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Mirjam Best: Kirche neu erleben!? (Leseprobe)

Ein neues Erlebnis von Kirche – das verspricht die freikirchliche Gemeindegründungsbewegung »International Christian Fellowship« (ICF). Ihre Gemeinden bieten einen Mix aus konservativen Inhalten und progressivem Design. Damit stoßen sie vor allem bei jungen Menschen auf Resonanz. Die Studie untersucht mithilfe von qualitativen und quantitativen Methoden das ICF in Deutschland. Sie beantwortet die Frage nach dem Profil, der Gestalt und dem Handeln des ICF und liefert empirische Erkenntnisse über die Angehörigen des ICF und deren Motivation, sich einer Gemeinde des ICF anzuschließen. Darüber hinaus zeigt sie auf, wie sich Gemeinden des ICF in die bestehende Kirchenlandschaft einfügen und welche Faktoren die Dynamik zwischen Gemeinden des ICF und anderen Gemeinden in der Region beeinflussen.

Ein neues Erlebnis von Kirche – das verspricht die freikirchliche Gemeindegründungsbewegung »International Christian Fellowship« (ICF). Ihre Gemeinden bieten einen Mix aus konservativen Inhalten und progressivem Design. Damit stoßen sie vor allem bei jungen Menschen auf Resonanz. Die Studie untersucht mithilfe von qualitativen und quantitativen Methoden das ICF in Deutschland. Sie beantwortet die Frage nach dem Profil, der Gestalt und dem Handeln des ICF und liefert empirische Erkenntnisse über die Angehörigen des ICF und deren Motivation, sich einer Gemeinde des ICF anzuschließen. Darüber hinaus zeigt sie auf, wie sich Gemeinden des ICF in die bestehende Kirchenlandschaft einfügen und welche Faktoren die Dynamik zwischen Gemeinden des ICF und anderen Gemeinden in der Region beeinflussen.

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Mission und Kontext (MuK) | 6

Mirjam Best

Kirche neu erleben!?

Eine empirische Untersuchung zur freikirchlichen

Gemeindegründungs bewegung

International Christian Fellowship

in Deutschland



Vorwort und Dank

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine umfangreiche explorative

Studie zur freikirchlichen Gemeindegründungsbewegung International Christian

Fellowship (ICF) in Deutschland. Da eine Bewegung eine fluide Sozialform

darstellt, die selbst Veränderungsprozesse durchläuft, ist es nicht verwunderlich,

dass auch der Forschungsprozess von Bewegung geprägt war. Das machte die

Untersuchung des ICF auf der einen Seite ausgesprochen interessant und abwechslungsreich.

Auf der anderen Seite brachten die Fluiditätder Bewegung und

die dürftige Quellenlage Herausforderungen mit sich. Immer wieder mussten

neue Wege gefunden werden, um an Datenmaterial zu gelangen, was zu einer

aufwändigen Methodentriangulation führte. Zudem gab es innerhalb des ICF

im Forschungszeitraum kontinuierlich kleine und große Entwicklungen, die

berücksichtigt werden mussten. Während dieses Vorwort entsteht, haben sich

bereits weitere Änderungen innerhalb des ICF ergeben. Um die Aktualität zum

Zeitpunkt der Veröffentlichung zu gewährleisten, wurden hinsichtlich der

Strukturen des ICF Movement deshalb kleine Überarbeitungen vorgenommen.

Auch wenn davon auszugehen ist, dass sich das ICF auch in Zukunft weiterentwickeln

wird, ist die Gegenwartsanalyse des ICF gewinnbringend für die

Forschung.Diese Arbeit ist dennoch aussagekräftig und bietet grundlegende und

weitreichende Erkenntnisse über das ICF. Darüber hinaus kann sie späteren

Studien als Vergleichspunkt dienen, um Entwicklungen zu untersuchen.

Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 2024 von der Theologischen und

Religionswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich als Inauguraldissertation

angenommen und ist hier mit wenigen Veränderungen abgedruckt.

Ohne die Unterstützung zahlreicher Menschen und Institutionen wären die Erstellung

und Veröffentlichung dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Andieser

Stelle möchte ich mich deshalb bedanken.

Zuallererst gilt mein Dank Prof. Dr. Michael Herbst. Im Gespräch mit ihm

hat sich mein Forschungsinteresse herauskristallisiert und ohne sein Zutrauen

und seine Begleitung wäre es gar nicht erst zu diesem Projekt gekommen. Seine

detaillierten schriftlichen Rückmeldungen sowie zielführenden Beratungsgespräche

per Telefon haben wesentlich zum Erfolg dieser Arbeit beigetragen.

Darüber hinausdankeich Prof. Dr. Sabrina Müller, dass sie sich für mein Projekt

begeistern hat lassen, mir die Türen zur PT Sozietät in Zürich geöffnet, mich in

den Endzügen der Arbeit begleitet und das Erstgutachten der Dissertation

übernommen hat. Prof. Dr. Ralph Kunz danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens

und für sein Interesse an meiner Arbeit.

Mein Dank gilt auch der Hanns-Seidel-Stiftung, die durch die Vergabe eines

Promotionsstipendiums und die damit verbundene finanzielle und ideelle För-


6 Vorwort und Dank

derung zum erfolgreichen Abschluss des Forschungsprojekts beigetragen hat.

Zudem danke ich dem Verein zur Förderung der Erforschung von Evangelisation

und Gemeindeentwicklung, der Evangelischen Kirche inBaden, der Deutschen

Gesellschaft für Missionswissenschaft sowie dem Arbeitskreis für evangelikale

Theologie für großzügige Druckkostenzuschüsse.

Ein besonderer Dank gilt meinen Kolleginnen und Freundinnen Nele Plath

und Dr. Norina Ullmann. Danke für die unzähligen Stunden und Gedanken, die

ihr in mein Projekt gesteckt habt! Unsere wöchentlichen Skype-Meetings haben

nicht nur wesentlich zum Erfolg der Arbeit, sondern auch zu meiner emotionalen

Gesundheit beigetragen. Weiter danke ich dem Team des IEEGs in Greifswald,

dem Doktorandenkolloquium von Prof. Dr. Annette Haußmann sowie der PT-

Sozietät in Zürich für ihre Unterstützung und Rückmeldungen. Carla Witt und

Maike Ritzer danke ich ihre Unterstützung im methodischen Bereich. Darüber

hinaus danke ich allen Kollegenund Kolleginnen, die das Manuskript (oder Teile

davon) Korrektur gelesen haben. Verbleibende Fehler sind allein mein Versäumnis.

Danken möchte ich auch dem ICF für seine Offenheit, mit mir zusammenzuarbeiten.

Mein Dank gilt Johannes Richter, der mir die Türen ins ICF geöffnet

und mich mit vielen Menschen innerhalb des ICF vernetzt hat. Sibylle Beck,

Sarah Rominger, Tobias Teichen, Joel Suter, Mike Schmidt und Joel Spirgi danke

ich, dass sie mir in Gesprächen wertvolleEinblick in das ICF Movementgegeben

und mir unveröffentlichte Dokumente für Forschungszwecke zur Verfügung

gestellt haben. Für die Teilnahme an der qualitativen Studie zum Verhältnis von

ICF-Gemeinden und anderen kirchlichen Präsenzen in der Region bedanke ich

mich bei Steffen Beck, Björn Schäfer, Klaus-Georg Pöstges, David Rominger, Dr.

Thomas Schalla und allen weiteren ICF-internen und ICF-externen Interviewpartnern,

die nicht namentlich genannt werden möchten. Zudem gilt mein Dank

allen, die bei der quantitativen Umfrage mitgemacht und/oder bei ihrer Verbreitung

geholfen haben.

Schließlich dankeich meiner Familie und Schwiegerfamilie, dass sie mich zu

dem Projekt ermutigt und stets Interesse daran gezeigt haben. Ihre Unterstützung

bedeutet mir viel. Als letztes, aber dafür am meisten, danke ich meinem

Mann Lukas Best. Vor Beginn meines Projekts wurde ich gewarnt, dass eine

Doktorarbeit eine ›selbstgewählte Lebenskrise‹ darstellt. Lukas danke ich deshalb,

dass er meine Entscheidung zur selbstgewählten Lebenskrise mitgetragen

und mich in schönen und schwierigen Zeiten des Forschungsprozesses begleitet

und unterstützt hat. Ohne sein Zuhören, seine theologischen Einsichten und

seine Rückmeldungen zu meinen Texten wäre die Arbeit nicht geworden,was sie

heute ist, und ohne seine Liebe wäre ich nicht geworden, wer ich heute bin.

Danke.

