen. Im Licht der Selbstoffenbarung Gottes

werden Mensch und Welt auf letztgültige Weise offenbar. Dieses

Offenbarwerden in Raum und Zeit, in der Geschichte von

Mensch und Welt, ist sowohl ein letztgültiges und doch kein

endgültiges, heißt es doch im 1. Johannesbrief: „Es ist noch nicht

offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn

es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein, denn wir werden

ihn sehen, wie er ist“ (1Joh 3,2). Wir leben mit anderen Worten im

Glauben und nicht im Schauen, womit bereits das Thema der

Eschatologie und des eschatologischen Vorbehalts angesprochen

ist, das im vorletzten Kapitel des Buches erörtert wird.

Als dialogisches Geschehen zwischen Gott und Mensch hat

die Selbstoffenbarung Gottes einen hermeneutischen Charakter.

Somit stellt sich nun aber die Frage, ob man nur von einem Verstehen

Gottes durch den Menschen im Vollzug des Glaubens

oder auch von einem Selbstverstehen Gottes sprechen muss. Ist

vielleicht die Selbstoffenbarung Gottes zugleich der Akt seines

Selbstverstehens? Lässt sich ein solcher Gedanke sinnvoll formulieren?

Ist er vielleicht sogar in gewisser Hinsicht theologisch

unabweisbar? Mit diesen Fragen betreten wir das Gebiet der

christlichen Trinitätslehre. Die theologische Tradition unterscheidet

zwischen dem Weltbezug und dem Selbstbezug Gottes

– in den Worten der klassischen Dogmatik zwischen ökonomischer

und immanenter Trinitätslehre. Inwiefern beide in ihrer

Unterschiedenheit wie ihrer Bezogenheit eine hermeneutische

Dimension haben, wird eines der Themen im vorliegenden Buch

sein.

Sein besonderes Augenmerk liegt auf den leiblichen und

sinnlichen Aspekten jeglichen Verstehens. Die vorliegenden Erwägungen

zur theologischen Hermeneutik beziehungsweise zu

einer hermeneutischen Theologie wollen als Beitrag zur Debatte

über eine Hermeneutik des Körpers verstanden werden. Eine

theologische Hermeneutik des Körpers ist nicht allein schöp-

7


Vorwort

fungstheologisch, sondern im Letzten christologisch, nämlich

inkarnationstheologisch fundiert. Der Inkarnationsgedanke findet

seine Zuspitzung in Kreuz und Auferstehung Christi, was

auch ekklesiologisch zu bedenken sein wird.

Die Alternative zu einer theologischen Hermeneutik des Körpers,

in deren Zentrum Christus als leibliches Wort Gottes steht,

scheint die christliche Mystik zu sein. Auch ihr Ziel ist es, Gott zu

verstehen, jedoch nicht einem dialogischen Gegenüber, sondern

letztlich in der mystischen Vereinigung von Gott und Mensch

beziehungsweise Gott und der menschlichen Seele, in der alle Gegensätze

und Unterschiede, die der Anstoß für hermeneutische

Prozesse sind, zum Verschwinden gebracht werden. Eine umfassende

Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Spielarten

christlicher Mystik in Geschichte und Gegenwart würde die

Grenzen der Fragestellung des vorliegenden Buches überschreiten.

Zur Konturierung des eigenen Verständnisses theologischer

Hermeneutik sollen aber Fallstudien zum Mystikverständnis in

der Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts dienen, die zumindest

ausblickhaft Möglichkeiten und Grenzen einer evangelischen

Mystik unter Gegenwartsbedingungen ausloten.

Wie das Verstehen bewegt sich auch alle Hermeneutik im

Wechselspiel von Frage und Antwort. Die Hermeneutik ist ihrerseits

eine bestimmte Antwort auf eine Frage, nämlich wie Verstehen

unter den Bedingungen der Geschichtlichkeit und

Endlichkeit unserer Existenz möglich ist. Wir sagten bereits, dass

alle Theologie wie der Glaube responsorischen Charakter hat.

Hermeneutische Theologie ist antwortende Theologie. Sie antwortet

auf den Ruf, die Anrede und den Zuspruch Gottes. Sie

antwortet aber auch auf die Frage, in die sie sich von den Menschen

gestellt sieht, sie seien gläubig, nicht gläubig oder dezidiert

ungläubig. Rechenschaft über den Grund des Glaubens und

seiner Hoffnung zu geben, wird traditionell als Apologetik bezeichnet.

Recht verstanden ist die Aufgabe theologischer Her-

8


Vorwort

meneutik immer auch die Aufgabe theologischer Apologetik. Allerdings

gibt es eine schwache wie auch eine starke Auffassung

dieser Aufgabe. Während sich die schwache Version auf den Begriff

der Verteidigung des Glaubens bringen lässt, begreift eine

starke Version die Aufgabe im Angriff. Diese Auffassung hat insbesondere

Emil Brunner vertreten, der zugleich eine scharfe Antithese

zwischen Wort und Mystik aufgestellt hat. Im Gespräch

mit ihm und Rudolf Bultmann, der eine ganz eigenständige Sicht

theologischer Apologetik entwickelt hat, werden zum Schluss die

Herausforderungen benannt, vor denen eine apologetische Theologie

heute steht, wenn es darum geht darzulegen, was es heißt,

Gott zu verstehen.

Paula Neven Du Mont und Samuel Bauer waren bei den Korrekturen

behilflich. Dafür sage ich herzlichen Dank. Danken

möchte ich aber auch Annette Weidhas für die langjährige vertrauensvolle

Zusammenarbeit und Freundschaft. Ihr ist dieses

Buch gewidmet.

Wien, 11. Januar 2025 Ulrich H. J. Körtner

9



Inhalt

1 Dimensionen des Verstehens .................................................... 13

1.1 Verstehen, Raum und Zeit .................................................... 13

1.2 Animal hermeneutikum ..................................................... 19

1.3 Verstehen, Sinn und Bedeutung .......................................... 25

1.4 Gott verstehen ......................................................................... 29

2 Theologische Hermeneutik .................................................. 32

2.1 Stellenwert und Grundfragen theologischer Hermeneutik 32

2.2 Hermeneutische Positionen in der Diskussion ................ 36

2.3 Gegenstände und Probleme der Hermeneutik .............. 43

2.4 Methoden und Kriterien hermeneutischer Reflexion 46

2.5 Zukünftige Aufgaben und Schwerpunkte

theologischer Hermeneutik ................................................ 49

3 Körper und Sprache ................................................................... 52

3.1 Hermeneutik des Körpers .................................................... 52

3.2 Inkarnierte Vernunft ................................................................. 54

3.3 Vernunft und Vernehmen ................................................... 59

3.4 Körper, Sprache und Text ..................................................... 63

3.5 Verstehen des Leibes und leibliches Verstehen ................ 71

3.6 Theologische Hermeneutik des Körpers ........................... 75

4 Verstehen Gottes ....................................................................... 84

4.1 Verständnisfragen ................................................................. 84

4.2 Offenbarung und Geschichtlichkeit Gottes ...................... 86

4.3 Immanente und ökonomische Trinität ............................. 91

4.4 Die hermeneutische Qualität der Trinitätslehre ............. 93

5 Sünde und Verstehen ................................................................ 98

5.1 Theologische Hermeneutik des Unverständnisses ............. 98

5.2 Unverständnis und Unglaube ............................................... 100

11


Inhalt

5.3 Theologische und philosophische Hermeneutik .......... 104

5.4 Hermeneutik des guten Willens und Wille zur Macht 106

5.5 Hermeneutik und Theologie der Gabe ........................... 109

6 Christusbild und darstellendes Handeln ............................ 111

6.1 Hören und Sehen ............................................................... 111

6.2 Christusbild und darstellendes Handeln bei

Schleiermacher .................................................................... 116

6.3 Christusbild und Christusnachfolge ............................ 121

7 Wort und Mystik ........................................................................ 125

7.1 Mystik in der Wort-Gottes-Theologie ............................. 125

7.2 Mystik bei Emil Brunner ...................................................... 129

7.3 Mystik bei Karl Barth ......................................................... 134

7.4 Mystik bei Friedrich Gogarten ......................................... 141

7.5 Mystik bei Rudolf Bultmann ............................................ 150

7.6 Mystik bei Paul Tillich ...................................................... 159

7.7 Mystik bei Dorothee Sölle ................................................. 166

7.8 Ausblick: Evangelische Mystik im 21. Jahrhundert ...... 168

8 Glauben und Schauen .................................................................. 174

8.1 Bildstörung ......................................................................... 174

8.2 Zum erkenntnistheoretischen Status eschatologischer

Aussagen ................................................................................ 179

