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Walter Göggelmann (hrsg. v. Bernhard Mutschler): Diakonie und Erinnerung (Leseprobe)

Die Erinnerungskultur eines großen süddeutschen Diakoniewerks in ihrer ganzen Vielfalt bildet die verbindende Thematik von vier Einzelstudien. Der Untersuchungszeitraum reicht vom Beginn der diakonischen Arbeit in Gustav Werners Bruderhaus (1840) bis zur Fusionierung mit einem anderen Diakoniewerk (2004) zur heutigen BruderhausDiakonie. Die diakoniegeschichtlichen Fragestellungen umfassen Anlässe und Bedingungen der Traditionsbildung um Personen und Ereignisse, um Trägergruppen und Entwicklungen samt deren Einflüsse auf das Werksgeschehen. Sie bündeln sich in der diakonisch-theologischen Frage nach den Wirkungen solcher Ressourcen auf Leitbilder, Entscheidungen, Organisations- und Personalstrukturen im Werk und auf deren »diakonische« Ergiebigkeit für dessen kontinuierliche zeitgemäße Weiterentwicklung.

Die Erinnerungskultur eines großen süddeutschen Diakoniewerks in ihrer ganzen Vielfalt bildet die verbindende Thematik von vier Einzelstudien. Der Untersuchungszeitraum reicht vom Beginn der diakonischen Arbeit in Gustav Werners Bruderhaus (1840) bis zur Fusionierung mit einem anderen Diakoniewerk (2004) zur heutigen BruderhausDiakonie. Die diakoniegeschichtlichen Fragestellungen umfassen Anlässe und Bedingungen der Traditionsbildung um Personen und Ereignisse, um Trägergruppen und Entwicklungen samt deren Einflüsse auf das Werksgeschehen. Sie bündeln sich in der diakonisch-theologischen Frage nach den Wirkungen solcher Ressourcen auf Leitbilder, Entscheidungen, Organisations- und Personalstrukturen im Werk und auf deren »diakonische« Ergiebigkeit für dessen kontinuierliche zeitgemäße Weiterentwicklung.

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Walter Göggelmann

Diakonie und

Erinnerung

Erinnerungskultur in

Gustav Werners Bruderhaus

VDWI 70



Geleitwort

Die Forschungen von Dr. Walter Göggelmann zur Erinnerungskultur in Gustav

Werners Bruderhaus werden hier als Monographie vorgelegt. Im Spiegel von

Diakonie und Erinnerung wird damit eine einzigartige Geschichte der Diakonie

im Bruderhaus erkennbar. Göggelmanns Forschungen zur Erinnerungskultur

beginnen bei Gustav Werners diakonischer Aufbauarbeit. Der Theologe Gustav

Werner hatte im 19. Jahrhundert in Württemberg mit zahlreichen Helferinnen

und Helfern diakonische Einrichtungen für bedürftige Kinder und Erwachsene

aufgebaut. Mit viel Begeisterung und Engagement, aber mit wenig Geld --- aus

heutiger Sicht durchgängig unterfinanziert --- entstehen innerhalb weniger Jahrzehnte

vielfältige diakonische Einrichtungen und Hilfen, die an vielen Orten im

Sozialraum, in Städten und auf Dörfern, rund 1800 Personen zusammenführen

und bedarfsorientiert versorgen.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter halten diese Entwicklung in zahlreichen

Publikationen schriftlich fest --- der Beginn der Erinnerungskultur. Bald schon

wird Gustav Werner „Vater‘‘ Werner genannt. Viele Frauen gelangen in seinem

Werk in Leitungspositionen und wirken dort teilweise über Jahrzehnte hinweg.

Als der schwäbische Franziskus 1887 stirbt, trägt das Organisationsprinzip einer

Hausgenossenschaft erneut um Jahrzehnte weiter: Der letzte Eintritt einer Hausgenossin

war 1908; die letzte Hausgenossin, Marie Gestrich, starb 1963. Der

Tradition der Hausgenossenschaft und der Frauentradition gebühren darum

besondere Aufmerksamkeit im vorliegenden Buch zur diakonischen Erinnerungskultur.

Die Fragen zu Diakonie und Erinnerung sind weit gespannt: Wer erinnert

sich und andere an was, wann, wo, wie (in welchen Formen), warum und wozu?

Auch im bewussten Nicht-Erinnern werden Fragen um Macht, Einfluss und Prägung

eines Diakoniewerks verhandelt, meist sogar subtiler. Zu bestimmten Zeiten,

so ist im Buch zu lesen, werden --- neben einem allmählichen Vergessen ---

regelrechte Vergessenskulturen gelebt. Sowohl Erinnern als auch Vergessen

prägen Werte und Haltungen innerhalb eines Diakoniewerks.

Erinnern und Vergessen, Aufbruch und Erstarrung, Interesse und Gewohnheit

wechseln sich nicht einfach ab, sondern gehören in einigen Fällen eng zu-


6

Geleitwort

sammen. Und doch ist es ein weiter Weg von festgeprägten Muster- und Meistererzählungen

aus der Frühzeit des Werks bis --- über hundert Jahre später --- zur

diakonischen Arbeit an Themen wie Euthanasie in Form einer Broschüre, die

Verdrängtes und fast Vergessenes dem Vergessen entreißt, Erinnerung lebendig

hält und im respektvollen Opfergedenken mündet. Die Euthanasiebroschüre

(1990, neu aufgelegt 2009) wird zur Grundlage für die Heimgeschichte (2013)

der Gustav Werner Stiftung, heute BruderhausDiakonie. Ein weiteres Ergebnis

ist eine permanente Leitbilddiskussion und -interpretation. Sichtbar wird eine

anwaltschaftliche Diakonie als feste Grundlage des diakonischen Selbstverständnisses

im Bruderhaus.

Nahezu alle Medien und Sozialformen, alle Erzählungen, Bilder, Veröffentlichungen,

Gedenktafeln, Gedenktage, Orte, Feste, Anekdoten, Biografien, mündliche

Traditionen, Schulungen und sogar Andachten und Gottesdienste, können

absichtsvoll mit gestalteten Erinnerungen gefüllt werden. Damit prägen sie diakonisch.

Denn Fragen nach der eigenen Geschichte und dem kollektiven Gedächtnis

einer Gemeinschaft sind zugleich Fragen nach der eigenen organisationalen

Identität. Diakonische Identität wird auf diese Weise in der Gegenwart

erlebbar und für die Zukunft vorbereitet. Erinnerung ruft Formen der Aneignung

hervor und fördert dadurch eine qualifizierte diakonische Identitätsbildung im

Blick auf Werte und Haltungen.