Mirjam Best, Konstanz Sommer 2024


Inhalt

Abbildungsverzeichnis ....................................... 11

Tabellenverzeichnis ......................................... 13

Abkürzungsverzeichnis ...................................... 15

Glossar .................................................. 17

Teil A – Einleitung

1. Beschreibung des Forschungsgegenstandes ................... 23

1.1. Die Geschichte des ICF ............................... 25

1.2. Forschungsinteresse und Forschungsfrage ................ 28

1.3 Bestimmung und Eingrenzung des

Untersuchungsgegenstandes ........................... 34

1.4 Terminologische Grundlegungen ....................... 37

2. Forschungsüberblick ..................................... 39

3. Praktisch-theologische Einordnung .......................... 45

4. Methodologie und Wahl der empirischen Methoden ............. 51

4.1 Qualitative Forschung ................................ 53

4.2 Quantitative Forschung ............................... 64

4.3 Triangulation der Methoden ........................... 65

5. Beschreibung des Forschungsprozesses ...................... 67

5.1 Vorarbeiten und Erstexplorationsphase ................... 69

5.2 Die erste Hauptexplorationsphase ....................... 70

5.3 Die zweite Hauptexplorationsphase ..................... 74

5.4 Darstellung und Diskussion der Ergebnisse ............... 75

6. Reflektierte Subjektivität der Forscherin ...................... 77

7. Aufbau der Arbeit ....................................... 81

Teil B – Das ICF Movement und seine Gemeinden

8. Das ICF Movement ...................................... 85

8.1 Die Organisationsstruktur des ICF Movement .............. 85

8.2 Das Selbstverständnis des ICF Movement – die Corporate

Identity ........................................... 94

8.3 Gemeindegründungen des ICF Movement ................ 123

8.4 Weitere Angebote des ICF Movement .................... 139

9. Die Gemeinden des ICF ................................... 145

9.1 Die Strukturen der Gemeinden des ICF .................. 145


8 Inhalt

9.2 Rechte und Pflichten der Gemeinden des ICF gegenüber dem

Movement ........................................ 152

9.3 Auswahl und Ausbildung der Pastoren und Pastorinnen des

ICF .............................................. 153

9.4 Die Angebote der Ortsgemeinden ....................... 157

10. Die Theologie des ICF .................................... 197

10.1 Die Entstehungsgeschichte der theologischen

Grundlagendokumente ............................... 198

10.2 Theologische Grundaussagen .......................... 201

10.3 Evangelikale Theologie in moderner Sprache .............. 204

10.4 Abgrenzungsbemühungen gegenüber randständigen Positionen 207

10.5 Spannungsvolle Dynamik theologischer Weite und Enge ..... 211

10.6 Zusammenfassende Erkenntnisse ....................... 213

11. Die Spiritualität des ICF .................................. 215

11.1 Was ist Spiritualität? ................................. 215

11.2 Methodisches Vorgehen .............................. 220

11.3 Elemente der Spiritualität des ICF ...................... 224

11.4 Merkmale der Spiritualität des ICF ...................... 253

11.5 Kritische Würdigung ................................ 264

Teil C – Die zwei empirischen Hauptstudien und ihre Ergebnisse

12. Quantitative Online-Befragung (Studie 1) ..................... 275

12.1 Forschungshypothesen ............................... 275

12.2 Methodische Herangehensweise zur Gewinnung der Daten

(Fragedesign) ...................................... 276

12.3 Durchführung der Studie ............................. 277

12.4 Methodisches Vorgehen bei der Auswertung der Daten ...... 278

12.5 Darstellung der Ergebnisse ............................ 279

12.6 Auswahl und Interpretation zentraler Ergebnisse ........... 309

13. Qualitative Interviews (Studie 2) ............................ 323

13.1 Spezifizierung der Forschungsfrage ..................... 323

13.2 Methode .......................................... 325

13.3 Vorstellung der Stichprobe ............................ 331

13.4 Ergebnisse ........................................ 337

Teil D – Einordnung in und Auswirkung auf den

kirchentheoretischen Diskurs

14. ICF als Teil einer mixed economy of Church? ................... 425

14.1 Mixed economy ofChurch innerhalb der Church of England ... 426

14.2 Praktisch-theologische Rezeption im deutschsprachigen Raum 432


Inhalt 9

14.3 Regiolokale Kirchenentwicklung im interkonfessionellen

Kontext als Antwort auf gegenwärtige Herausforderungen der

Kirche ............................................ 441

14.4 Schwierigkeiten einer interkonfessionellen Weitung ......... 450

14.5 Sendung als identitätsstiftendes Element des

interkonfessionellen Miteinanders ...................... 455

14.6 Die Umsetzung einer regiolokalen Kirchenentwicklung im

konfessionsübergreifenden Kontext ..................... 456

15. Gesamtfazit und Ausblick ................................. 469

16. Schlusswort ........................................... 479

Literaturverzeichnis ......................................... 481

Anhang .................................................. 501

Inhaltsverzeichnis des Anhangs ............................ 501

1. Einleitung ......................................... 501

2. Beobachtungsleitfaden für teilnehmende Beobachtungen in

Celebrations ....................................... 502

3. Quantitative Befragung ............................... 504

4. Qualitative Interviews ................................ 525

5. Dokument: ICF Movement, Spannungsfelder, 2023 ......... 529


Teil A–Einleitung


1. Beschreibung des

Forschungsgegenstandes

Gottesdienste imStil von Pop-Konzerten mit lauter Musik, großer Bühne und

Lichtershow, charismatische Persönlichkeiten, die auf der Bühne hin und her

laufen und leidenschaftlich predigen, Gottesdienstteilnehmer und -teilnehmerinnen,

die wie bei einem Konzert feiern, hüpfen, klatschen und die Hände heben –

diese Bilder wurden lange Zeit mit amerikanischen Gemeinden assoziiert. Allerdings

sind solche Gottesdienstformen längst nicht mehr nur inden USA anzutreffen,

sondern tauchen auch in der deutschen Kirchenlandschaft auf. In der

Regel werden sie von christlichen Gemeinschaften verantwortet, die sich selbst

als ›Freikirche‹ beschreiben, jedoch in keiner strukturellen Verbindung mit den

etablierten Freikirchen stehen. Sie agieren unabhängig von den etablierten

Kirchen und bieten alternative Ausdrucksformen christlicher Frömmigkeit an. In

Abgrenzung zuden Großkirchen und etablierten Freikirchen heben manche

dieser Freikirchen hervor, dass sie konfessionsunabhängig 1 oder konfessionsübergreifend

2 sind. Während eine Vielzahl verschiedener neuer Freikirchen in

den letzten Jahrzehnten inDeutschland gegründet wurde 3 ,sind es vor allem

Gemeinden mit pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit und modern gestalteten

Gottesdiensten, die große Resonanz haben undzunehmendAufmerksamkeit

1

2

3

Vgl. Reinhard Hempelmann, Neue freikirchliche Gemeinschaftsbildungen, in: Materialdienst

76 (2013), 12, 473–478, 474.

Das trifft beispielsweise auf die neue freikirchliche Gemeindegründungsbewegung International

Christian Fellowship (ICF) zu, die sich selbst als »freie, überkonfessionelle

Kirche« beschreibt. ICF München, ICF München, URL: https://www.icf-muenchen.de/

de/ (Stand: 12.4. 2023).

Neben neuen Freikirchen mit pfingstlich-charismatischem Profil sind in den letzten

Jahrzehnten in Deutschland konservative Freikirchen mit evangelikal-bibelfundamentalistischer

Orientierung sowie zahlreiche Migrations- und Aussiedlergemeinden entstanden.

Hempelmann, Neue freikirchliche Gemeinschaftsbildungen (s. Anm. 1), 474–

476.


24 1. Beschreibung des Forschungsgegenstandes

in der Kirchenlandschaft auf sich ziehen. 4 Die Reichweite mancher dieser Gemeinden

ist beachtlich, sodass ihre Inhalte über soziale Medien große Verbreitung

finden. 5 Auch in der Gesellschaft werden neue Freikirchen zunehmend

registriert und beispielsweise in Zeitungsartikeln 6 oder Podcasts 7 thematisiert.

Inhaltlich sind die neu gegründetenGemeinden mit pfingstlich-charismatischem

Profil laut Reinhard Hempelmann durch folgende Anliegen verbunden: »Anbetung,

Lobpreis, Seelsorge, Evangelisation, Heilungsdienste, das Erfasst- und Erneuertwerden

des ganzen Menschen wie auch der Gemeinde« 8 .Zudem tragen sie

»Züge unserer Zeit und Kultur.Sie folgen den Trends der Individualisierung, der

Erlebnisorientierung, der Profilierung: Individualität statt Konvention, Erfahrungsorientierung

statt Verkopfung, Profil statt Beliebigkeit.« 9

Die zu beobachtende Pluralisierungsphase des freikirchlichen Protestantismus

in Deutschland hat zur Folge, dass die innerkirchliche Vielfalt wächst.

