16.05.2025 Aufrufe

So viel Ende war nie. So viel Anfang war nie. Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen

Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat die Broschüre „So viel Ende war nie. So viel Anfang war nie. Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen“ veröffentlicht. Die Publikation wurde gemeinsam von Finn Harmsen und Dr. Anna Kaminsky, Direktorin der Stiftung, erarbeitet. Sie dokumentiert, wie unterschiedlich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland wahrgenommen wurde – zwischen Erleichterung, Scham, Überforderung und dem weitverbreiteten Wunsch, sich selbst als Opfer zu begreifen. Die ausgewählten Zeitzeugenberichte zeigen die Spannbreite zwischen Befreiung und Gewalt, Flucht und Ankunft, Schuld und Verdrängung. Für viele Deutsche markierte der 8. Mai 1945 nicht mehr als das offizielle Ende dessen, was sie in den Monaten zuvor beim Vormarsch der alliierten Truppen individuell erfahren hatten. Die Publikation macht deutlich, dass es nicht das eine, gemeinsame Kriegsende gab, sondern zahlreiche individuelle Enden – und ebenso viele unsichere Anfänge. Ergänzt werden die Zeitzeugenberichte durch eine knappe historische Einordnung zur militärischen Lage, zur bedingungslosen Kapitulation und zu den politischen Zielsetzungen der Alliierten. Die Broschüre berücksichtigt dabei Perspektiven, die lange übersehen wurden: etwa die Erfahrungen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, befreiten sowjetischen Kriegsgefangenen oder die sexualisierte Gewalt gegen Frauen, insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone.

Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat die Broschüre „So viel Ende war nie. So viel Anfang war nie. Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen“ veröffentlicht. Die Publikation wurde gemeinsam von Finn Harmsen und Dr. Anna Kaminsky, Direktorin der Stiftung, erarbeitet. Sie dokumentiert, wie unterschiedlich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland wahrgenommen wurde – zwischen Erleichterung, Scham, Überforderung und dem weitverbreiteten Wunsch, sich selbst als Opfer zu begreifen. Die ausgewählten Zeitzeugenberichte zeigen die Spannbreite zwischen Befreiung und Gewalt, Flucht und Ankunft, Schuld und Verdrängung.
Für viele Deutsche markierte der 8. Mai 1945 nicht mehr als das offizielle Ende dessen, was sie in den Monaten zuvor beim Vormarsch der alliierten Truppen individuell erfahren hatten. Die Publikation macht deutlich, dass es nicht das eine, gemeinsame Kriegsende gab, sondern zahlreiche individuelle Enden – und ebenso viele unsichere Anfänge. Ergänzt werden die Zeitzeugenberichte durch eine knappe historische Einordnung zur militärischen Lage, zur bedingungslosen Kapitulation und zu den politischen Zielsetzungen der Alliierten. Die Broschüre berücksichtigt dabei Perspektiven, die lange übersehen wurden: etwa die Erfahrungen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, befreiten sowjetischen Kriegsgefangenen oder die sexualisierte Gewalt gegen Frauen, insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Verwandeln Sie Ihre PDFs in ePaper und steigern Sie Ihre Umsätze!

Nutzen Sie SEO-optimierte ePaper, starke Backlinks und multimediale Inhalte, um Ihre Produkte professionell zu präsentieren und Ihre Reichweite signifikant zu maximieren.

FINN HARMSEN UND

ANNA KAMINSKY

Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen



Finn Harmsen und Anna Kaminsky

So viel Ende war nie. So viel Anfang war nie.

Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen


Dr. Anna Kaminsky

ist Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Finn Harmsen,

Studium Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin,

studentischer Mitarbeiter im Projekt „So viel Ende war nie. So viel

Anfang war nie. Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen“


N AF SO VIEL

N

NA ED E WAR NIE

Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen

G


Impressum

So viel Ende war nie. So viel Anfang war nie.

Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen

Finn Harmsen und Anna Kaminsky

Eine Publikation der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

ISBN: 978-3-86331-809-3

Metropol Verlag

Inh. Friedrich Veitl

Ansbacher Str. 70

D-10777 Berlin

Telefon: (0 30) 2 61 84 60

E-Mail: veitl@metropol-verlag.de

Internet: https://www.metropol-verlag.de/kontakt

Alle Rechte vorbehalten

© 2025 Metropol Verlag

Gestaltung:

Korrektorat:

Druck:

Frank Kirchner, ultramarinrot, Berlin

Bettina Grothe

Aalexx Druck Produktion, Großburgwedel

Redaktionsschluss 23. Mai 2025

4


Impressum ...........................................................................................................................................................................4

Inhalt.............................................................................................................................................................................................5

Zum Geleit.............................................................................................................................................................................7

Einführung............................................................................................................................................................................5

1. 1945 – Ein doppelter Wendepunkt ..............................................................................................11

2. Verbrechen und Verantwortung.....................................................................................................16

3. Befreiungserfahrungen und Ambivalenzen...................................................................20

4. Deutsche Perspektiven: Schuld, Verlust, Verdrängung.....................................27

5. Flucht, Vertreibung, Neuanfang................................................................................................... 34

6. Alltag im Chaos.................................................................................................................................................48

7. Verdrängtes Leid – sexualisierte Gewalt gegen Frauen.....................................59

8. Besatzung und politische Neuordnung.................................................................................61

9. Erinnerung, Verantwortung, Ausblick.................................................................................. 77

Abkürzungsverzeichnis......................................................................................................................................79

Abbildungsverzeichnis ......................................................................................................................................80

5



Zum Geleit

Der 8./9. Mai 1945 markiert das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa – ein Tag, an dem die

von Deutschland überfallenen Völker Europas vom Terror des nationalsozialistischen Regimes

befreit wurden. In Deutschland wurde das Kriegsende jedoch nur von einer Minderheit als

Befreiung erlebt: Von den Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager, den aus

„rassischen“ Gründen Entrechteten und zur Ermordung Vorgesehenen, von den nach Deutschland

verschleppten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern sowie von jenen Frauen und Männern,

die aus politischer oder religiöser Überzeugung in Distanz oder im Widerstand das NS-Regime

in Konzentrationslagern, Zuchthäusern oder in der inneren Emigration überlebt hatten. Für die

meisten Deutschen bedeutete der 8. Mai Zusammenbruch, Niederlage und eine ungewisse

Zukunft.

In der Sowjetischen Besatzungszone und der

DDR wurde der 8./9. Mai von Anfang an als

„Tag der Befreiung“ gefeiert und staatlich inszeniert.

Die SED-Propaganda zielte dabei

nicht auf eine kritische Auseinandersetzung

mit der deutschen Schuld, sondern auf die

Legitimation der neuen kommunistischen

Ordnung. In der Bundesrepublik wurde das

Gedenken an das Kriegsende seit den 1960er

Jahren zunehmend kontrovers diskutiert.

Während in den 1940er und 1950er Jahren

die Erinnerung an das Leid der deutschen

Bevölkerung im Krieg, in der Gefangenschaft

oder bei den Vertreibungen im Zentrum

stand, rückte mit den 1960er Jahren die Perspektive

der deutschen Verbrechen und deren

Opfer stärker ins öffentliche Bewusstsein.

Es bedurfte der Rede von Bundespräsident

Richard von Weizsäcker im Jahr 1985, um

den 8. Mai 1945 in seiner Ambivalenz in der

westdeutschen Erinnerungskultur zu verankern:

Als Datum der Niederlage und Ausgangspunkt

von Flucht, Vertreibung und

staatlicher Teilung, aber auch als Datum der

Befreiung von der nationalsozialistischen

Diktatur, in deren Folge sich Westdeutschland

zu einer wohlhabenden, freiheitlichen

Demokratie entwickelte, die sich mit ihren

Nachbarn aussöhnen konnte.

Dass der 8. Mai 1945 für die Menschen in Ostmitteleuropa

ein ausgesprochen janusköpfiges

Datum war, geriet dabei vielen Menschen im

Westen aus dem Blick. Zwar beendete der

Einmarsch der Sowjets dort die nationalsozialistische

Okkupation, doch das Momentum

der Befreiung währte nur kurz. Spätestens ab

1948 wurden die demokratischen Ansätze in

Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und

den anderen Staaten des erweiterten sowjetischen

Einflussbereichs durch die Errichtung

kommunistischer Satellitenregime erstickt.