8.3 Fragmentarisches Leben – fragmentarische

Hoffnungsbilder ................................................................ 183

8.4 Zeit des Glaubens – Zeit der Bilder .................................. 186

9 Christliche Sokratik ........................................................................ 191

9.1 Theologie im Streit um die Wirklichkeit ........................... 191

9.2 Die andere Aufgabe der Theologie .................................... 194

9.3 Eristik im Widerstreit ......................................................... 201

12


1 Dimensionen des Verstehens

1.1 Verstehen, Raum und Zeit

Verstehen versteht sich nicht von selbst. Auf diese Grunderfahrung

antwortet die Hermeneutik. Sie ist die Lehre vom Verstehen,

seinen Voraussetzungen und seinen Kontexten. Hermeneutik

analysiert und reflektiert, was es überhaupt heißt, etwas,

jemanden oder einander zu verstehen, aber auch, welche Umstände

dazu führen können, dass das Verstehen misslingt, dass

Missverständnisse entstehen, dass etwas oder jemand bewusst

missverstanden wird, dass etwas oder jemand nur scheinbar verstanden,

in Wahrheit aber missverstanden wird oder das uns

etwas bei allen Verstehensbemühungen völlig unverständlich

bleibt. Hermeneutik fragt nach den Bedingungen wie auch nach

den Grenzen des Verstehens. Sie ist also der reflektierte Versuch,

das Verstehen zu verstehen, eine Verstehensbemühung zweiter

Ordnung. Eine solche Bemühung braucht es aber, weil sich das

Verstehen nicht von selbst versteht und oftmals nicht von selbst

einstellt. Die Hermeneutik wird aus der Erfahrung geboren, dass

das Verstehen eigens gesucht werden muss und oft misslingt.

In diesem Buch soll es um theologische Hermeneutik gehen.

Theologische Hermeneutik ist nicht mit Hermeneutik in der

Theologie und ihren Einzeldisziplinen gleichzusetzen. Es handelt

sich bei ihr nicht etwa nur um eine Teildisziplin der Theologie

oder um einen besonderen Aspekt ihrer historischen,

systematischen und praktischen Einzeldisziplinen, sondern um

einen Grundzug von Theologie überhaupt. Das wird im zweiten

13


1 Dimensionen des Verstehens

Kapitel genauer erläutert. Theologie, so lautet die Kernthese dieses

Buches, ist ihrem Wesen nach hermeneutisch, weil das Verstehen

ein Grundzug des christlichen Glaubens ist. In gewisser

Weise ist Glauben ein Verstehen, nämlich ein Verstehen unserer

selbst in unserer Beziehung zu Gott. Man kann auch sagen, es ist

ein Verstehen unserer selbst und der Welt im Ganzen von Gott

her, oder nochmals anders gesagt: Gott ist der Verstehensraum

des Glaubens.

In seiner berühmten Areopagrede erklärt der Apostel Paulus,

Gott sei keinem von uns ferne. „Denn in ihm leben, weben und

sind wir“ (Act 17,28). Dass es sich bei der Szene um eine literarische

Fiktion handelt, tut für uns an dieser Stelle nichts zur Sache. Worauf

es ankommt, ist die darin zum Ausdruck kommende Glaubenserkenntnis,

wonach Gott der Lebens- und Wahrheitsraum

des Menschen ist. Glauben heißt, dies zu verstehen, und zwar auf

heilvolle Weise. Theologie aber legt dar, was es heißt, Gott und

damit auch sich selbst und die Welt in ihrer Gottbezüglichkeit zu

verstehen, worin die Ursachen des Nichtverstehens zu suchen

sind und wie sie überwunden werden können.

In diesem ersten Kapitel soll es darum gehen, Begriff und

Sache des Verstehens in unterschiedliche Richtungen auszuloten.

Das aber heißt auch, die Sache der Hermeneutik auf eine elementare

Weise zu verstehen. Man könnte sagen: Es geht im

Folgenden darum, das Verstehen zu verstehen und somit auch

darum, Hermeneutik und ihre Sinnhaftigkeit zu verstehen. Es

geht also um ein Verstehen dritter Ordnung, das freilich nicht

außerhalb der Hermeneutik, sondern innerhalb derselben ihren

Ort hat.

Grundlegend für alles Weitere ist der Begriff der Dimension.

Das Fremdwort bedeutet ja soviel wie Abmessung, Ausdehnung,

Richtungserstreckung eines Körpers (eindimensional, zweidimensional,

dreidimensional etc., Raum- und Zeitdimensionen).

Es geht in diesem Kapitel also darum, das Feld oder den Raum

14


1.1 Verstehen, Raum und Zeit

der Hermeneutik zu vermessen. Tatsächlich hat die Hermeneutik

nicht nur im übertragenen, sondern auch im buchstäblichen

Sinne räumliche Dimensionen, und sie erstreckt sich in der Zeitdimension.

Letzteres liegt auf der Hand. Alle Verstehensprozesse ereignen

sich in der Zeit. Sie dauern, brauchen also ihre Zeit. Verstehensbemühungen

gelten aber nicht nur Erscheinungen, Äußerungen

und Personen in der unmittelbaren Gegenwart, sondern

auch Phänomenen und Lebensäußerungen der Vergangenheit.

Auch wenn sie zum Beispiel als überlieferter Text oder materielles

Artefakt in der Gegenwart existieren, kommen sie doch aus

der Vergangenheit, wie auch unser eigenes Leben seine eigene

Herkunft und Vergangenheit hat. Kurz: Verstehen hat es mit Geschichte

und Geschichtlichkeit zu tun. Es ist aber immer auch

auf Zukunft ausgerichtet, um derentwillen Verstehen und Verständigung

gesucht werden. Die Zeitlichkeit ist also hermeneutisch

in ihren drei Zeitdimensionen – Gegenwart, Vergangenheit

und Zukunft zu bedenken. Zu ihr gehört die Endlichkeit,

aber auch Unendlichkeit und Unabgeschlossenheit aller

hermeneutischen Prozesse.

Eine tragende Rolle spielt in der Hermeneutik aber auch die

Dimension des Raumes. Während in der älteren Geschichte der

Hermeneutik vor allem die Zeitdimension reflektiert wurde –

wobei auf Heideggers Spuren die Unterscheidung zwischen Geschichte

und Geschichtlichkeit Karriere machte – hat sich seit

dem Ende der 1980er Jahre eine Wende in den Kultur- und Sozialwissenschaften

und in der Folge auch in der Hermeneutik zur

Raumdimension vollzogen. 1 Man spricht geradezu von einem

„spatial turn“, einem „topographical turn“ und einem „topological

turn“, wobei die drei englischen Begriffe allerdings nicht

1 Vgl. Ingrid Baumgärtner/Paul-Gerhard Klumbies/Franziska Sick (Hg.),

Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, Göttingen 2009.

15


1 Dimensionen des Verstehens

synonym sind. 2 Neben dem physikalischen Raum und geographischen

Räumen gibt es soziale Räume und virtuelle Räume,

sei es im Land der Phantasie, sei es im Internet. Utopie, Dystopie

und Heterotopie sind sozial- und ideengeschichtliche Begriffe.

Raummetaphern begegnen uns allüberall, so zum Beispiel in der

Rhetorik, wo der Begriff des Topos oder des Locus seinen Sitz hat.

Räumliches Denken ist aber auch für die Hermeneutik bedeutsam.

Man denke nur an Phänomene von Abwesenheit und

Anwesenheit von Personen. Verstehensbemühungen erstrecken

sich nicht nur über zeitliche, sondern auch über räumliche Entfernungen.

Im Brief, in der E-Mail, im Telefonat, aber auch im

Zoom-Meeting, sind Menschen als Abwesende anwesend. Und

selbst wenn wir uns mit anderen zur selben Zeit am selben Ort

oder im selben Raum befinden, bleibt doch zwischen uns ein

räumlicher Abstand, der auch für das Verstehen von Belang ist.

