Edgar Thaidigsmann: Gesehen werden und sehen (Leseprobe)
Das Buch Gesehen werden und sehen bietet Elemente einer theologischen Sehschule. Den Leitfaden bildet Psalm 36, 10b „In deinem Licht sehen wir das Licht.“ Theologisches Nachdenken hat sich im 20. Jahrhundert besonders Gottes Wort zugewandt und es auch im Blick auf menschliches Sprachhandeln bedacht. Wenig beachtet wird in der Theologie bis heute das Sehhandeln Gottes und der Menschen. Im Horizont biblischer Texte und Perspektiven erkundet das Buch göttliches und menschliches Sehhandeln und bedenkt es in Bezug auf ausgewählte theologische, philosophische, psychologische und literarische Texte wie auch im Hinblick auf Fotografie und Bild.
Das Buch Gesehen werden und sehen bietet Elemente einer theologischen Sehschule. Den Leitfaden bildet Psalm 36, 10b „In deinem Licht sehen wir das Licht.“ Theologisches Nachdenken hat sich im 20. Jahrhundert besonders Gottes Wort zugewandt und es auch im Blick auf menschliches Sprachhandeln bedacht. Wenig beachtet wird in der Theologie bis heute das Sehhandeln Gottes und der Menschen. Im Horizont biblischer Texte und Perspektiven erkundet das Buch göttliches und menschliches Sehhandeln und bedenkt es in Bezug auf ausgewählte theologische, philosophische, psychologische und literarische Texte wie auch im Hinblick auf Fotografie und Bild.
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Edgar Thaidigsmann
Gesehen werden
und sehen
Elemente einer theologischen Sehschule
Vorwort
Diese kleine theologische Sehschule verknüpft biblische Perspektiven
und systematisch-theologische Reflexionen mit dem
Blick auf Sehereignisse, die keine religiöse oder theologische
Intention haben. Diese kleine Sehschule folgt dabei Ps 36,10b:
„… und in deinem Licht sehen wir das Licht“.
Die ‚Theologie des Wortes‘ ist im frühen zwanzigsten Jahrhundert
aus der Abkehr von einer Theologie entstanden, die ihre
Sache mit Schleiermacher am unmittelbaren menschlichen
Selbstgefühl und Selbstbewusstsein auslegte oder mit Ritschl im
Horizont der Ethik. Zunehmend hat dann die ‚Theologie des
Wortes Gottes‘, die bei Karl Barth aus seiner Krisis-Theologie und
in der an Luther orientierten Theologie im Gefolge der sogenannten
Luther-Renaissance entstand, ihre Aufmerksamkeit und
ihr Nachdenken auch der Sprache zugewendet. Dabei wurde die
Verkündigung des Wortes Gottes als Sprachereignis und Sprachhandlung
in den Blick genommen und bedacht. Achtet man auf
die biblischen Zeugnisse, so zeigt sich, dass Gottes Handeln
durch sein Sehen und An-Sehen vor und zusammen mit dem
Reden zu Menschen und durch Menschen elementare Bedeutung
zukommt.
Die hier vorgelegten Interpretationen und Reflexionen
gehen, nach den beiden einleitenden Kapiteln, Gottes Sehhandeln
nach, jeweils ausgehend von einem biblischen Text. Sie
spüren dem Licht nach, das in diesen biblischen Texten auf Menschen
und ihre Welt fällt, sie ins Licht rückt und ihnen Ansehen
verleiht oder nimmt. Bezogen werden die biblischen und syste-
5
Vorwort
matisch-theologischen Überlegungen immer wieder auf philosophische
Einsichten und auch auf soziologische und psychologische
Erkenntnisse und Thesen, um sie auf der Linie von
Ps 36,10b: „… in deinem Licht sehen wir das Licht“, theologisch zu
bedenken, begleitet auch von der Interpretation poetischer, bildnerischer
oder fotografischer Sehereignisse.
Johannes von Lüpke, Gottfried Class und Günter Thomas
danke ich dafür, dass sie mich zur Veröffentlichung des Manuskripts
ermutigt haben, Oswald Bayer für die Jahre theologischen
Austauschs. Gedacht sei an dieser Stelle auch des Theologen Hans
Joachim Iwand, dessen fragmentarisch gebliebenes Werk mit seinen
eindringlichen theologischen Perspektiven und seinem weiten
Horizont mir in meiner theologischen Existenz viele Impulse
gegeben hat.
