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Edgar Thaidigsmann: Gesehen werden und sehen (Leseprobe)

Das Buch Gesehen werden und sehen bietet Elemente einer theologischen Sehschule. Den Leitfaden bildet Psalm 36, 10b „In deinem Licht sehen wir das Licht.“ Theologisches Nachdenken hat sich im 20. Jahrhundert besonders Gottes Wort zugewandt und es auch im Blick auf menschliches Sprachhandeln bedacht. Wenig beachtet wird in der Theologie bis heute das Sehhandeln Gottes und der Menschen. Im Horizont biblischer Texte und Perspektiven erkundet das Buch göttliches und menschliches Sehhandeln und bedenkt es in Bezug auf ausgewählte theologische, philosophische, psychologische und literarische Texte wie auch im Hinblick auf Fotografie und Bild.

Das Buch Gesehen werden und sehen bietet Elemente einer theologischen Sehschule. Den Leitfaden bildet Psalm 36, 10b „In deinem Licht sehen wir das Licht.“ Theologisches Nachdenken hat sich im 20. Jahrhundert besonders Gottes Wort zugewandt und es auch im Blick auf menschliches Sprachhandeln bedacht. Wenig beachtet wird in der Theologie bis heute das Sehhandeln Gottes und der Menschen. Im Horizont biblischer Texte und Perspektiven erkundet das Buch göttliches und menschliches Sehhandeln und bedenkt es in Bezug auf ausgewählte theologische, philosophische, psychologische und literarische Texte wie auch im Hinblick auf Fotografie und Bild.

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Edgar Thaidigsmann

Gesehen werden

und sehen

Elemente einer theologischen Sehschule



Vorwort

Diese kleine theologische Sehschule verknüpft biblische Perspektiven

und systematisch-theologische Reflexionen mit dem

Blick auf Sehereignisse, die keine religiöse oder theologische

Intention haben. Diese kleine Sehschule folgt dabei Ps 36,10b:

„… und in deinem Licht sehen wir das Licht“.

Die ‚Theologie des Wortes‘ ist im frühen zwanzigsten Jahrhundert

aus der Abkehr von einer Theologie entstanden, die ihre

Sache mit Schleiermacher am unmittelbaren menschlichen

Selbstgefühl und Selbstbewusstsein auslegte oder mit Ritschl im

Horizont der Ethik. Zunehmend hat dann die ‚Theologie des

Wortes Gottes‘, die bei Karl Barth aus seiner Krisis-Theologie und

in der an Luther orientierten Theologie im Gefolge der sogenannten

Luther-Renaissance entstand, ihre Aufmerksamkeit und

ihr Nachdenken auch der Sprache zugewendet. Dabei wurde die

Verkündigung des Wortes Gottes als Sprachereignis und Sprachhandlung

in den Blick genommen und bedacht. Achtet man auf

die biblischen Zeugnisse, so zeigt sich, dass Gottes Handeln

durch sein Sehen und An-Sehen vor und zusammen mit dem

Reden zu Menschen und durch Menschen elementare Bedeutung

zukommt.

Die hier vorgelegten Interpretationen und Reflexionen

gehen, nach den beiden einleitenden Kapiteln, Gottes Sehhandeln

nach, jeweils ausgehend von einem biblischen Text. Sie

spüren dem Licht nach, das in diesen biblischen Texten auf Menschen

und ihre Welt fällt, sie ins Licht rückt und ihnen Ansehen

verleiht oder nimmt. Bezogen werden die biblischen und syste-

5


Vorwort

matisch-theologischen Überlegungen immer wieder auf philosophische

Einsichten und auch auf soziologische und psychologische

Erkenntnisse und Thesen, um sie auf der Linie von

Ps 36,10b: „… in deinem Licht sehen wir das Licht“, theologisch zu

bedenken, begleitet auch von der Interpretation poetischer, bildnerischer

oder fotografischer Sehereignisse.

Johannes von Lüpke, Gottfried Class und Günter Thomas

danke ich dafür, dass sie mich zur Veröffentlichung des Manuskripts

ermutigt haben, Oswald Bayer für die Jahre theologischen

Austauschs. Gedacht sei an dieser Stelle auch des Theologen Hans

Joachim Iwand, dessen fragmentarisch gebliebenes Werk mit seinen

eindringlichen theologischen Perspektiven und seinem weiten

Horizont mir in meiner theologischen Existenz viele Impulse

gegeben hat.