Diakonische Identität ist parteilich aufgrund ihrer Perspektive von „unten‘‘

her, von Menschen mit Unterstützungsbedarf und von denjenigen, die übergangen

und zu Opfern gemacht wurden: „Unsere Lehrmeister sind die Schwächsten

und Bedürftigsten. Sie lehren uns Liebe‘‘, so ist unten im Buch zu lesen (S. 97).

Mit dieser Sichtweise, bildlich gesprochen: mit dieser Brille auf das Weltgeschehen,

bleibt Diakonie auf dem von Gustav und seiner Ehefrau Albertine Werner

gewiesenen Weg, „die Hoffnung auf das Reich Gottes zur Tat werden zu lassen‘‘

(S. 282). Alle diese Zusammenhänge, Mechanismen, Perspektiven, Entwicklungen

und Haltungen führt Walter Göggelmann überzeugend und in faszinierender

Weise vor Augen.

Mit den bereits veröffentlichten Bänden „Dem Reich Gottes Raum schaffen‘‘

(2007), „Ein Haus dem Reich Gottes bauen‘‘ (2007), „Gerechtigkeit und Frieden

schaffen‘‘ (2009), „Der ‚Fall Gustav Werner‘‘‘ (2012), „Frauen in Gustav Werners

Bruderhaus gestalten Diakonie‘‘ (2015) und nun „Diakonie und Erinnerung,

Erinnerungskultur in Gustav Werners Bruderhaus‘‘ wächst das monographische

Œuvre von Walter Göggelmann zu Gustav Werner und zur Geschichte des Bruderhauses

auf sechs Bände an. Entstanden ist ein einzigartiges Werk zu Gustav

Werners Diakonie und zur Geschichte des Bruderhauses. Es ist eine wunderbare

Einladung zum Lesen und Entdecken.

Der Gesamtvorstand der BruderhausDiakonie begrüßt die neue Monographie

von Dr. Walter Göggelmann sehr und dankt ihm herzlich dafür. Ein herzlicher

Dank an Sie, lieber Herr Göggelmann.

Reutlingen, 26. Juli 2024

Bernhard Mutschler


Vorwort

Die eigene Geschichte birgt in sich immer Chancen und Potentiale, aber sie hat

ebenso auch ihre Gefahren und Grenzen in sich. Das haben diakonische Initiativen

und Aktivitäten mit allen anderen Zweckunternehmungen gemeinsam. Es

kommt darauf an, wer diese Möglichkeiten wann, wie und wozu zu entdecken,

zu aktivieren, zu nutzen oder auch zu instrumentalisieren weiß.

Das Medium dieser Geschichte ist die Erinnerung mit ihren bewussten, aber

auch mit ihren weniger zugänglichen, oft emotional befrachteten Schichten und

Tiefenschichten. Darin finden sich zum Beispiel Geschichten, Erzählungen, Legenden

oder Bilder, die Erlebtes und Gewohntes, aber auch Gewünschtes und

Eingebildetes abbilden. Solche Erinnerungen sind oft ständige Begleiterinnen

von Individuen, noch mehr aber von Gemeinschaften. Gemeinsam Erinnertes

lässt diese zu einem Wir zusammenwachsen und konzentriert dieses Wir zu

einer kollektiven Identität. Darin ist eine Auskunft zur Frage nach dem Woher

enthalten, ebenso aber auch nach dem Warum und dem Wozu --- und damit oft

auch eine zielgerichtete Zukunftsperspektive.

Die Kraft dieses Wir liegt in gemeinsam Erlebtem, besonders in Schlüsselerlebnissen

und -erfahrungen, deren Erhaltung durch Wiederholung zu Ritualen

gerinnt. Daraus entstehen einzelne Traditionen und eine Gesamttradition. Solche

Traditionen enthalten viele Möglichkeiten der Verknüpfung zum offenen Ganzen

einer Erinnerungskultur.

Nun verstehen sich diese wenigen Gesichtspunkte nicht als Stoffsammlung

für eine sozialwissenschaftliche Theorie der Erinnerung oder gar von Erinnerungskultur.

Sie sind ausschließlich gewonnen an Beobachtungen an der Geschichte

eines einzigen Diakoniewerks, das, in der »Gründerzeit« der Diakonie

im 19. Jahrhundert entstanden, inzwischen auf eine kontinuierliche Entwicklungsgeschichte

von über 180 Jahren zurückblicken kann: als BruderhausDiakonie

seit 2004, als Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus seit 1881, zuvor als

Werner-Werk oder auch Wernersche Anstalten bezeichnet, benannt nach ihrem

Protagonisten Gustav Werner. Dieses Werk dient als empirisch-diakoniegeschichtliche

Basis für die folgenden Überlegungen und Untersuchungen.


8

Vorwort

Gerade weil der Weg dieses Werks in einer gewissen Distanz zur Inneren

Mission als dem Mainstream der Diakonie verläuft, gibt es --- eben durch diesen

ganz eigenen Weg --- den Blick auf die eigene Geschichte so ungefiltert frei: auf

Hoffnungs- und Motivationskräfte, auf Personen, Gruppen, Gemeinschaften, auf

Schlüsselereignisse und -erlebnisse, auf Ansprüche und Machtverhältnisse, auf

temporäre und auf strukturbedingte Dauerkonflikte. Mit dem allem bietet sich

ein Blick auf Hoffnungen und Gestaltungskräfte, die --- auch abrufbar --- in den

werkseigenen Traditionen als den Konstituenten der eigenen Identität liegen.

Diese Beobachtungen und Überlegungen öffnen einen neuen diakoniegeschichtlichen

Blick auf ein Werk, der sicher mutatis mutandis auch neue Zugänge

zur Geschichte anderer Diakoniewerke öffnen hilft. Aber sie eignen sich

auch als empirische Grundlage für die von Norbert Friedrich aufgeworfene

Grundsatzfrage: »Gibt es so etwas wie eine diakonische Erinnerungskultur«?

Die folgenden Untersuchungen mit ihren vorwiegend empirisch-diakoniegeschichtlichen

Themenschwerpunkten verstehen sich deshalb als Zuarbeit zu

einer doppelten Fragestellung:

a) Welchen Weg nimmt die Erinnerungskultur, und welches Gewicht hat sie

in der Entwicklung dieses Diakoniewerks in seinen verschiedenen Phasen? Hinter

dieser Frage steht jedoch eine viel grundsätzlichere Frage.

b) Wie beeinflussen Impulse aus dieser Erinnerungskultur anstehende diakonische

Entscheidungen zu Strukturen, Konzeptionen, Leitbildern, Entscheidungen?

Diese Einflüsse werden konkret bis hin zu Standort- oder Personalfragen.

Impulse einer bestimmten Erinnerungskultur wirken auf das Diakoniewerk

selbst zurück.