Gleichzeitig verlieren die Großkirchen immer mehr ihre Monopolstellung als

Anbieter des christlichenGlaubens. Da die neuenGemeindegründungen u. a. als

Reaktion auf die mangelnde Flexibilität etablierter Institutionen zu deuten sind,

fordern sie die Großkirchenheraus, ihre eigene Gestaltung des Gemeindelebens

zu hinterfragen. 10 Darüber hinaus wirft die Gründung neuer Freikirchen die

Frage nach einem angemessenen Umgang mit ihnen auf. Es muss geklärt werden,

»[o]b und inwiefern neue Gemeinschaftsbildungen in ein Netzwerk öku-

4

5

6

7

8

9

10

Vgl. Hempelmann, der darauf hinweist, »dass die pentekostal-charismatisch orientierten

Bewegungen gegenwärtig die größere Resonanz erfahren als traditionell evangelikale«.

A.a. O., 477.

Stand Mai 2023 weist beispielsweise der YouTube-Kanal der neuen freikirchlichen

Gemeinde ICF München 51.300 Abonnenten auf. ICF München,ICF München e.V., URL:

https://www.youtube.com/@icfmuenchen (Stand: 3. 5.2023). Auch die Gemeinde Hillsong

Church Germany hat mit über 10.000 Abonnenten auf YouTube eine beachtliche

Reichweite. Hillsong Church Germany,Hillsong Church Germany, URL: https://www.

youtube.com/@HillsongChurchGermany (Stand: 3. 5. 2023).

Vgl. z.B. Simon Hehli, Mit E-Gitarre und Bibel. So bleiben die Evangelikalen trotzt der

Säkularisierung eine Macht, URL: https://www.nzz.ch/schweiz/mit-e-gitarre-und-bibelso-bleiben-die-evangelikalen-trotz-der-saekularisierung-eine-macht-ld.1733269

(Stand:

8. 4. 2023).

2023 kam beispielsweise eine deutsche Podcastserie mit dem Titel Toxic Church heraus,

die sich kritisch mit der neuen Freikirche Hillsong Church befasst. Podimo, Toxic

Church. Die Hillsong-Story, URL: https://hillsong.podigee.io/ (Stand: 3. 5.2023).

Hempelmann, Neue freikirchliche Gemeinschaftsbildungen (s. Anm. 1), 475.

ReinhardHempelmann,Freikirchenforschung und die Erforschung ›neuer‹ Freikirchen,

in: Verein für Freikirchenforschung e.V. (Hrsg.), Kirchenwechsel – Tabuthema der

Ökumene? (Freikirchenforschung 25), Münster 2016, 164–172, 169.

Vgl. Hempelmann, Neue freikirchliche Gemeinschaftsbildungen (s. Anm. 1), 478.


1.1. Die Geschichte des ICF 25

menischer Verbindlichkeit einbezogen werden können« 11 .Dadie Neugründungen

vielfältig sind, lässt sich diese Frage nicht pauschal beantworten. Vielmehr

müssen die neuen Gemeindebildungen einzeln in den Blick genommen werden

und auf ihre Theologie, ihre Gemeindegründungsstrategie und ihr Handeln hin

untersucht werden. Dies soll in dieser Forschungsarbeit geschehen, wobei der

Untersuchungsgegenstand auf eine neue Freikirche, nämlich das International

Christian Fellowship (ICF) 12 ,beschränkt ist.

1.1. Die Geschichte des ICF

Die Anfänge des International Christian Fellowship (ICF) liegen in der Stadt

Zürich. Dort wurde das ICF 1990 inder St. Anna Kapelle der Evangelischen

Gesellschaft Zürich 13 als alternativer, konfessionsübergreifender Abendgottesdienst

gestartet. 14 Heinz Strupler, der Gründer des Gottesdienstes, war auf einer

Reise in die USA von dem missionarischen Gemeindeaufbaumodell der Willow

Creek Community Church (WCCC) in South Barrington bei Chicago inspiriert

worden und wollte die Willow Creek Idee eines sucherorientierten Gottesdienstes

15 in Zürich umsetzen. 16 Im Zentrum stand das Anliegen, Gottesdienste so

11

12

13

14

15

16

A.a. O., 477.

Auch wenn grammatikalisch der feminine Artikel passender erscheint, wird in dieser

Arbeit der neutrale Artikel verwendet, da dies dem internen Sprachgebrauch des ICF

entspricht.

Die Evangelische Gesellschaft inZürich ist eine Reformbewegung innerhalb der evangelischen

Landeskirche in Zürich, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

formierte. Ihr Kernanliegen ist missionarischer und diakonischer Natur, sodass sie »in

Anlehnung und teilweise in Zusammenarbeit mit der evangelisch-reformierten Landeskirche

des Kantos Zürich […] Orte der Verkündigung und Begegnung schafft« und

vielfältige Projekte in den Bereichen Bildung, Diakonie und Seelsorge gestaltet. Stiftung

der Evangelischen Gesellschaft des Kantos Zürich, Stiftungszweck, URL: https://

www.stiftung-eg.ch/stiftungszweck/ (Stand: 27.10. 2022).

Vgl. Francis Müller, Selbsttransformation und charismatisch evangelikale Identität.

Eine vergleichende ethnosemantische Lebenswelt-Analyse (Springer VS research),

Wiesbaden 2015, 72.

Eine ausführlichere Beschreibung von Willow Creeks sucherorientiertem Gottesdienstkonzept

findet sich bei Philipp Bartholomä,Freikirche mit Mission. Perspektiven

für den freikirchlichen Gemeindeaufbau im nachchristlichen Kontext, Leipzig 2019,

235–249.

Vgl. Ralph Kunz,Von der Zucht zur Wucht. Die Stagnation traditioneller Freikirchen und

der Boom des freikirchlichen Erlebnismilieus, in: Susanne Schaaf/Matthias Mettner

(Hrsg.), Religion zwischen Sinnsuche, Erlebnismarkt und Fundamentalismus. Zu Risi-


26 1. Beschreibung des Forschungsgegenstandes

zu gestalten, dass Kirchendistanzierte, die sich auf einer spirituellen Suche befinden,

sich wohlfühlen und mit dem Evangelium in Kontakt kommen. Durch

die Berücksichtigung kultureller Gegebenheiten und die Abstimmung der Predigtinhalte

auf die Fragen der Zeit, sollten unnötige Hürden abgebaut und der

Gottesdienst zeitgemäß und lebensrelevant werden. Inspiriert von dieser Idee

wurden die Gottesdienste des ICF mit christlicher Pop-Musik, informellen Ansprachen

und in lockerer Atmosphäre gestaltet. Das Konzept fand Anklang und

die Gottesdienste wurden regelmäßig von ca. 300 Menschen besucht. 17 Da die

ursprüngliche Zielgruppe Menschen aus dem Ausland waren, die in Zürich

wohnten und christliche Gemeinschaft suchten, 18 wurde der englische Name

International Christian Fellowship gewählt. 19

1994 20 übergab Strupler die Leitung des ICF an Leo Bigger, der bis dahin als

Prediger bei den Abendveranstaltungen des ICF beteiligt war. Bigger hatte sich

für eine Mitarbeit bei Struplers Gemeindegründungsinitiative entschieden, da er

dessen Grundanliegen teilte, Gottesdienste sucherorientiert und progressiv zu

gestalten. 21 Neben dem ICF entstanden in Zürich etwa zeitgleich auch andere

17

18

19

20

21

ken und Nebenwirkungen von ICF und anderen christlichen Trendgemeinschaften

(Schriftenreihe Infosekta, Fachstelle für Sektenfragen), Zürich 2004, 16–22, 18.

Müller,Selbsttransformation und charismatisch evangelikale Identität (s. Anm. 14), 72.

Vgl. Kunz, Von der Zucht zur Wucht (s. Anm. 16), 18.

Dieser Name erschien zu dem Zeitpunkt passend, da Menschen aus über 42 Nationen die

Gottesdienste besuchten. Florence Kunz, 25Jahre ICF. Interview mit Susanna und Leo

Bigger, in: ICF Church Magazin (2021), 4, 16–18, 16.

Die genaue Jahreszahl ist unklar. 1994 findet sich bei Müller, Selbsttransformation

und charismatisch evangelikale Identität (s. Anm. 14), 73. Walthert terminiert die

Übergabe auf das Jahr 1995: Rafael Walthert, Ritual, Individuum und religiöse Gemeinschaft.

Das International Christian Fellowship Zürich, in: Dorothea Lüddeckens/

Rafael Walthert (Hrsg.), Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel.