Das Buch widme ich meiner Frau Ursula und unseren beiden

Töchtern Katrin und Karoline.

Edgar Thaidigsmann

Schwäbisch Hall, 2. Juli 2024

6


Inhalt

I Einleitendes ........................................................................ 13

II Annäherungen ...................................................................... 19

„Utopie der Erkenntnis“ .................................................................. 19

Zeigen und Sehen .............................................................................. 20

Sehen, Hören, Erkennen .................................................................... 21

Gott sehen? ......................................................................................... 23

Vom ‚Ich‘ zum ‚Mich‘ ........................................................................ 25

Gesehen werden wollen ................................................................... 27

Theologische Wahrnehmung des ‚Mich‘ bei Luther .................. 29

Sehen bei den Griechen und in Israel ............................................ 32

Der Mensch: animal rationale, Hirte des Seins oder

Hüter der Sinneswahrnehmungen? .......................................... 34

Theologie des Wortes und das Sehen ............................................. 37

Die ‚Wie‘- Frage als Frage des Geistes ............................................ 39

Zur Aufgabe einer theologischen Sehschule ................................... 40

Licht und Leben – zu Ps 36,10 ............................................................ 43

„… in deinem Licht sehen wir das Licht“ – Ps 36,10b in

der Theologie Karl Barths ......................................................... 46

Licht der Aufklärung ......................................................................... 49

Von der „profanen Erleuchtung“ zur Erleuchtung

des Profanen ................................................................................ 52

III „Und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,1–2,4a) ...... 55

Prosahymnus ...................................................................................... 55

Gutes im fremden Land? ................................................................. 58

Vom Sehen der Metaphysik und vom Sehenlassen der Sprache 60

Vom Erscheinungsraum des Lichts und vom Unterscheiden ............. 62

7


Inhalt

Transzendentale Beerbung Gottes? .............................................. 64

Sprache der Schöpfung? ................................................................... 65

Entzauberung und das Verlangen nach Verzauberung ........... 67

Zur Dialektik des Schönen .............................................................. 69

Schauen ............................................................................................... 71

Weltanschauung? ............................................................................. 72

IV Aufgetane Augen (Gen 3) .............................................. 76

Scham und Verbergen ...................................................................... 76

Der Mensch ‚im Angesicht von‘ ..................................................... 80

Der bekleidete Mensch und die Kultur ........................................ 83

Zur Überwindung von Scham bei Nietzsche ............................. 84

Scham bei Paulus .............................................................................. 88

V

Erfahrung des Heiligen und Gottes Sehen

und Hören (Ex 3) ............................................................... 90

Neugier und Widerfahrnis ............................................................. 90

Das Heilige und die Vernunft ........................................................ 95

Gottes Sehen, Hören und Erkennen ............................................. 97

Zur Erfahrung von Kunst und Religion ...................................... 100

VI Gott sehen? (Ex 33) ............................................................ 103

Gott von Angesicht zu Angesicht sehen wollen ......................... 103

Das Angesicht der Macht ................................................................ 105

Gesicht ohne Blick – Jawlenskys „Meditation auf

Goldgrund“ ................................................................................. 107

Vom Nichtsehen Gottes und vom Hintennach-Sehen ............. 108

Vom Hintennach-Sehen und Vorwärtsgehen ............................ 114

Führergestalten hinterhersehen (Bonhoeffer) ........................... 117

Das nicht sichtbare Angesicht in der Psychoanalyse ................ 121

Vorsehung bei Lessing ..................................................................... 123

Die Rückseite Gottes und die Theologie (Luther) ...................... 130

Hingegebenes Schauen. Rückenbilder von C. D. Friedrich ....... 134

Mensch sein im ‚Angesicht von‘ .................................................... 137

Hinterher sehend werden. Zur Tragik von Handeln ................ 139

8


Inhalt

VII Der Gott, der mich sieht (Gen 16) ............................ 143

„Du bist ein Gott, der mich sieht“ (Hagar) .................................. 143