Wer wo sitzt, steht oder liegt, beeinflusst Verstehensprozesse.

Man denke an die Kommunikationsbedingen zwischen Arzt und

Patient, der im Bett liegt. Man denke an die Anordnung in einem

Hörsaal, in einem Gerichtssaal, in einem Parlament, in einem

Theater oder in einem Konzertsaal. Orte und ihre Gestaltung sind

sinnfälliger Ausdruck von Autoritäts- und Geltungsansprüchen,

so etwa, wenn es vom Papst in der katholischen Kirche heißt,

seine Lehre sei unfehlbar, wenn er ex kathedra lehre.

Räumliches Denken spielt auch in den diversen Konzeptionen

einer Theologie der Befreiung und weiterer Spielarten von

kontextueller Theologie eine Rolle. Befreiungstheologen wie Leonardo

Boff operieren mit der Unterscheidung von Zentrum und

Peripherie 3 und reklamieren für sich, dass die Peripherie des glo-

2 Vgl. Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma

in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, 219 ff.

3 Vgl. Leonardo Boff, Jesus Christus, der Befreier, Freiburg/Basel/Wien 1986,

196 ff.

16


1.1 Verstehen, Raum und Zeit

balen Südens zum Ort neuer Erkenntnis geworden ist, die im

Zentrum – in diesem Fall Rom und das alte Europa – nie hätte

gewonnen werden können. Kontextuelle Theologien reklamieren

die Ortsgebundenheit ihres Erkenntnis- und Wahrheitsanspruchs.

Der Kontext gilt nicht allein als Entdeckungs-, sondern

auch als Begründungszusammenhang. Er wird zum Wahrheitsraum.

Die Raumdimension der Hermeneutik ist auch im Blick auf

die verschiedenen Alteritätskonzepte zu bedenken, die in der

neueren Hermeneutik vertreten werden. Beispielhaft seien Emanuel

Levinas und Paul Ricœur erwähnt. Sie ist überhaupt dort

präsent, wo die Leiblichkeit des Menschen reflektiert wird. Eine

Schlüsselrolle spielt hierfür die Phänomenologie der Wahrnehmung

von Maurice Merleau-Ponty, der den Begriff der inkarnierten

Vernunft geprägt hat. Die Leiblichkeit des Menschen

spielt aber schon in der Phänomenologie Edmund Husserls eine

tragende Rolle. Weitergeführt wird die Debatte im Diskurs zu

einer „carnal hermeneutics“ 4 . Um sie wird es im dritten Kapitel

gehen. Eine Hermeneutik des Körpers beziehungsweise des Leibes

fokussiert sich nicht auf den Körper als Gegenstand des Verstehens.

Sie ist vielmehr ein universales Konzept, das auf der

These beruht, dass alles Verstehen ein körperlicher Vorgang ist.

Wir verstehen mit und durch unseren je eigenen Körper. Einerseits

geht es einer Hermeneutik des Körpers um das Verstehen

des Körpers und andererseits um das Verstehen mittels des Körpers.

Wir kommen darauf später zurück. Für den Augenblick gilt

es nur festzuhalten, dass mit der Leiblichkeit von Verstehensvollzügen

neben der Zeitdimension die Raumdimension des Verstehens

präsent ist und dementsprechend zum Thema zu

machen ist.

4 Vgl. Richard Kearney/Brian Treanor (eds.): Carnal Hermeneutics, New York

2015.

17


1 Dimensionen des Verstehens

An dieser Stelle ist noch eine weitere Bemerkung zum Begriff

der Dimension im Kontext von Hermeneutik und Phänomenologie

angebracht. Der Terminus begegnet uns bekanntlich in der

Mathematik, beispielsweise in der abstrakten Geometrie. In Reflexionen

zur Krise der europäischen Wissenschaft hat Edmund

Husserl daran erinnert, dass die abstrakte Geometrie ihren Ursprung

in der Tätigkeit des Landvermessers hat. Er forderte, die

moderne Wissenschaft lebensweltlich zurückzubinden, was zum

Beispiel bedeute, dass sich das Verständnis der Geometrie auf

die lebensweltliche Praxis der Landvermessung zurückbesinne,

um so der Sinnentleerung der modernen Wissenschaft entgegenzuwirken.

5 Er wollte die Kluft zwischen naturwissenschaftlichem

Erklären und geisteswissenschaftlichem Verstehen überwinden,

indem er die Sinnfrage über die Frage nach ihrem

lebensweltlichen Ursprung in die moderne Wissenschaft einholen

wollte. Wie Emil Angehrn resümiert, besagt der Grundgedanke

Husserls, dass allen theoretischen Konzepten und

methodischen Idealisierungen der modernen Wissenschaften

„sowohl ein sinnliches Material wie eine konkrete Praxis zugrunde

liegen, die in den Konzeptualisierungen nicht mehr aufscheinen,

sondern verdeckt sind“ 6 .

Husserls „Reflexion auf die Lebenswelt wendet sich gegen das objektivistische

Verständnis, welches den Gegenstand unabhängig von subjektrelativen

Perspektiven zu erfassen beansprucht und die Dimension

der ‚Bedeutung‘ der Phänomene prinzipiell unterläuft. Die phänome-

nologische Rehabilitierung des Für-das-Subjekt-Seins der Dinge,

welche sowohl das empirisch-sinnliche Gegebensein wie das interessemäßige

Involviertsein einschließt, ist der Angelpunkt für die Artikulation

der Sinndimension der erfahrenen Welt.“ 7

5 Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die

transzendentale Phänomenologie, Husserliana, Bd. VI, Den Haag 1962, 49.

6 Emil Angehrn, Hermeneutik des Selbst im Kontext. Von der Textauslegung

zum Verstehen des Menschen (HuI 7), Paderborn 2023, 33.

18


Wenngleich die Einseitigkeit der hermeneutischen Ursprungsforschung

bei Husserl mit Problemen behaftet ist, ist doch der

lebensweltliche Bezug des Begriffs der Dimension für das im vorliegenden

Buch entwickelte Verständnis von Hermeneutik im

allgemeinen und theologischer Hermeneutik im Besonderen

doch grundlegend. Es soll eben nicht nur darum gehen, Hermeneutik

zu erklären, sondern sie zu verstehen, so gewiss sich ein

Verstehen immer auch komplementär zum Erklären verhält. Was

man verstanden hat, muss man auch erklären können. Erklären

kann man aber nur, was man auch verstanden hat.

1.2 Animal hermeneuticum

1.2 Animal hermeneuticum

In ihrer denkbar weiten Fassung ist Hermeneutik eine Praxis des

Verstehens, bei welcher der Mensch nicht nur Subjekt, sondern

auch Gegenstand aller Verstehensbemühungen ist. In der Weise,

wie wir die Welt und die Dinge um uns herum verstehen und

deuten, verstehen wir uns auf gewisse Weise immer schon selbst.

Indem wir nach dem Sinn von allem fragen, fragen wir – sei es

unthematisch, sei es thematisch – immer auch nach dem Sinn

unseres eigenen Daseins. So gesehen ist der Mensch das verstehende

und darin zugleich das sich selbst interpretierende Tier,

um mit Charles Taylor zu sprechen. 8 Als zoon logon echon bzw.

als animal rationale ist der Mensch das animal hermeneuticum,

weil das menschliche Dasein „grundlegend verstehend-auslegend“

9 ist, wie Emil Angehrn ausführt. Maurice Merleau-Ponty

7 Angehrn, Hermeneutik (s. Anm. 6), 34.

8 Vgl. Charles Taylor, Self-interpreting animals, in: ders.: Philosophical

Papers, Bd. 1. Cambridge 1985, 45–76; ders., Das sprachbegabte Tier. Grundzüge

des menschlichen Sprachvermögens, Berlin 2017.

