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Hrsg. v. Irene Dingel und Armin Kohnle: Johann Agricola aus Eisleben (ca. 1494–1566) (Leseprobe)

Johann Agricola aus Eisleben, auch genannt Islebius, gehörte zum Kreis der Wittenberger Reformatoren und genoss lange das Vertrauen Martin Luthers und Philipp Melanchthons. Aber bald wurde er zu einem ihrer erbittertsten Gegner. Zwar verstand sich Agricola selbst als treuer Repräsentant der Wittenberger Theologie, geriet aber durch seine eigenwilligen Positionen und seine Mitwirkung am Augsburger Interim von 1548 immer wieder in verschiedene Auseinandersetzungen um die reformatorische Lehre. Selbstbild und Fremdbild klafften weit auseinander. Die hier versammelten Aufsätze versuchen, diesem Befund auf den Grund zu gehen, indem sie die verschiedenen Wirkungsstätten und Wirkungsperioden Agricolas in den Blick nehmen und dazu die in jenen Zusammenhängen entstandenen Schriften heranziehen. Damit eröffnet der Band eine neue Perspektive auf Agricola, die ihn nicht auf den Streittheologen reduziert, sondern die Vielfalt seines Lebens und Wirkens erschließt.

Johann Agricola aus Eisleben, auch genannt Islebius, gehörte zum Kreis der Wittenberger Reformatoren und genoss lange das Vertrauen Martin Luthers und Philipp Melanchthons. Aber bald wurde er zu einem ihrer erbittertsten Gegner. Zwar verstand sich Agricola selbst als treuer Repräsentant der Wittenberger Theologie, geriet aber durch seine eigenwilligen Positionen und seine Mitwirkung am Augsburger Interim von 1548 immer wieder in verschiedene Auseinandersetzungen um die reformatorische Lehre. Selbstbild und Fremdbild klafften weit auseinander.
Die hier versammelten Aufsätze versuchen, diesem Befund auf den Grund zu gehen, indem sie die verschiedenen Wirkungsstätten und Wirkungsperioden Agricolas in den Blick nehmen und dazu die in jenen Zusammenhängen entstandenen Schriften heranziehen. Damit eröffnet der Band eine neue Perspektive auf Agricola, die ihn nicht auf den Streittheologen reduziert, sondern die Vielfalt seines Lebens und Wirkens erschließt.

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Irene Dingel | Armin Kohnle (Hrsg.)

Johann Agricola

aus Eisleben

(ca. 1494–1566)

Vom Freund zum Gegner

der Wittenberger Reformatoren



Inhalt

Vorwort .................................................. 9

Einführung

Christopher Voigt-Goy

Johann Agricola in der Forschung – eine Skizze .................. 13

I. Wittenberg 1516–1525

Stefan Michels

Die theologische Formation Johann Agricolas (1492/94–1566) ...... 27

Beobachtungen zur Vorrede auf den Lukaskommentar (1525/26) und zur

Schrift De capitibus ecclesiasticae doctrinae (1524)

Volker Gummelt

Johann Agricola als Ausleger der Heiligen Schrift ................ 57

Eine Skizze zur biblischen Exegese in verschiedenen Kontexten

Stefan Michel

VonWeggefährten zu Feinden ................................ 69

Über das Verhältnis Johann Agricolas zu Thomas Müntzer

Brandt Klawitter

Concerning Misbegotten Attribution ........................... 89

An Inquiry into the Translation of Agricola’s Praefatio from In

evangelivm Lvcae annotationes

Hans-Otto Schneider

Johann Agricola als Liederdichter ............................. 105

II. Eisleben 1526–1536

Nicole Kuropka

Johann Agricolas Streit mit Philipp Melanchthon über die Bedeutung

des Gesetzes .............................................. 125


6 Inhalt

Armin Kohnle

»Kinderzucht« und »Kinderkatechismus« (1527/28) .............. 143

Johann Agricola als Schulmeister in Eisleben

Markus Müller

Der Streit Georg Witzels mit Johann Agricola in Eisleben

(1533–1538) .............................................. 157

Jan Martin Lies

»…auff das wir Deutsche sprach auff bringen.« ................... 185

Die Sprichwörtersammlungen Johann Agricolas

III. Das Wittenberger Intermezzo 1536–1540

Christian Volkmar Witt

Theologische Schlaglichter auf das Ende einer Freundschaft ........ 211

Der Streit zwischen Agricola und Luther um die Bedeutung des Gesetzes

Ingo Klitzsch

Agricolas Confession und Bekenntnis vom Gesetz Christi (1540) – ein

Widerruf? ................................................ 227

IV. Berlin 1540–1566

Tobias Jammerthal

Agricola als kurbrandenburgischer Hofprediger .................. 249

Irene Dingel

Lehre und Leben im Spiegel der Leichenpredigt Agricolas auf

Kurfürstin Elisabeth von Brandenburg ......................... 267

Eike Hinrich Thomsen

Ein Märtyrer auf der Bühne – Agricolas »Tragedia Johannis Huss«

(1537) ................................................... 283

Stefan Rhein

»Der beste Künstler der lateinischen Sprache« – Johann Agricola und

Terenz ................................................... 297


Inhalt 7

Henning P. Jürgens

Johann Agricola, das Augsburger Interim und der Konflikt mit den

Magdeburgern ............................................ 333

Marion Bechtold-Mayer

Johann Agricolas Denkwürdigkeiten – ein tendenziöses Egodokument? 355

Jonathan Reinert

»Mein Testament« ......................................... 367

Agricolas Historia des Leidens und Sterbens Jesu Christi (1543)

Anhang

Verzeichnis der Briefe von und an Johann Agricola ............... 393

zusammengestellt von Marion Bechtold-Mayer und

Stefan Michel

Abkürzungsverzeichnis ..................................... 427

Personenregister .......................................... 429

Ortsregister .............................................. 435

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ....................... 439



Vorwort

Johann Agricola (ca. 1494–1566), zu Anfang seiner theologischen Karriere noch

ein durchaus geschätztes Mitglied des Wittenberger Reformatorennetzwerks,

genoss lange Zeit die Freundschaft Martin Luthers und Philipp Melanchthons.