7


Besonders grausam zeigte sich die Dialektik

von Befreiung und Unterdrückung im Schicksal

der sowjetischen Kriegsgefangenen und

verschleppten Zwangsarbeiter, die nach ihrer

Rückkehr in die Sowjetunion als Verräter

oder Überläufer gebrandmarkt wurden. Für

viele bedeutete dies Lagerhaft, gesellschaftliche

Ächtung oder Tod – sie lebten fortan in

noch größerer Unfreiheit als die ohnehin

entrechtete sowjetische Bevölkerung.

Der 8. Mai mahnt zur historischen Genauigkeit.

Er ist ein Tag der Dankbarkeit gegenüber

den alliierten Streitkräften, die das nationalsozialistische

Regime militärisch besiegten –

allen voran der Sowjetunion, die den höch s-

ten Blutzoll zahlte. Er ist ein Tag der Demut

angesichts der von Deutschland begangenen

Verbrechen. Er ist aber auch Anlass, die vielschichtigen

und zum Teil widersprüchlichen

Erfahrungen Europas im Jahr 1945 zu benennen

– insbesondere derer, für die das Kriegsende

den Übergang von einer Gewaltherrschaft

in eine neue bedeutete. Die Erinnerung

an das Kriegsende muss diese vielfach gebrochene

historische Realität sichtbar machen.

Berlin, im Frühjahr 2025

Finn Harmsen & Anna Kaminsky

8


Einführung

Was bedeutet das Jahr 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom

Nationalsozialismus für Europa und die deutsche Gesellschaft? Der 8. Mai 1945 wird meist

als Wendepunkt markiert, als Moment des Umbruchs, des Neustarts, als Beginn einer neuen

Ordnung, als Befreiung. Diese Sicht auf die Vergangenheit hat sich jedoch erst in den vergangenen

Jahrzehnten herausgebildet. Hinter diesen Begriffen steht eine Wirklichkeit, die aus unzähligen

individuellen Erfahrungen, Widersprüchen und verdrängten Stimmen besteht. Dieser

Text will diese Stimmen in all ihrer Vielfalt und auch Widersprüchlichkeit vernehmbar machen.

Er stützt sich auf Erinnerungen von Zeitzeuginnen

und Zeitzeugen, auf knappe, dichte

Berichte aus verschiedenen Regionen Deutschlands

und Europas, auf Aussagen, die über

Jahrzehnte hinweg in Archiven schlummerten

oder in Familien weitergegeben wurden. Sie

sprechen von Zusammenbruch und Hoffnung,

von Schuld und Verlust, von Befreiung und

Gewalt. Sie widersprechen einander nicht –

sie ergänzen und vervollständigen sich. Im

Mittelpunkt stehen dabei besonders ostdeutsche

Erfahrungen und Stimmen. Bis heute

wird die Nachkriegszeit oft aus westdeutscher

Perspektive erzählt. Dass sich diese grundlegend

von ostdeutschen Erfahrungen unterscheidet

und die Wahrnehmungen bis heute

prägt, geht dabei unter.

Die neun Kapitel dieses Bandes folgen einer

thematischen Ordnung, die das Jahr 1945 nicht

als linearen Ablauf erzählt, sondern als ein

Feld konkurrierender, sehr unterschiedlicher

Wahrnehmungen. Der militärische Sieg der

Alliierten über das nationalsozialistische

Deutschland war keine Erfahrung, die alle

Menschen in gleicher Weise betraf. Für die

einen war er das Ende eines mörderischen

Regimes, für die anderen der Anfang einer

neuen Fremdherrschaft. Manche litten an

der Vergangenheit, andere an der Sorge um

die Zukunft. Dazwischen lagen Schweigen,

Angst, Schuldabwehr und der mühselige Versuch,

zu überleben und Alltag zu gestalten.

Besonders wichtig war es, Themen aufzunehmen,

die lange ausgeblendet wurden und

oft nur am Rande behandelt werden: Das

Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und

Zwangsarbeiter und aus der Sowjetunion

stammender Kriegsgefangener, die sexualisierte

Gewalt gegen Frauen durch Soldaten

der Roten Armee, das zähe Fortwirken der

nationalsozialistischen Ideologie in der

Nachkriegszeit.

Dieses Buch soll keine abschließende Deutung

liefern. Es will dokumentieren, wie 1945 von

verschiedenen Menschen erlebt wurde – und

was daraus geworden ist. Es lädt ein, hinzuhören,

mitzudenken, Widersprüche auszuhalten.

Die Vergangenheit ist weder vergangen noch

eindimensional. Sie bleibt gegenwärtig – in

ihren Spuren, ihren Stimmen, ihren offenen

Fragen.