Dieser Blick auf die Geschichte des von dem Theologen Gustav Werner

(1809---1887) gegründeten Werks, deren Anfänge bis ins Jahr 1840 zurückreichen,

verbindet den Blick von der Außenposition aus der Perspektive des

Diakoniehistorikers mit der engagierten Innenperspektive, die anwaltschaftlich

Partei nimmt für die anvertrauten Menschen und die ermutigen möchte zur

Nutzung der in der eigenen Geschichte liegenden Potentiale.

Die folgenden Überlegungen wollen sich diesem Ziel mit vier unabhängig

voneinander entstandenen eigenständigen Untersuchungen nähern. Sie sind

thematisch --- jeweils verschieden --- im Einzugsbereich und im Wirkungsbereich

dieser doppelten Fragestellung angesiedelt. Damit können sie Werksgeschichte

der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus für die Frage nach einer »diakonischen

Erinnerungskultur« öffnen und fruchtbar machen.

Kurzer Gang durch das Buch

In einem ersten, einleitenden Teil soll der Begriff der »diakonischen Erinnerungskultur«

und seine Verwendung bei den folgenden Überlegungen geklärt

werden. Im Anschluss daran werden die Koordinaten für die Fragen nach einer

Erinnerungskultur im Bereich der Diakonie und einer diakonischen Erinnerungskultur

näher lokalisiert.


Vorwort 9

Die erste und umfangreichste der Studien zeichnet über ein ganzes Jahrhundert

den Weg der Erinnerungskultur im Werner-Werk nach. Bei den verschiedenen

Stationen treten Anlässe und Methoden, Zwecke und Zielsetzungen sowie

Konsequenzen des Erinnerns für diakonische Entscheidungen --- je in ihrem eigenen

Kontext --- ins Blickfeld. Diese Studie bildet den Schwerpunkt der folgenden

Untersuchungen im Blick auf die Ergiebigkeit im Sinne der oben genannten doppelten

Fragestellung, aber auch im Blick auf dabei berührte methodische Fragen.

Die zweite, eine Art Milieustudie, beschreibt den Eintritt einer Geschwisterfamilie

aus sechs leiblichen Schwestern in die diakonische Gemeinschaft um Gustav

Werner, ihren Weg in einflussreiche Positionen im Werk sowie ihren maßgeblichen

Einfluss auf wichtige Entscheidungen und Vollzüge in der Werksgeschichte.

Daraus entstehen Gewohnheiten und Traditionen, die wichtige Beiträge zur Identität

des Werks und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten. So ist es kein

Zufall, dass zwei aus diesem Schwesternkreis auch zu den bis heute wichtigsten

Traditionsbildnerinnen des Werner-Werks werden: Sie leben einerseits das zu

Erinnernde als selbst geleistete Aufbauarbeit, sorgen andererseits dann aber auch

für den systematischen Aufbau von Traditionssträngen. Dieses gezielt gewonnene,

festgehaltene und bewahrte Erinnerungswissen nutzen sie mit demselben Engagement

für Einflussnahmen und Machtansprüche im Werk.

Doch die beiden Traditionsbildnerinnen haben nicht nur die Macht des Erinnerns

entdeckt, sondern --- ebenso wirksam --- auch die des Vergessens. Diese

wissen sie gezielt einzusetzen ausgerechnet gegen ein Ehepaar, das sich um das

Werk in unvergleichlicher Weise verdient gemacht hat. Diesem Ehepaar sucht

die dritte Studie gerecht(er) zu werden: Der Kaufmann Ferdinand Fenchel

(1823---1911) ist für den Aufbau des wichtigsten diakonisch-experimentellen

Außenpostens im Schwarzwald verantwortlich und an der Rettung des Werks in

seiner schwersten Krise (1861ff) maßgeblich beteiligt. Seine Frau Sophie Fenchel

geb. Schopf (1832---1904), vertritt das Werk auf unvergleichliche Weise im

deutsch-französischen Krieg 1870/71. Beide sind nach schweren Gewissenskonflikten

1877 im Einvernehmen mit dem Gründervater aus dem Bruderhaus ausgeschieden.

In der Folge werden beide von den Traditionsbildnerinnen beim Aufund

Ausbau der Traditionsstränge übergangen, sozusagen »einfach vergessen«.

Dieses demonstrative »Vergessen« durch die Merkh-Schwestern wirkt aber

nachhaltig auf die gesamte weitere Traditionsbildung des Werks.

Die ihnen gewidmete Untersuchung möchte Ferdinand und Sophie Fenchel

nicht nur in die Erinnerung des Werner-Werks zurückholen und ihnen so die

Gerechtigkeit vor der Diakoniegeschichte widerfahren lassen. Sie sind ein ebenso

eindrucksvolles wie warnendes Beispiel dafür, wie Erinnern und Vergessen

instrumentalisiert werden können als Machtinstrumente zur Erreichung werkspolitischer

Ziele.

Eine vierte und letzte Studie ist einer ganz anderen Art von Erinnerungskultur

gewidmet: Eine Arbeitsgruppe aus Mitarbeitenden macht sich in den achtziger

Jahren des letzten Jahrhunderts auf die Suche nach den Opfern von Euthanasie

und Sterilisation im Werk, um den bisher Vergessenen wenigstens ihre


10

Vorwort

Namen zurückzugeben und ihnen so das erreichbare Minimum an Gerechtigkeit

widerfahren lassen und dabei ein Stück unheilvolle Geschichte des Werks aufzuarbeiten.

Bereits bei ihren ersten Schritten auf diesem Weg sieht sich die Arbeitsgruppe

mit diakonischen Grundsatzfragen konfrontiert, die vieles im Werk

in Frage stellen und die den bereits in Gang befindlichen Prozess der Veränderung

entscheidend beeinflussen: Sie erinnern das Werk nicht nur an seine

Grundsätze, sondern ermutigen seine Entscheidungsträger zu überfälligen Neustrukturierungen.

Auf diese Weise geben sie dem Werk ein Stück von seiner

ursprünglichen Bestimmung zurück.

Jede dieser Studien ist auch einzeln lesbar. Daher ergeben sich in Überschneidungsbereichen

auch inhaltliche Überschneidungen.

Ein zusammenfassender Schlussteil soll bei der Ortsbestimmung von Erinnerung

und Traditionsbildung an die damit verbundenen Chancen und Grenzen

in den Abläufen eines Diakoniewerks erinnern. Dabei wird zugleich die Frage

nach den Möglichkeiten zu einer --- im präzisen Sinn des Wortes --- diakonischen

Erinnerungskultur neu gestellt, bei der sich Erinnerungskultur durch ihre diakonische

Zielsetzung definieren lässt.