Aber durch seine antinomistischen Positionen,die die Rolle des Gesetzes und der

Gesetzespredigt für das reformatorisch neu definierte Verhältnis zwischen Gott

und Mensch in Frage stellten und bis in seine »130 gemeinen Fragstücke für die

jungen Kinder« (1527) Eingang fanden, wurde er bald zum Hauptgegner der

Wittenberger. Nicht nur die theologischen Differenzen waren dafür grundlegend,

sondern auch der tiefgreifende Vertrauensverlust, der sich im Zuge der Kontroverse

und der diversen gescheiterten Versuche zur Versöhnung der Fronten

ergab. Zudem hatte Agricola entscheidend dazu beigetragen, dass es an vielen

Fragen von Glauben und Lehre zu Auseinandersetzungen um die reformatorische

Lehre generell kam. Grund dafür war seine aktive Mitwirkung an der Erstellung

des durch Kaiser Karl V. erlassenen Augsburger Interims von 1548, das nach

dem Schmalkaldischen Krieg auf eineRekatholisierung evangelisch gewordener

Territorien und Städte zielte. Man sah inAgricola einen Handlanger der römischen

Kirche und ihrer das Evangelium ignorierenden Lehre. Er selbst dagegen

verstand sich als treuen Repräsentanten der Wittenberger Theologie und der

Lehre Luthers. Fremdbild und Selbstbild klafften weit auseinander.

Die in diesem Band versammelten Beiträge legen ihren Untersuchungsperspektiven

diesen Befund zugrunde, nehmen ihn ernst und versuchen, dieser

Diskrepanzauf den Grund zu gehen. Sie dokumentierendamit den thematischen

Fokus der XV. Frühjahrstagung zur Wittenberger Reformation, die im März 2023

in der Leucorea-Stiftung in Lutherstadt Wittenberg stattfand. Ziel war es, Person

und Werk Agricolas imKontext seiner verschiedenen Wirkungsstätten bzw.

Wirkungsperioden neu zu beleuchten und unabhängig von Akzenten der bisherigen

Forschung zu analysieren. Dieser an chronologischen und kontextbezogenen

Etappen ausgerichtete Zugang erlaubt es, den überwiegend gesetzten

Akzent auf den antinomistischen Positionen Agricolas zu relativieren, um auch

andere Schwerpunkte seines Wirkens in Predigt und Lehre, Auslegung und


10 Vorwort

Unterweisung, Kontroverse und Dichtung, Frömmigkeit und Selbstbesinnung

zur Sprache kommen zu lassen. So entsteht vor dem Hintergrund eines orientierenden

Forschungsüberblicks über die in der Vergangenheit vorgenommene

Einordnung Agricolas indie Entwicklungsstränge der Reformation ein vielschichtiges

und schillerndes Bild von einer in mancher Hinsicht eigenwilligen

Persönlichkeit. Dies und eine amEnde beigegebene Liste der Briefe Agricolas

sowie ein zwei Druckstufen gegenüberstellender Textvergleich des Agricola

zugeschriebenen Lieds »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« bieten Anregungen und

Material für weitere Forschungen.

Es ist zu wünschen, dass auch dieser aus den Wittenberger Frühjahrstagungen

hervorgegangene Aufsatzband die historische und theologiegeschichtliche

Beschäftigung mit jenen reformatorisch agierenden Persönlichkeiten anregt,

die sich um Martin Luther und Philipp Melanchthon scharten bzw. von den

beiden großen Wittenberger Reformatoren beeinflusst wurden oder sich in eigenständiger

Weiterentwicklung von ihnen abgrenzten.

Für das Zustandekommen von Tagung und Sammelband ist – wie stets – nicht

nur den beteiligten Einrichtungen, sondern auch zahlreichen Personen Dank zu

sagen. Die bewährte Kooperation von Mainz und Leipzig führte diesmal die

Akademie der Wissenschaften und der Literatur |Mainz (AdWL)und – wie stets

– das Institut für Kirchengeschichte der Theologischen Fakultät der Universität

Leipzig zusammen. Für finanzielle Unterstützung ist sowohl der AdWL als auch

der Leucorea-Stiftung zu danken. Veranstaltung und Drucklegung wären ohne

diese Sponsoren nicht möglich gewesen. Dank gebührt auch allen Autorinnen

und Autoren für ihre engagierte Mitwirkung sowie der Bearbeiterin dieses

Bandes, Marion Bechtold-Mayer, für ihre unentbehrliche und zuverlässige redaktionelle

Betreuung der Manuskripte.

Mainz und Leipzig imNovember 2024

Irene Dingel und Armin Kohnle


Einführung



Johann Agricola in der Forschung –

eine Skizze

Christopher Voigt-Goy

Das Bild Johann Agricolas – ursprünglich Schneiderbzw. Schnitter –,das von der

historisch-theologischen Forschung entworfen wurde, ist von seinem Streit mit

Martin Luther und Philipp Melanchthon über den Status des Gesetzes Gottes

bestimmt. 1 Dieser Umstand ist schon ofthervorgehoben worden. Er steht jedoch

auch deshalb am Anfang des folgenden Überblicks, da er für die hier zu skizzierenden

Linien der Forschungsgeschichte konstitutiv ist. Denn die sich über die

Zeit verändernden Einschätzungen Agricolashängen von den unterschiedlichen

Beantwortungen der Frage ab, wie es zu diesem Streit kommen konnte.

Natürlich gibt esneben dieser Frage noch andere Fragen nach den Leistungen

Agricolas, die er in seinem durchaus langen Leben vollbracht hat. Darüber

werden die Aufsätze dieses Bandes weiteren Aufschluss geben. Allerdings

hängen die historischen Einschätzungen und Bewertungen der Person Agricolas

bislang jedenfalls inganz eigentümlich einliniger und eng perspektivierter Art

und Weise an seiner Position in der Antinomismus-Debatte. Deren Verlauf und

theologischer Gehaltist ebenfalls Thema in mehreren Beiträgen. 2 Daherkönnen

die hiesigen Ausführungen sich auf die Schilderung der Grundlinien der Bewertungen

und theologiehistorischen Konstruktionen konzentrieren, die eben

mit der Frage verbunden wurden: »Wie konnte es dazu kommen?«. Der Beitrag

gliedert sich in drei Teile: 1. Von den Anfängen der Agricola-Forschung im

19. Jahrhundert bis Gustav Kawerau; 2. Vonden ersten Auflagen der Religion in

Geschichte und Gegenwart bis Ernst Koch; 3. Timothy Wengert and beyond?