9


10


1. 1945 – Ein doppelter Wendepunkt

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden

System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen

vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach

folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung

und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft,

die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ 1

Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985

Der Mai 1945 markiert das Ende eines Krieges

in Europa, der in nie dagewesener Weise

Europa und die Welt verheert und die Weltordnung

erschüttert hatte. Er bedeutete den

militärischen Zusammenbruch des nationalsozialistischen

Deutschlands, das am 1. September

1939 mit dem Überfall auf Polen einen

„totalen Krieg“ zur Eroberung der Weltherrschaft

begonnen hatte. Dieser wurde vom

Deutschen Reich als verbrecherischer, rassistischer

Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug

geführt. 35 – 40 Millionen Menschen verloren

allein in Europa ihr Leben. Sie fielen als Soldaten

im Krieg. Sie wurden in den zahllosen

Massakern und im Holocaust von den Nationalsozialisten

ermordet. Sie starben als Zivilisten

im Kriegsterror und den Luftangriffen

auf Städte in ganz Europa. Insgesamt kostete

der Zweite Weltkrieg weltweit 60 bis 70 Millionen

Menschen das Leben. Den höchsten

Blutzoll zahlte die Sowjetunion mit etwa 27

Millionen Toten.

In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern

waren Millionen Menschen, die

die Nazis als „lebensunwert“ ansahen, getötet

worden: Über sechs Millionen Juden

ermordeten die Nationalsozialisten in den

Vernichtungslagern „im Osten“ und bei Massenerschießungen.

Angehörige ethnischer,

religiöser Minderheiten, Homosexuelle,

Menschen mit Behinderungen, politische

Gegner wurden verfolgt.

Weitere Millionen Menschen, insbesondere

aus den besetzten Ländern in Mittel- und

Osteuropa, waren von den Nazis zur Zwangsarbeit

nach Deutschland verschleppt worden;

Unzählige starben an den unmenschlichen

Bedingungen der Zwangsarbeit und den

menschenunwürdigen Umständen in den

Lagern oder wurden ermordet. In den deutschen

Kriegsgefangenenlagern verhungerten

3,3 Millionen der insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen

Gefangenen. Zehntausende wurden

in gezielten Mordaktionen umgebracht.

1 Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag

des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 8. Mai 1985 in Bonn, Bundespräsidialamt (Hg.), https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2015/02/150202-RvW-Rede-8-Mai-1985.pdf?__blob=publicationFile,

S. 2.

11


Hinzu kamen in allen Ländern unzählige

Zivilisten, die von den deutschen Besatzern

ermordet wurden. Aber auch unter den Deutschen

selbst forderte die NS-Herrschaft eine

hohe Zahl an Opfern: Systematisch brachte

man Regimekritiker und Andersdenkende in

KZ und Gestapo-Gefängnisse. Zigtausende

aus rassistischen, religiösen oder gesundheitlichen

Gründen Verfolgte wurden ermordet.

Mit der bedingungslosen Kapitulation der

deutschen Wehrmacht in der Nacht vom

8. auf den 9. Mai 1945 war das Ende des angeblich

auf 1.000 Jahre angelegten „Dritten

Reiches“ besiegelt. Politisch und moralisch

war es von Beginn an diskreditiert.

Zugleich setzte mit dem Kriegsende ein historischer

Prozess ein, in dem der Begriff

„Befreiung“ eine doppelte Bedeutung erhielt:

Er stand für die Erlösung von einer mörderischen

Diktatur und zugleich – zumindest für

den östlichen Teil Europas – für die Unterwerfung

durch eine neue Diktatur, nunmehr unter

sozialistisch-kommunistischen Vorzeichen.

Damals empfanden nur die wenigsten das Ende

der NS-Herrschaft als Befreiung. In den

ostdeutschen Gebieten war die erste Reaktion

auf den Einmarsch sowjetischer Truppen oft

Furcht – gespeist aus den Schreckensnachrichten

über Gewaltakte, Plünderungen und

Vergewaltigungen. Aber auch in Reaktion auf

und im Wissen um die deutschen Verbrechen,

deren Vergeltung man nun fürchtete.