9 Emil Angehrn, Selbstverständnis und Alterität. Zwischen Phänomenologie

und Hermeneutik, in: Thiemo Breyer/Daniel Creutz (Hg.), Phänome-

19


1 Dimensionen des Verstehens

sagt es so: „Zur Welt seiend, sind wir verurteilt zum Sinn, und

nichts können wir tun oder sagen, was in der Geschichte nicht

seinen Namen fände.“ 10

Wie sehr wir zum Sinn und zur Sinnsuche nicht etwa nur

fähig, sondern geradezu verurteilt sind, bestätigen die modernen

Neurowissenschaften. Der Neurowissenschaftler Michael

Gazzaniga hat Experimente mit Personen durchgeführt, bei

denen eine Callosotomie durchgeführt wurde. Bei diesem neurochirurgischen

Eingriff wird die Verbindung (Corpus callosum)

zwischen den beiden Hirnhälften operativ entfernt. Dieses Verfahren

wird heute nur noch selten in Fällen von schweren Epilepsieverläufen

zu therapeutischen Zwecken angewendet. In der

linken Hirnhälfte sind unsere analytischen Fähigkeiten und

unser Sprachvermögen lokalisiert, aber – so Gazzaniga – „auch

eine Art Interpret, der versucht, sich auf alle Sinneserfahrungen

einen Reim zu machen. In der rechten Hirnhälfte verortet sind

unser Orientierungsvermögen, der Sinn für das Erkennen von

Gesichtern und ‚holistische‘ Fähigkeiten wie Musikalität oder

der Sinn für Humor.“ 11 Beide Hirnhälften sind über Kreuz mit

der jeweils anderen Körperseite verbunden.

Zeigt man nun Personen, bei denen das Corpus callosum entfernt

wurde, einen Gegenstand im linken Gesichtsfeld, sind sie

nicht in der Lage, diesen zu benennen, weil die Information über

das Objekt nur in die rechte, nichtsprachliche Hirnhemisphäre

gelangt. Obwohl zwischen seinen beiden Hälften keine Verbin-

nologie des praktischen Sinns. Die Willensphilosophie Paul Ricœurs im

Kontext (Übergänge 68), München 2019, 229–248, hier 231.

10 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Phänomenologisch-psychologische

Studien 7), Berlin 1966, XIV.

11 Ulrich Bahnsen/Ulrich Schnabel, Was ist das Ich?, https://www.zeit.de/

zeit-wissen/2012/02/Mensch-Individuum-Selbstbewusstsein/komplettansicht,

aktualisiert am 11.2.2016 (letzter Zugriff: 10.7.2024).

20



2 Theologische Hermeneutik

2.1 Stellenwert und Grundfragen

theologischer Hermeneutik

Immer schon bestand zwischen Hermeneutik und christlicher

Theologie eine enge Verbindung. Der italienische Philosoph

Giovanni Vattimo erinnert nicht nur an die „wesentliche Nähe

von hermeneutischer Interpretation und exegetischer Ausdeutung

biblischer Texte“, sondern hält die neuzeitliche Hermeneutik,

die in Nietzsche und Heidegger ihre wichtigsten Repräsentanten

hat, insgesamt für „nichts anderes als die konsequent

ent-wickelte und zu ihrer Reife gebrachte christliche Botschaft“

1 . Über diese These mag man streiten. Unstrittig hat aber

alle Theologie einen hermeneutischen Grundzug, der mit der Geschichtlichkeit

des christlichen Glaubens zusammenhängt.

Theologische Hermeneutik ist im umfassenden Sinn eine

Hermeneutik des christlichen Glaubens und seiner Lebenspraxis,

wobei die biblische Hermeneutik eine Schlüsselrolle spielt.

Theologische Hermeneutik fragt nicht nur danach, wie sich die

1 Giovanni Vattimo, Christentum im Zeitalter der Interpretation, in: ders./

Richard Schröder/Ulrich Engel, Christentum im Zeitalter der Interpretation,

hg. v. Thomas Eggensperger, Wien 2004, 17–31, hier 22. Das vorliegende

Kapitel ist zuerst mit geringen Abweichungen unter dem Titel

„Hermeneutik Systematischer Theologie“ erschienen in: Claudia Gärtner/

Martina Kumlehn u. a. (Hg.), Handbuch Religionspädagogische Hermeneutik,Tübingen

2025, 99–112.

32


2.1 Stellenwert und Grundfragen theologischer Hermeneutik

biblischen Texte und ihre Botschaft verstehen lassen, sondern

auch umgekehrt, was diese Texte zu verstehen geben und worin

ihr hermeneutisches Potential für das Verstehen der heutigen Lebenswirklichkeit

liegt. Das trifft auch auf die Systematische

Theologie zu. Sie ist, wie alle Theologie, eine Interpretationspraxis,

vollzieht sich ihre Bearbeitung von Glaubensfragen in

Gestalt einer Interpretation von Interpretationen vorausliegender

Glaubenszeugnisse, unter denen die Texte der biblischen

Überlieferung eine herausragende – kanonische – Stellung einnehmen.

Zu den Folgen der Aufklärung gehört die Entwicklung des

historischen Bewusstseins, d. h. des Bewusstseins für die Geschichtlichkeit

aller Phänomene der menschlichen Lebenswelt,

also auch des Christentums in seinen unterschiedlichen Ausprägungen

in Geschichte und Gegenwart. Anders als eine rein deskriptive

Religions- und Kulturwissenschaft des Christentums

bearbeitet die Theologie die Geltungsfragen, die durch den Wahrheitsanspruch

des christlichen Glaubens aufgeworfen werden.

Ihre Bearbeitung ist vor allem die Aufgabe der Systematischen

Theologie, die sich in Fundamentaltheologie, Dogmatik (Glaubenslehre)

und Ethik gliedert.

Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen. Etwas verstehen

aber bedeutet, es als Antwort auf eine Frage zu verstehen. Solange

man die Frage nicht kennt und versteht, bleibt das, was man zu

verstehen versucht, unverstanden. Hermeneutik ist notwendig,

weil sich das Verstehen nicht von selbst versteht. Vielen Dingen

begegnen wir von Haus aus mit Verständnislosigkeit, und auch

das Missverstehen ergibt sich leicht von selbst, wohingegen das

Verstehen – so Friedrich Schleiermacher – eigens gewollt und gesucht

werden muss. Neben Nichtverstehen und Missverstehen

gibt es zu dem das Unverständnis. Sodann ist jedes Verstehen

immer ein Andersverstehen, und jedes Bemühen um Verstehen

stößt über kurz oder lang an Grenzen.

33


2 Theologische Hermeneutik

Systematische Theologie fragt nach der Frage, auf die die

theologische Hermeneutik die Antwort ist. Das aber ist, knapp

gesagt, die Gottesfrage. Nun hat es auch dieser Genetiv in sich.

Unter der Gottesfrage wird üblicherweise die Frage des Menschen

nach Gott verstanden. Es kann aber in der heutigen Zeit nicht

mehr fraglos vorausgesetzt werden, dass Gott zumindest in Gestalt

der Frage nach ihm präsent ist, vielleicht auch in einem Gewand,

in dem gar nicht explizit von Gott, sondern zum Beispiel

vom Sinn des Lebens gesprochen wird. Nun kann man unter Religion

und Religionen zwar eine bestimmte Weise der Bearbeitung

von Sinnfragen verstehen. Aber nicht alle Sinndeutungen

sind religiös, es sei denn, dass der Religionsbegriff derart entgrenzt

wird, dass er seine unterscheidende Erkenntniskraft einbüßt.

Der Genetiv „Gottesfrage“ kann aber auch als ein Genetivus

subjectivus verstanden werden. Dann geht es um die Frage Gottes

nach dem Menschen: „Adam, wo bist du?“ Die Frage des

Menschen nach Gott aber lässt sich dann als Antwort auf die vorausgehende

Frage Gottes nach dem Menschen verstehen: „Was

ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind,

dass du dich seiner annimmst?“ (Ps 8,5) Nicht eine vorgängige

und fraglos immer schon vorauszusetzende Frage nach Gott,

sondern das Zeugnis vormaliger Gottesrede und der Frage Gottes

nach dem Menschen kann die Frage nach Gott im besten Fall

auf neue Weise provozieren.

Theologie zielt nicht allein darauf, menschliche Rede von

Gott zu verstehen und zu interpretieren. Vielmehr fragt sie, wie

bereits im ersten Kapitel dargelegt wurde, nach Gott selbst und

danach, wie er sich selbst, die Welt und die menschliche Existenz

zu verstehen gibt. Das Geschehen, in dem solches Verstehen in

der mehrfachen Bedeutung des Wortes ermöglicht wird, lässt

sich mit der Formel von der Kommunikation des Evangeliums

näher bestimmen, die der evangelische Theologe Ernst Lange

34


2.1 Stellenwert und Grundfragen theologischer Hermeneutik

geprägt hat. 2 Gegenüber dem Begriff der Verkündigung hat er

den Vorteil, dass er nicht nur die Seite des Sprechers, sondern

auch den Empfänger in den Blick nimmt, und zwar nicht nur als

Objekt einer Botschaft, sondern als Subjekt, das die Botschaft eigenständig

aneignet. Kommunikation ist ein dialogisches Geschehen.