1

2

Zu dieser Kontroverse und ihren Fortwirkungen nun auch in präziser Kürze: Irene

Dingel, Historische Einleitung, in: dies. (Hg.), Der Antinomistische Streit (1556–1571),

Göttingen 2016 (Controversia et Confessio 4), 3–15, bes. 3–9.

Vgl. die Beiträge von Nicole Kuropka, Christian Witt und Ingo Klitzsch in diesem Band.


14 Christopher Voigt-Goy

1. Vonden Anfängen der Agricola Forschung im

19. Jahrhundert bis Gustav Kawerau

Dass Agricola in einer über das 18. Jahrhundert hinausgehenden Art und Weise

zum Gegenstandder historischen Forschung werden konnte,hatte zunächst mit

der sich verändernden materialen Basis für eine solche Forschung zu tun. Im

Reformationsjubeljahr 1817 veröffentlichte der Kieler Bibliothekar Berend

Kordes (1762–1823) die Schrift M. Johann Agricola’s aus Eisleben Schriften

moeglichst vollstaendig verzeichnet, was die umfänglichste Bibliographie der

Schriften Agricolas bis dahin darstellte – auch wenn sie von Kordes durch

Auswertung anderer Schriften hergestellt wurde. 3 Zusätzlich wies im Jahr 1829

Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848) in seinem Aufsatz Über die Entstehung

des ersten Streits Joh. Agricola’s mit Melanthon in den Theologischen Studien und

Kritiken auf den Quellenwert der von ihm in Bearbeitung begriffenen, bislang

unbekannten Briefe hin, die im Corpus Reformatorum ediert wurden. 4

Daneben eröffnete sich zumindest für bestimmte theologische Milieus und

Strömungen ein neuer Blick auf Agricola durch eine fundamentale Neubewertung

von dessen theologischer Position imStreit mit Luther. Ihr Urheber war

Friedrich Schleiermacher (1768–1834). In seiner 1821/22 gehaltenen und

postum 1840 publizierten Kirchengeschichtsvorlesung hielt Schleiermacher

knapp fest: »Denn Agricola hatte Recht: das mosaische Gesez ist allerdings ein

bürgerliches Gesez, und in der christlichen Frömmigkeit kommt alles auf den

Geist an, im mosaischen Gesez ist aber dieser Geist nicht, sondern der Buchstabe

will es erzwingen«. 5 Zwar hat Schleiermachers Urteil in der Theologie- und

Dogmengeschichte keine direkte Rezeption erfahren, Schleiermachers »Urtheil

zu Gunsten Agricola’s«, wie es 1878 der Heidelberger Theologe Wilhelm Gaß

(1813–1889) nannte, 6 veranlasste einige Theologen allerdings dazu, die theo-

3

4

5

6

Berend Kordes, M.Johann Agricola’s aus Eisleben Schriften moeglichst vollstaendig

verzeichnet. Zur dankbaren Erinnerung an das dritte Jubelfest der Lutherischen Kirche,

Altona 1817, VII–XVIII mit einer ausführlichen Schilderung seiner benutzten Quellen

und seines Vorgehens.

Karl Gottlieb Bretschneider, Beiträge zur Reformationsgeschichte aus ungedruckten

Briefen des 16ten Jahrhunderts. Die Entstehung des ersten Streits Joh. Agricola’s mit

Melanthon, in: ThStKr 2(1829), 741–754.

Friedrich Schleiermacher, Geschichte der christlichen Kirche. Aus Schleiermachers

handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg.v. E. Bonnell,

Berlin 1840 (= Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke 11), 604 f. Vgl. auch

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Vorlesungen über die Kirchengeschichte,

hg.v. Simon Gerber, Berlin/New York 2006 (KGA Abt. II, Bd. 6), 647.

Wilhelm Gaß (Hg.), Ernst Ludwig Theodor Henke’s Neuere Kirchengeschichte. Nachgelassene

Vorlesungen für den Druck bearb. und hg., Halle 1878, Bd. 2, 260 Anm.


Johann Agricola in der Forschung –eine Skizze 15

logiehistorische Berechtigung der von Agricola gegen Luther und Melanchthon

entwickeltenPosition, welche dieGesetzespredigt ablehnte und das Evangelium

als alleinige Ursache der Bekehrung des sündigen Menschen ansah, zu überdenken.

Schon 1846 diagnostizierte der spätere Kollege Gaß’ in Heidelberg, Daniel

Schenkel (1813–1885), bei Agricola eine einseitig an Äußerungen des frühen

Luther anknüpfende, Luther »beim Wort« nehmende Ablehnung der Gesetzespredigt.

7 Albrecht Ritschl (1822–1889) baute diese Perspektive in seinem 1870

erschienenen ersten Band von Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und

Versöhnung differenziert aus: So habe Agricola in seinem ersten Konflikt mit

Melanchthon (1527) völlig zuRecht dessen Überbetonung der durch das Gesetz

hervorgerufenen Zerknirschung des sündigen Gewissens im Werk der Bekehrung

kritisiert. Hiergegen habe Agricola »an Luther’s wiederholt ausgesprochenen

Grundsatz erinnert(e), daß die Bekehrung von der Liebe zur Gerechtigkeit

ausgehe« 8 .Und im späteren Konflikt mit Luther und Melanchthon (1537) habe

die dann von Agricola bezogene Position, die »in übertreibender und schiefer

Folgerung aus seinem ursprünglichen Gesichtspunkte das Gesetz als überflüssig

für den Heilsweg der Menschen erklärte«, 9 weitreichende – und problematische –

Folgen für die reformatorische Theologie gehabt. Denn in der Ablehnung Agricolas

habe nun Luther selbst die Ableitung der Bekehrung aus dem Gesetz bzw.

der Gesetzespredigt gegen seine eigene frühere Intention gefestigt und damit

ekklesiologisch »dem Stande des ministerium verbi divini ein Uebergewicht über

die christlichen Gemeinden« als glaubensmittelnde Instanz verliehen. 10 Es war

wohl Ritschls Charakterisierung der Theologie Agricolas, dieWilhelm Gaß in der

Allgemeinen deutschen Biographie 1875 festhalten ließ: »Selbst sein Antinomismus

war kein leerer Einfall, denn er betraf einen Punkt, welcher bei der damaligen

Sachlage nochmals und gründlicher als bisher besprochen zu werden

verdiente«. 11

Der problemhistorischen Versachlichung der Antinomismusdebatte(n) stand

jedoch eine massive Psychologisierung des Charakters Agricolaszur Seite. Dabei

zeigt sich zugleich die Persistenz älterer, aus der Polemik stammender Deutungsmuster.