Das Buch widme ich meiner Frau Ursula und unseren beiden
Töchtern Katrin und Karoline.
Edgar Thaidigsmann
Schwäbisch Hall, 2. Juli 2024
6
Inhalt
I Einleitendes ........................................................................ 13
II Annäherungen ...................................................................... 19
„Utopie der Erkenntnis“ .................................................................. 19
Zeigen und Sehen .............................................................................. 20
Sehen, Hören, Erkennen .................................................................... 21
Gott sehen? ......................................................................................... 23
Vom ‚Ich‘ zum ‚Mich‘ ........................................................................ 25
Gesehen werden wollen ................................................................... 27
Theologische Wahrnehmung des ‚Mich‘ bei Luther .................. 29
Sehen bei den Griechen und in Israel ............................................ 32
Der Mensch: animal rationale, Hirte des Seins oder
Hüter der Sinneswahrnehmungen? .......................................... 34
Theologie des Wortes und das Sehen ............................................. 37
Die ‚Wie‘- Frage als Frage des Geistes ............................................ 39
Zur Aufgabe einer theologischen Sehschule ................................... 40
Licht und Leben – zu Ps 36,10 ............................................................ 43
„… in deinem Licht sehen wir das Licht“ – Ps 36,10b in
der Theologie Karl Barths ......................................................... 46
Licht der Aufklärung ......................................................................... 49
Von der „profanen Erleuchtung“ zur Erleuchtung
des Profanen ................................................................................ 52
III „Und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,1–2,4a) ...... 55
Prosahymnus ...................................................................................... 55
Gutes im fremden Land? ................................................................. 58
Vom Sehen der Metaphysik und vom Sehenlassen der Sprache 60
Vom Erscheinungsraum des Lichts und vom Unterscheiden ............. 62
7
Inhalt
Transzendentale Beerbung Gottes? .............................................. 64
Sprache der Schöpfung? ................................................................... 65
Entzauberung und das Verlangen nach Verzauberung ........... 67
Zur Dialektik des Schönen .............................................................. 69
Schauen ............................................................................................... 71
Weltanschauung? ............................................................................. 72
IV Aufgetane Augen (Gen 3) .............................................. 76
Scham und Verbergen ...................................................................... 76
Der Mensch ‚im Angesicht von‘ ..................................................... 80
Der bekleidete Mensch und die Kultur ........................................ 83
Zur Überwindung von Scham bei Nietzsche ............................. 84
Scham bei Paulus .............................................................................. 88
V
Erfahrung des Heiligen und Gottes Sehen
und Hören (Ex 3) ............................................................... 90
Neugier und Widerfahrnis ............................................................. 90
Das Heilige und die Vernunft ........................................................ 95
Gottes Sehen, Hören und Erkennen ............................................. 97
Zur Erfahrung von Kunst und Religion ...................................... 100
VI Gott sehen? (Ex 33) ............................................................ 103
Gott von Angesicht zu Angesicht sehen wollen ......................... 103
Das Angesicht der Macht ................................................................ 105
Gesicht ohne Blick – Jawlenskys „Meditation auf
Goldgrund“ ................................................................................. 107
Vom Nichtsehen Gottes und vom Hintennach-Sehen ............. 108
Vom Hintennach-Sehen und Vorwärtsgehen ............................ 114
Führergestalten hinterhersehen (Bonhoeffer) ........................... 117
Das nicht sichtbare Angesicht in der Psychoanalyse ................ 121
Vorsehung bei Lessing ..................................................................... 123