Auch beschränkt sich der Kommunikationsbegriff nicht

nur auf den Bereich der Wortsprache, sondern bezieht die paraverbale

Kommunikation (Mimik, Gesten, Tonfall, die eine sprachliche

Äußerung begleiten) und die nonverbale Kommunikation

(Berührungen, Töne, Bilder) mit ein. Dementsprechend werden

wir unsere Überlegungen zur theologischen Hermeneutik im

dritten Kapitel in Richtung auf eine Hermeneutik des Körpers

erweitern, die im christlich-theologischen Kontext klarerweise

Bezüge zum christologischen Inkarnationsgedanken hat. Eine

Theologie und Hermeneutik des Körpers kann wiederum als

Grundlage einer umfassenden Theologie der Medien verstanden

werden, die mit einem denkbar weiten Begriff des Wortes Gottes

operiert, welcher die leiblichen Vollzüge der Weitergabe und

Aneignung des Evangeliums würdigt. Außerdem ermöglicht die

Formel von der Kommunikation des Evangeliums, den Ereignischarakter

des Evangeliums zu betonen, das keine feststehende

2 Ernst Lange, Predigen als Beruf. Aufsätze zu Hermeneutik, Liturgie und

Pfarramt, hg. v. Rüdiger Schloz, Stuttgart/Berlin 1976, 11 ff. In jüngerer Zeit

ist die Wendung zu einem Leitbegriff vor allem der Praktischen Theologie

aufgestiegen. Vgl. Christian Grethlein, Praktische Theologie, Berlin/Boston

2012; Wilfried Engemann, Kommunikation des Evangeliums als interdisziplinäres

Projekt. Praktische Theologie im Dialog mit außertheologischen

Wissenschaften, in: Christian Grethlein/Helmut Schwier (Hg.):

Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte, Leipzig 2007,

137–232; Michael Domsgen/Bernd Schröder (Hg.), Kommunikation des

Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie (APrTh 57), Leipzig

2014. Der Terminus lässt sich aber auch systematisch-theologisch fruchtbar

machen.

35


2 Theologische Hermeneutik

Größe ist, die es wie einen Gegenstand weiterzugeben gilt, sondern

das je und je neu zum Vorschein kommen muss.

Das Evangelium selbst ist von menschlichen Kommunikationsvorgängen

zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden,

handelt es sich doch nicht um eine fixierbare Lehre, sondern

um das Widerfahrnis, dass Gottes heilvolle Gegenwart das Leben

eines Menschen verändert und neu orientiert. Das Evangelium

als Wort oder Kraft Gottes (vgl. Röm 1,16; 1Kor 1,18) teilt sich zwar

in, mit und unter menschlichen Kommunikationsprozessen mit,

ist aber mit diesen nicht identisch. Es hat die Form der indirekten

Mitteilung (vgl. Sören Kierkegaard). 3

Dabei findet ein Perspektivenwechsel statt: Der Glaubende

versteht sich und sein Leben vor Gott vermittels des Evangeliums

auf solche Weise neu, dass er sich im Vorgang dieses Neuverstehens

nicht als Subjekt, sondern als Objekt der Interpretation

begreift. Die Interpretation der Wirklichkeit und der eigenen

Existenz des Glaubenden erschließt sich ihm zugleich als Selbstinterpretation

Gottes.

2.2 Hermeneutische Positionen in der Diskussion

Indem er den Zusammenhang von Glauben und menschlichem

Existenzverständnis herausgestellt und den christlichen Glauben

als ausgezeichnete Weise des Verstehens einsichtig gemacht

hat, hat Rudolf Bultmann die fundamentaltheologische Bedeutung

der Hermeneutik für alle theologischen Disziplinen zu

Bewusstsein gebracht. Seine Formel „Glauben und Verstehen“ 4

3 Siehe dazu Philipp Schwarz, Der Rückstoß der Methode. Kierkegaard und

die indirekte Mitteilung (Kierkegaard Studies 25), Berlin/Boston 2012.

4 So lautet der Titel der vierbändigen Aufsatzsammlung Bultmanns, deren

erster Band 1933 erschien und Martin Heidegger gewidmet war und auch

in den späteren Auflagen blieb. Siehe Rudolf Bultmann, Glauben und Verstehen,

Bd. 1, Tübingen 7 1972.

36


2.2 Hermeneutische Positionen in der Diskussion

ist insofern programmatisch, als sie den hermeneutischen

Grundzug aller Theologie herausstellt. Entmythologisierung

und existentiale Interpretation sind die Programmformeln, die

seine theologische Hermeneutik charakterisieren. Die Theologizität

von Hermeneutik im Kontext der theologischen Disziplinen

hängt nach Bultmann davon ab, inwieweit sie bei ihrer Sache

ist. Das aber ist die in den biblischen Texten verhandelte Sache, 5

nämlich die menschliche Existenz in ihrer Gottesrelation, d. h.

„als durch Gott bestimmte“ 6 .

Der Sache nach kann man Bultmanns Theologie als Konzept

einer hermeneutischen Theologie interpretieren, wie es vor allem

der Kirchenhistoriker und Systematiker Gerhard Ebeling sowie

der Neutestamentler Ernst Fuchs getan haben, auch wenn Bultmann

selbst den Begriff einer hermeneutischen Theologie nicht

verwendet hat. Ebeling verwendet den Begriff als fundamentaltheologische

Bestimmung. Sein Begriff der Hermeneutik steht

ebenso wie bei Ernst Fuchs in Verbindung mit der sogenannten

„neuen Hermeneutik“ 7 , deren philosophischer Hauptvertreter

bekanntlich Hans- Georg Gadamer (1900–2002) ist. 8 Geht es in der

hermeneutischen Phänomenologie Martin Heideggers um das

Verstehen von Sprache, so bei Gadamer um das Verstehen durch

Sprache. Zugleich erweitert das Verständnis von Hermeneutik

als Kunst des Verstehens von Texten zum Verstehen der Wirklichkeit

im Ganzen.

5 Vgl. Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: ders., Glauben

und Verstehen II, Tübingen 1952, 211–235, hier 217–222.

6 Rudolf Bultmann, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen

Testaments (1925), 334–357, in: Jürgen Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen

Theologie II (TB 17/II), München 3 1977, 47–72, hier 68.

7 Vgl. James M. Robinson/John B. Cobb Jr. (Hg.), Die neue Hermeneutik

(Neuland in der Theologie II), Zürich 1965.

8 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen

Hermeneutik (1960) (GW 1), Tübingen 1986.

37


2 Theologische Hermeneutik

Die neuere hermeneutische Debatte hat freilich zur Kritik an

einer universalen Hermeneutik und an einer ihr entsprechenden

Überfrachtung des Hermeneutikbegriffs geführt. Unter anderem

lautet die Kritik, dass die unbesehene Zustimmung zum Universalanspruch

der Hermeneutik philosophisch wie theologisch

zur „Rehabilitierung von Vorurteil, Autorität und Tradition“ geführt

habe. 9 In der Tat stellt sich die Frage nach dem Verhältnis

von Hermeneutik und Kritik, Verstehen und Urteilen.

Neben und nach Gadamer sind Ansätze einer Hermeneutik

entwickelt worden, die in gewisser Weise zu einem Verständnis

derselben als Methodenlehre zurücklenkt, wie sie vor Schleiermacher

herrschte. Erwähnt seien vor allem die Arbeiten von Paul

Ricœur 10 und Emilio Betti 11 . Anders als die Hermeneutik Diltheys,

Heideggers oder Gadamers binden Ricœur und Betti das

Verstehen an die individuelle Gestalt von Texten und ihrer Werkstruktur.

Zugleich begegnet Ricœur dem Einwand fehlender Kritikfähigkeit

mit einer „Hermeneutik des Verdachts“ als einem

notwendigen Moment von Dekonstruktion innerhalb des Verstehensprozesses.