Theoretische und empirische Systematisierungen, Bielefeld 2010, 243–268, 246. Bei

Humbert ist von 1996 die Rede: Claude-Alain Humbert, Religionsführer Zürich. 370

Kirchen, religiös-spirituelle Gruppierungen, Zentren und weltanschauliche Bewegungen

der Stadt Zürich, Zürich 2004, 289. Auf der Homepage des ICF Movement findet Heinz

Strupler keine Erwähnung. Dort wird lediglich 1996 als das Jahr angegeben, in dem das

ICF Zürich von Leo und Susanna Bigger gegründet wurde. ICF Church, ICF Movement,

URL: https://www.icf.church/en/movement/ (Stand: 15.8. 2022). Unklar ist, wieso die

Anfänge des ICF unter der Leitung von Strupler in der Erzählung ausgespart werden. Es

finden sich keine Hinweise darauf, dass es zu einem Konflikt zwischen dem Ehepaar

Bigger und Strupler kam, der zu einer bewussten Distanzierung geführt hätte. Vielmehr

ist zu vermuten, dass Leo und Susanna Bigger als Gründergestalten erwähnt werden, um

ihre Rolle als Senior Pastors zu stärken.

Autobiografisch beschreibt Bigger in seinem Buch No Limits, wie der Traum einer Kirche,

die zeitgemäß wirkt und in der eine verständliche Sprache gesprochen wird, in ihm


1.1. Die Geschichte des ICF 27

christliche Gemeinschaften in Zürich, darunter die Evangelische Gemeinde

Glockenhof (EGG), die sich später in Limmatgemeinde umbenannte. 22 1996 fusionierte

das ICF, das mittlerweile von Leo Bigger geleitet wurde, mit der Limmatgemeinde,

die zudiesem Zeitpunkt unter der Leitung von Matthias Bölsterli

stand, und wurde unter dem Namen ›ICF Church‹ als Verein in Zürich eingetragen.

Im folgenden Jahr wechselte das ICF seine Räumlichkeiten und traf sich

bis 1998 im Limmat Hotel in Zürich. 23 1999 wurde der Verein in ›ICF Zürich‹

umbenannt. 24

In Zürich erlebte das ICF in den kommenden Jahren ein rasches Wachstum

und mehrere Umzüge. 25 Des Weiteren entwickelte sich aus der lokalen Ortsgemeinde

eine Gemeindegründungsbewegung, die seit den späten 1990er Jahren

neue Gemeinden unter dem Namen ICF gründet. 26 In den ersten Jahren expandierte

das ICF vor allem innerhalb der Schweiz. Es wurden etliche Gemeinden des

ICF gegründet, sodass das ICF heute in der Schweiz neben Zürich anweiteren

25 Standorten präsent ist. 27 In Deutschland wurde 2000 die erste Gemeinde des

22

23

24

25

26

27

erwachte als er 18 Jahre alt war. Damals wurde Bigger mit seiner Band eingeladen, einen

katholischen Familiengottesdienst musikalisch zu gestalten und eine kurze Ansprache

zu halten. Aufgrund der vielen positiven Rückmeldungen, die Bigger nach diesem

Gottesdienst erreichten, kam Bigger zu dem Schluss, dass die ›Verpackung‹ wesentlich

dazu beitrage, ob Menschen von dem, was in der Kirche passiert, angesprochen werden.

Vgl. Leo Bigger, NoLimits. Träume Gottes Träume, Zürich 2000, 25–27.

Vgl. Kunz, 25Jahre ICF (s. Anm. 19), 16.

Vgl. ebd.

Vgl. Müller,Selbsttransformationund charismatischevangelikaleIdentität (s.Anm.14),

73.

Von1998 bis 2003 traf sich die Gemeinde des ICF Zürich im Old Stock Exchange/Cubanito

in Zürich, wo an den Wochenenden für gewöhnlich etwa 2000 Personen die

Gottesdienste des ICF besuchten. 2004 wechselte das ICF Zürich erneut seine Räumlichkeiten

und mietete sich in der Maag Halle in Zürich ein. Die regelmäßige Besucherzahl

wuchs in dieser Zeit auf 2500 Besucher an. 2012 zog das ICF Zürich dann

abermals um und traf sich für etwas über ein Jahr in einem alten Gebäude im Güterbahnhof

in Zürich. Als dieser anderweitig benutzt werden sollte, musste das ICF Zürich

andere Räumlichkeiten suchen. Als Zwischenlösung ging es 2013 zurück in die Maag

Halle, bis 2017 die Samsung Hall angemietet werden konnte, in der die Gottesdienste

noch heute stattfinden. Vgl. Kunz, 25Jahre ICF (s. Anm. 19).

Zu den Gemeindegründungsprozessen und der Gemeindegründungsstrategie des ICF

siehe Kap. 8.3.

Stand August 2023 befinden sich die Gemeinden in Altdorf, Basel, Baselland, Bern, Biel,

Brugg, Buchs, Bulle, Chur, Fribourg, Genf, Interlaken, Langenthal, Lausanne, Luzern,

Mittelland, Oberwallis, Rapperswil, Schaffhausen, St. Gallen, Thun, Ticino, Winterthur,

Zug und dem Zürcher Oberland. ICF Church, Standorte, URL: https://www.icf.church/

de/standorte/ (Stand: 7. 8. 2023).


28 1. Beschreibung des Forschungsgegenstandes

ICF in Nürnberg gegründet. 2004 wurden dann das ICF München und das ICF

Berlin gegründet. Im Jahr darauf schloss sich die Freikirche Hardt Mission Ministries

(HMM), die im Jahr zuvor in Karlsruhe gegründet wurde, ebenfalls dem

ICF an. 28 Zu diesen ersten deutschen ICF-Gemeinden kamen im Laufe der Jahre

weitere hinzu, sodass das ICF in Deutschland Stand August 2024 an 33 Standorten

vertreten ist. 29 Weitere Länder, in denenICF-Gemeinden gegründet wurden,

sind Albanien, Brasilien, Israel, Italien, Kambodscha, Kroatien, Niederlande,

Österreich, Polen, Tschechien und Ukraine. 30

1.2. Forschungsinteresse und Forschungsfrage

Die Geschichte des ICF zeigt, dass sich aus einem lokalen konfessionsübergreifenden

Abendgottesdienst in Zürich eine freikirchlichen Gemeindegründungsbewegung

entwickelt hat, die im gesamten deutschsprachigen Raum und

darüber hinausGemeinden gründet. Charakteristisch für Gemeindendes ICF ist

ihr Mix aus zeitgenössischem Auftreten und konservativer Botschaft. In den

multimedialen Gottesdiensten, die innerhalb des ICF Celebrations genannt werden,

kommen zeitgenössische Musikinstrumente, bunte Lichter, Graphikanimationen

und Videoclips zum Einsatz. Inhaltlich wird implizit und explizit eine

Theologie vermittelt, die evangelikale Merkmale aufweist. 31 Insgesamt stoßen

28

29

30

31

ICF Karlsruhe, History, URL: https://www.icf-karlsruhe.de/de/history/ (Stand: 29.11.

2021).

Auf der Homepage des ICF Movement werden folgende Standorte des ICF in Deutschland

aufgelistet, wobei nicht zwischen Gemeinden, die sich noch in der Gründungsphase

befinden, und solchen, die bereits etabliert sind, unterschieden wird: Augsburg, Balingen,

Berlin, Bielefeld, Darmstadt, Essen, Frankfurt, Freiburg, Freising, Friedrichshafen,

Grünheide, Hamburg, Heidelberg, Heilbronn, Herrenberg, Karlsruhe, Kraichgau, Lörrach,

Lübeck, Ludwigsburg, Mannheim, München, Nürnberg, Offenburg, Passau, Reutlingen,

Rhein Neckar, Singen, Starnberg, Südpfalz, Tuttlingen, Villingen-Schwenningen,

Wetzlar. ICF Church, Standorte (s. Anm. 27).

Ebd.

Laut Rafael Walthert weist das ICF folgende typische Merkmale evangelikaler Gemeinschaften

auf: »die Wichtigkeit des Konversionserlebnisses, die Betonung der persönlichen

Beziehung mit Jesus und der umfassenden Autorität der Bibel, der zentrale

Stellenwert missionarischer Bemühungen.« Rafael Walthert, Tradition und Emotion.

