Manfred Oeming | Klaus Scholtissek (Hrsg.): Diakonie neu vermessen – biblisch, ethisch, praktisch (Leseprobe)
Unsere Gesellschaft hat einen riesigen Bedarf an Sozialleistungen, mit stark steigender Tendenz. In den gegenwärtigen sozialethischen Diskussionen treten die biblischen und spezifisch theologischen Überlieferungen stark in den Hintergrund. Auch die Theologie trägt dazu bei, denn ihre Disziplinen spezialisieren und isolieren sich immer mehr voneinander. Auf der Höhe der Zeit kann eine Verbesserung nur als fundierter Austausch zwischen den theologischen Fachrichtungen einerseits und den Verantwortlichen in Diakonie und Caritas anderseits stattfinden. Die hier vorgelegten Beiträge stellen sich dieser Aufgabe, das aktuelle Aufgabenfeld der Diakonie neu zu vermessen und dadurch neue Ideen anzuschieben. Sie gehen auf eine Projektgruppentagung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie im September 2023 in der LEUCOREA in der Lutherstadt Wittenberg zurück.
Unsere Gesellschaft hat einen riesigen Bedarf an Sozialleistungen, mit stark steigender Tendenz. In den gegenwärtigen sozialethischen Diskussionen treten die biblischen und spezifisch theologischen Überlieferungen stark in den Hintergrund. Auch die Theologie trägt dazu bei, denn ihre Disziplinen spezialisieren und isolieren sich immer mehr voneinander. Auf der Höhe der Zeit kann eine Verbesserung nur als fundierter Austausch zwischen den theologischen Fachrichtungen einerseits und den Verantwortlichen in Diakonie und Caritas anderseits stattfinden. Die hier vorgelegten Beiträge stellen sich dieser Aufgabe, das aktuelle Aufgabenfeld der Diakonie neu zu vermessen und dadurch neue Ideen anzuschieben. Sie gehen auf eine Projektgruppentagung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie im September 2023 in der LEUCOREA in der Lutherstadt Wittenberg zurück.
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Manfred Oeming | Klaus Scholtissek (Hrsg.)
Diakonie neu vermessen –
biblisch, ethisch, praktisch
Band 1
Veröffentlichungen der
Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie
Vorwort
Moderne Gesellschaften haben einen stetig wachsenden Bedarf an Sozialleistungen.
Historisch betrachtetist mit Judentum und Christentum ein wesentlicher
Schub in Richtung Begründung, Motivation und Praxis diakonischen Handelns
eingetreten. Das alttestamentliche Gebot »Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst« (Lev 19,18) wurde durch Jesus und die frühe Kirche umfänglich
aufgenommen und gedeutet – einschließlich der Feindesliebe (Mt 5,44). Maßgeblich
für das diakonische Selbstverständnis der frühen Christen ist zudem der
Leitsatz des Paulusaus dem Galaterbrief: »Einer trage des andern Last, so werdet
ihr das Gesetz Christi erfüllen« (Gal 6,2). In der jüdisch-christlichen Tradition
finden sich umfangreiche Impulse, motivierende Ideen, normative Kriterien und
Leitbilder für diakonisches Handeln in sozialer Verantwortunginder Gegenwart.
Im Laufe der Kirchengeschichte haben sich Wohlfahrtskonzepte entwickelt,
die das gesellschaftliche Zusammenleben und die sozialstaatlicheGesetzgebung
bis in die Gegenwart hinein tiefgreifend mitprägen. In gegenwärtigen ethischen
bzw. sozialethischen Diskursen treten die biblischen Zeugnisse mitunter in den
Hintergrund oder werden ausschließlich plakativ bzw. illustrierend aufgerufen.
Welchen positiven Beitrag kann die theologische Wissenschaft leisten? Die
theologischen Disziplinen spezialisieren sich immer weiter und arbeiten oft
isoliert nebeneinander. Biblische und antike Zeugnisse, kirchengeschichtliche
und konfessionelle Entwicklungen, aktuelle ethische Diskurse, diakoniewissenschaftliche
bzw. praktisch-theologische Herausforderungen imKontext der
säkularen Postmoderne verlieren sich wechselseitig aus den Augen. Hier sind
dringend neue interdisziplinäre Impulse und wechselseitige Befruchtungen gefragt.