Die Rückseite Gottes und die Theologie (Luther) ...................... 130
Hingegebenes Schauen. Rückenbilder von C. D. Friedrich ....... 134
Mensch sein im ‚Angesicht von‘ .................................................... 137
Hinterher sehend werden. Zur Tragik von Handeln ................ 139
8
Inhalt
VII Der Gott, der mich sieht (Gen 16) ............................ 143
„Du bist ein Gott, der mich sieht“ (Hagar) .................................. 143
Theologische Rationalisierung der Hagar-Geschichte (Gen 21) 147
Morandi und „der Brunnen des Lebendigen, der
mich sieht“ .................................................................................. 148
Jakob und das dunkle und freundliche Angesicht Gottes ......... 150
„Freundlich sein“ (Bertolt Brecht) ................................................. 151
VIII Gottes Sehen in die Tiefe ................................................ 157
Gottes und der Menschen Sehen in Luthers Auslegung
des Magnificat ............................................................................ 157
Luther zu den „übersichtigen Augen“ der Menschen .............. 160
Anthropologische Aspekte zum Sehen in Luthers
Auslegung des Magnificat ....................................................... 161
Die „übersichtigen Augen“ und das Problem
ideologischen Denkens ............................................................. 165
IX
X
„Was ich sah unter der Sonne“ – Skeptischer
Blick auf das Ganze (Kohelet) .................................... 169
Vergeblichkeit ................................................................................... 169
Erfahrung, Vertrauen und Skepsis ................................................ 172
Selbstbewusste Absagen an Gott: Voltaire, Nietzsche, Camus 174
Das leuchtende Angesicht Gottes im
aaronitischen Segen (Num 6,24–26)........................ 179
Gesicht und Blick .............................................................................. 179
Zum aaronitischen Segen ................................................................ 180
Der internalisierte Blick bei Freud und Erikson ........................ 182
Der Einbruch des „Antlitzes“ ins Ich bei Lévinas ...................... 186
XI Der Blick vom Nebo (Dtn 34) ........................................ 191
Erinnerte Zukunft ............................................................................ 191
Erfüllte Verheißung? Bonhoeffers Gedicht „Der Tod des Mose“ 193
Utopisch-visionäre Selbsttäuschung – Fausts Ende .................. 196
Bonhoeffer zum „Sehvermögen der Vernunft“ .......................... 199
9
Inhalt
XII
„Keine Gestalt, die uns gefallen hätte“
(Jes 53,2b) .............................................................................. 203
„Keine Gestalt noch Schöne“ .......................................................... 203
Tragische Blindheit? ........................................................................ 209
Überwindung des Tragischen durch Selbstermächtigung? .... 212
„Dummheit“ als Verblendung (Bonhoeffer) .............................. 215
Heilig, schön, gut und wahr – Max Weber zu
den Werteordnungen ............................................................... 219
Vom Schönen bei Luther und Barth ............................................. 222
Sichtbar machen – Aspekte von Walker Evans Fotografie ........ 227
XIII „Sehet und merket’s nicht“ (Jes 6,9; Mk 4,12) ....... 231
Sehen und doch nicht erkennen, hören und doch nicht
verstehen ..................................................................................... 231
„Wenn aber dein Auge böse ist …“ ................................................. 233
Das dichtende Sehen der Menschen bei Nietzsche .................... 234
XIV
Vom Nicht-Sehen und vom Sehen
des Auferweckten ............................................................. 237
Wiederholen – wieder holen – sich einstellen ............................. 237
Von der Ordnung der Dinge, oder: Wie vom Auferwecken
erzählen? (Mk 16,1–8/Joh 20,11–18) .......................................... 239
„Unschärfe“ ........................................................................................ 243
Historisch-kritischer Blick und zukunftsweisendes Gedächtnis 245
„Zuletzt von allen ist er auch von mir […] gesehen worden“
(1Kor 15,8) ..................................................................................... 248
Von Epiphanien und Offenbarungen .......................................... 251
XV „Ihr werdet meine Zeugen sein“ (Apg 1,8) .......... 254
Der Zeuge und das Problem der Glaubwürdigkeit ................... 254