Theologische Rationalisierung der Hagar-Geschichte (Gen 21) 147

Morandi und „der Brunnen des Lebendigen, der

mich sieht“ .................................................................................. 148

Jakob und das dunkle und freundliche Angesicht Gottes ......... 150

„Freundlich sein“ (Bertolt Brecht) ................................................. 151

VIII Gottes Sehen in die Tiefe ................................................ 157

Gottes und der Menschen Sehen in Luthers Auslegung

des Magnificat ............................................................................ 157

Luther zu den „übersichtigen Augen“ der Menschen .............. 160

Anthropologische Aspekte zum Sehen in Luthers

Auslegung des Magnificat ....................................................... 161

Die „übersichtigen Augen“ und das Problem

ideologischen Denkens ............................................................. 165

IX

X

„Was ich sah unter der Sonne“ – Skeptischer

Blick auf das Ganze (Kohelet) .................................... 169

Vergeblichkeit ................................................................................... 169

Erfahrung, Vertrauen und Skepsis ................................................ 172

Selbstbewusste Absagen an Gott: Voltaire, Nietzsche, Camus 174

Das leuchtende Angesicht Gottes im

aaronitischen Segen (Num 6,24–26)........................ 179

Gesicht und Blick .............................................................................. 179

Zum aaronitischen Segen ................................................................ 180

Der internalisierte Blick bei Freud und Erikson ........................ 182

Der Einbruch des „Antlitzes“ ins Ich bei Lévinas ...................... 186

XI Der Blick vom Nebo (Dtn 34) ........................................ 191

Erinnerte Zukunft ............................................................................ 191

Erfüllte Verheißung? Bonhoeffers Gedicht „Der Tod des Mose“ 193

Utopisch-visionäre Selbsttäuschung – Fausts Ende .................. 196

Bonhoeffer zum „Sehvermögen der Vernunft“ .......................... 199

9


Inhalt

XII

„Keine Gestalt, die uns gefallen hätte“

(Jes 53,2b) .............................................................................. 203

„Keine Gestalt noch Schöne“ .......................................................... 203

Tragische Blindheit? ........................................................................ 209

Überwindung des Tragischen durch Selbstermächtigung? .... 212

„Dummheit“ als Verblendung (Bonhoeffer) .............................. 215

Heilig, schön, gut und wahr – Max Weber zu

den Werteordnungen ............................................................... 219

Vom Schönen bei Luther und Barth ............................................. 222

Sichtbar machen – Aspekte von Walker Evans Fotografie ........ 227

XIII „Sehet und merket’s nicht“ (Jes 6,9; Mk 4,12) ....... 231

Sehen und doch nicht erkennen, hören und doch nicht

verstehen ..................................................................................... 231

„Wenn aber dein Auge böse ist …“ ................................................. 233

Das dichtende Sehen der Menschen bei Nietzsche .................... 234

XIV

Vom Nicht-Sehen und vom Sehen

des Auferweckten ............................................................. 237

Wiederholen – wieder holen – sich einstellen ............................. 237

Von der Ordnung der Dinge, oder: Wie vom Auferwecken

erzählen? (Mk 16,1–8/Joh 20,11–18) .......................................... 239

„Unschärfe“ ........................................................................................ 243

Historisch-kritischer Blick und zukunftsweisendes Gedächtnis 245

„Zuletzt von allen ist er auch von mir […] gesehen worden“

(1Kor 15,8) ..................................................................................... 248

Von Epiphanien und Offenbarungen .......................................... 251

XV „Ihr werdet meine Zeugen sein“ (Apg 1,8) .......... 254

Der Zeuge und das Problem der Glaubwürdigkeit ................... 254

Die biblischen Zeugnisse bei Lessing ........................................... 255

Der Zeuge bei Kierkegaard .............................................................. 260

Zeigen, Lehrer sein, Zeuge werden ............................................... 264

Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit – Zeugenschaft

bei Bonhoeffer ............................................................................ 266

10


Inhalt

„Stumme Zeugen böser Taten“ (Bonhoeffer) .............................. 269

Überlebende Zeugen von Auschwitz ............................................ 272

Zeuge und Zeugnis bei Paul Celan ................................................ 276