Dankesworte

Wo Erträge der Erinnerung bis in den Alltag eines Diakoniewerks hereinreichen,

schließt sich der Dank wie von selbst an:

Prof. Dr. theol. habil. Bernhard Mutschler, als Theologischer Vorstand in beiden

Zugängen zur BruderhausDiakonie zuhause, hat mich zu einer zusammenfassenden

Veröffentlichung der folgenden vier Studien ermutigt, mir zahlreiche

Impulse, Ratschläge und Materialien mit auf den Weg gegeben und sich um das

Manuskript bis zur Drucklegung angenommen. Ihm als Gesprächspartner und

Begleiter gilt mein größter Dank. Andrea Anstädt, Sabine Steininger und Susanne

Zolling haben mir die Zugänge zu den Archivalien der BruderhausDiakonie

geöffnet und mir aus ihren Begegnungen mit der Geschichte des Bruderhauses

wertvolle Anregungen gegeben. Auch Ihnen habe ich sehr zu danken.

Die Stadtarchive Reutlingen und Heilbronn haben mir den Zugang zu wertvollen

Archivalien verschafft. Das Stadtarchiv Reutlingen hat mich bei der Verarbeitung

älterer Forschungsergebnisse unterstützt. Auch ihnen gilt mein Dank.

Heidi Stelzer verdanke ich die Zugänglichkeit zum Nachlass Fenchel, der Staatsgalerie

Stuttgart die Erlaubnis zum Abdruck des Bildes »Scheunenpredigt«.

Die Alfred Jäger Stiftung für Diakonie in St. Gallen, der Evangelische Oberkirchenrat

in Stuttgart und die Calwer Verlag Stiftung haben durch ihre Zuschüsse

--- alle nicht zum ersten Mal --- die Drucklegung ermöglicht. Ihnen danke

ich für ihr Vertrauen und finanzielle Mittel.

Den Herren Professoren Dr. Johannes Eurich und Dr. Thorsten Moos danke

ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen

Instituts der Universität Heidelberg.

Reutlingen, im Juni 2024

Walter Göggelmann


Inhalt

Abbildungsverzeichnis ............................................................................................ 15

Erster Teil

Diakonische Erinnerungskultur

1 Diakonische Erinnerungskultur? Fragestellungen ..................................... 19

1.1 Der Anmarschweg ................................................................................... 19

1.2 Diakonische Erinnerungskultur --- Fragen ........................................... 20

1.2.1 Zum »Sitz im Leben« .................................................................... 20

1.2.2 Zu Formen und Ausprägungen .................................................. 22

1.2.3 Leitfragen ....................................................................................... 24

Zweiter Teil

Die Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus und ihre

Erinnerungen

2 Lebendige Geschichte im Diakoniewerk Gustav Werners ......................... 29

2.1 Fixpunkt aller Erinnerung(en): »Vater Werner« und sein Haus ..... 32

2.2 »Vaters« Erbe(n) und die Anfänge der Traditionsbildung ................ 36

2.2.1 Nane Merckh ................................................................................. 36

2.2.1 Paul Wurster --- der Biograf (1860---1923) ................................ 45

2.3 Erinnerung und Traditionsbildung »zwischen den Zeiten« ............. 56

2.3.1 Der Epigone Rudolf Kantlehner --- ein Gustav Werner

redivivus? ...................................................................................... 57

2.3.2 Abgesang und Bilanz der Traditionsbildung:

Lotte Merkh und Gotthold Kneile .............................................. 60

2.4 Erinnerung --- Instrumentalisierung des Erbes?

Alfred Krockenberger (1871---1936) ..................................................... 68

2.5 Erinnerung --- missbraucht oder in Schutz genommen?

Die »Vater Werner«-Tradition im »Dritten Reich« .............................. 71

2.6 Diakoniegeschichte statt Heilsgeschichte: Paul Krauß ..................... 73

2.6.1 Paul Krauß, der engagierte Werner-Forscher ......................... 74

2.6.2 Entmystifizierung der Tradition ................................................ 75

2.6.3 Erinnerungsarbeit --- ganz neu? ................................................. 77

2.6.3.1 »Vater Werner« .............................................................. 77

2.6.3.2 Seine »Hausgenossen« ................................................. 78

2.6.3.3 Die »Tochter-Anstalten« ............................................... 79

2.6.3.4 Die Fabriken .................................................................. 79

2.6.3.5 Eine »Theologie« Gustav Werners? ............................ 80


12

Inhalt

2.6.4 Paul Krauß und seine Erinnerungsarbeit ................................ 82

2.6.4.1 Vorgaben und Auswirkungen .................................... 82

2.6.4.2 Verdienste und Chancen ............................................. 83

2.6.4.3 Ergebnisse --- Fragen --- Konsequenzen ..................... 84

2.6.4.4 Und »Gott im Maschinensaal«? .................................. 86

2.6.4.5 Fazit................................................................................. 86

2.7 Das Projekt »Biografie« Gustav Werners: Karlheinz Bartel

(*1951) ...................................................................................................... 88

2.7.1 Die Aufgabenstellung der Biografie .......................................... 88

2.7.2 Entscheidungen und Folgen ...................................................... 91

2.7.3 Erinnerung an Gustav Werner --- neu interpretiert? .............. 94

2.7.4 Ein breiterer Neuansatz notwendig .......................................... 95

2.8 Erinnerungskultur in neuer Sachlichkeit: Gerhard K. Schäfers

(*1952) Quellensammlung .................................................................... 96

2.9 Erinnerung ganz anders: Die »Arbeitsgruppe Euthanasie und

Sterilisation« im Bruderhaus ................................................................. 98

2.9.1 Erinnerung und Verantwortung ................................................ 98

2.9.2 Erinnerung und Verpflichtung ................................................ 100

2.9.3 Eine ganz neue Erinnerungskultur ........................................ 101

2.10 Untergegangene Traditionen: Die Hausgenossen- und die

Frauentradition ...................................................................................... 101

2.10.1 »Das Weib im Dienst der Liebe«: Gustav Werner ................. 103

2.10.2 Gelebte Frauentradition und bewusste

Traditionsbildung: Nane und Lotte Merkh ............................ 105

2.10.3 Erinnerungskultur --- Wirkungen und Wirksamkeiten ....... 109

2.11 Feste, Feiern, Bilder --- Erinnerungen, die mitgehen ....................... 111

2.11.1 Funktion und Wirkungen ......................................................... 111

2.11.2 Feste und Erinnerungskultur .................................................. 114

2.11.2.1 Das neue Gottesvolk feiert … .................................... 114

2.11.2.2 … seine heilsgeschichtlichen Ereignisse ................ 120

2.11.3 Die Macht der Bilder ................................................................. 123

2.11.3.1 Bildlegenden --- Legendenbilder? Robert Heck ...... 123

2.11.3.2 »Vater« --- Bild(er) und Personenkult ....................... 126

2.11.3.3 Robert Hecks Bild und »der Geist Vater

Werners« ...................................................................... 129