Ein evangelikaler Gottesdienst aus der Perspektive der Theorie der Interaktionsrituale,

in: H. Faßmann et al. (Hrsg.), Christliche Rituale im Wandel: Schlaglichter aus theologischer

und religionswissenschaftlicher Sicht (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft),

Göttingen 2017, 21–40, 23–24. Auch Sonja Friess ordnet die Lehre

des ICF als evangelikal ein. Vgl. Sonja Friess, Marktförmige Inszenierung und leibsozialisatorische

Massnahmen. Das Doppelgesicht der ›International Christian Fellowship‹


1.2. Forschungsinteresse und Forschungsfrage 29

Gemeinden des ICF mit dieser Kombination auf Resonanz. Die wachsende Anzahl

an Menschen, die sich den Gemeinden des ICF zugehörig fühlen, sowie die

steigende Anzahl an Gemeinden des ICF, weisen darauf hin, dass das ICF in

Deutschland immer mehr an Bekanntheit und Einfluss gewinnt. Dass der Einfluss

sich auch überdie Grenzen der eigenen Gemeinde bzw. Bewegung erstreckt,

wird u. a. an der Reichweite der Gemeinden im digitalen Raum deutlich. Gerade

über die sozialen Netzwerke scheint der Bekanntheitsgrad der Bewegung sowie

deren Einfluss zu wachsen. Laut eigener Angaben erreichte beispielsweise das

ICF München im Jahr 2022 mit seinem Instagram Account 382.571 Menschen,

von denen fast 20.000 auch dem Account folgen. Der YouTube Kanal der Gemeinde

hatte zum gleichen Zeitpunkt über 46.000 Abonnenten und wurde unter

der Woche regelmäßig von 55.000 Menschen besucht. 32 In der Gesellschaft

werden Gemeinden des ICF teilweise registriert, wobei meistens die Frage im

Raum steht, was das ICF eigentlich ist bzw. wie es einzuschätzen ist. Informationsanfragen

über das ICF werden immer wieder an Weltanschauungsbeauftragte

der Großkirchen gerichtet. 33 Auch medial bekommt das ICF hin undwieder

Aufmerksamkeit. So thematisiert ein Zeitungsartikel der Neuen Züricher Zeitung

von 2023 beispielsweise den Erfolg des ICF Zürich im Kontrast zu den sinkenden

Mitgliederzahlen der Großkirchen. 34 Die Anfragen und medialen Diskurse

rund um das ICF weisen darauf hin, dass für viele unklarzusein scheint, worum

es sich bei neuen Freikirchen wie dem ICF handelt. Im gesellschaftlichen Diskurs

steht zur Debatte, ob neue Freikirchen als Sekten zuverstehen sind, als Erneuerung

der Kirche oder gar als gute Marketingstrategen, die viel Show mit

wenig Inhalt bieten. 35

Im christlichen Kontext wird das ICF ambivalent wahrgenommen. Auf der

einen Seite werden Gemeinden des ICF als Inspiration und Impulsgeberinnen

betrachten, scheinen sie doch einen Weggefunden zu haben, Kirche für junge

Menschen verstärkt zugänglich zu machen und mit multimedialen Gottes-

32

33

34

35

ICF, URL: http://www.infosekta.ch/media/pdf/ICF__Friess-MarktfrmigLeibessoz.pdf

(Stand: 9. 3. 2020), 23.

ICF München, Jahresbericht 2022. Together – Wie wir gemeinsam Kirche bauen,

München 2023, 40.

Z. B. berichtet InfoSekta, dass sie immer wieder Anfragen bekommen, die das ICF betreffen.

Vgl. InfoSekta,Wenn das Entweder-Oder die Liebe frisst, URL: http://www.info

sekta.ch/media/pdf/Wenn_das_Entweder-Oder_die_Liebe_frisst_infoSekta_2014.pdf.

Hehli, Mit E-Gitarre und Bibel (s. Anm. 6).

Vgl. Martina Kix, Tausende Hipster für ein Halleluja, URL: https://www.zeit.de/cam

pus/2018/01/freikirche-hillsong-religion-jugend (Stand: 6. 4. 2023).


30 1. Beschreibung des Forschungsgegenstandes

diensten die heutige Erlebnisgesellschaft 36 zu erreichen. Gerade in Bezug auf

ihren Onlineauftritt wird den Gemeinden des ICF oft eine Vorreiterinnenrolle in

der christlichen Szene zugesprochen.Auf der anderen Seite wird der Zulauf, den

Gemeinden des ICF verzeichnen, von Verantwortlichen anderer Kirchen auch

kritisch gesehen. Fraglich bleibt, welche Menschen sich dem ICF anschließen.

Sind es Konfessionslose, die beim ICF den Glauben für sich entdecken oder wirbt

das ICF mit seinem Angebot Kirchgänger und -gängerinnen aus umliegenden

Gemeinden ab? Vermutungen stehen im Raum, dass sich Gemeinden des ICF

vor allem junge Menschen aus anderen Gemeinden anschließen, die in ihren

Heimatgemeinden mit dem Angebot unzufrieden waren. 37 Das führt dazu, dass

die Gemeinden des ICF von Gemeinden aus ihrem Umfeld nicht immer als Ergänzung,

sondern durchaus auch als potenzielle Gefahr der Abwerbung eigener

Gemeindemitglieder gesehen werden. Während innerhalb des christlichen Milieus

viele Spekulationen getroffen werden, stehen empirische Untersuchungen

noch aus, die Einsicht geben, inwiefern die Vermutungen über das Transferwachstum

der Wirklichkeit entsprechen.

Darüber hinaus bedarf es Untersuchungen, wie sich Gemeinden des ICF in

die Kirchenlandschafteinfügen, wie sich das Verhältniszwischen Gemeinden des

ICF undanderen Gemeinden in der Region gestaltet und welche Faktoren darauf

Einfluss nehmen. Dies zu erforschen ist von Bedeutung, dakonfessionsübergreifende

Kooperationen in der ZukunftanRelevanz gewinnen. Die Großkirchen

stehen vor veränderten Rahmenbedingungen und können alleine nicht mehr

den komplexen gesellschaftlichen Situationen gerechtwerden,die u. a. durch die

Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft geschaffen wurden. Um

auf die Herausforderungen einzugehen, mit denen die Kirchen Anfang des

21. Jahrhunderts konfrontiert sind, ist nicht nur eine Umstrukturierung innerhalb

der Großkirchen notwendig, sondern auch eine wachsende Kooperationsbereitschaft.

38 Inwiefern Gemeinden anderer Kirchen in Kooperationsgemein-

36

37

38

Gerhard Schulze fasst das Motto unserer Zeit in dem Imperativ »Erlebe dein Leben!«

zusammen. Gerhard Schulze, Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart,

Frankfurt am Main/New York 2 2005, 59.

Diese Einschätzung teilt auch Ralph Kunz. Vgl. Kunz, Von der Zucht zur Wucht

(s. Anm. 16), 19. Er geht davon aus, dass »[e]in beachtlicher Anteil des Wachstums [der

Gemeinden des ICF] […] auf innerevangelikale Verschiebungen zurückzuführen [ist]«.

A.a. O., 17.

Schwindende Kirchenbindung, abnehmende Mitgliedschaftszahlen und vielfältige

Wahlmöglichkeiten sinnstiftender Angebote stellen kirchliche Gemeinden vor Herausforderungen,

die sie nicht alleine bewältigen können. Vgl. Michael Herbst/Hans-

Hermann Pompe,Regiolokale Kirchenentwicklung. WieGemeinden vom Nebeneinander

zum Miteinander kommen können, URL: https://www.mi-di.de/materialien/regiolokalekirchenentwicklung

(Stand: 30.6. 2021), 13–15. Herbst und Pompe weisen darauf hin,


1.2. Forschungsinteresse und Forschungsfrage 31

schaften integriert werden sollten und wie dies gelingen kann, soll durch die

Erforschungdes Verhältnisses von Gemeinden des ICF und anderen Gemeinden

in ihrem Umfeld exemplarisch untersucht werden.

Insgesamt weisen die Beobachtungen und Vermutungen, die inGesellschaft

und Kirche bezüglich Gemeinden des ICF getroffen werden, darauf hin, dass sowohl

Unwissenheit als auch Interesse in Bezug auf das Phänomen herrschen. Da

Gemeinden des ICF imwissenschaftlichen Raum bisher fast keine Beachtung gefunden

haben 39 ,können kaum theologisch fundierte und empirisch abgesicherte

Aussagen über das ICF getroffen werden. Um der Aufgabe der Praktischen

Theologie nachzukommen, die ›gelebte Religion‹ 40 darzustellen, nachzuvollziehen

und kritisch zu reflektieren, 41 bedarf es wissenschaftlicher Untersuchungen

bezüglich des ICF. Diesem Anliegen widmet sich diese Arbeit.

Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Profil, der Gestalt und dem Handeln

der neuen Freikirche International Christian Fellowship (ICF) in Deutschland sowie

nach ihrer Koexistenz mit etablierten kirchlichen Präsenzen in der Region.

