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Qian nickte und wandte seinen Blick wieder dem offenen Meer zu. „Wie kommen Sie mit<br />
den Arbeiten an der Stromversorgung voran?“<br />
„Wir arbeiten daran, Dr. Qian.“<br />
Qian holte deutlich hörbar Luft.<br />
Sein Gegenüber folgte der versteckten Aufforderung und setzte fort: „Die Verkabelung an<br />
Bord ist für unsere sensible Laborausrüstung in vielen Räumen unterdimensioniert. Einige<br />
der Analysegeräte ziehen weit mehr Strom, als der bestehende Kabelquerschnitt zulässt. Für<br />
die Notsysteme müssen wir außerdem komplett neue Leitungen verlegen.“<br />
Der Doktor schwieg, als hätte er gar nicht zugehört. Aber wer Qian kannte, wusste, dass<br />
Meldungen über weitere Verzögerungen ihn nicht kalt ließen. Sein Mitarbeiter tat gut daran,<br />
eine Erfolgsmeldung anzuhängen: „Wir haben aber große Fortschritte bei den<br />
Lüftungsanlagen gemacht. Die Montageteams der unteren Decks haben aufgeholt und<br />
liegen wieder voll im Zeitplan.“<br />
„Noch was?“<br />
Ein eingehender Funkruf ersparte dem Mann, weiter über den Verlauf der Arbeiten zu<br />
berichten – vorläufig.<br />
„Ja? Ja, er steht neben mir. Für Sie.“ Er hielt Qian das Funkgerät hin. Dieser griff gereizt<br />
danach. „Qian hier. Reden Sie.“<br />
Das Gespräch war kurz und verlief sehr einseitig, wenn man von einem zustimmenden<br />
Brummlaut des Doktors absah. Man musste kein Hellseher sein, um zu erahnen, dass es<br />
keine guten Neuigkeiten waren, nahm der Asiat sie doch ohne den geringsten Ausdruck der<br />
Freude auf.<br />
„Begleiten Sie mich auf Ebene 4!“ Er gab das Funkgerät zurück.<br />
Ebene 4? Die Säureduschen, schoss es seinem Gegenüber durch den Kopf. Sein Gesicht<br />
verlor ein wenig von der Bräune, die es den vergangenen Tagen auf See zu verdanken hatte.<br />
„Klingelt da was bei Ihnen?“, ging Qian auf die sichtbare Reaktion seines Untergebenen ein.<br />
„Wir hatten vorige Woche kleinere Probleme mit den Einstellungen der automatischen<br />
Säureduschen auf Ebene 4. Die Säurekonzentration reichte nicht aus, um alle<br />
Anforderungen der Dekontaminationsprotokolle zu erfüllen.“<br />
Qian setzte sich in Bewegung. „Darüber haben Sie mich gar nicht informiert.“<br />
„Nur ein Programmfehler – wir haben umgehend ein Update eingespielt“, versuchte er den<br />
Doktor zu beruhigen.<br />
„Mussten Sie dazu nicht vorübergehend die Sicherheitsprotokolle außer Kraft setzen?“<br />
„Ja, mussten wir. Aber die Anlage ist noch nicht in Betrieb. Außerdem wurde sie nur mit<br />
der vorgeschriebenen Testmenge des Herstellers befüllt.“<br />
„Für den Elektriker hat diese Testmenge offensichtlich ausgereicht“, stellte Qian fest.<br />
„Wie meinen Sie das?“<br />
„Er soll es Ihnen selbst erklären – falls er noch reden kann, bis wir bei ihm sind.“<br />
Fassungslos schüttelte der Mann den Kopf. „Aber wir hatten die Anlage nach dem Test<br />
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wieder vom Strom genommen. Sie sollte erst nächste Woche mit der neuen Verkabelung<br />
ans Netz gehen.“<br />
„Nun, es sieht so aus, als hätte der Elektriker dies zuerst erledigt.“<br />
***<br />
„Natascha...“, murmelte David Wilder und stellte das Foto seiner Frau zurück auf den<br />
Holztisch. Obwohl einige Zeit vergangen war, fiel es ihm noch immer schwer, seine<br />
Gedanken zu ordnen. Langsam strich er mit der Hand durch sein kurzes dunkelblondes<br />
Haar, das vor allem im Stirnbereich nicht mehr ganz so dicht war wie seine buschigen<br />
Augenbrauen. David stand auf und ging zum Fenster. Er konnte seinen Vorgarten gut<br />
einsehen, ohne den Vorhang bewegen zu müssen. Vorbei an dem herbstlich gefärbten<br />
Nussbaum wanderte sein Blick durch den grobmaschigen Zaun, über die wenig<br />
frequentierte Straße, bis hin zum gegenüberliegenden Gehweg. Ein dunkel gekleideter<br />
Motorradfahrer stellte gerade seine Maschine ab. Er erweckte nicht den Anschein, als hätte<br />
er es eilig, das abgedunkelte Visier zu öffnen oder gar den Helm abzunehmen.<br />
David fühlte sich unwohl. Es war dieses schwer zu beschreibende Gefühl, das einen<br />
beschleicht, wenn man, allen guten Vorbereitungen zum Trotz, letztlich doch auf dem<br />
falschen Fuß erwischt wird. Davids fast verheilte Wunde am Bein schmerzte noch<br />
ausreichend, um ihn den Moment seines Versagens nicht vergessen zu lassen. Er senkte den<br />
Blick und wollte gerade einen Schritt zurücktreten, da erinnerte ihn ein Zupfen an seinem<br />
Hosenbein an eine andere, viel erfreulichere Sache, die er tunlichst nicht vergessen sollte.<br />
Davids Gesichtszüge erhellten sich. „Goliath, wer hat dich denn rausgelassen?“<br />
„Das war ich.“ Hiob betrat, gefolgt von Alon, den Raum. „Ich bin zwar kein Experte für<br />
Kaninchen, aber ich vermute, Ihr weißer Riese hat Hunger.“<br />
Alon Kollek schob sich an dem zwei Meter großen Hiob vorbei in Richtung Kühlschrank.<br />
„Experten sind wir vielleicht nicht, aber wir wissen zumindest schon, dass er lieber frische<br />
Äpfel als eingelegte Zwiebeln mag.“ Seine Hand suchte in den Küchenschubladen nach<br />
einem Obstmesser. David hob Goliath hoch und nahm auf einem der Stühle Platz. „Ich hab’<br />
euch gar nicht kommen gehört.“<br />
„Warst wohl wieder in Gedanken versunken“, deutete Alon mit einer Kopfbewegung auf<br />
Nataschas Foto. David antwortete mit einem Achselzucken.<br />
„Wie lange willst du dir denn noch etwas vormachen, David?“<br />
„Bis ich Gewissheit habe... bis ich...“ Der Rest des Satzes war ein unverständliches<br />
Gemurmel, das im aufgestellten Kragen seines beigefarbenen Trainingsanzugs verstummte.<br />
Alon nickte seufzend, als hätte er keine andere Antwort erwartet. Für ihn stand fest, dass<br />
David sich sein Leben unnötig schwerer machte, als es ohnehin schon war. Wenn ich nur<br />
wüsste, wie ich dir helfen kann, alter Freund. Alon hatte bereits Stunden damit zugebracht<br />
auf David einzureden, um ihm die Sinnlosigkeit seiner Selbstvorwürfe vor Augen zu führen.