Journalisten als Zeugen der Gesellschaft ..................................... 279

XVI

„Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns

uns, und wir sahen seine Herrlichkeit (Joh 1,14) 281

Das Wort vom Ursprung .............................. .................................. 281

Das Sprachwesen Mensch und das Mensch gewordene

Wort Gottes ................................................................................. 283

Präsenz Gottes und authentischer Zeuge .................................... 285

Wort und Wahrheit .......................................................................... 287

„Wir sahen seine Herrlichkeit“ ...................................................... 289

Dem Glanz der Schöpfung auf der Spur (Philippe Jaccottet) ... 291

Entzauberung und das Verlangen nach Verzauberung

(Max Weber) ................................................................................ 293

Mythologisches Weltbild und objektivierte Welt

(Rudolf Bultmann) .................................................................... 296

XVII „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel …“

(1Kor 13,12) ....................................................................... 299

Stückwerkerkenntnis ....................................................................... 299

In den Spiegel blicken (Harald Hartung) ..................................... 302

Liebe im „beschädigten Leben“ (Adorno) ..................................... 304

XVIII Vom „Schema dieser Welt“ (Röm 12,2) .................. 307

„Schema dieser Welt“ und Schemata des Sehens und Denkens 307

Identitätsfrage und Rechtfertigung ............................................. 311

XIX Licht und Leben ................................................................. 314

Leben im Strebezusammenhang ................................................... 314

XX Sehhandeln, Sprachhandeln und Urteilen ........ 318

Literaturverzeichnis ................................................................. 324

11



I Einleitendes

Dieses Buch befasst sich mit der biblischen und theologischen

Bedeutung des Sehens im Verhältnis von Gottes Sehen

und dem Sehen von Menschen im Spannungsbogen von Sehen

und Gesehen-Werden. Die Theologie hat sich im zwanzigsten

Jahrhundert sowohl von Karl Barth als auch von Luther

her in verschiedenen Ausprägungen als Theologie des

Wortes Gottes entfaltet. Dabei trat besonders in der an Luther

orientierten Theologie die theologische Bedeutung der Sprache

und des Sprechens in den Blick. Der Ausdruck ‚Sprachhandlung‘,

von Oswald Bayer theologisch ausdrücklich in Gebrauch

genommen, bringt dies auf den Begriff. Doch Sprachhandlungen

sind biblisch immer auch mit Sehhandlungen

verknüpft. Durch Sehen, Gesehen-Werden und Ansehen geschieht

etwas an dem und mit dem, was gesehen und angesehen

wird, wie auch mit dem Sehenden selbst. Das gilt schon

für die einfache Wahrnehmung, die nicht nur rezeptiv, sondern

auch aktiv tätig ist.

Handeln durch Sehen und An-Sehen verleiht Gewicht und

Bedeutung oder nimmt sie. Sehhandeln ist implizit oder explizit

zumeist mit einem latenten oder expliziten Urteil verknüpft.

Das ist bedeutsam in einer Welt, in der Sehen und

Gesehen-Werden seit je eine elementar wichtige und Gewicht

verleihende Rolle spielen, die sich in einer Zeit der Dominanz

von Seh-Medien verstärkt. Wer, wie eine aktuelle Floskel lautet,

„weg vom Fenster“ des Gesehen-Werdens ist, welchem

auch immer, der läuft Gefahr, als nicht existent zu gelten.

13


I Einleitendes

Die Theologie hat es mit dem Handeln Gottes durch sein

Wort zu tun und zugleich mit seinem Handeln durch sein Sehen

und Ansehen. Gottes Sehen, Wahrnehmen und Reden ist

immer auf die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit der Menschen

und der Welt gerichtet. Mit seinem Sehhandeln und Sprachhandeln

greift er in die Menschenwelt ein, rückt ins Licht,

verleiht Gewicht und Ansehen, doch beides kann er auch

nehmen.

Das vorliegende Buch will einen Beitrag zu einer theologischen

Sehschule und Wahrnehmungslehre leisten. Ausgangspunkt

eines jeden Kapitels ist die Auslegung eines biblischen

Textes auf das in ihm zum Ausdruck kommende

besondere Sehen und Ansehen hin. Reflexionen zu philosophischen

und anderen Texte, auch zu Dichtung und Bildern

folgen. Leitfaden dieser Reflexionen sind Erhellungen, die

sich aus der Interpretation der biblischen Texte ergeben und

Impulse zu einer theologischen Sehschule geben. Sie betreffen

das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung, Erkenntnis

und Anerkenntnis.