Dass die Niederlage Deutschlands im Zweiten

Weltkrieg tatsächlich eine Befreiung war,

wurde erst viel später ein selbstverständlicher

Teil der deutschen Erinnerungskultur. Unmittelbar

mit dem Kriegsende empfanden es

die meisten Deutschen als nationale Katastrophe.

Viele Deutsche wurden gegen ihren

Willen und ihre Überzeugungen befreit. Erst

das allmähliche Bewusstwerden der begangenen

Menschheitsverbrechen sowie die Fragen

einer neuen kritischen Generation führten

in der Bundesrepublik allmählich zu einem

Umdenken.

In der späteren DDR hingegen war die Erzählung

von der Befreiung durch das „sowjetische

Brudervolk“ von Beginn an präsent. Hier stand

der Antifaschismus, der die Verantwortung

für die NS-Verbrechen in den Westen verlagerte,

Pate für den Aufbau einer neuen Ordnung.

Dies bot der ostdeutschen Bevölkerung

die Möglichkeit, sich selbst getreu dem

Stalin-Wort „Die Hitler kommen und gehen,

aber das deutsche Volk bleibt“ zu entschulden,

denn die Nazis waren dieser Lesart zufolge

in den Westen geflohen.

Die Bilder des 8. Mai 1945 – jubelnde Menschen

in London, Paris und New York – täuschen

darüber hinweg, wie viel Tragik in die

persönlichen Erfahrungen des Kriegsendes

eingeschrieben ist. Die europäische Karte

wurde neu gezeichnet, mit neuen Grenzen

und riesigen Flüchtlingsströmen. Diese neuen

Grenzlinien folgten weitgehend den Vereinbarungen

des Hitler-Stalins-Paktes vom

23. August 1939. Für Millionen Menschen

bedeutete das Ende des Krieges nicht Heimkehr,

sondern Heimatverlust. Der Zusammenbruch

des „Dritten Reichs“ riss erneut Ordnungen,

Bindungen und Biografien in Stücke.

Im kollektiven Gedächtnis Ost- und Westdeutschlands

wurde der 8. Mai 1945 bald zur

„Stunde Null“. Diese Chiffre suggerierte einen

radikalen Bruch mit dem mörderischen NS-

Regime. Sie war zugleich ein Angebot geschichtsvergessener

Unschuld – als ließe

12


Am 8. Mai 1945 feiern Tausende Menschen in London, England, das Ende des Krieges.

sich die Zukunft ohne die Last der Vergangenheit

gestalten. Doch die „Stunde Null“ war

Fiktion. Sie verdrängte die Kontinuitäten in

der deutschen Gesellschaft, Verwaltung und

Mentalität, die den Neuanfang begleiteten.

In den Aussagen von Zeitzeuginnen und

Zeitzeugen bleibt die Ambivalenz dieses

historischen Moments spürbar:

„Wir wollen eben eine neue Ordnung,

wollen mehr als nur Schutt wegschippen;

denn damit allein ist es nicht getan. Wir

haben die Fehler der alten Zeit am eigenen

Leibe spüren müssen. Die Alten hatten ihre

Erinnerung, in die sie sich hineinflüchten

konnten. Uns ist nichts geblieben. Wir

wollen uns jetzt eine neue Ordnung ohne

die alten Fehler aufbauen. Was nützt es

uns denn, wenn wir jetzt anfangen aufzu-

bauen, und wir haben in wenigen Jahren

das gleiche Ereignis wie jetzt? Nämlich

den totalen Zusammenbruch? Nein, meine

Kameraden, hier müssen wir aus den

Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir

müssen die Augen offenhalten, damit wir

die Wurzeln dieses Übels erkennen.“ 2

„Noch niemals in der Geschichte mußte

die Zukunft einen so totalen Neuanfang

machen. Das Alte ist zerbrochen. Nun ist

es entscheidend, wie wir den Neuanfang

machen. Kein Mensch wird auf einem

Trümmerhaufen sofort ein Haus aufbauen,

sondern er wird den Schutt wegräumen

und ein neues Fundament legen. Das ist

schwieriger und dauert vielleicht länger,

aber es ist notwendig. Wir können heute

unsere Aufgabe nur meistern, wenn wir

2 Vortrags-Manuskript von Werner Ihmels, undatiert [ca. 1945], in: Ihmels, Folkert: Im Räderwerk zweier Diktaturen. Werner

Ihmels 1926–1949, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 1999, S. 27 f.