Schenkel, der diese Deutungsmuster in seiner Schrift Das Wesen

des Protestantismus (1846) kritisiert hatte, 12 führte sie in seinem Agricola-Artikel

7

8

9

10

11

12

Daniel Schenkel, Das Wesen des Protestantismus aus den Quellen des Reformationszeitalters

dargestellt, Bd. 1: Die theologischen Fragen, Schaffhausen 1846, 178.

Albrecht Ritschl,Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bonn

1870, 189.

Ritschl, Die christliche Lehre (wie Anm. 8), 189 f.

Ritschl, Die christliche Lehre (wie Anm. 8), 191.

Wilhelm Gaß, Art. Agricola, Johann, in: ADB 1(1875), 146–148, Zitat 147 f.

Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (wie Anm. 7), 179.


16 Christopher Voigt-Goy

in der ersten Auflage der Realencyklopädie für protestantische Theologie und

Kirche 1854dennoch fort und attestierte Agricola »eine beschränkte Auffassung

der lutherischen Rechtfertigungslehre, die einen minder klaren Kopf gar wohl zu

dem Irrtum verleiten konnte, die Gesetzespredigt für eine Beeinträchtigung der

Glaubenspredigt zu halten«. 13 Und Gaß führte Agricolas langanhaltende Verbitterung

ins Feld, die aus der 1526 nicht erfolgten Berufung auf einen Lehrstuhl in

Wittenberg resultierte. 14 Für Gaß ist es dann auch diese Kränkung, die – verbunden

mit der Agricola eigenen »Eitelkeit« – seine kirchenleitendeTätigkeit in

Kurbrandenburg bestimmte und ihn in der Suche nach Anerkennung auf die

Seite des Kaisers zog. Seine Teilnahme an der Abfassung des Augsburger Interims

1548 sei, so Gaß, Ausdruck dieser »Schwachheit«. 15

Gustav Kaweraus (1847–1918) Beschäftigungmit Agricola knüpfte an diese

Deutungslinien nicht vollständig an, sondern schlug eigene Wege ein. Neue

Maßstäbe setzte Kawerau dabei zunächst mit Blick auf die breite, materiale Basis,

auf der er in seiner Studie Johann Agricola von Eisleben. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte

(1881) das Lebensbild Agricolas entwarf. 16 Seine detailreiche

Darstellung dürfte bis heute den nach wie vor autoritativen Ausgangspunkt der

historisch-theologischen Forschung zu Agricola bilden. Auch in seiner narrativen

Konstruktion ist Kaweraus Studie bemerkenswert. Kawerau erzählt das Leben

Agricolas inzwei Büchern, die auch zwei Spannungsbögen umfassen:

Der erste Spannungsbogen führt von dem als Konversion geschilderten

Eintritt Agricolas inden Schülerkreis Luthers 17 bis zum Zerwürfnis beider im

Antinomismusstreit; 18 der zweite von Agricolas Ankunft inBerlin bis zu dem

Kapitel »Die Niederlage des Philippismus in der Mark« 19 – das erste und letzte

Kapitel, Geburt und Jugend, häusliches Leben und Tod haben erzählerische

Rahmenfunktion. Die innere Dynamik der Spannungsbögen wird von Kawerau

durch das steigende und fallende »Ansehen« 20 Agricolas ausgestaltet, wobei

zunächst auf einen steten Aufstieg ein schneller Fall (Antinomerstreit) folgt, und

Agricola danach eine lange Talsohle (Augsburger Interim) durchschreitet, die er

erst am Ende seines Lebens durch seine Positionierungen in den nachinterimistischen

Streitigkeiten hinter sich lässt. Kawerau gibt dem Leben Agricolas in

13

14

15

16

17

18

19

20

Daniel Schenkel,Art. Agrikola von Eisleben (Johann), in: RE 1 1(1854), 181–183, Zitat

185.

Gaß, Art. Agricola (wie Anm. 11), 146.

Gaß, Art. Agricola (wie Anm. 11), 147.

Gustav Kawerau, Johann Agricola von Eisleben. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte,

Berlin 1881.

Vgl. etwa Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 17 f.

Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 13–207.

Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 211–328.

Vgl. nur Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 221.


Johann Agricola in der Forschung –eine Skizze 17

seiner Erzählung insgesamt einen (relativ) versöhnlichen Schluss:»Es bleibt eine

merkwürdige Fügung, daß der Mann, den Luther so unerbittlich geächtet hatte,

wesentlich dazu beitragen hat müssen, in der Mark Brandenburg dem strammen

Luthertum, wie es nicht lange danach in der Concordienformel sich consolidirt

hat, zum Siege zu verhelfen«. 21

Wie dieses spannungsreiche Leben Agricolas zu verstehen ist, deutet Kawerau

am Ende seiner Biographie in aller Deutlichkeit aus. 22 Als eigentlicher

Former der Lebensgeschichte Agricolas tritt dabei Luther in das Zentrum: »Mit

Begeisterung hat er [Agricola] anLuther sich angeschlossen und solange dieser

auf ihn Einfluß übte, steht er vornan in den Reihen der Evangelischen, frisch und

fröhlich im Kampfe für das Evangelium wie kein anderer«. 23 Die dramatische und

durch den Streit mit Luther eintretende Lebenswende ist nach Kawerau als

»Agricolas Versuch, sich von Luther zu emancipiren«, anzusehen. Dieser

Emanzipationsprozess sei aber »so traurig ausgefallen, daß er 1540 gern wieder

zu seinem alten Lehrmeister zurückgekehrt wäre und an diesem seinen theologischen

Rückhalt gewonnen hätte«. Agricolas relative theologie- und kirchenpolitischen

Erfolge an seinem Lebensende führt Kawerau dann ebenfalls auf

Luther zurück. Denn Luthers konsequente und anhaltende Zurückweisung habe

Agricola einerseits zu einem »Hoftheologen« gemacht, der in Abhängigkeit zu

seinem Landesherrn geriet – und als solcher das Interim verteidigte. Doch habe

die dadurch gewonnenePosition zusammen mit einer »kräftigen Wendung […]an

die Erinnerungen der glücklichsten Jahre seines Lebens« Agricola zur »Verkündigung

des reinen Luthertums in seiner ganzen Schärfe und Exclusivität«

befähigt. 24

Für die folgende Forschung zentral wurde Kaweraus Rekonstruktion, wie der

letztlich gescheiterte Emanzipationsprozess von Luther theologisch vonstattenging.