Die vorgelegten Beispiele und Interpretationen von Sehhandlungen

und Seherfahrungen werden in Gestalt einer

Stückwerksystematik dargestellt. Sie setzt darauf, dass sich

wesentliche Gesichtspunkte einer theologischen Sehschule

aus dem Hinsehen und Hinhören auf biblische Texte als

Zeugnissen von Sehereignissen in der geschichtlichen Begegnung

von Gott, Mensch und Welt ergeben. Daraus ergeben

sich Erhellungen und Reflexionen hinsichtlich der Art und

Weise menschlichen Sehens und Ansehens. So wenig sich die

ereignishafte Beziehung von Gott und Mensch, wie sie biblisch

bezeugt wird, sich aus einem Begriff Gottes noch aus einem

Begriff des Menschen ableiten lässt, so wenig auch das

Sehen Gottes und das Gesehen-Werden durch ihn. Dies kann

nicht unter einen allgemeinen Begriff von Wahrnehmung

14


I Einleitendes

und dessen erkenntnistheoretische Explikation subsumiert

werden, soll das Besondere dessen, was die biblischen Zeugnisse

über das Sehen von Gott und Menschen sagen, nicht

vorweg eingeebnet werden. Zu diesem Besonderen gehören

die sinnenhafte Ausrichtung des Sehens Gottes und der Menschen

und ihre enge Verbindung mit dem Erkennen.

Die aus der Fülle biblischer Zeugnisse ausgewählten Texte

bilden zusammen mit anderen Texten eine Konstellation,

in der sich das Sehen und Erkennen Gottes und der Menschen

jeweils in einer besonderen Weise abzeichnet. Die Form der

Konstellation will der Lebendigkeit und Beweglichkeit des Sehens

im Verhältnis von Gott und Mensch hinsichtlich seines

‚Wer‘, ‚Was‘ und ‚Wie‘ in Raum und Zeit entsprechen. Der biblisch

bezeugte Gott ist ein lebendiger Gott, der lebendigen

Menschen in Raum und Zeit begegnet, nicht nur durch sein

Wort, sondern oft zuvorkommend durch sein Sehen und Ansehen,

durch sein Öffnen und auch durch sein Verblenden der

Augen.

Sehen und Erkennen sind biblisch eng miteinander verknüpft.

Dabei streift das Erkennen die sinnliche Wahrnehmung

und Erfahrung nicht ab, als müsste einem überhaupt

erst Sehen und Hören vergehen, um zu Erkenntnis zu kommen.

Doch erst in einem bestimmten Licht führt das sinnliche

Sehen und Gesehen-Werden im biblischen Horizont zu

wirklicher Erkenntnis. Leitfaden für die Stückwerksystematik

der vorgelegten Elemente einer theologischen Sehschule

ist Ps 36,10b: „… und in deinem Licht sehen wir das Licht.“

Das „und“ weist darauf hin, dass der Zusammenhang mit

Ps 36,10a nicht vergessen werden darf, wo es heißt: „Denn bei

dir ist die Quelle des Lebens“. Leben und Licht gehören biblisch

in besonderer Weise zusammen. „Leben“ im theologisch

qualifizierten Sinn macht hell und lässt sehen und

erkennen, zugleich zeigen sich in dem Licht, das von der

15


I Einleitendes

„Quelle des Lebens“ ausgeht, auch Dunkelheit und Finsternis.

Sehen und Hören sind nicht die einzigen Weisen sinnlich

vermittelter Wahrnehmung, doch sind sie in je besonderer

Weise auf Kommunikation ausgerichtet und haben es in

besonderer Weise mit Erfahrungen zwischen Verschiedenen

zu tun. Inneres und Äußeres, subjektive Befindlichkeit und

äußere Gegebenheiten und Ereignisse treffen in einer Erfahrung

bestätigend oder widersprechend, ermutigend oder enttäuschend

zusammen, so in besonderer Weise auch in der

Seherfahrung. Für die Art und Weise menschlicher Wahrnehmung

durch Sehen und Hören spielt eine gewichtige Rolle,

was Menschen schon gesehen, gehört, erfahren und erkannt

zu haben meinen. In diesem teils bewussten, teils unbewussten

Horizont werden neue Wahrnehmungen als Erfahrungen

verstehend verarbeitet oder auch abgeblendet und abgespalten.