12 Aber auch die neuere Schleiermacherfor-

9 Wolfgang Schenk, Art. Hermeneutik III. Neues Testament, in: TRE 15 (1986),

144–150, hier 147.

10 Vgl. Paul Ricœur, Die Interpretation, Frankfurt a. M. 1969; ders., Hermeneutik

und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München

1973; ders., Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen

II, München 1974.

11 Vgl. Emilio Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre. Ein

hermeneutisches Manifest, in: Wolfgang Kunkel/Hans Julius Wolff (Hg.),

Festschrift für Ernst Rabel, Bd. 2: Geschichte der antiken Rechte und allgemeine

Rechtslehre, Tübingen 1954, 79–168; ders., Die Hermeneutik als allgemeine

Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962; ders., Allgemeine

Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967.

12 Vgl. Paul Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: ders./

Eberhard Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München

1974, 24–45, hier 44.

38



3 Körper und Sprache

3.1 Hermeneutik des Körpers

Schon in den einleitenden Überlegungen zu Dimensionen des

Verstehens (Kapitel 1) sind wir auf die Bedeutung des Körpers für

Verstehensvorgänge und somit auch für die Hermeneutik gestoßen.

Auf sie richten wir unser besonderes Augenmerk, auch

deshalb, weil eine Hermeneutik des Körpers für eine christlichtheologische

Hermeneutik von grundlegender Bedeutung ist. 1

Eine Hermeneutik des Körpers beziehungsweise des Leibes fokussiert

sich nicht auf den Körper als Gegenstand des Verstehens.

Sie ist vielmehr ein universales Konzept, das auf der These beruht,

dass alles Verstehen ein körperlicher Vorgang ist. Wir verstehen

mit und durch unseren je eigenen Körper. Unser Körper

ist aber nicht gegen andere Körper oder gegen andere materielle

Medien und Träger von Bedeutung austauschbar. Die menschliche

Vernunft ist inkarnierte, d. h. sich in individuellen Körpern

manifestierende Vernunft, mag sie auch als eine transzendentale

Realität verstanden werden. Folglich ist auch die Aufgabenstellung

einer Hermeneutik des Körpers in zweifacher Hinsicht zu

1 Das vorliegende Kapitel fußt auf einem Vortrag im Rahmen der Konferenz

„Thinking of the Body. The Body as unthinkable – Part III“, Ruhr-Universität

Bochum, 12.–13.9.2023. Eine englische Fassung ist erschienen unter dem

Titel „Body and Language. Outlines of a Hermeneutics of the Body”, in:

Rebekka A. Klein/Calvin Ullrich (Hg.), The Unthinkable Body: Challenges

of Embodiment in Religion, Politics, and Ethics (RPT 130), Tübingen 2024,

291–310.

52


3.1 Hermeneutik des Körpers

diskutieren. Einerseits geht es einer Hermeneutik des Körpers

um das Verstehen des Körpers und andererseits um das Verstehen

mittels des Körpers.

Der philosophischen Tradition der Leibphänomenologie entsprechend

können wir zwischen Körper und Leib unterscheiden,

was im Deutschen leichter als in anderen Sprachen gelingt. Der

Begriff des Körpers bezeichnet die Außensicht auf die raumzeitliche

Gestalt und Präsenz des Menschen, wie sie zum Beispiel den

Naturwissenschaften oder der Medizin eigentümlich ist. Wir unterscheiden

zwischen belebten und unbelebten Körpern, zwischen

belebter und unbelebter Materie. Ein Felsbrocken ist,

physikalisch betrachtet, ebenso ein Körper wie der menschliche

Körper, ein Pantoffeltierchen ebenso ein belebter Körper wie

ein Mensch. Demgegenüber steht der Begriff des Leibes für das

Selbsterleben des Menschen wie auch für das Erleben des eigenen

Selbst wie von Anderen in personaler Kommunikation und

personalen Beziehungen. Körperhafte und leibliche Wahrnehmung

sind zu unterscheiden, aber nicht vollständig zu trennen.

Bedeutet ein Selbst zu sein, sich zu sich selbst zu verhalten, so

geschieht dies einerseits in der Dimension der Leiblichkeit – also

in der Form des körperlichen Selbsterlebens, andererseits aber

auch in der Übernahme des körperbezogenen Blicks im Selbstverhältnis.

Wer zum Beispiel die Laborwerte einer medizinischen

Vorsorgeuntersuchung übermittelt bekommt, sieht sich in seinem

leiblich-personalen Selbstverhältnis mit dem medizinischen

Blick von außen konfrontiert. Fragt der Betroffene nach Sinn und

Bedeutung der Laborwerte für die eigene Lebensführung – ob er

sich zum Beispiel weiteren Untersuchungen unterziehen sollte,

ob er eine Therapie beginnen oder verweigern soll –, ist zwischen

den beiden Blickrichtungen – der subjektiven Blickrichtung des

Leiberlebens und der objektivierenden Blickrichtung der Körperwelt

zu vermitteln, ohne die eine Perspektive in die andere

auflösen zu können. Dementsprechend werden im vorliegenden

53


3 Körper und Sprache

Kapitel beide Begriffe gebraucht, derjenige des Köpers ebenso wie

derjenige des Leibes, und zwar in ihrer Unterschiedlichkeit wie

auch in ihrer Bezogenheit.

Ich skizziere zunächst die Grundzüge einer allgemeinen Hermeneutik

des Körpers, werde später aber auch spezifische Fragestellungen

einer theologischen Hermeneutik diskutieren. Zu

einer theologischen Hermeneutik des Körpers liegen gewichtige

Beiträge aus dem Bereich der katholischen Theologie vor. 2 Eine

besondere Affinität zur katholischen Tradition weisen auch die

meisten philosophischen Beiträge zu einer Hermeneutik des Körpers

in dem von Richard Kearney und Brian Treanor herausgegebenen

Sammelband Carnal Hermeneutics auf. 3 Ich hingegen

möchte einige Gesichtspunkte aus der protestantischen Tradition

in das interdisziplinäre Gespräch zu einer Hermeneutik des

Körpers einbringen. 4

3.2 Inkarnierte Vernunft

Es war namentlich der französische Philosoph Maurice Merleau-

Ponty, der die Leibgebundenheit menschlicher Vernunft herausgearbeitet

hat. Letztlich führt der Weg in der Diskussion zur

2 Vgl. Eckhard Nordhofen, Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus,

Freiburg/Basel/Wien 2 2019; dazu siehe Jan-Heiner Tück, Der menschliche

Körper als Medium der Gottespräsenz. Eckhards Corpora – Versuch

einer kritischen Würdigung, in: Martin W. Ramb/Joachim Valentin/Ansgar

Wucherpfennig/Holger Zaborowski (Hg.), Die anarchische Kraft des

Monotheismus. Eckhard Nordhofens „Corpora“ in der Diskussion, Freiburg

2021, 11–38.

3 Richard Kearney/Brian Treanor (eds.): Carnal Hermeneutics, New York

2015.

4 Aus der neueren evangelischen Forschung zur theologischen Anthropologie

siehe Gregor Etzelmüller, Gottes verkörpertes Ebenbild. Eine theologische

Anthropologie, Tübingen 2021. Grundbegriff dieses Entwurfs ist

„Verkörperung“.

54


3.2 Inkarnierte Vernunft

Leiblichkeit der Vernunft bis zu Edmund Husserl zurück. Der

Vernunft wird die Fähigkeit zugeschrieben, alle endlichen Begrenzungen

der sinnlichen Welt und unserer Körperlichkeit gedanklich

überschreiten zu können. Klassischerweise beschreibt

die Philosophie, etwa bei Kant und Hegel, den Weg der Erkenntnis

von der sinnlichen Anschauung über die sinnliche Vorstellung

zum nichtsinnlichen Begriff, wobei sich Kant freilich des

Problems bewusst war, dass sich auch abstrakte Begriffe nur denken

lassen, wenn es Regeln der Reflexion gibt, mit deren Hilfe

einem Begriff, dem keine Anschauung entspricht, auf analoge

Weise Anschaulichkeit verliehen wird. In seiner Kritik der Urteilskraft

führt Kant den Symbolbegriff ein und definiert das

Symbol als Analogiebildung, mit deren Hilfe reinen Vernunftbegriffen

(Ideen), denen „schlechterdings keine Anschauung angemessen

gegeben werden kann“, zu einer „Versinnlichung“

verholfen wird, ohne die sich die angesprochenen Vernunftbegriffe

nicht denken lassen. 5 So versteht Kant beispielsweise die

Schönheit als Symbol für die Sittlichkeit. Es leitet dazu an, über

die Sittlichkeit so zu denken wie über die Schönheit. Entscheidend

ist, dass sich Symbole nicht durch Begriffe ersetzen lassen.