13


Zu Kriegsende lagen Deutschland und Europa in Trümmern. Im Bild eine zerstörte Straße in Berlin.

mit einer neuen Gesinnung an sie herangehen.“

3

„[…] 1945 war auch für uns, die wir den

Krieg und seine Begleiterscheinungen überlebt

hatten, ein ganz sichtbarer Neubeginn.

Ein Neubeginn, der uns mit Hoffnung erfüllte.

[…] Wir alle waren uns darin einig,

dass wir das Studium in der Bereitschaft

anfingen, den furchtbaren Makel, der auf

dem Namen des deutschen Volkes lastete,

nach Möglichkeit durch studentische Beiträge

etwas zu berichtigen. Wir wollten

uns um einen demokratischen Neubeginn

bemühen.“ 4

Viele derer, die überlebt hatten, konnten über

die gemachten Erfahrungen nicht sprechen.

Zum einen waren die Menschen mit ihrem

eigenen Leid beschäftigt, zum anderen wollte

man oft gar nicht wissen, wie es den Nachbarn

ergangen war. Viele Frauen, die zu

Kriegsende im Osten vergewaltigt worden

waren, schwiegen über diese Er fahrungen

ihr Leben lang:

„Erinnerungen aus dem April 1945 blieben

für mich als Kind unerklärlich und erst im

Erwachsenenalter begriff ich die Tragik

des Geschehens. Es war der 23. April 1945,

der zweite Geburtstag meiner kleinen

Schwester. Ein oder zwei Tage zuvor hatte

mein Vater mich auf den Arm genommen,

damit ich durch ein schmales Kellerfenster

die ersten russischen Soldaten sehen konnte,

die in gebückter Haltung durch den Garten

unseres Hauses in Wittenau in Richtung

Innenstadt schlichen.

3 Ihmels, 1999, S.29.

4 Natonek, Wolfgang: „Rede, gehalten am 19. Oktober 1992 anlässlich der Immatrikulationsfeier im Gewandhaus zu Leipzig“, in:

Blecher, Jens; Schulz, Dieter (Hgg.): Wolfgang Nanotek – Freiheit und Verantwortung, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig

2011, S. 72 f.

14


Ein Bruder meiner Mutter, Soldat in Russland,

hatte bei Fronturlauben oft gesagt:

‚Wehe, wenn dieser Krieg verloren geht!‘

Mein Vater, der ehemals Mitglied im linken

Arbeitersportverein Fichte war, sehnte hingegen

das Ende des Krieges ohne diese Sorge

herbei.

Ein russischer Soldat, der an diesem Apriltag

unser Haus betreten hatte, entdeckte

uns im Keller. Zusammen mit unserem

Vater standen wir Kinder mit erhobenen

Händen auf der Kellertreppe und waren wie

gelähmt, als unserer Mutter vor unseren

Augen Gewalt angetan wurde.

Erst mit ca. 18 Jahren wurde mir klar, dass

ich die Vergewaltigung meiner Mutter erlebt

hatte. Nie wurde darüber gesprochen und

erst Jahre später meine Vermutung bestätigt.

[…] Das Schicksal meiner Mutter hat

unsere Familie zerstört. Auch das große

Schweigen bleibt Teil meiner Erinnerung.“ 5

Der doppelte Charakter des Jahres 1945 – als

Ende und Anfang, als Katastrophe und Versprechen

– spiegelt sich auch in der übergeordneten

geopolitischen Neuordnung. In Jalta

hatten Churchill, Roosevelt und Stalin 1943

über die künftigen Einflusszonen verhandelt,

nicht über die Selbstbestimmung der Völker.

Während im westlichen Teil Deutschlands

unter der alliierten Besatzung der USA,

Frankreichs und Großbritanniens die Weichen

für einen demokratischen Neuanfang gestellt

wurden, kamen Ostdeutschland sowie Mittelund

Osteuropa in den sowjetischen Machtbereich.

Deutschland und Europa wurden ent-

lang ideologischer Trennlinien geteilt, die bald

den Kalten Krieg prägten. Für die Menschen

im östlichen Europa bedeutete die Befreiung

von der NS-Herrschaft den Beginn neuer

Unfreiheit unter sowjetischer Hegemonie.