Die biblischen Zeugnisse bei Lessing ........................................... 255
Der Zeuge bei Kierkegaard .............................................................. 260
Zeigen, Lehrer sein, Zeuge werden ............................................... 264
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit – Zeugenschaft
bei Bonhoeffer ............................................................................ 266
10
Inhalt
„Stumme Zeugen böser Taten“ (Bonhoeffer) .............................. 269
Überlebende Zeugen von Auschwitz ............................................ 272
Zeuge und Zeugnis bei Paul Celan ................................................ 276
Journalisten als Zeugen der Gesellschaft ..................................... 279
XVI
„Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns
uns, und wir sahen seine Herrlichkeit (Joh 1,14) 281
Das Wort vom Ursprung .............................. .................................. 281
Das Sprachwesen Mensch und das Mensch gewordene
Wort Gottes ................................................................................. 283
Präsenz Gottes und authentischer Zeuge .................................... 285
Wort und Wahrheit .......................................................................... 287
„Wir sahen seine Herrlichkeit“ ...................................................... 289
Dem Glanz der Schöpfung auf der Spur (Philippe Jaccottet) ... 291
Entzauberung und das Verlangen nach Verzauberung
(Max Weber) ................................................................................ 293
Mythologisches Weltbild und objektivierte Welt
(Rudolf Bultmann) .................................................................... 296
XVII „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel …“
(1Kor 13,12) ....................................................................... 299
Stückwerkerkenntnis ....................................................................... 299
In den Spiegel blicken (Harald Hartung) ..................................... 302
Liebe im „beschädigten Leben“ (Adorno) ..................................... 304
XVIII Vom „Schema dieser Welt“ (Röm 12,2) .................. 307
„Schema dieser Welt“ und Schemata des Sehens und Denkens 307
Identitätsfrage und Rechtfertigung ............................................. 311
XIX Licht und Leben ................................................................. 314
Leben im Strebezusammenhang ................................................... 314
XX Sehhandeln, Sprachhandeln und Urteilen ........ 318
Literaturverzeichnis ................................................................. 324
11
I Einleitendes
Dieses Buch befasst sich mit der biblischen und theologischen
Bedeutung des Sehens im Verhältnis von Gottes Sehen
und dem Sehen von Menschen im Spannungsbogen von Sehen
und Gesehen-Werden. Die Theologie hat sich im zwanzigsten
Jahrhundert sowohl von Karl Barth als auch von Luther
her in verschiedenen Ausprägungen als Theologie des
Wortes Gottes entfaltet. Dabei trat besonders in der an Luther
orientierten Theologie die theologische Bedeutung der Sprache
und des Sprechens in den Blick. Der Ausdruck ‚Sprachhandlung‘,
von Oswald Bayer theologisch ausdrücklich in Gebrauch
genommen, bringt dies auf den Begriff. Doch Sprachhandlungen
sind biblisch immer auch mit Sehhandlungen
verknüpft. Durch Sehen, Gesehen-Werden und Ansehen geschieht
etwas an dem und mit dem, was gesehen und angesehen
wird, wie auch mit dem Sehenden selbst. Das gilt schon
für die einfache Wahrnehmung, die nicht nur rezeptiv, sondern
auch aktiv tätig ist.
Handeln durch Sehen und An-Sehen verleiht Gewicht und
Bedeutung oder nimmt sie. Sehhandeln ist implizit oder explizit
zumeist mit einem latenten oder expliziten Urteil verknüpft.
Das ist bedeutsam in einer Welt, in der Sehen und
Gesehen-Werden seit je eine elementar wichtige und Gewicht
verleihende Rolle spielen, die sich in einer Zeit der Dominanz
von Seh-Medien verstärkt. Wer, wie eine aktuelle Floskel lautet,
„weg vom Fenster“ des Gesehen-Werdens ist, welchem
auch immer, der läuft Gefahr, als nicht existent zu gelten.
13
I Einleitendes
Die Theologie hat es mit dem Handeln Gottes durch sein
Wort zu tun und zugleich mit seinem Handeln durch sein Sehen
und Ansehen. Gottes Sehen, Wahrnehmen und Reden ist
immer auf die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit der Menschen
und der Welt gerichtet. Mit seinem Sehhandeln und Sprachhandeln
greift er in die Menschenwelt ein, rückt ins Licht,
verleiht Gewicht und Ansehen, doch beides kann er auch
nehmen.