Dieser Aufgabe stellt sich die Projektgruppe »Diakonie – biblisch, ethisch,
praktisch« der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie.
Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge der ersten Tagung der
Projektgruppe »Diakonie – biblisch, ethisch, praktisch« vom 1. bis 3. September
2023 in der LEUCOREA in Wittenberg. Zwei weitere Tagungen sind 2024 in
Loccum und 2025 in Heidelberg geplant.
6 Vorwort
Gemeinsam mit den Referentinnen und Referenten aus den verschiedenen
Fachgebieten und Arbeitsfeldern sowie gemeinsam mit den Teilnehmerinnen
und Teilnehmern der ersten Tagung wünschen sich die Herausgeber, dass es
gelingen möge, das Gespräch in und zwischenden Disziplinen zu bereichern und
neue Impulse zu geben für die Reflexionen in der Wissenschaftund für die Praxis
in den Kirchen, in der ehrenamtlichen und inder verbandlichen Diakonie bzw.
Caritas.
Jena und Heidelberg, im Juli 2024
Manfred Oeming
Klaus Scholtissek
Inhalt
Vorwort .................................................. 5
Klaus Scholtissek
Diakonie – biblisch, ethisch, praktisch ......................... 9
Eine Einführung
Jörg Lanckau
»Der eine wird sich des anderen erbarmen« ..................... 59
Konzeptionen diakonischen Handelns in altorientalischen, ägyptischen
und biblischen Texten
Manfred Oeming
Die sieben Säulen der alttestamentlichen Ethik .................. 89
Zur Bedeutung der hebräischen Bibel für die Neuvermessung der
Diakonie heute
Manfred Oeming
»Du sollst deinen Nächsten lieben, sofern er ist wie du« (Lev 19,18)? 105
Der Streit um die »Nächsten«liebe bei der Neuvermessung von Diakonie
heute
Hannah Susanne Wirbatz
Aspekte der Diakonie im Frühjudentum amBeispiel des Testaments
Hiobs ................................................... 127
Jan Quenstedt
Diakonisches Handeln und Kirche ............................ 161
Überlegungen zu ihrer wechselseitigen Attraktivität im Spiegel antiker
Vereinigungen
Thomas Popp
»So geh hin und tu desgleichen!« (Lk 10,37) ..................... 175
Diakonie – auch als Lebenskunst
8 Inhalt
Johannes Haeffner
Vonder Inter- zur Transdisziplinarität als Attribut der
Diakoniewissenschaft? ...................................... 215
Skizzen zu einem transdisziplinären Verständnis von
Diakoniewissenschaft
Sigurd Rink
Lebensschutz und Selbstbestimmung klug ausbalancieren ......... 237
Fallbeispiel Suizidassistenz
Thorsten Moos
Was habe ich mit dir zu schaffen? ............................. 253
Das schwierige Verhältnis systematisch-theologischer Ethik zur Exegese
Autorenverzeichnis ........................................ 277
Diakonie –biblisch, ethisch, praktisch
Eine Einführung
Klaus Scholtissek
Im Kontrast zuden beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland verzeichnen
Diakonie und Caritas seit Jahren ein stetiges Wachstum hinsichtlich
der Klienten und Klientinnen, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, der Umsätze.
Diese Wachstumsprozesse sind wesentlich durch das System der Wohlfahrtspflege
in der Bundesrepublik Deutschland mitgeprägt. Diakonie und
Caritas agieren weithin erfolgreich in der Sozialwirtschaft mit den dafür maßgeblichen
staatlichen Gesetzen (Sozialgesetzbücher, Gemeinnützigkeitsrecht)
und den Kontrollinstanzen (Finanzämter, Wirtschaftsprüfungen, Zertifizierungen,
Audits etc.).
Diakoniewissenschaft, Praktische Theologie und die Kirchen führen zahlreiche
Grundlagendiskurse, die das Profil bzw. Proprium diakonischer Arbeit
kritisch reflektieren. In den letzten zwei Jahren sind hierzu gleich fünf aktuelle
Themenhefte erschienen:
– Anders helfen, Diaconia 53 (2/2022)
– Ethik der Nächsten- und Fremdenliebe, JEAC 3(2021)
– Delegierte Nächstenliebe. Die Kirche und ihre Caritas, HerKor spezial 2022
– Diakonische Kirche werden, EvTh 82 (2022), 83–160
– Nächstenliebe, evangelische aspekte 33 (2/2023).