3 Eine Geschwisterfamilie zwischen Initialdiakonie und

Traditionsbildung

Die Merkh-Schwestern in Gustav Werners Bruderhaus .......................... 133

3.1 Einleitung ................................................................................................ 133

3.2 Von seiner Hoffnung angesteckt......................................................... 136

3.3 In seinem Haus beheimatet ................................................................. 138

3.3.1 Die Hausgenossenschaft als »Leib Christi«: die

geistliche Identität ..................................................................... 138


Inhalt 13

3.3.2 Das »ganze Haus«, die Großfamilie: die soziale Form ......... 139

3.3.3 Frauen im Dienst der Liebe ...................................................... 141

3.3.4 Eine Reutlinger Geschwisterfamilie »geht ins

Bruderhaus« ................................................................................ 146

3.3.4.1 Im Bruderhaus kann man diese Frauen

brauchen ....................................................................... 148

3.3.4.2 Dahin gehören sie im Bruderhaus ........................... 150

3.3.4.3 Die sieben Schwestern ............................................... 151

3.4 Von Leistungen und Herrschaft --- Starke Frauen entwickeln

das Bruderhaus ...................................................................................... 157

3.4.1 Nane und Lotte Merkh --- Die »Töchter« setzen Impulse ..... 159

3.4.2 ... definieren, was »Bruderhaus« ist ........................................ 164

3.4.3 ... und markieren dabei Konfliktpotentiale und Grenzen ... 165

3.5 Konflikte um »Herrschaft« --- nur von »Frauenzimmern«? .............. 166

3.5.1 Da ist Konfliktstoff ..................................................................... 166

3.5.2 ... und die Fronten ...................................................................... 168

3.5.3 Der Konflikt nimmt seinen Lauf .............................................. 169

3.6 Gelebte Hoffnung --- gelebte Diakonie --- gelebte Tradition ---

und dann? ................................................................................................ 172

4 Eine Familie zwischen Initialdiakonie und Vergessen: Ferdinand

und Sophie Fenchel ......................................................................................... 177

4.1 Einleitung ................................................................................................ 177

4.2 Bausteine zu einer diakonischen Familienbiografie ....................... 180

4.3 »... dass in unserer Sache alles enthalten ist, was wir jetzt

bedürfen ...« ............................................................................................. 185

4.3.1 Das Reich Gottes kommt mit Macht ....................................... 186

4.3.2 Das »Haus Werner« und die Heilsgeschichte ........................ 188

4.3.3 »Soweit wir uns hergeben zu dem Werk...« ---

Frömmigkeitsprofil und diakonische Motivation ................. 189

4.3.4 Anfechtungen ............................................................................. 194

4.3.5 Gottes Gericht und/oder göttliche Pädagogik? ..................... 198

4.4 Ferdinand und Sophie Fenchel und »der Vater« .............................. 201

4.4.1 Der »Sohn« und der »Vater« ..................................................... 202

4.4.2 Der »Vater« und der »Sohn« ..................................................... 204

4.4.3 Es bleibt in der »Familie« .......................................................... 206

4.5 Wenn einer von der Fahne geht? ........................................................ 208

4.5.1 Fragen und Bedenken ............................................................... 210

4.5.2 Das Bruderhaus --- Gottes Haus --- »Vaters« Haus? ................ 212

4.5.3 Zwänge und Zweifel .................................................................. 213

4.5.4 »Der tiefste Riss meines Lebens« ............................................ 216

4.5.5 Die Bruchstelle ........................................................................... 219

4.5.6 Nachfragen .................................................................................. 222

4.6 Aus dem Bruderhaus-Gedächtnis getilgt ........................................... 226


14

Inhalt

4.7 Diakonische Existenz an einer Schnittstelle .................................... 231

4.7.1 Die Hoffnungsgrundlage als Systemfrage ............................. 232

4.7.2 ... als Strukturfrage .................................................................... 234

4.7.3 Die Trennung .............................................................................. 235

4.7.4 Wo aber steht die »andere Seite«? ........................................... 236

4.7.5 Traditionsbildung und Werkszukunft .................................... 238

5 »Für uns gibt es kein unwertes Leben!« ...................................................... 241

Die »Arbeitsgruppe Euthanasie und Sterilisation« in der Gustav

Werner Stiftung zum Bruderhaus in Reutlingen ...................................... 241

5.1 Einleitung ................................................................................................ 241

5.1.1 Diakoniegeschichte --- ganz anders? ....................................... 241

5.1.2 Quellen, Erkenntniswege und Arbeitsweisen....................... 243

5.2 Achtziger Jahre --- Zeiten des Umbruchs ............................................ 245

5.3 Die Arbeitsgruppe »Euthanasie« und Sterilisation .......................... 248

5.3.1 Personen und Weichenstellungen .......................................... 248

5.3.2 Personen und Diakoniewerk .................................................... 251

5.3.3 Arbeitsschritte und Entscheidungen --- Blicke in die

Werkstatt ..................................................................................... 254

5.4 Nicht vergessen ist mehr! Die Ergebnisse ........................................ 261

5.4.1 Orte und Zeichen ....................................................................... 262

5.4.2 Veranstaltungen und Öffentlichkeit ....................................... 265

5.4.3 Nachhaltigkeit sichern --- nach innen und nach außen ....... 266

5.4.4 Diakonische Standortbestimmung.......................................... 267

5.5 Ein neuer Auftrag oder ein Dauerauftrag? ........................................ 270

5.6 Diakonische Erinnerungskultur und Diakonie an einem

Diakoniewerk ......................................................................................... 275

Dritter Teil

Diakonische Erinnerungskultur

6 Diakonie --- Erinnerung --- Erinnerungskultur ............................................ 281

6.1 Elemente einer Erinnerungskultur..................................................... 282

6.1.1 … wirken in die Breite ............................................................... 282

6.1.2 … aber auch in die Tiefe ............................................................ 285

6.1.3 … und müssen allesamt erhalten bleiben .............................. 286

6.1.4 Erinnerung --- Aneignung --- Gegenwart .................................. 287

6.1.5 Wer und was bei der Traditionsbildung überlebt ................ 288

6.2 Traditionsbildung ist auf Korrektur angewiesen ............................. 290

6.3 Diakonische Erinnerungskultur? ........................................................ 292

Nachwort .................................................................................................................. 294

Literaturverzeichnis............................................................................................... 295

Personenregister .................................................................................................... 299


Erster Teil

Diakonische Erinnerungskultur



1 Diakonische Erinnerungskultur?

Fragestellungen

1.1 Der Anmarschweg

Erinnerungskultur ist viel mehr als das, was wissenschaftlich professionelle

Historikerarbeit zu Personen, Zuständen, Ereignissen, Entwicklungen, Urteilen

usw. als gesichertes Wissen von der Vergangenheit oder Gegenwart zu bewahren

gibt.