Um die Frage möglichst umfassend zubeantworten, werden verschiedene

Perspektiven integriert und mehrere Teilaspekte untersucht. Konkret geht es

darum, (1) die Bewegung des ICF innerhalb des deutschen Kontexts darzustellen,

einzuordnen und zu bewerten, (2) empirisch fundierte Aussagen über die

Angehörigen des ICF und deren Motivation, sich einer Gemeinde des ICF anzuschließen,

zu treffen, (3) die Rolle der Gemeinden des ICF in der Kirchenlandschaftinder

Region sowie das Verhältnis zwischen Gemeindendes ICF und

anderen Gemeinden in ihrem Umfeld zu untersuchen und diese Erkenntnisse

(4) mit dem kirchentheoretische Konzept einer mixed economy ofChurch 42 bzw.

einer regiolokalen Kirchenentwicklung 43 ins Gespräch zu bringen.

39

40

41

42

dass es »einer gemeinsam wahrgenommenen Verantwortung für die Kommunikation des

Evangeliums in der Region [bedarf]«. A.a. O., 10. Diese umfasst ihres Erachtens die

Aspekte wachsende Zusammenarbeit, Auftragsorientierung, aktiver Vertrauensaufbau

und Ergänzungsdenken. A.a.O., 27.

Siehe den Forschungsüberblick in Kap. 2.

Die Gegenstandsbestimmung der Praktischen Theologie wird im praktisch-theologischen

Diskurs kontrovers diskutiert. Siehe die Ausführungen zur Gegenstandsfrage und

Aufgabe Praktischer Theologie in Kap. 3.

Vgl. Wilhelm Gräb,Schleiermachers Konzeption der Theologie als empirisch-praktische

Wissenschaft vom Christentum, in: Birgit Weyel/Wilhelm Gräb/Hans-Günter Heimbrock

(Hrsg.), Praktische Theologie und empirische Religionsforschung (Veröffentlichungen

der Wissenschaftlichen Gesellschaftfür Theologie 39), Leipzig 2013, 15–26, 21.

Das Konzept der mixed economy of Church entstand in England als Antwort auf die Frage

nach Einheit und Vielfalt, die durch das Auftreten neu gegründeter Gemeinden (fresh

expressions of Church (fxC)), die die parochiale Logik durchbrechen, ausgelöst wurde.

Sabrina Müller, Eine kurze Geschichte der Mixed Economy of Church. Kybernetische


32 1. Beschreibung des Forschungsgegenstandes

Der erste Teilaspekt konzentriert sich darauf, allgemeine Merkmale der Bewegung

des ICF deskriptiv zu erfassen, einzuordnen und anhand theologischer

Kriterien zu bewerten. Im Fokus stehen dabei Aspekte,die das ekklesiologische

Selbstverständnis des ICF, die Organisationsstrukturen, kybernetische Weichenstellungen,

Perspektiven der Oikodomik, missionstheologische Überzeugungen,

theologische Grundlagen und die innerhalb der Gemeinden des ICF

vorfindliche Spiritualität betreffen. Spezifisch wird nach dem Anliegen des ICF

Movement, seinen Wesensmerkmalen sowie nach seinem Vorgehen bei der

Gründung neuer Gemeinden gefragt. In Bezug auf die Gemeinden des ICF wird

ihre Struktur, ihr Verhältnis zum Movement, sowie ihre Gemeindearbeit beleuchtet.

Des Weiteren wird die vom ICF Movement offiziell vertretene Theologie

untersucht sowie die Spiritualität analysiert, die innerhalb der Gemeinden des

ICF praktiziert wird.

Ein zweiter zentraler Aspekt, der in Bezug auf das ICF erforscht werden soll,

sind die Menschen, die Gemeinden des ICF angehören. Zu ermitteln ist, wen Gemeinden

des ICF mit ihren Angeboten erreichen und wieso. Dadurch soll aufgezeigt

werden, welche Menschen das Profil des ICF und sein Ansatz des Gemeindeaufbaus

besonders stark anspricht. Dabei geht es nicht nur um die

Erhebung demografischer Daten, sondern auch um die Fragenach den religiösen

Hintergründen der Menschen, die sich dem ICF zugehörig fühlen. Dies hilft bei

der Überprüfung, inwiefern das Selbstverständnis des ICF, eine missionarische

Bewegung zu sein, sich durch empirische Einsichten bestätigen lässt bzw. inwiefern

sich die außerhalb des ICF im Raum stehende Vermutung, dass Gemeinden

des ICF vor allem Transferwachstum verzeichnen, zutrifft. Mit den

Angehörigen der Gemeinden des ICF verknüpft sind auch die Fragen, wie sich

gemeindliche Zugehörigkeit innerhalb des ICF ausdrückt, wie lange sie durchschnittlich

anhält, wie hoch das Verbundenheitsgefühl der Angehörigen ist und

43

Chance oder Stolperstein?, in: Pastoraltheologie 109 (2020), 1, 5–18, 5. Dem Ansatz liegt

der Gedanke zu Grunde, dass traditionelle kirchliche Formen und neue Ausdrücke von

Kirche gleichberechtigt nebeneinanderstehen und als jeweilige Ergänzung erachtet

werden. Dies bringt Michael Moynagh in seiner oft zitierten Definition auf den Punkt:

»The phrase ›mixed economy‹,originally used by Archbishop Rowan Williams, refers to

fresh expressions and ›inherited‹ churches existing alongside each other, within the

same denomination, in relationships of mutual respect and support.« Michael Moynagh,

Do we need amixed economy?, in: Louise Nelstrop/Percy Martyn (Hrsg.), Evaluating

fresh expressions. Explorations in emerging church, Norwich 2008, 177–186, 177. Für

eine ausführlichere Beschreibung der mixed economy of Church siehe Kap. 14.1.

Michael Herbst und Hans-Hermann Pompe haben das anglikanische Konzept einer

mixed economy of Church unter dem Begriff ›regiolokale Kirchenentwicklung‹ auf den

deutschen Kontext übertragen und weiterentwickelt. Vgl. Herbst/Pompe, Regiolokale

Kirchenentwicklung (s. Anm. 38).


1.2. Forschungsinteresse und Forschungsfrage 33

wie viel Zeit sie wöchentlich aufwenden, um an Angebotendes ICF teilzunehmen

bzw. sich dort zu engagieren.

Da Gemeinden des ICF in Deutschland in Kontexten gegründet werden, in

denen bereits andere christliche Kirchen und Gemeinschaften etabliert sind,

dürfen Gemeinden des ICF nicht nur als isoliertes Phänomen betrachtet werden.

Die Frage nach dem Platz, den Gemeinden des ICF in der Kirchenlandschaft einnehmen,

und dem Beitrag, den sie innerhalb der Kirchenlandschaft leisten, bildet

deshalb den dritten Teilaspekt der Untersuchung. Das örtliche Nebeneinander

der Gemeinden des ICF und anderer christlicher Gemeinden wirft Fragen auf

nach der Rolle der Ortsgemeinden des ICF in der Kirchenlandschaft, in der sie

eingebettet sind, nach dem Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Kirchen

und nach Faktoren, die dieses beeinflussen. Deshalb soll geklärt werden, wodurch

sich Gemeinden des ICF von Gemeinden anderer Kirchen unterscheiden

und welche Funktionen sie in der Kirchenlandschaft inder Region einnehmen

bzw. welche Funktionen ihnen zugeschrieben werden. Des Weiteren soll nach

Veränderungen, die sich mit dem Auftreten von Gemeinden des ICF in der

umliegenden Kirchenlandschaft beobachten lassen, gefragt werden, wobei zu

klären ist, inwiefern Verschiebungenvon Mitgliedern unterschiedlicher Kirchen

mit dem Auftreten von Gemeinden des ICF in Verbindung stehen. Zudem soll das

Verhältnis zwischen Gemeinden des ICF und anderen Gemeinden bzw. christlichen

Werken in ihrer Umgebung beleuchtet werden, indem nach Formen der

Interkonfessionalität und nach Faktoren, die das interkonfessionelle Verhältnis

beeinflussen, gefragt wird.

Schließlich sollen Ergebnisse dieser Arbeit für den kirchentheoretischen

Diskurs fruchtbar gemacht werden, indem Erkenntnisse über das Verhältnisvon

Gemeinden des ICF zu etablierten kirchlichen Präsenzen in der Region mit dem

kirchentheoretischen Konzept einer mixed economy of Church bzw. der in

Deutschland vertretenen regiolokalen Kirchenentwicklung (RLKE) verknüpft

werden. Das Modell der mixed economy wurde als theoretischer Anknüpfungspunkt

gewählt, weil es einen aktuellen Ansatz darstellt, der die Koexistenz unterschiedlicher

Gemeindeformen in einer Region bedenkt. Während mixed economy

in seinem Ursprung vor allem innerhalb einer Denomination gedacht

wurde, stellt sich die Frage, inwiefern der Ansatz auch über konfessionelle

Grenzen hinweg gewinnbringend sein und wie dessen Umsetzung aussehen

kann. Die Übertragung der Erkenntnisse über die Koexistenz von Gemeinden des

ICF und etablierten kirchlichen Präsenzen auf das größere interkonfessionelle

Miteinander, dient der Beantwortung der Frage, inwiefern konfessionsübergreifende

Kooperationen in der Region gewinnbringend für die Zukunft der

Kirche sein könnenund welche Faktorendabei von besonderer Bedeutung sind.