Dasselbe trifft gemäß Blumenberg auf die absolute Metapher zu.

Absolute Metaphern sind nicht zu Begriffen verblasste Bilder,

sondern Modelle „in pragmatischer Funktion, an denen eine

‚Regel der Reflexion‘ gewonnen werden soll“ 6 .

Wie sehr die Vernunft an unseren Körper und seine Sinnlichkeit

gebunden ist, zeigt sich auch in den aktuellen Debatten

zur Künstlichen Intelligenz (KI). Verfechter der Idee, Künstliche

Intelligenz könne der menschlichen Vernunft nicht nur eben-

5 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), Akademie-Ausgabe, Bd. 5,

Berlin 1908/13, 352 (§ 59).

6 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, ABG 6, 1960, 7–

142, hier 11.

55


3 Körper und Sprache

bürtig sein, sondern sie womöglich ersetzen, weil Denken nichts

anderes als Informationsverarbeitung sei, die von IT-Systemen

ebenso gut wie vom menschlichen Gehirn geleistet werden können,

wenn nicht sogar besser, verkennen die fundamentalen Unterschiede,

die zwischen Mensch und digitalen Programmen

bestehen.

Dass KI viele Aufgaben übernehmen kann, die bisher von

Menschen ausgeführt wurden, liegt auf der Hand. Schon in der

bisherigen Geschichte sind menschliche Tätigkeiten an Maschinen

delegiert worden, die sie sogar noch weit besser als der

Mensch ausüben können. Zu seiner Abschaffung hat die Technikgeschichte

bisher jedoch nicht geführt. Sollte das im Fall von

KI anders sein? Wer das glaubt, sitzt einem tiefliegenden Missverständnis

von KI und einem ebenso tiefliegenden Selbstmissverständnis

auf. Denken im gehaltvollen Sinne des Wortes setzt

Bewusstsein voraus und unterscheidet sich fundamental von maschineller

Datensammlung und Informationsverarbeitung. Bewusstsein

aber ist keine Eigenschaft von artifiziellen Systemen

der Datenauswertung, sondern spezifische Eigenschaft von Lebewesen

aus Fleisch und Blut.

Der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs bringt es folgendermaßen

auf den Punkt: Ohne organisches Leben und Bewusstsein

und das heißt ohne subjektives Erleben kann es keine

wirkliche Intelligenz geben. Das Erleben selbst aber ist nicht

künstlich herstellbar, sondern allenfalls virtuell zu simulieren.

Anders gesagt: „Wenn Bewusstsein notwendig ist, um Information

zu verstehen, das heißt, um in Strukturen und Mustern der

Welt überhaupt erst so etwas wie Informationen zu sehen, dann

kann es nicht selbst aus Information bestehen.“ 7

7 Thomas Fuchs, Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten

Anthropologie, Berlin 2020, 23.

56



4 Verstehen Gottes

4.1 Verständnisfragen

Gott verstehen, so wurde in den zurückliegenden Kapiteln mehrfach

gesagt und näher expliziert, heißt im christlichen Sinne, ihn

so zu verstehen, wie er sich uns selbst in seiner Offenbarung zu

verstehen gibt. Hier tut sich nun aber ein Problem der Gotteslehre

auf, das gegen Ende des vorigen Kapitels zwar angerissen,

aber noch nicht befriedigend gelöst wurde. Inwiefern, so lautet

die Frage, können wir sinnvoll davon sprechen, dass Gott sich

uns in seiner Offenbarung so zu verstehen gibt, wie er sich selbst

versteht? Inwiefern ist es überhaupt angemessen, Gottes Selbstverhältnis

als ein hermeneutisches zu bestimmen? Handelt es

sich dabei möglicherweise um einen unangemessenen Anthropomorphismus,

um eine univoke oder um eine analoge Redeweise?

Was soll es überhaupt heißen, dass Gott irgendetwas oder

irgendjemanden versteht, und inwiefern kann davon theologisch

legitimerweise die Rede sein, dass Gott sich selbst versteht?

Auf den ersten Blick scheint es sich so zu verhalten, dass

menschliche hermeneutische Erfahrung auf Gott übertragen

wird, wenn wir ihm ein Verstehen und ein Selbstverstehen unterstellen.

Man beachte, dass es einen Unterschied macht, ob man

von Gottes Erkennen, seiner Allwissenheit und seiner Allweisheit

oder von seinem Verstehen spricht. Begriffe wie Erkennen

oder Denken lassen sich zeitenthoben bestimmen. Mathematik

und formale Logik scheinen der Zeit enthoben zu sein, ganz so,

wie auch Gott in metaphysischer Tradition gedacht wird. Auch

84


4.1 Verständnisfragen

ein trinitarischer Gottesbegriff scheint ohne die Zeitdimension

denkbar zu sein. Das Verhältnis der drei göttlichen Personen wird

in der Tradition als ein ewiges gedacht, weshalb zum Beispiel

zeithafte Assoziationen beim Begriff der ewigen Zeugung des

Sohnes durch den Vater und des Ausgangs des Heiligen Geistes

aus dem Vater – in der westlichen Tradition aus Vater und

Sohn – gänzlich unangemessen erscheinen. Der Begriff des Verstehens

hingegen hat seinen Ort in Lebenszusammenhängen,

die wir als geschichtlich bezeichnen können. Es ist das Faktum

unserer Geschichtlichkeit und unserer Endlichkeit, auf welche

alle Versuche zu verstehen und alle Hermeneutik reagieren. Hermeneutik,

so sagt es der Philosoph Odo Marquard, „ist Replik auf

die menschliche Endlichkeit“ 1 , und das heißt: auf unsere Sterblichkeit.

Hermeneutik reagiert auf die Erfahrung der Zeit, und

sie ist, so Marquard, „primär ein Vergangenheitsverhältnis“ 2 ,

weil man offenbar nur Dinge versteht und interpretiert, „die

schon da sind; auch wer Antizipationen interpretiert, interpretiert

vorhandene Antizipationen und nicht künftige“ 3 . Endlichkeit

aber ist Kreatürlichkeit. Sie ist all das, „was nicht Gott, was

aus sich selbst nichts und darum nur durch Gott ist: das Geschaffene“

4 . Inwiefern aber sollte Gott selbst ein Problem mit der

Endlichkeit und dem Verstehen des Endlichen haben?

Hermeneutik ist sodann eine Antwort auf das Phänomen

der Herkömmlichkeit und auf die Vergänglichkeit, 5 mit anderen

Worten: eine Replik auf die Geschichtlichkeit. Inwiefern lässt

sich auch von Gott sagen, bei ihm gebe es ein Verstehen und eine

1 Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort

ist, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, 117–146, hier 119 (im Original kursiv).

2 Ebd. (im Original kursiv).

3 Ebd.

4 A. a. O., 120.

5 Vgl. a. a. O., 122–127.

85


4 Verstehen Gottes

Hermeneutik, die als Replik auf Geschichtlichkeit zu begreifen

ist?

Schließlich tut sich noch eine weitere Frage auf: Alle Verstehensprobleme

haben die Gestalt einer Frage. Man kann etwas

nur verstehen, wenn man es als Antwort auf eine Frage versteht.

In- wiefern aber kann man von Gott sagen, dass er selbst nach

Antworten auf Fragen sucht? Allerdings wird er uns in der Bibel

immer wieder geschildert als jemand, der Fragen stellt. Es handelt

sich jedoch um Fragen, die er an seine Geschöpfe richtet, angefangen

bei der Frage nach dem Sündenfall: „Adam, wo bist

du?“ (Gen 3,9) Kann aber Gott sich selbst ernsthaft Fragen stellen?

Könnte ihm gar sein eigenes Sein und sosein fraglich sein?

Könnte ihm sein Gottsein je in Frage stehen? Kann es aber ohne

solche Fraglichkeit überhaupt ein echtes Verstehen geben? Und

setzt nicht die Möglichkeit des Fragens die Möglichkeit des Zweifelns

voraus, der wiederum das Nichtsein als Möglichkeit und

damit das Nichts als solches zur Voraussetzung hat. Wie aber ist

diese Möglichkeit in Gott selbst zu denken?