Jan Assmann nähert sich diesem komplexen Phänomen 1988 mit der Bezeichnung

»kollektives Gedächtnis« und will damit »alles Wissen, das im spezifischen

Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert,« 1

zusammengefasst wissen. Dieses »kollektive Gedächtnis« als Niederschlag von

kollektiven Erfahrungen trägt die Merkmale von Unorganisiertheit 2

(ähnlich

diesem ersten Versuch einer begrifflichen Erfassung). Schließlich will dieses

kollektive Gedächtnis nicht Vergangenheit gewissenhaft archivieren und beurteilen,

im Gegenteil: Es will für die Gegenwart aneignen und Bedeutungen für

das gegenwärtige Alltagsleben erschließen. Als »kulturelles Gedächtnis« --- die

Notwendigkeit zur begrifflichen Präzisierung zeichnet sich auch an dieser Stelle

ab --- unterliegt es sozialen Bedingungen. Letztlich stellt Erinnerungskultur einer

bestimmten Gruppe (Erinnerungsgemeinschaft) durch die Vergangenheit legitimierte

Verbindlichkeiten zur Verfügung 3 .

Christoph Cornelißen steuert mit dem Stichwort »Erinnerungskultur(en)«

2012 zu der Diskussion eine festere Begrifflichkeit und den Impuls zu einer

»disziplinübergreifenden Erforschung kollektiver Gedächtnisformen in Deutschland«

bei. Dass historische Ereignisse in einem solchen lebendigen Prozess auch

recht »ahistorische« Züge annehmen können, liegt im Gegenwartsbezug ihrer

1

Vgl. Kollektives Gedächtnis und Kulturelle Identität, in: ders./Tonio Hölscher (Hgg.),

Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M., 1988, 9.

2

Vgl. ebd., 10ff; 14.

3

Vgl. ders., in: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in

frühen Hochkulturen, München 2013, 35.


20

1 Diakonische Erinnerungskultur? Fragestellungen

Perspektiven begründet. Als Beispiel für einen solchen Perspektivenwechsel

beobachtet er den seit Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts in

Deutschland in Gang befindlichen Wandel der Geschichtsbetrachtung von der

Helden-Perspektive zur Opfer-Perspektive 4 .

Norbert Friedrich schließlich wirft die Frage nach den Möglichkeiten einer

spezifisch diakonischen Erinnerungskultur auf: Was bedeutet für die Diakonie ---

zum Beispiel in ihren großen Diakoniewerken mit einer Tradition von fast zweihundert

Jahren --- Gegenwartsbezug von Geschichte und »funktionaler Gebrauch

der Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke, für den Gebrauch einer historisch

begründeten Identität«? 5

Bereits die Gründungsgeschichten und die Gründerlegenden,

aber auch die Erinnerungsorte und die an ihnen haftenden Symbole und

Rituale --- kurz: aller materielle und immaterielle Stoff der Erinnerung, der sich

in einer solchen komplexen Geschichte angesammelt und entwickelt hat --- bieten

reichlich Stoff; Stoff allerdings, der der Frage nach einer »diakonischen Erinnerungskultur«

mehr Fragen als Antworten aufgibt.

Spätestens die seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts auch in

den großen Diakoniewerken in Gang gekommene Aufarbeitung der Holocaust-

Verbrechen versieht den von Norbert Friedrich aufgeworfenen Fragenkomplex

mit einigen sehr grundsätzlichen Dimensionen.

1.2 Diakonische Erinnerungskultur -- Fragen

Deren grundsätzlichste ist die nach dem Verhältnis von Substantiv und Adjektiv

und --- in ihrem Gefolge --- die nach dem Verhältnis der Teile des Kompositums

»Erinnerung« und »Kultur«. Beide werden bei den folgenden Überlegungen als

eine Art von Unterlage durchgängig präsent sein.

1.2.1 Zum »Sitz im Leben«

Vom Begriff her scheint »Erinnerungskultur« nach allen Seiten hin offen. Doch

niemals kann sich Erinnerungskultur der eigenen Geschichte von einer Außenperspektive

her nähern. Überhaupt beansprucht sie nicht für sich, über ein ausgewogenes,

kontrolliertes Verhältnis von Distanz und Nähe zur eigenen Geschichte

zu verfügen. Ihr Ort ist die Gegenwart mit ihren Problemen und

Anstößen und den Herausforderungen um die Zukunft. So ist sie Engagement

und Ringen um eigene Identität. Von ihrer Geschichte erwartet sie Impulse und

4

Vgl. Erinnerungskulturen, in: Frank Bösch und Jürgen Danyel, Zeitgeschichte. Konzepte

und Methoden, Göttingen 2 2012, 175; 179.

5

Vgl. Diakonische Erinnerungskultur, in: Thorsten Moos (Hg.), Diakonische Kultur, Stuttgart

2018, 142f.


1 Diakonische Erinnerungskultur? Fragestellungen 21

Potentiale dafür. In diesem kreativen Prozess wirken die Gegenwartsprobleme

bei der Erschließung der eigenen Geschichte wie ein Sieb, in dem nur das für die

Gegenwart und die Zukunft relevant Erscheinende hängen bleibt.

Dem dergestalt der Gegenwart verpflichteten Bezug zur Geschichte muss der

Vorwurf der Instrumentalisierung geradezu unangemessen erscheinen. Denn

wozu soll der Schatz der Geschichte da sein, wenn er nicht Anstöße und Potentiale

zur Bewältigung von Gegenwartsproblemen liefert? Dass sich mit einer solchen

Praxis und ihrer Begründung meist Authentizitäts- und Machtansprüche

von Personen oder Gruppen verbinden, ist kein Geheimnis.

Wie aber kann sie dann die »schnelle Vereinnahmung der Tradition zur Lösung

gegenwärtiger Fragestellungen« 6

vermeiden, vollends wenn es dabei um

solche Ansprüche geht? Geschichte zur reinen Selbstrechtfertigung wäre doch

deren Missbrauch.