34 1. Beschreibung des Forschungsgegenstandes

1.3Bestimmung und Eingrenzung des

Untersuchungsgegenstandes

Die Forschungsfrage macht deutlich, dass im Zentrum dieser Arbeit die Erforschung

des ICF Movementund der ihm zugehörigen Gemeindensteht. An dieser

Stelle soll der Untersuchungsgegenstand näher bestimmt und eingegrenzt

werden.

Zunächst kann festgehalten werden, dass es sich beim ICF um eine Freikirche

handelt. Diese Einordnung entspricht sowohl dem Selbstverständnis des

ICF 44 als auch der Außenperspektive 45 .Das ICF weist folgende typische Merkmale

von Freikirchen auf 46 :Erstens ist das ICF eine Kirche, die unabhängig und

strikt getrennt vom Staat agiert. Sichtbar wird die Trennung von Kirche und Staat

dadurch, dass das ICF Movement und seine Gemeinden gemeinnützige Vereine

sind, die sich allein durch Spenden finanzieren und andersals die Landeskirchen

keine Einnahmen durch Kirchensteuern verzeichnen. Zweitens kann das ICF

wie andere Freikirchen auch als ›Freiwilligenkirche‹ bzw. ›Freiwilligkeitskirche‹

47 identifiziert werden. Die Zugehörigkeit erfolgt nicht automatisch durch

44

45

46

47

Die Selbstbeschreibung als freie Kirche findet sich beispielsweise auf der Homepage des

ICF München. Vgl. ICF München, ICF München (s. Anm. 2).

Hempelmann, Neue freikirchliche Gemeinschaftsbildungen (s. Anm. 1), 474–475;

Friess,Marktförmige Inszenierung und leibsozialisatorische Massnahmen (s. Anm. 31).

Die Merkmale sind der Aufzählung von Stefan Schweyer entnommen, der »die Trennung

von Staat und Kirche«, den »aktiven Erwerb der Mitgliedschaft« und »die Freiheit zum

aktiven Christsein« als Merkmale von Freikirchen nennt. Stefan Schweyer, Freikirchliche

Gottesdienste. Empirische Analysen und theologische Reflexionen (APrTh 80),

Leipzig 2020, 24, Hervorh. im Original.

Diese Begriffe werden in der Literatur immer wieder zur Beschreibung von Freikirchen

verwendet. Vgl. Erich Geldbach, Freikirchen. Erbe, Gestalt und Wirkung (Bensheimer

Hefte 70), Göttingen 2 2005, 41; Schweyer,Freikirchliche Gottesdienste (s. Anm. 46), 25;

Hans Schwarz, Freikirchen, in: Müller Gerhard (Hrsg.), TRE 11, Berlin/New York

1983, 550–563, 560. Sie sollen zum Ausdruck bringen, dass Eltern nicht stellvertretend

für die Kinder entscheiden, dass diese Teil der Kirche werden, sondern dass jedem die

Entscheidung persönlich überlassen und individuell, freiwillig und aufgrund der eigenen

Glaubensüberzeugung getroffen wird. Inwiefern der Begriff ›Freiwilligenkirche‹ (bzw.

›Freiwilligkeitskirche‹) jedoch wirklich treffend und hilfreich ist, ist umstritten. Zum

einen wird kritisiert, dass der Begriff einseitig die menschliche Entscheidung betont und

außer Acht lässt, dass die Entscheidung für eine Glaubensgemeinschaft unter dem

Wirken des Heiligen Geistes getroffen wird, der zuvor den Glauben schenkt. Geldbach,

Freikirchen (s. Anm. 47), 41. Zum anderen ist fraglich, inwiefern der Freiwilligkeitscharakter

heutzutage wirklich noch ein Alleinstellungsmerkmal der Freikirchen ist.

Anders als zu der Zeit, in der die ersten Freikirchen gegründet wurden, ist die Kirchenmitgliedschaft

ineiner Großkirche in Deutschland keine Selbstverständlichkeit


1.3 Bestimmung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes 35

eine Säuglingstaufe, sondern beruht auf einer persönlichen Entscheidung. Im

Unterschied zu anderen Freikirchen gibt es im ICF jedoch keine Mitgliedschaft,

sondern lediglich eine ideelle Zugehörigkeit. 48 Schließlich betont das ICF in

freikirchlicher Manier ein aktives Christsein. Sein inhaltliches Anliegen ist es,

dass Menschen ihren Glauben leben und durch die christliche Gemeinschaft in

ihrem Glauben gestärkt werden. Das ICF kann, wie andere Freikirchen auch,

als Protestbewegungen auf ein aus seiner Sicht laues Christentum verstanden

werden. 49 Dies zeigt sich z. B. am Motto des ICF: »Kirche neu erleben« 50 .Das ICF

will somit nicht nur eine Alternative zu den Staatskirchen, sondern auch eine

Alternative zu den etablierten Freikirchen darstellen. Deshalb ist die Näherbestimmung

des ICF als neue Freikirche angemessen. Was das ICF als neue Freikirche

in ihrem Kern ausmachtund inwiefern es sich von etablierten Freikirchen

unterscheidet, muss im Rahmen dieser Arbeit weiter geklärt werden.

Eine weitere Näherbestimmung des ICF Movement bietet die Bezeichnung

Gemeindegründungsbewegung 51 . Das erklärte Ziel des ICF ist es, im deutschsprachigen

Raum und darüber hinausneue Gemeinden zu gründen. Dazu sendet

es in der Regel Pastorenehepaare oder Teams für diese Arbeit aus, begleitet sieim

Gründungsprozess und steht ihnen finanziell sowie durch Schulungsangebote

unterstützend zur Seite. Die gegründeten Gemeinden werden, sobald sie eine

gewisse Reife und Größe gewonnen haben, zu selbstständigen Gemeinden, die

rechtlich unabhängig vom ICF Movement agieren. Gleichwohl tragen sie den

Namen des ICF und bleiben ideell mit dem ICF Movement als Dachverband

verbunden.Während das ICF Movementdie einzelnenGemeindenverbindet und

48

49

50

51

mehr. Der Unterschied zwischen Landes- und Freikirchen ist weniger, dass die Zugehörigkeit

freiwillig ist, und eher, dass die Freiwilligkeit in Landeskirchen häufiger in der

bewussten Entscheidung zum Austritt und in Freikirchen in der bewussten Entscheidung

zum Eintritt sichtbar wird. Schweyer, Freikirchliche Gottesdienste (s. Anm. 46),

26.

Zur Zugehörigkeit zum ICF siehe Kap. 9.1.

Zu Freikirchen als Protestbewegungen vgl. a. a. O., 27.

Vgl. ICF Karlsruhe,Willkommen. Kirche neu erleben, URL: https://www.icf-karlsruhe.

de/de/willkommen/ (Stand: 18.1.22).

Das ICF selbst verwendet die Bezeichnung ›Kirchengründungsbewegung‹. Dies scheint

seine Übersetzung des englischen Begriffs church planting movement zu sein. Im theologischen

Gebrauch beschreibt der Begriff ›Kirche‹ »die rechtliche, institutionelle, geschichtliche

und räumliche Gestalt« christlicher Gemeinden; »Gemeinde« bezieht sich im

Unterschied darauf auf »die personale, als Versammlung und Gemeinschaft imEvangelium

sich ereignende, lokal begrenzte Gestalt von ›Kirche‹«. Christian Möller, Gemeinde

I, in: Horst Robert Balz et al. (Hrsg.), TRE 12, Berlin/New York 1984, 317–335,

317. Dadie Gemeinschaften, die das ICF gründet, lokale Ortsgemeinden sind, wird hier

der Verständlichkeit und Präzision wegen der Begriff ›Gemeindegründungsbewegung‹

verwendet, auch wenn dies nicht dem eigenen Sprachgebrauch des ICF entspricht.