Hier rückt Kawerau nämlich die frühen exegetischen Werke Agricolas in

den Mittelpunkt, besonders seine Einleitung zum Lukas-Kommentar 1525. 25

Dabei stellt Kawerau eine »Lehreigentümlichkeit« fest, die sich aber noch nicht zu

einem »System« verfestigt habe. 26 DieseEigentümlichkeiten erkennt Kawerau in

der Vernachlässigung des Aspekts der Schuld im Sündenbegriff und darin, dass

er »an den Einzelnen die Gnadenbotschaft von Christo herantreten [lässt], ohne

daß eine prädisponierende Arbeit des Gesetzes am Herzen des Sünders ausdrücklich

und klar hervorgehoben worden wäre« 27 .Dass Agricola sich auch in

21

22

23

24

25

26

27

Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 328.

Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 337–340.

Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 337.

Alle Zitate Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 338.

Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 131–138.

Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 138.

Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 135.


18 Christopher Voigt-Goy

derartigen argumentativen Kontexten auf Aussagen Luthers aus dessen frühen

Jahren beruft undansie anknüpft,hebtKawerau deutlich hervor. Erst im Verlauf

des Streits mit Melanchthon 1527 kommt es nach Kawerau zu dogmatischen

Verhärtungen der theologischen PositionAgricolas, dieihn in den späten 1530er

Jahren dann davon überzeugen, dass selbst Luther mittlerweile von seiner eigenen

Lehre abgewichen sei. 28 DiesePerspektive hatte in der zweiten Auflage der

Realencyklopädie Kaweraus Lehrer Gustav Leopold Plitt (1836–1880) bereits

umrissen; 29 Kaweraus Darstellung ist in dieser Hinsicht die materialgesättigte

Durchführung einer These seines früh verstorbenen Lehrers. Eine theologische

Berechtigung von Agricolas Position konnten aber weder Plitt noch Kawerau

erkennen. Agricolas Position sei – so wandte Kawerau gegen Ritschl ein – von

Anfang an schwer bedenklich gewesen. 30

2. Vonden ersten Auflagen der Religion in Geschichte

und Gegenwart bis Ernst Koch

Die Auswirkungen der biographischen Studie Kaweraus, die er in seinem Agricola-Artikel

in der dritten Auflage der Realencyklopädie 1896 selbst als ersten

Versuch einer wissenschaftlichen Biographie angesehen hat, 31 auf die folgenden

lexikalischen Darstellungen Agricolas waren zunächst gering. In der ersten

Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) übernahm Walther

Köhler (1870–1946) die Artikel »Agricola« und »Antinomisten« imJahr 1909.

Seine Darstellung des Lebens Agricolasschloss unmittelbar an Wilhelm Gaß an. 32

Über die dogmengeschichtliche Bedeutung von AgricolasTheologie – über die er

im Unterschied zu der Luthers so gut wie gar nichts schreibt – urteilte er knapp,

dass es sich um ein »Mißverständnis Lutherischer Lehranschauung« handelte. 33

Der Antinomisten-Artikel erwähnt zwar Agricola als den ersten Antinomisten,

geht aber nicht weiter auf ihn ein. 34 Ein wachsendes Desinteresse an Agricola

dokumentiert dann die zweite Auflage der RGG 1927. Inihr gibt Köhler noch

einmal gekürzt seinen früheren Artikel zum Leben Agricolas wieder. 35 Der

28

29

30

31

32

33

34

35

Kawerau, Johann Agricola (wie Anm. 16), 189 f.

Gustav Plitt, Art. Agricola, Johann, in: RE 2 1(1877), 214 f.

Vgl. Kawerau,Johann Agricola (wie Anm. 16), 190 mit Anm. Vgl. zur Kritik an Ritschls

Agricola-Bemerkung unter Bezug auf Kawerau auch: Wilhelm Hermann, Die Buße des

evangelischen Christen, in: ZThK 1/2 (1891), 28–81, bes. 57 f.

Gustav Kawerau, Art. Agricola, Johann, in: RE 3 1(1896), 249–253, Zitat 249.

Walther Köhler, Art. Agricola, Johann, in: RGG 1 1(1909), Sp. 291–293.

Köhler, Art. Agricola (wie Anm. 32), Sp. 292.

Walther Köhler, Art. Antinomisten, RGG 1 1(1909), Sp. 501f.

Walther Köhler, Art. Agricola, Johann, in: RGG 2 1(1927), Sp. 165.


Johann Agricola in der Forschung –eine Skizze 19

»Antinomisten«-Artikel wurde in das Lemma »Gesetz IV. Gesetz undEvangelium.

Dogmengeschichtlich« aufgelöst und von Karl Aner (1879–1933) behandelt,

ohne auf Agricola einzugehen. 36 Fast verschwindend gering ist das Interesse an

Agricola dann in der dritten Auflage der RGG 1957/1958, die nur noch einige

knappe biographische Daten zu Agricola durch Walter Delius (1899–1972)

bietet. 37 Im Artikel »Gesetz V. Gesetz und Evangelium, dogmengeschichtlich«

wird die Existenzeines reformatorischen »Antinomismus« von Ernst Wolf (1902–

1971) nur erwähnt. 38 Für Wolf sind die gegenwartsrelevanten Debatten über das

Verhältnis von Gesetz und Evangelium durch den Gegensatz des von Karl Barth

theologisch »neu formulierten« Problems in Evangelium und Gesetz (1935) und

der (neu)lutherischen »Schematisierung und Konfessionalisierung der ›Lehre

von G[esetz] u[nd] E[vangelium]‹«bestimmt. 39 Die ersten Auflagen der RGG lesen

sich wie eine reformations- und theologiehistorische Abmoderation Agricolas.