Doch eigene Geschichte --- auch und gerade in der Diakonie --- mit ihren

Gründerväter- und Gründermütter-Legenden besteht ja nicht nur aus Meisterund

Mustererzählungen. Engagierter Umgang mit der Geschichte eines

Diakoniewerks oder -verbandes kann sich auch der Aufarbeitung von Fehlern

und Irrwegen und --- im Fall des Holocaust --- der Verwicklung in Verbrechen an

anvertrauten Menschen nicht entziehen. Wo hat dieser schmerzhafte Teil einer

ehrlichen und verantwortlichen Erinnerungskultur seinen Platz, insbesondere

wo in der Frage nach der eigenen Identität? Auch diese hochsensible Frage wird

die folgenden Überlegungen bei einigen ihrer Schritte begleiten.

Dass gerade in der Diakonie zum verantwortlichen Umgang mit der Geschichte,

soll sie zur Entwicklung eines Diakoniewerks beitragen, auch Selbstkritik

gehört, schreibt Christoph Cornelißen, der Historiker, der Erinnerungskultur

ins Stammbuch 7 . Schließlich ist alle Diakonie auch Grundaufgabe von

Kirche. Dann aber muss bereits von der Begriffsbildung her das Adjektiv dem

Substantiv seine inhaltliche Bestimmung geben. Nach Norbert Friedrich muss

sich diakonisches Erinnern stets der »Relevanz der eigenen Arbeit im Horizont

des Reiches Gottes« bewusst sein 8 .

Dafür kommt »diakonische Erinnerungskultur« nicht ohne einen ihr entsprechenden

theologischen Systemkontext aus: Weder eine individualistische

Herzensfrömmigkeit und eine ihr entsprechende Theologie noch eine Theologie

der Ordnungen reichen als theologisches Rüstzeug aus. Nur eine christologische

Verortung des Menschenbildes, bei der die Schwächsten das Maß von Diakonie

setzen, kann dem diakonischen Auftrag einer solchen Erinnerungskultur genügen.

So wären die Definitionsversuche von Christoph Cornelißen und Norbert

Friedrich folgendermaßen zu präzisieren:

6

Vgl. ebd., 151. Vgl. weiter Cornelißen, Erinnerungskulturen, 180.

7

Erinnerungskultur, 180.

8

So Diakonische Erinnerungskultur, 151.


22

1 Diakonische Erinnerungskultur? Fragestellungen

Diakonische Erinnerungskultur soll Arbeit an und mit der eigenen Geschichte

sein, die sie transparent macht, für sie Verantwortung übernimmt, positive Impulse

aus ihr aufnimmt, sich von Fehlern distanziert, um so für die Gegenwart entwicklungsfähige

Formen von Identität zu begründen.

1.2.2 Zu Formen und Ausprägungen

Als »Kultur« hat das Erinnern in den verschiedenen Diakoniewerken den jeweiligen

Werkskulturen entsprechende Formen der Traditionspflege entwickelt. Sie

haben --- auch im selben Werk --- oft verschiedene Gegenwartsbezüge. Den Problemdimensionen

der Gegenwart entsprechend gewinnen sie aus ihrer Geschichte

auch sehr verschiedene Impulse und Anregungen, pflegen und nutzen diese in

einer Vielzahl von Ausdrucksformen. Nicht alle davon sind als diakonische Erinnerungskultur

anzusprechen.

Mit Personen, Personengruppen, Ereignissen, Orten und dergleichen sind

Traditionsstränge verknüpft, bei denen man die Entwicklung von der mündlichen

Erzähltradition innerhalb einer Gruppe zur schriftlichen Fixierung noch

nachvollziehen kann 9 . Besonders die Analyse der mit Personen und Orten verbundenen

Gründungslegenden fördert Erkenntnisse zu deren Formgeschichte zu

Tage: Die an einem solchen historischen Gründungsereignis haftenden Erzähltraditionen

wachsen mit der Zeit zusammen und verdichten sich zu einer »Meister«-

und Mustererzählung, die die Identität einer Gruppe zunächst abbildet, begründet

und dann --- mit entsprechenden Authentizitätsansprüchen ---

festschreibt. So entstehen diakonische Ortsätiologien und Ahnengalerien. Entsprechend

geben diese auch nicht in erster Linie Auskünfte zur »Historizität«

ihrer Inhalte, sondern eher zur Identität ihrer Trägergruppe(n) und zu deren

gegenwärtigem Legitimationsbedürfnis durch die Werksgeschichte: »So war es

von Anfang an. So hat es zu sein und zu bleiben!«

Als Vermittlungsmedien solcher Traditionen eignen sich besonders Meisterund

Mustererzählungen, die als musterhaft beanspruchte Tätigkeiten und Verhaltensweisen

an mit Gründerautorität ausgestatteten Muster-Persönlichkeiten festmachen.

Solche Meister- und Mustererzählungen sind oft klischeehaft genug

strukturiert, um ein Jahrhundert und mehr zu überdauern. Wenn sie es schaffen,

mit Hilfe von regelmäßig wiederkehrenden Festen und Ritualen gepflegt zu werden,

oder wenn Gedenkorte und Gedenkstätten sie auch optisch in Erinnerung

halten 10 , ist das Gedenken auch durch diese Medien seiner Kultur abgesichert.

Die Überlebensdauer solcher Traditionen und solcher Formen der Traditionspflege

ohne grundlegenden Wechsel der Perspektive ist eng mit der Überle-

9

Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität

in frühen Hochkulturen, München, 7. Aufl. 2013, 93.

10

Vgl. Friedrich, Diakonische Erinnerungskultur, 144; 151.


1 Diakonische Erinnerungskultur? Fragestellungen 23

bensdauer der Trägergruppe verknüpft. Ist eine solche Form in einem

Diakoniewerk vollends auch folklorefähig, kann sie selbst die Trägergruppe noch

überdauern.

Erinnerungskultur dient auch in der Diakonie der Selbstvergewisserung 11 der

Trägergruppe der Arbeit im Diakoniewerk, insbesondere in der Gründer- und der

Nach-Gründergeneration. Mit der Dauer der Traditionen, der Änderung des sozialen

Motivations- und Arbeitskontextes und einfach mit der Generationenfolge

wächst die Gefahr eines dem ursprünglichen Motivationskontext fremden Traditionalismus

und einer bloßen Materialisierung und Instrumentalisierung einzelner

Traditionselemente.

Ein ganz eigener Fragenkomplex knüpft sich an die nach außen und nach

innen gerichteten Macht- und Einflussansprüche einzelner Personen und Gruppen

innerhalb des jeweiligen Werks. Die Tradition(en) des Werks im Werk sind

einer der wirksamsten Legitimationsgründe und müssen häufig zur Selbstrechtfertigung

herhalten. Eng damit verbunden und von großer Aussagekraft ist aber

auch das Gegenteil: Was oder wer aus der eigenen Geschichte wird von der Erinnerung

durch bewusstes Nicht-Erinnern, durch Verschweigen und Verdrängen

ausgeschlossen? Dass die Gründe dafür nicht zur Diskussion kommen, liegt

nahe. Meist liegen sie jedoch dicht unter der Oberfläche.