Das vorliegende Buch will einen Beitrag zu einer theologischen
Sehschule und Wahrnehmungslehre leisten. Ausgangspunkt
eines jeden Kapitels ist die Auslegung eines biblischen
Textes auf das in ihm zum Ausdruck kommende
besondere Sehen und Ansehen hin. Reflexionen zu philosophischen
und anderen Texte, auch zu Dichtung und Bildern
folgen. Leitfaden dieser Reflexionen sind Erhellungen, die
sich aus der Interpretation der biblischen Texte ergeben und
Impulse zu einer theologischen Sehschule geben. Sie betreffen
das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung, Erkenntnis
und Anerkenntnis.
Die vorgelegten Beispiele und Interpretationen von Sehhandlungen
und Seherfahrungen werden in Gestalt einer
Stückwerksystematik dargestellt. Sie setzt darauf, dass sich
wesentliche Gesichtspunkte einer theologischen Sehschule
aus dem Hinsehen und Hinhören auf biblische Texte als
Zeugnissen von Sehereignissen in der geschichtlichen Begegnung
von Gott, Mensch und Welt ergeben. Daraus ergeben
sich Erhellungen und Reflexionen hinsichtlich der Art und
Weise menschlichen Sehens und Ansehens. So wenig sich die
ereignishafte Beziehung von Gott und Mensch, wie sie biblisch
bezeugt wird, sich aus einem Begriff Gottes noch aus einem
Begriff des Menschen ableiten lässt, so wenig auch das
Sehen Gottes und das Gesehen-Werden durch ihn. Dies kann
nicht unter einen allgemeinen Begriff von Wahrnehmung
14
I Einleitendes
und dessen erkenntnistheoretische Explikation subsumiert
werden, soll das Besondere dessen, was die biblischen Zeugnisse
über das Sehen von Gott und Menschen sagen, nicht
vorweg eingeebnet werden. Zu diesem Besonderen gehören
die sinnenhafte Ausrichtung des Sehens Gottes und der Menschen
und ihre enge Verbindung mit dem Erkennen.
Die aus der Fülle biblischer Zeugnisse ausgewählten Texte
bilden zusammen mit anderen Texten eine Konstellation,
in der sich das Sehen und Erkennen Gottes und der Menschen
jeweils in einer besonderen Weise abzeichnet. Die Form der
Konstellation will der Lebendigkeit und Beweglichkeit des Sehens
im Verhältnis von Gott und Mensch hinsichtlich seines
‚Wer‘, ‚Was‘ und ‚Wie‘ in Raum und Zeit entsprechen. Der biblisch
bezeugte Gott ist ein lebendiger Gott, der lebendigen
Menschen in Raum und Zeit begegnet, nicht nur durch sein
Wort, sondern oft zuvorkommend durch sein Sehen und Ansehen,
durch sein Öffnen und auch durch sein Verblenden der
Augen.
Sehen und Erkennen sind biblisch eng miteinander verknüpft.
Dabei streift das Erkennen die sinnliche Wahrnehmung
und Erfahrung nicht ab, als müsste einem überhaupt
erst Sehen und Hören vergehen, um zu Erkenntnis zu kommen.
Doch erst in einem bestimmten Licht führt das sinnliche
Sehen und Gesehen-Werden im biblischen Horizont zu
wirklicher Erkenntnis. Leitfaden für die Stückwerksystematik
der vorgelegten Elemente einer theologischen Sehschule
ist Ps 36,10b: „… und in deinem Licht sehen wir das Licht.“
Das „und“ weist darauf hin, dass der Zusammenhang mit
Ps 36,10a nicht vergessen werden darf, wo es heißt: „Denn bei
dir ist die Quelle des Lebens“. Leben und Licht gehören biblisch
in besonderer Weise zusammen. „Leben“ im theologisch
qualifizierten Sinn macht hell und lässt sehen und
erkennen, zugleich zeigen sich in dem Licht, das von der
15
I Einleitendes
„Quelle des Lebens“ ausgeht, auch Dunkelheit und Finsternis.