Doch die Agricola-Forschung verzeichnet nach 1945 und vor Wengert zwei

»Wellen«:

a) In den 1950er Jahren wurde Kaweraus Agricola-Buch in gleich zwei Monographienintensiv

rezipiert. GustavHammann (1922–1978) verfasste 1952 in

Bonn seineDissertation Nomismusund Antinomismus innerhalb der Wittenberger

Theologie 1524–1530. Die Dissertation blieb ungedruckt. 40 Hammann schrieb

auch den Artikel Agricola für die Neue deutsche Biographie im selben Jahr. 41

Joachim Rogge (1929–2000) erarbeitete seine 1959 inBerlin (Ost) eingereichte

Habilitationsschrift Johann Agricolas Lutherverständnis unter besonderer Berücksichtigung

des Antinomismus, die 1960 gedruckt wurde. 42 1977 steuerte er den

Artikel »Agricola« zur TheologischenRealenzyklopädie bei. 43 Beide Monographien

eint, dass ihre Autoren an Kawerau das Fehlen theologischer Perspektiven kritisieren

und beide diesen Umstand beheben wollen. Die dabei zutage tretenden

Ergebnisse sind freilich sehr unterschiedlich:

Rogges Arbeit zeigt schon in ihrer Gliederung tiefe Abhängigkeit von Kaweraus

Darstellung. In der Tat liest sich die Arbeit über weite Strecken wie eine

Nacherzählung. Die kaum zu unterdrückende Langeweile, die den Leser dabei

36

37

38

39

40

41

42

43

Karl Aner, Art. Gesetz IV. Gesetz und Evangelium. Dogmengeschichtlich, in: RGG 2 2

(1928), Sp. 1130–1133.

Walter Delius, Art. Agricola, Johann, in: RGG 3 1(1957), Sp. 187 f.

Ernst Wolf, Art. Gesetz V. Gesetz und Evangelium, dogmengeschichtlich, in: RGG 3 2

(1958), Sp. 1519–1526.

Wolf, Art. Gesetz V(wie Anm. 38), Sp. 1525.

GustavHammann,Nomismus und Antinomismus innerhalb der Wittenberger Theologie

1524–1530, Diss. masch. Bonn 1952.

Gustav Hammann, Art. Agricola, Johann, in: NDB 1(1953), 100–101.

Joachim Rogge, Johann Agricolas Lutherverständnis, Berlin 1960.

Joachim Rogge, Art. Agricola, Johann, in: TRE 2(1978), 110–118.


20 Christopher Voigt-Goy

ergreift, erstreckt sich auch auf die als notwendige Ergänzung von Kawerau

konzipierten Kapitel. Die als Darstellung der Entwicklung von Agricolas »Antinomismus«

gemeinten Beobachtungen zu Agricolas frühen exegetischen

Schriften fügen sichtlich retrojizierend einzelne Aussagen Agricolas zu einem

bereits vor 1527 vorliegenden und von Luther und Melanchthon abweichenden

Verständnis des Gesetzes zusammen. 44 Der Streit mit Luther wird ganz einseitig

aus Luthers Sicht geschildert. Bezeichnenderweise verwendet Rogge in diesen

Kontexten dann auch ab und zuLuthers abschätzigen Spitznamen »Grickel« –

wenn auch in Anführungszeichen –,wenn er Agricolanennt. 45 Das theologische

Resümee fällt entsprechend kurz aus: »Die vorliegende Arbeit hat […] versucht,

den Theologen Johannes Agricola in seinem Werden möglichst klar zu verfolgen,

die Motive seiner Handlungsweisen aufzudecken und soweit wie möglich verständlich

zumachen. Dabei mag deutlich geworden sein, daß ihm ein höheres

Maß subjektiver Ehrlichkeit als bisher zugestanden werden muß«. 46 Kaweraus

abschließende psychologische Deutung des Verhältnisses von Agricola und Luther

wird darauf reduziert, dass Agricola nie von Luther losgekommen sei. Daher

habe er dann auch später als Verteidiger des Luthertums gewirkt. 47

Ganz anderen Zuschnitts ist die ArbeitHammanns,die auch nicht so weit wie

Rogge ausgreift. Ihr Herzstück ist eine eingehende Interpretation von Agricolas

Vorrede zu seinem Lukas-Kommentar aus dem Jahr 1525, die Kawerau nicht

eingehend genug gewürdigt habe. 48 Dabei zeige sich, dass Agricola imZentrum

seiner Anschauung »von Luther weiter entfernt war, als der erste Augenschein

lehren mochte« 49 .Denn Agricola habe die »unio der Seele mit Christus als den

Mittelpunkt« der Rechtfertigungslehre undChristologie Luthers begriffen. 50 Dies

wird von Hammann nun zwar als »eigene[r] Typ reformatorischer Theologie«,

doch ganz deutlich als »Verfehlung der reformatorischen Theologie in wesentlichen

Punkten« angesehen, da damit eine Zurücksetzung des verbum verbunden

gewesen sei. 51 Doch die theologische Pointe von Hammanns Darstellung liegt

darin, wie es von dieser Verfehlung aus dann zum Streit kam: »Im wesentlichen

erst dadurch, daß sich Agricola im Sommer 1527 plötzlich vor Melanchthons

nomistische Sätze über die Buße und das Gesetz gestellt sah, kam es dazu, daß

seine bis dahin noch offene theologische Entwicklung nun in eine bestimmte

44

45

46

47

48

49

50

51

Rogge, Johann Agricolas Lutherverständnis (wie Anm. 42), 65–84.

Rogge, Johann Agricolas Lutherverständnis (wie Anm. 42), 140 u. ö.

Rogge, Johann Agricolas Lutherverständnis (wie Anm. 42), 253 (Hervorhebung im

Original).

Rogge, Johann Agricolas Lutherverständnis (wie Anm. 42), 256.

Hammann, Nomismus (wie Anm. 40), 12.

Hammann, Nomismus (wie Anm. 40), 25.

Ebd.

Hammann, Nomismus (wie Anm. 40), 139.