Dabei rückt auch die Grundlagenforschung neu in den Blick. Leider arbeiten
die Disziplinen weithin voneinander getrennt. Aktuelle Dienstleister haben die
biblischen Grundlagen oftmals zu wenig imBlick. Und umgekehrt: Die wissenschaftliche
Arbeit zu biblischen und antiken Zeugnissen, zu kirchengeschichtlichen
und konfessionellen Entwicklungen hat oftmals die aktuellen diakoniewissenschaftlichen
bzw. praktischen Herausforderungen im Kontext der
säkularen Postmoderne zu wenig im Bewusstsein. Hier braucht es neue interdisziplinäre
Impulse und Befruchtungen.
Zum einen sind die kulturellen Rahmenbedingungen für die Entwicklung
eines ›diakonischen‹ Bewusstseins von Religion nicht hinreichend geklärt: Wie
wurde ›diakonisches‹ Handeln im Alten Ägypten, Mesopotamien, Griechenland
10 Klaus Scholtissek
und Fernen Osten begründet und praktiziert? Welche Faktoren führten dazu, dass
gerade im Judentum eine entsprechende diakoniesensible Theologie entstand?
Welche Beiträge, Impulse und Positionen lassen sich dem Alten Testament, dem
Frühjudentum, rabbinischen Zeugnissen, dem Neuen Testament und weiteren
frühchristlichen Zeugnissen entnehmen?
Der Spannungsbogen zwischen biblischen Zeugnissen, ethischen Diskursen
in der Antike, systematischer Ethik, Diakoniewissenschaft, Praktischer Theologie
und der Unternehmensdiakonie im 21. Jahrhundert ist groß. 1 Die akademischen
Disziplinen sind jeweils für sich und insich ausdifferenziert und in spezifischen
Diskursen unterwegs. Dabei fällt auf, dass gerade die Schnittstellen
zwischen den Disziplinen in Teilen unterbeleuchtet sind bzw. sehr kontrovers
diskutiert werden.
Noch weiter gefasst stellt sich die Frage analle theologischen Diskurse und
Disziplinen: Braucht es eine umfassende diakoniesensible Relektüre der theologischen
Forschung und der kirchlichen Praxis?
1. Diakonie definieren und neu vermessen
Der Bundesverband Diakonie Deutschland versteht Diakonie wie folgt: Unter der
Überschrift »Wer wir sind« stehen die folgenden Sätze:
»Die Diakonie ist der soziale Dienst der evangelischen Kirchen. Wir verstehen unseren
Auftrag als gelebte Nächstenliebe und setzen uns für Menschen ein, die am
Rande der Gesellschaft stehen, die auf Hilfe angewiesen oder benachteiligt sind.
Neben dieser Hilfe verstehen wir uns als Anwältin der Schwachen und benennen
öffentlich die Ursachen von sozialer Not gegenüber Politik und Gesellschaft. […]
Dieses Selbstverständnis spiegelt sich auch in dem Wort ›Diakonie‹ wider: Im Altgriechischen
versteht man unter diakonia alle Aspekte des Dienstes am Nächsten.« 2
Schauen wir auf der Suche nach einer Definition von »Diakonie« als pars pro toto
in die 4. Auflage von »Religion inGeschichte und Gegenwart« (= RGG): Dort
finden sich im Artikel »Diakonie« selbst keine biblischen Ausführungen. Diese
finden sich jedoch teilweise in aller Knappheit im Artikel »Diakon/Diakonisse/
1
2
Vgl. hierzu einführend: Andreas Lob-Hüdepohl/Gerhard K.Schäfer (Hg.), Ökumenisches
Kompendium Caritas und Diakonie, Göttingen 2022. Vgl. auch: Michaela
Collinet (Hg.), Caritas, Barmherzigkeit, Diakonie. Studien zu Begriffen und Konzepten
des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte
20. Jahrhundert (Religion – Kultur – Gesellschaft 2), Münster 2014.
Vgl. https://www.diakonie.de/informieren/die-diakonie/das-ist-die-diakonie (Stand:
01.03. 2024).
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische
Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Satz: 3w+p, Rimpar
Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-374-07658-1 // eISBN (PDF) 978-3-374-07659-8
www.eva-leipzig.de