4.2 Offenbarung und Geschichtlichkeit Gottes

Im Rahmen einer metaphysischen, namentlich an der aristotelischen

Ontologie ausgerichteten Gotteslehre entbehren die gestellten

Fragen offenkundig jeder sachlichen Grundlage. Gott

steht zwar in einem Verhältnis zu der von ihm geschaffenen und

das heißt eben auch veränderlichen Welt sowie zum Menschen

und seiner Geschichte, aber er selbst bleibt unveränderlich. Auch

die Menschwerdung des göttlichen Logos in Jesus Christus nötigt

nach diesem Verständnis nicht zum Gedanken, dass Gott selbst

geschichtlich und das heißt veränderlich sein könnte. Die chalcedonensische

Zwei-Naturen-Lehre besagt, dass die göttliche und

die menschliche Natur in Jesus Christus zwar nicht getrennt oder

gesondert, aber doch auch unvermischt und unverwandelt sind.

86


4.2 Offenbarung und Geschichtlichkeit Gottes

Theologischen Entwürfen im 20. Jahrhundert, die zumindest auf

moderate Weise unter Verweis auf den Inkarnationsgedanken

eine Veränderlichkeit und Geschichtlichkeit Gottes zu denken

versuchen, hält beispielsweise der katholische Theologe und Philosoph

Hans Pfeil entgegen, allein die überlieferte kirchliche

Lehre von der absoluten Unveränderlichkeit Gottes sei „[l]ogisch

einwandfrei und sachlich gerechtfertigt“ 6 . Letztlich entkomme

keine der verschiedenen Theorien von Gottes Veränderlichkeit

den Konsequenzen eines Pantheismus oder Panentheismus, der

in spinozistischen Bahnen Gott und den Weltprozess, Gott und

Natur ineinssetzt. Das gilt auch für die verschiedenen Spielarten

einer Prozesstheologie, auf die Pfeil allerdings nicht eingeht. Die

Frage, ob nicht zumindest im Hinblick auf den fleischgewordenen

Logos „von einer Lebensgeschichte des göttlichen Wortes gesprochen“

werden muss, wird von Pfeil klar verneint, da nicht

alles, was von der Person Jesu Christi gilt, in gleicher Weise von

jeder seiner beiden Naturen ausgesagt werden könne. Von einer

Veränderlichkeit könne nur in Hinsicht auf Christi menschliche

Natur gesprochen werden, nicht aber hinsichtlich seiner göttlichen

Natur. Einschränkend fügt Pfeil allerdings hinzu, die klassische

Lehre von der Unveränderlichkeit Gottes sei eine nicht zu

verabsolutierende Teilwahrheit. Zwar gebe es in Gott keine Widersprüche,

wohl aber Gegensätze, zu denen auch derjenige zwischen

Statik und Dynamik, absoluter Unveränderlichkeit und

zugleich ewiger und höchster Aktivität zähle. In Gott aber fallen

diese Gegensätze zusammen. Gott ist, wie Nikolaus Cusanus erklärt

hat, „eine coincidentia oppositorum“ 7 .

Für eine biblisch fundierte Theologie stellt sich allerdings die

Frage, ob logische Einwandfreiheit als entscheidende Wahr-

6 Hans Pfeil, Die Frage nach der Veränderlichkeit und Geschichtlichkeit Gottes,

in: MThZ 31, 1980, 1–23, hier 12.

7 A. a. O., 22.

87


4 Verstehen Gottes

heitskriterium gelten kann. Behält nicht die Aussage Martin Luthers

ihr Recht, das sich der biblische Gott als in hohem Maße

wandelbar zeigt? 8 Luthers Bemerkung bezieht sich nicht nur auf

die Modifikationen des göttlichen Willens und nicht nur auf

einen Wechsel seiner Erscheinungsweisen, der nur das Weltverhältnis

Gottes betrifft. Die Inkarnation des Logos muss vielmehr

als wirkliches Eingehen Gottes in die Zeit gedacht werden.

Der Gedanke der Wandlungen Gottes begegnet uns schon im

alttestamentlichen Motiv der Reue Gottes. 9 Im 20. Jahrhundert

sind Ernst Barlach und Rudolf Bultmann 10 , vor allem aber Carl

Heinz Ratschow 11 diesem Gedanken nachgegangen. Die Notwendigkeit,

von den Wandlungen Gottes zu sprechen, ergibt sich

nach Ratschow darum, weil Gott „auf Sünde und Versagen des

Menschen“ damit eingeht, „daß er seinen jeweils als Bund manifestierten

Willen modifiziert“ 12 . Auch die Inkarnation des

Logos muss in diesem Zusammenhang begriffen werden.

Der Gedanke der Wandlungen Gottes ist allerdings sowohl

gegenüber der modalistischen Vorstellung einer bloßen Metamorphose,

welche nur einen Wandel der Gestalt oder Form, nicht

aber des Inhaltes impliziert, als auch gegenüber dem reinen Voluntarismus

des spätmittelalterlichen Nominalismus abzugrenzen,

der es letztlich nicht mehr erlaubt, zwischen Gott und

Dämon zu unterscheiden. Weil Gott sich auf die Welt und vor

8 Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/16, hg. v. J. Ficker, Leipzig

1908, Bd. II, 72: „Deus est mutabilis quam maxime“ (zu Röm 3,5).

9 Vgl. dazu Jörg Jeremias, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung

(BThSt 31), Neukirchen-Vluyn 2 1997.

10 Vgl. Rudolf Bultmann, Ist der Glaube an Gott erledigt?, in: ders., Glauben

und Verstehen, Bd. IV, Tübingen 3 1975, 107–112.

11 Carl Heinz Ratschow, Von den Wandlungen Gottes, in: ders., Von den

Wandlungen Gottes. Beiträge zur Systematischen Theologie, Berlin/New

York 1986, 117–139.

12 A. a. O., 129.

88


4.2 Offenbarung und Geschichtlichkeit Gottes

allem auf den sündigen Menschen einlässt, muss er sich wandeln,

freilich ohne sich dabei untreu zu werden. Mehr noch: Gott

kann sich selber unter der von ihm frei gewählten Selbstbegrenzung

nur treu bleiben, indem er sich wandelt. Indem Gott dem

Menschen und der Welt trotz der menschlichen Sünde die Treue

hält, bleibt er sich selbst treu. Gerade so bleibt er, der er ist, und

gerade so bleibt sein Wille seinem Wesen nach unverändert. In

diesem Sinne gilt allerdings das biblische Jahwe-Wort: „Ich, der

Herr, wandle mich nicht!“ (Mal 3,6).

Ratschow weist darauf hin, dass sich nicht nur Gott, sondern

auch sein Wort wandelt. Solch einen Wandel des Wortes markiert

die neutestamentliche Unterscheidung zwischen altem und

neuem Bund. Das Alte Testament schildert die Geschichte Gottes

mit der Menschheit und seinem Volk Israel als eine Abfolge von

Bundesschlüssen. In ihrem Verlauf wandelt sich die Tora, also

diejenige Größe, die nach einem alttestamentlichen Traditionsstrang

doch auch Wort Gottes genannt werden kann. Während

z. B. der Schöpfungsbund eine vegetarische Speiseordnung für

den Menschen vorsieht, gestattet die Tora des Noahbundes den

Verzehr von tierischem Fleisch. Die Begründung für diesen Vorgang

„liegt klar zutage. Gott geht nämlich auf Sünde und Versagen

des Menschen damit ein, daß er seinen jeweils als Bund

manifestierten Willen modifiziert“ 13 . Im Neuen Testament aber

mündet der Gedanke der Wandlungen Gottes in denjenigen der

Inkarnation, welche nicht nur formal, sondern auch material zu

einer Neubestimmung der Tora und ihrer Funktion führt. Beispielhaft

für die qualitative Umwertung der Tora sind die matthäische

Bergpredigt (bes. Mt 5,17–48) und der Abschied von den

jüdischen Speisegesetzen in der urchristlichen Gemeinde. 14

13 Ebd.

14 Vgl. Act 10; Röm 14; 1Kor 8; Gal 2,11–21.

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