Johann Agricola in der Forschung –eine Skizze 21

Richtung gelenkt wurde«. 52 Damit schließt Hammann an die schon bei Kawerau

vertretene These einer dogmatischen Verhärtung Agricolas an, schlägt dann aber

den Bogen zuder bereits bei Ritschl zu findenden theologischen Deutung:

Agricolas theologischer Position kommt bei Hammann die für die reformatorische,

d. h. bei ihm vor allem:lutherische Theologie katalytischeBedeutung zu, die

durch den »Nomismus« Melanchthons vor Augen tretende innere Gefährdung

einer ausgewogenen Zuordnung von Gesetz und Evangelium durch seinen

»Antinomismus« artikuliert zu haben. Die bei Ritschl aufscheinende Kritik an den

ekklesiologischen Folgen dieser Entwicklung bleibt jedoch ausgeblendet.

b) Eine deutliche Distanz zu Hammanns Arbeit artikulierte Steffen Kjeldgaard-Pedersen,

der mit seiner Schrift Gesetz, Evangelium und Buße. Theologische

Studien zum Verhältnis zwischendem jungen Johann Agricola (Eisleben) und Martin

Luther aus dem Jahr 1983 schonzur zweiten »Welle« der Agricola Forschung nach

1945 zu zählen ist. 53 Kjeldgaard-Pedersen hat an der Theologie des jungen

Agricola jedoch kein historisches, sondern ein dogmatisches Interesse. Es geht

ihm um einen positionellen Vergleich der Theologie Agricolasund Luthers, wobei

er in einer über Hammann weit hinausführenden Art und Weise auf die frühen

exegetischen Schriften Agricolas Bezug nimmt. Die Zielsetzung formuliert er

dabei folgendermaßen und in expliziter Abgrenzung zur Annahme einer Entwicklung

im Denken Agricolas, für die er pars pro toto Rogges Arbeit kritisiert:

»Wenn es nämlich der Fall ist, daß Agricola seinen Text, d. h. die Schrift, von Anfang

an anders gelesen hat als Luther, und wenn man dafür argumentieren kann, daß dies

damit zusammenhängt, daß er die Schrift gerade mit Hilfe von Dingen, die er übernommen

hatte und verwalten wollte, zu verstehen suchte, dann verliert Rogges Frage

nach den besonderen persönlichen Voraussetzungen ihr Interesse und muß durch die

im Grunde immer aktuelle Frage ersetzt werden, ob Theologie nicht immer in dem

Sinn persönlich ist, daß man sie nie übernehmen kann, ohne daß sie ihren Charakter

ändert. Oder anders ausgedrückt, die Beziehung zwischen Luther und Agricola illustriert

das ewig aktuelle Problem der Orthodoxie«. 54

52

53

54

Hammann, Nomismus (wie Anm. 40), 140.

Steffen Kjeldgaard-Pedersen, Gesetz, Evangelium und Buße. Theologische Studien

zum Verhältnis zwischen dem jungen Johann Agricola (Eisleben) und Martin Luther,

Leiden 1983.

Kjeldgaard-Pedersen, Gesetz (wie Anm. 53), 32f. Vgl. Kjeldgaard-Pedersen, Gesetz

(wie Anm. 53), 25–31 zur gesamten Frontstellung der Arbeit gegen das »Entwicklungsmodell«,

das auch am Werk gesehen wird bei Susi Hausamann, Buße als Umkehr

und Erneuerung von Mensch und Gesellschaft, Zürich o. J. [1974], bes. 168–225 zu

Agricola.


22 Christopher Voigt-Goy

Nachgerade konsequent insistiert Kjeldgaard-Pedersen auf einer von Anfang an

bestehenden Differenz von Agricola und Luther, die »subtil und fundamental

zugleich ist« 55 .Der schwedische Lutherforscher Bengt Hägglund (1920–2015)

kommentierte in seiner kritischen Rezension des Buchs trocken:

»Kjeldgaard-Pedersen meint also, daß die Divergenz zwischen Luther und Agricola

sich nicht nach und nach entwickelt hat, um dann erst im Antinomerstreit fixiert zu

werden – wie oft angenommen wurde –, sondern daß sie von Anfang an in subtiler

Form oder sogar verborgen vorliegt. Er meint sie auch dort finden zu können, wo die

verbale Übereinstimmung mit Luther in anderer Richtung zeigt, was natürlich noch

fragwürdig bleibt«. 56

Einen anderen Ansatz wählte, wie der Titel schon anzeigt, die fast gleichzeitig

erschienene Studie Johann Agricola neben Luther. Schülerschaft und theologische

Eigenart (1984) von Ernst Koch. 57 In vorsichtiger und kritischer Benutzung der

nach Kawerau erschienenen Denkwürdigkeiten Agricolas 58 sieht Koch Agricolas

im Lukas-Kommentar hervortretende geistzentrierte Theologie als Nachwirkung

der frühen Theologie Luthers an, die – bis 1518 – ihren Kern im Übergang »vom

usus Christus zur Buße« gehabt habe, 59 womit Agricola dann die »Methode des

Buß- und Wiedergeburtsvorgangs« aus der Theologie des frühen Melanchthon

amalgamiere. 60 Neben diesen beiden Einflüssen auf Agricolas Theologie identifiziert

Koch darüberhinaus noch einen dritten, nämlich den Taulers. Koch macht

auf Parallelen zwischen Agricolas (späterer) Predigt Von Abraham und vom

Heidnischen weiblein und einer Predigt Taulers über Mt 15,21–28 aufmerksam,

und sieht – obwohl einedirekte Tauler-Rezeption sich nicht belegen lässt –,darin

eine von Luther bereits früh auf Agricola einwirkende Beschäftigung mit Tauler

am Werk. 61

Hatte Hammann schon Agricolas Position als eigenständigen Typus reformatorischer

Theologie in tieferDifferenz zu Luther und Melanchthon angesehen,

55

56

57

58

59

60

61

Kjeldgaard-Pedersen, Gesetz (wie Anm. 53), 80.

Bengt Hägglund, Rez. Steffen Kjeldgaard-Pedersen, Gesetz, Evangelium und Buße.