36 1. Beschreibung des Forschungsgegenstandes

deren Gründung unterstützt, sind es die Ortsgemeinden, die den vitalen Kern

des ICF ausmachen. In den Gemeinden wird sichtbar, wie Strategien umgesetzt,

Gemeindeaufbau gestaltet und Spiritualität gelebt wird. Will man die Bewegung

ICF erfassen, müssen deshalb die Gemeinden des ICF und ihre Angehörigen

untersucht werden. Deshalb stehen die Gemeinden des ICF auch in dieser Forschungsarbeit

im Zentrum. Indem Denken und Handeln innerhalb der Gemeinden

untersucht wird, können Aussagen über die Bewegung getroffen werden.

Das ICF ist eine stetig wachsende internationale Bewegung, sodass der

Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit auf doppelte Weise eingegrenzt werden

muss, um der Untersuchung des Phänomens gerechtwerden zu können. Die erste

Eingrenzung ist geografischer Natur. Da sich das ICF Movementüber 13 Länder

erstreckt, würde die Untersuchung der gesamten Bewegung den Rahmen dieser

Arbeit sprengen. Die Forschungsarbeit beschränkt sich deshalb auf den deutschen

Kontext. 52 Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist das ICF Movement,

wie es sich in Deutschland beobachtenlässt. Bei den empirischen Studien werden

deshalb nur ICF-Gemeinden aus Deutschland berücksichtigt. Aussagen, die über

das ICF Movement ansich getroffen werden und sich auf den Dachverband beziehen,

gehen jedoch auch ein Stück weit über den deutschen Kontext hinaus.

Dennoch bildet der deutsche Kontext immer wieder den Fokus und Bezugsrahmen

dieser Arbeit.

Die zweite Eingrenzung betrifftdie zeitliche Dimension.DaBewegungenstets

einem Wandel unterliegen, kann ihre Erforschung lediglich eine Momentaufnahme

darstellen. Dies gilt auch für die Untersuchung des ICF Movement. Die

Ergebnisse dieser Arbeit beschränken sich auf den Forschungszeitraum von

2020 bis 2023. Das ICF wird in dieser Arbeit so dargestellt, wie es sich während

dieses Zeitraums in Deutschland erfassen ließ. Das betrifft sowohl die einzelnen

Gemeinden des ICF, die in den Studien erfasst werden konnten, als auch die

Gestalt, Struktur, Zielsetzung, Strategie, Theologie und Spiritualität, die die Bewegung

ausmachen. Dass sich das ICF nach Abschluss dieser Arbeit weiterentwickeln

und verändern wird, ist zu erwarten. Bereits während des Forschungszeitraums

ließ sich beobachten, dass weitere Gemeinden des ICF

gegründet, 53 neue Positionspapiere veröffentlicht und neue Strukturen ge-

52

53

Auch wenn die Entwicklungen des ICF in der Schweiz für die Gesamtbewegung von

Bedeutung sind, ist der explizite Blick auf den deutschen Raum hilfreich, um einer

Reduktion des ICF auf seine erste und größte Gemeinde in Zürich entgegenzuwirken und

das Phänomen für den deutschen Kontext angemessen zu beschreiben.

Bis zum Ende des Forschungszeitraums kamen beispielsweise Gemeindegründungen

des ICF in den Städten Darmstadt, Offenburg, Starnberg, Tuttlingen und Wetzlar hinzu,

die bei der quantitativen Studie, die im Jahr 2020 durchgeführt wurde, nicht erfasst

wurden, weil sie zum damaligen Zeitpunkt noch nicht existierten.


1.4 Terminologische Grundlegungen 37

schaffen wurden. Trotz dieser Beschränkung stellt die Gegenwartsanalyse des

ICF einen großen Gewinn für die Forschung dar. Sie schult den Blick, neue religiöse

Phänomene wahrzunehmen und lehrt diese einzuordnen. Darüber hinaus

bietet sie einen Vergleichspunkt für spätere Studien, umEntwicklungen zu

untersuchen.

1.4 Terminologische Grundlegungen

Die Bezeichnung ICF steht als Abkürzung für den Namen ›International Christian

Fellowship‹ und wird in dieser Arbeit häufig verwendet. Allerdings muss die

Bezeichnung mit Sorgfalt verwendet werden, da sie in eine gewisse Unschärfe

enthält. In der Praxisgibt es keine einheitliche Sprachregelung, die den Gebrauch

der Abkürzung bestimmt. Selbst innerhalb der ICF-Bewegung wird die Abkürzung

manchmal als Bezeichnung für die gesamte Bewegung verwendet, andere

Male für den eingetragenen Verein ICF Movement oder als Bezeichnung für

einzelne Ortsgemeinden, die der Bewegung angehören. Um Unklarheiten entgegenzuwirken,

werden Begriffe und Abkürzungen für diese Arbeit wie folgt

definiert: Der Begriff ICF Movement beschreibt einen eingetragenen Verein, der

das Ziel verfolgt, Gemeinden zugründen, zu stärken und miteinander zu verbinden.Eshandelt

sich dabei um den Dachverband,der alle Gemeinden, dieder

Bewegung angehören, umschließt. Die ausformulierte Bezeichnung ICF Movement

wird in dieser Arbeit dort verwendet, wo es entweder um spezifische Aspekte

geht, die den Verein betreffen (wie z. B. um dessenStrukturen),oder wo der

Verein in Abgrenzung zu lokalen Gemeinden des ICF genannt wird (wie z. B.

wenn es um das Verhältnis zwischen Ortsgemeinden des ICF und dem Dachverband

geht). An anderen Stellen kann das ICF Movementindieser Arbeit durch

ICF abgekürzt werden. Dabei ist dann nicht nur der Dachverband als Organisation,

sondern vielmehr die gesamte Bewegung gemeint. Da die Gemeinden das

Herzstück der Bewegung darstellen, sind vieleAussagen, die über die Bewegung

an sich getroffen werden, immer gleichzeitig auch auf die Ortsgemeinden bezogen.

54 An den Stellen, an denenesspeziell um die Ortsgemeinden des ICF und

nicht um die Bewegung ansich geht, wird die Bezeichnung Gemeinden des ICF

oder ICF-Gemeinden verwendet. Wo es um eine einzelne Gemeinde des ICF geht,

wird diese mit Namen genannt (z. B. ICF München). Insgesamt beziehen sich

alle Aussagen über die Gemeinden des ICF in dieser Arbeit auf den deutschen

Kontext.

54

Wenn beispielweise die Rede von der Spiritualität des ICF ist, dann geht es darum, wie

Spiritualität innerhalb der Bewegung gelebt wird, was sich wiederum in den einzelnen

Gemeinden ausdrückt.


38 1. Beschreibung des Forschungsgegenstandes

Auch wenn das ICF Movementals deutschsprachige Bewegungbegonnen hat

und bis heute im deutschsprachigen Raum am stärksten vertreten ist, werden

innerhalb der Bewegung viele englische Begriffe verwendet, um zentrale Elemente

des Gemeindelebens zu benennen. So heißen beispielsweise die Gottesdienste

der Gemeinden des ICF flächendeckend Celebrations, die Hauskreise

Small Groups und die leitenden Pastoren und Pastorinnen Lead Pastors. Die

englischen Begriffe dienen innerhalb der internationalen Bewegung dazu, die

Kommunikation zu vereinfachen und die Einheit der Bewegung zustärken, indem

einheitliche Bezeichnungen über Landes- und Sprachgrenzen hinweg verwendet

werden. Umden Sprachgebrauch des ICF widerzuspiegeln, werden in

dieser Arbeit englische Begriffe nicht übersetzt, sondernbeibehalten, wo diese als

Anglizismen fest in den Sprachgebrauch des ICF integriert sind. Dies dient auch

der Präzision, da sich für einige Ausdrücke kein treffendes Äquivalent in der

deutschen Sprache finden lässt. 55 Zur Orientierung enthält diese Arbeit ein

Glossar, in dem die ICF-spezifischen Begriffe aufgelistet und erklärt sind. 56

55

56

Da die Begriffe innerhalb des Movement als Anglizismen verwendet werden, werden sie

auch in dieser Arbeit germanisiert und somit an die deutsche Groß- und Kleinschreibung

angepasst. Um das Lesen zu vereinfachen, werden englische Begriffe, die innerhalb des

ICF als Anglizismen verwendet werden, in dieser Arbeit kursiv gedruckt.

Das Glossar findet sich vorne in dieser Arbeit hinter dem Abkürzungsverzeichnis.



Mirjam Best, Dr. theol., Jahrgang 1993, studierte Evangelische

Theologie in Heidelberg, Princeton (USA), Sydney (AUS)

und Greifswald, wurde 2024 von der Universität Zürich (CH)

promoviert und arbeitet als Vikarin der badischen Landeskirche

in Konstanz.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische

Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Cover: makena plangrafik, Leipzig

Satz: 3w+p, Rimpar

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe, Bad Langensalza

ISBN Print 978-3-374-07812-7 // eISBN (PDF) 978-3-374-07813-4

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