Sehen und Hören sind nicht die einzigen Weisen sinnlich
vermittelter Wahrnehmung, doch sind sie in je besonderer
Weise auf Kommunikation ausgerichtet und haben es in
besonderer Weise mit Erfahrungen zwischen Verschiedenen
zu tun. Inneres und Äußeres, subjektive Befindlichkeit und
äußere Gegebenheiten und Ereignisse treffen in einer Erfahrung
bestätigend oder widersprechend, ermutigend oder enttäuschend
zusammen, so in besonderer Weise auch in der
Seherfahrung. Für die Art und Weise menschlicher Wahrnehmung
durch Sehen und Hören spielt eine gewichtige Rolle,
was Menschen schon gesehen, gehört, erfahren und erkannt
zu haben meinen. In diesem teils bewussten, teils unbewussten
Horizont werden neue Wahrnehmungen als Erfahrungen
verstehend verarbeitet oder auch abgeblendet und abgespalten.
Die sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung arbeitet
von außen her am inneren Wahrnehmungs- und Erkenntnishorizont
der menschlichen Subjektivität und diese am
äußeren. Von der Subjektivität bearbeitete Wahrnehmungen
und Erfahrungen treten wiederum in Wort und Blick nach
außen in das Geflecht von Beziehungen aus Blicken und Worten,
Urteilen und Handlungen, die den Beziehungsraum von
Welt bilden.
Die Sprache der Bibel ist durchdrungen von Ausdrücken
und Bildern sinnlicher Wahrnehmung und Erfahrung. Sie
zeigt ein Verständnis von Wirklichkeit an, in dem sinnliche
Wahrnehmung und intelligibles Erkennen nicht in der Weise
wie in der griechischen Tradition auseinandertreten. So geht
es auch beim biblischen Bilderverbot nicht um die Befreiung
der Beziehung zu Gott von sinnlichen Wahrnehmungen.
Gott selbst ist nicht in ein Bild zu fassen, doch die Übertragung
sinnlicher Wahrnehmungen auf ihn und sein Verhält-
16
I Einleitendes
nis zu den Menschen zeigt ihn als ansehende und anredende
Wirklichkeit, durch die die menschliche Wahrnehmung von
Wirklichkeit bei ihrer Wahrheit genommen wird und von
daher in Bewegung kommt. „Die Augen der Sehenden werden
nicht mehr blind sein, und die Ohren der Hörenden werden
aufmerken“ (Jes 32,3).
Im Gefolge der Aufklärung wird der Glaube an Gott als
durch bloß subjektive, sinnlich befangene „Vorstellungen“
bestimmt charakterisiert. Der bei Hegel, Feuerbach und Marx
religionskritisch bearbeitete Begriff der sinnlichen Vorstellung
in Religion und Glaube kann in der Theologie dazu führen,
die biblischen Zeugnisse und die Sprache der Verkündigung
und des Glaubens aller sinnenhaften Erfahrungsbezüge
zu entkleiden. Doch der ‚Gegenstand‘, mit dem es die
Theologie zu tun hat, kann nicht auf die glaubende Subjektivität
reduziert werden, wird sie doch selbst zum ‚Gegenstand‘
bzw. Gegenüber des sie ansehenden und anredenden Gottes.
Die Möglichkeit, dass in Religion und Glaube das vorstellende
Subjekt selbst vor etwas gestellt und einer Erfahrung
ausgesetzt wird, die es sich nicht vorstellt, die aber für sein
Menschsein wesentlich ist, darf nicht abgeblendet werden.
Wenn nicht anders vermerkt, werden die biblischen Texte
nach der Lutherübersetzung in der Revision von 2017 zitiert.
Beigezogen werden die Zürcher Bibel (2007) und die Bibel in
gerechter Sprache (2006). Zur Klärung wird immer wieder
auch auf den hebräischen und griechischen Urtext der Bibel
zurückgegriffen.
17
Edgar Thaidigsmann, Dr. theol., Jahrgang
1941, studierte Evangelische Theologie
in Tübingen, Heidelberg und Zürich.
Nach Promotion und Habilitation
war er Privatdozent an den Universitäten
Bochum und dann Tübingen, zugleich
Pfarrer der Evangelischen Landeskirche
in Württemberg und Studieninspektor
am Evangelischen Stift in
Tü bingen. 1990 wurde er Professor für
Evangelische Theologie und Religionspädagogik
an der Pädagogischen Hochschule
in Weingarten.
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Satz: ARW-Satz, Leipzig
Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-374-07668-0 // eISBN (PDF) 978-3-374-07669-7
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