Theologische Studien zum Verhältnis zwischen dem jungen Johann Agricola (Eisleben)

und Martin Luther (Leiden 1983), in: ThLZ 112 (1987), Sp. 823–825, hier: 824.

Ernst Koch,Johann Agricola neben Luther. Schülerschaftund theologische Eigenart, in:

Gerhard Hammer/Karl-Heinz zur Mühlen (Hg.), Lutheriana. Zum 500. Geburtstag

Martin Luthers von den Mitarbeitern der Weimarer Ausgabe, Köln/Wien 1984, 131–150.

Vgl. auch Ernst Koch, Art. Agricola, Johann, in: RGG 4 1(1998), Sp. 191.

Vgl. zu dieser Quelle den Beitrag von Marion Bechtold-Mayer in diesem Band.

Koch, Johann Agricola (wie Anm. 57), 134.

Koch, Johann Agricola (wie Anm. 57), 144.

Koch, Johann Agricola (wie Anm. 57), 147–150.


Johann Agricola in der Forschung –eine Skizze 23

reformuliert Koch dieses Problem so: Agricolas theologische Eigenart ist als individuelle

Aneignung und Fortentwicklung der spätmittelalterlichen Mystik

aufzufassen, die auch in den frühen Theologien Luthers und Melanchthons zu

finden ist. Die Differenzen zwischen den Theologien ergeben sich aus vorreformatorischen

Wurzeln.

3. Timothy Wengert –and beyond?

Der Streit mit Luther als Ergebnis einer Vereinseitigung eines reformatorischen

theologischen Grundproblems; als Resultat einer persönlichen Verletzung oder

als missglückter Emanzipationsprozess, was zu dogmatischen Verhärtungen

Agricolas führte; als Reaktion auf Melanchthons Nomismus; als Ergebnis einer

eigenständigen und durchaus reformatorischen Aneignung vorreformatorischer

Theologie – diesen ganzen Möglichkeiten an Antworten auf die Frage: »Wie

konnte es dazu kommen?« fügte TimothyWengert 1997 in seiner Studie Law and

Gospel. Philip Melanchthon’sDebate with John Agricola of Eisleben over Poenitentia

noch eine weitere hinzu. 62 Das liegt natürlich zu einem guten Teil an Wengerts

Perspektive.Dennseine Studie ist eine zur Theologie Melanchthons, genauer: zu

dessen Kolosserkommentaren zwischen 1527 und 1534, und ist ganz auf die

Auseinandersetzung mit Agricola von 1527 fokussiert:

Der Ausgangspunkt wird in Unklarheiten in frühen Formulierungen Luthers

zur Zuordnung von Gesetz und Evangelium sowie dessenAusführungen über die

Formen der Buße gesichtet, die »not nearly as clear to Luther’s students and

readers« waren, wie es die moderne Lutherforschung suggeriere. 63 Vonhier aus

rekonstruiert Wengert Agricolas Position aus seinen frühen exegetischen

Schriften, die insgesamt auf eine »low estimation of the law and its function«

hinauslaufe. 64 Eine zentrale Pointe von Wengerts Studie, die nun die spätere

Konfliktdynamik miterklärt, liegt darin, dass die weiteren Ausarbeitungen der

Position Agricolas und Melanchthons historisch in die Phase der lehrhaften

Konsolidierung der Wittenberger reformatorischen Theologie in Form der Katechismen

fallen. 65 Und es ist, so Wengert, eben nicht Agricola, sondern zunächst

Melanchthon, der im Prozess dieser Konsolidierung alles daransetzt, alternative

Auffassungenzuseiner »lutherischen« Interpretation der Zuordnung von Gesetz

und Evangelium auszuschließen; Wengert sieht also die »first attacks« auf

62

63

64

65

Timothy Wengert, Law and Gospel. Philip Melanchthon’s Debate with John Agricola of

Eisleben over Poenitentia, Grand Rapids 1997.

Wengert, Law and Gospel (wie Anm. 62), 18.

Wengert, Law and Gospel (wie Anm. 62), 45.

Wengert, Law and Gospel (wie Anm. 62), 47–75.


24 Christopher Voigt-Goy

Agricola von Melanchthon ausgehend. 66 In dem von Wengert in verschiedene

Runden eines (Box⌦)Kampfes aufgeteilten Konflikt treten dabei die Intentionen

der Alternativen Agricolas und Melanchthons hervor: 67 Während jener den

Rückfall in katholische Werkgerechtigkeit unbedingt zu verhindern suchte,

wollte dieser ein gesetzesfreies, tendenziell ordnungsbedrohendes Verständnis

des Glaubens ausschließen.

Auch bei Wengert wird der Auseinandersetzung zwischen Agricola und

Melanchthon also ein katalytischer Effekt auf die reformatorische Theologie

zugesprochen, allerdings dergestalt, dass Agricolas Option dabei als unhaltbar

markiert wird. Einen eigenen, als genuin reformatorisch anzusehenden Beitrag

stellt sie nicht dar und wird daher von Wengert historisch ausgeschieden. Produktiv

weiterführend sind für Wengert allein die zwischen Melanchthon und

Luther in der Beantwortung der von Agricola provozierten Fragen gefundenen

unterschiedlichen Antworten, welche »would cause their theological heirs ahost

of division over justification, good works, and the uses of the law«. 68 Direkte

ekklesiologische Konsequenzen bzw. Probleme will Wengert, wie seit Kawerau

gegen Ritschl üblich, aus deren Positionen nicht folgen sehen.

Damit sind wir am Ende des skizzenhaften Durchgangs durch die Agricola

betreffende Forschungsgeschichte angekommen. Er dürfte zumindest gezeigt

haben, dass eine eingehendere Beschäftigung mit dem Agricola abseits der

Antinomismusdebatte die Chance in sich trägt, dem eigenen Charakter dieser

Person und ihrem Wirken neue Facetten, vielleicht auch ausgewogenere Urteile

abzugewinnen. Die naheliegende Frage: »… and beyond?« steht daher hier am

Schluss, aber damit am Anfang eines Bandes, der versucht, auf diese Frage

Antworten zu finden.

66

67

68

Wengert, Law and Gospel (wie Anm. 62), 77–105.

Wengert, Law and Gospel (wie Anm. 62), 103–138.

Wengert, Law and Gospel (wie Anm. 62), 210.



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