Zur Gretchenfrage diakonischer Erinnerungskultur wird dieses Problem,

wenn das Adjektiv dem Substantiv einen Perspektivenwechsel abverlangt; wenn

dasjenige an der eigenen Geschichte zum Gegenstand wird, was sich dem

Väterkult und den Mustererzählungen zur Selbstvergewisserung entzieht. Wie

und wie lange kann man das unter der Oberfläche halten, dass es dem diakonischen

Image des Werks keinen Schaden zufügt? Wenn es um »Aufarbeiten«, um

Schuldeingeständnisse, um Selbstreinigung eines Werks geht, kann dann ein

Diakoniewerk »Buße tun«? 12 Solche Buße müsste ja dann eine tätige Buße sein,

die bis in die Neueinstellung von Mitarbeiterschaften und die Neuaufstellung

von Zielen und Strukturen hineinreicht. Kann diakonische Erinnerungskultur

auch das leisten: Eine Rückkoppelung, die eine Umkehr und eine neue Ortsbestimmung

erfordert?

Kein Diakoniewerk wird sich, wie lange es sich auch mit Verschweigen oder

Selbstrechtfertigungen um einen solchen Problemkomplex drückt, diesen auf

längere Sicht vom Leibe halten können. Einer Untersuchung zur diakonischen

Erinnerungskultur wird diese Frage auf Schritt und Tritt auf den Fersen bleiben.

11

Vgl. ebd., 151.

12

Vgl. zum Problem Walter Göggelmann, »Für uns gibt es kein unwertes Leben«. Die

»Arbeitsgruppe Euthanasie und Sterilisation« in der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus

in Reutlingen, dazu u. in Kapitel 5.


24

1 Diakonische Erinnerungskultur? Fragestellungen

1.2.3 Leitfragen

Die folgende Untersuchung bedient sich bei der Erarbeitung eines Beispiels von

Erinnerungskultur in einem Diakoniewerk einer Reihe von W-Fragen als Leitfragen.

Sie sollen bei der möglichst genauen Ausleuchtung einzelner Stationen der

Werksgeschichte behilflich sein und übergreifende und werksspezifische Züge

von Erinnerungskultur auf Schwerpunkte und Verdrängungen hin unterscheidbar

machen. (Sie sind als Leitfragen sicher auch auf die Untersuchung anderer

Diakoniewerke übertragbar). Ihrer vielfältigen Überschneidungen und Gelenkstellen

wegen sind sie als inhaltliche Fragen an jeweils einzelne Stationen gedacht.

Die im Folgenden aufgelisteten Fragewörter werden an den verschiedenen

Stationen von unterschiedlichem Gewicht sein:

Wer ist Träger der Erinnerungskultur: einzelne Personen oder Gruppen? Von

welchen Impulsen oder Interessen werden sie geleitet?

Was ist Gegenstand der Erinnerung: Personen, Ereignisse, Vorgänge, Orte,

Zustände, Gewohnheiten?

Wann in der Geschichte des Werks ist der Gegenstand der Erinnerung angesiedelt:

in der Gründungszeit oder an einem Wendepunkt der Werksgeschichte?

Wo und an welchen Orten im Werk macht sich die Erinnerung fest? Sind

diese Orte der Pflege der Erinnerung erhalten geblieben, oder hat sich die Erinnerung

von ihnen losgelöst?

Wie und in welchen Formen wird die Erinnerung gepflegt: durch mündliche

und (oder) in Schriftform entwickelte Traditionsbildung; durch (Gründungs-)

Legenden und Erzählungen mit dem Charakter von Meister- und Mustererzählungen

13 ; in regelmäßigen Veranstaltungen oder in Festen?

Alle diese W-Fragen schneiden sich in der nach dem

Warum und Wozu, der Frage also nach dem Anlass und der Herausforderung,

die die Erinnerung wach hält oder aus der Vergangenheit holt und neu zum

Leben erweckt, und schließlich den Erwartungen, die sich jetzt und hier an dieser

Beschäftigung mit der Geschichte festmachen.

Die weiter reichenden Fragen nach Distanz und Nähe zu Personen, Ereignissen,

Motivationen usw., dem Grad der Instrumentalisierung von Erinnerung(en),

nach damit verbundenen Einfluss- und Machtansprüchen, nach diakonischen

Positionen und Identitäten insgesamt sowie die Fragen nach dem aus der Erinnerung

Ausgesparten und Verdrängten laden an dieser Stelle ein zur Fortsetzung

des Prozesses, der die eigene Werksgeschichte als wichtiges Element bei

der Gewinnung der eigenen diakonischen Identität nutzen will.

Im Blick auf die Entwicklung des Werks und deren Kontinuität bleiben Fragen

wie: Wie wirken sich Formen des Erinnerns auf die (weitere) Entwicklung

aus? Wie wirken sie auf welche Gruppen im Werk in das Werk hinein? Auf welche

Weise beziehen sie die Umgebung und eine weitere Öffentlichkeit in das

13

Vgl. o. Anm. 11.


1 Diakonische Erinnerungskultur? Fragestellungen 25

Werksgeschehen ein? Welche Wirkungen sind beabsichtigt, welche sind in Kauf

genommene, welche unbeabsichtigte Nebenwirkungen?

Erinnern ist, wo es in Gang kommt, der Anfang eines Weges, der --- oft unmerklich

--- immer wieder neu bei den Herausforderungen der Gegenwart beginnt

und diese mit Herausforderungen und Lösungen der Vergangenheit verbindet.

So ist Erinnern Arbeit an der diakonischen Identität in Kontinuität.

Erinnern ist aber ebenso auch diakonische Praxis und Auseinandersetzung

mit den darin gültigen Maßstäben. (Darf Erinnern diese auch in Frage stellen?)

Erinnern ist in jedem Fall ein Weg mit Risiken, ein Weg auch zu einem

(noch) nicht bekanntem Ziel.

Die vier folgenden Studien sollen dies als Beispiele aus der Geschichte der

Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus verdeutlichen.


Walter Göggelmann, Dr. theol., Jahrgang 1938, ist Pfarrer i. R. und

war von 1969 bis 2002 im Pfarrdienst der Württembergischen Landeskirche.

Seit 2003 ist er freier Mitarbeiter des Diakoniewissenschaftlichen

Instituts der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte

sind die Geschichte der Diakonie und Sozialethik im

19. und 20. Jahrhundert.

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Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz: Bernhard Mutschler, Metzingen

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

ISBN 978-3-374-07689-5 // eISBN (PDF) 978-3-374-07690-1

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