Die sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung arbeitet

von außen her am inneren Wahrnehmungs- und Erkenntnishorizont

der menschlichen Subjektivität und diese am

äußeren. Von der Subjektivität bearbeitete Wahrnehmungen

und Erfahrungen treten wiederum in Wort und Blick nach

außen in das Geflecht von Beziehungen aus Blicken und Worten,

Urteilen und Handlungen, die den Beziehungsraum von

Welt bilden.

Die Sprache der Bibel ist durchdrungen von Ausdrücken

und Bildern sinnlicher Wahrnehmung und Erfahrung. Sie

zeigt ein Verständnis von Wirklichkeit an, in dem sinnliche

Wahrnehmung und intelligibles Erkennen nicht in der Weise

wie in der griechischen Tradition auseinandertreten. So geht

es auch beim biblischen Bilderverbot nicht um die Befreiung

der Beziehung zu Gott von sinnlichen Wahrnehmungen.

Gott selbst ist nicht in ein Bild zu fassen, doch die Übertragung

sinnlicher Wahrnehmungen auf ihn und sein Verhält-

16


I Einleitendes

nis zu den Menschen zeigt ihn als ansehende und anredende

Wirklichkeit, durch die die menschliche Wahrnehmung von

Wirklichkeit bei ihrer Wahrheit genommen wird und von

daher in Bewegung kommt. „Die Augen der Sehenden werden

nicht mehr blind sein, und die Ohren der Hörenden werden

aufmerken“ (Jes 32,3).

Im Gefolge der Aufklärung wird der Glaube an Gott als

durch bloß subjektive, sinnlich befangene „Vorstellungen“

bestimmt charakterisiert. Der bei Hegel, Feuerbach und Marx

religionskritisch bearbeitete Begriff der sinnlichen Vorstellung

in Religion und Glaube kann in der Theologie dazu führen,

die biblischen Zeugnisse und die Sprache der Verkündigung

und des Glaubens aller sinnenhaften Erfahrungsbezüge

zu entkleiden. Doch der ‚Gegenstand‘, mit dem es die

Theologie zu tun hat, kann nicht auf die glaubende Subjektivität

reduziert werden, wird sie doch selbst zum ‚Gegenstand‘

bzw. Gegenüber des sie ansehenden und anredenden Gottes.

Die Möglichkeit, dass in Religion und Glaube das vorstellende

Subjekt selbst vor etwas gestellt und einer Erfahrung

ausgesetzt wird, die es sich nicht vorstellt, die aber für sein

Menschsein wesentlich ist, darf nicht abgeblendet werden.

Wenn nicht anders vermerkt, werden die biblischen Texte

nach der Lutherübersetzung in der Revision von 2017 zitiert.

Beigezogen werden die Zürcher Bibel (2007) und die Bibel in

gerechter Sprache (2006). Zur Klärung wird immer wieder

auch auf den hebräischen und griechischen Urtext der Bibel

zurückgegriffen.

17


Edgar Thaidigsmann, Dr. theol., Jahrgang

1941, studierte Evangelische Theologie

in Tübingen, Heidelberg und Zürich.

Nach Promotion und Habilitation

war er Privatdozent an den Universitäten

Bochum und dann Tübingen, zugleich

Pfarrer der Evangelischen Landeskirche

in Württemberg und Studieninspektor

am Evangelischen Stift in

Tü bingen. 1990 wurde er Professor für

Evangelische Theologie und Religionspädagogik

an der Pädagogischen Hochschule

in Weingarten.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH . Leipzig

Printed in Germany

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ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere

für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die

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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig

Satz: ARW-Satz, Leipzig

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

ISBN 978-3-374-07668-0 // eISBN (PDF) 978-3-374-07669-7

www.eva-leipzig.de

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