Wer die Geschichten der Zeitgenossen und

Überlebenden hört, begegnet nicht der Klarheit

des historischen Schlussstrichs, sondern

vielen Fragen und Unsicherheiten. Das Jahr

1945 ist kein Fenster in eine neue Zeit – es

ist ein Spiegel der Verwerfungen, mit denen

Europa in die damalige Gegenwart trat:

„Das Kriegsende 1945, der Sommer dieses

Jahres führte bei nicht wenigen von uns

zunächst zu einem geistigen Zusammenbruch,

denn eine ‚unbesiegbare Idee‘ hatte

plötzlich ein totales, schmähliches Ende

gefunden. Diese Zeit war zugleich ein befreiender

Neuanfang (endlich Frieden!),

verbunden mit Ungewißheiten (wie wird

‚der Feind‘, die Besatzungsmacht mit uns

umgehen?), mit Neugier, (wie wird es weitergehen?),

Ablehnung, Verweigerung,

Ängsten und Aufbruchstimmung. Sozialdemokraten

und Liberale, Kommunisten

und Bürgerliche, welche die NS-Herrschaft

in der inneren Emigration, im Widerstand

oder gar in einem der Nazi-Konzentrationslager

(KZ) überlebten hatten, berichteten

uns von den fürchterlichen Verbrechen der

NS-Diktatur. Die damit ausgelösten Diskussionen

führten bei vielen Jugendlichen

zu der Überzeugung: ‚Nie wieder Krieg‘,

‚Nie wieder eine Uniform‘, vor allem aber

‚Nie wieder eine Diktatur‘.“ 6

5 Dittmer, Klaus: 80 Jahre Kriegsende. Ein Zeitzeuge erinnert sich, in: Der Tagesspiegel vom 26. April 2025, S. B 25.

6 Beyer, Achim: Urteil: 130 Jahre Zuchthaus. Jugendwiderstand in der DDR und der Prozess gegen die „Werdauer Oberschüler“

1951, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2003, S. 16.

15


2. Verbrechen und Verantwortung

„Wir haben nichts gewusst.“ „Wir haben es nicht wissen wollen.“ –

auf diesen Nenner lassen sich die Einstellungen und Aussagen der deutschen Bevölkerung im

Wesentlichen bringen. Das nationalsozialistische Regime war kein anonymer Apparat, sondern

eine von Millionen Deutschen getragene Ordnung der Gewalt und des Terrors. Der industrielle

Mord an den europäischen Juden, die Ermordung der Sinti und Roma, die planmäßige Vernichtung

durch Arbeit, die Erschießungskommandos im Osten, die massenhafte brutale Gewalt in

den besetzten Gebieten – sie waren keine Exzesse, sondern System. Die Berichte von Überlebenden

und Beobachtern stehen für eine beispiellose zivilisatorische Entgrenzung, an der die

Täter selbst, aber auch Mitwisser und Zuschauer beteiligt waren.

Thomas Mann äußerte bereits im September

1941 angesichts der damals bekannten Gräuel

in der Sendung „Deutsche Hörer“ 7 , dass es

nach dem Krieg kein Vergnügen sein werde,

ein Deutscher zu sein. Er informierte 1942

über Probevergasungen von Juden. Er hoffte,

dass sich viele Deutsche gegen Hitler und

seine Mitverbrecher auflehnen würden. Die

deutschsprachigen Sendungen der BBC zählten

zu den meistgehörten „Feindsendungen“

in Deutschland. Sie waren – trotz Verbots –

über die „Volksempfänger“ zu empfangen.

Entgegen vielen Behauptungen nach dem

Ende des Krieges war das Wissen um die

Verbrechen durchaus präsent, wie die Äußerung

eines jungen deutschen Wehrmachtsangehörigen

zeigt:

„Wir dürfen nie vergessen, daß das, was

über uns hereingebrochen ist und noch

hereinbrechen wird, im ganzen verdient

ist. Und erst, wenn wir unsere Schuld

abgebüßt haben und wenn Frieden für

uns wieder mehr ist als Ruhe und Faulheit,

dann wird dieser Opfergang sein

Ende nehmen.“ 8

Werner Ihmels, der 1949 mit 23 Jahren von

den Sowjets wegen seines Widerstands gegen

die Errichtung der neuen Diktatur hingerichtet

wurde, erklärte 1945 als 19-Jähriger

in amerikanischer Gefangenschaft:

„Ich glaube an eine göttliche Gerechtigkeit

in der Geschichte. Was wir jetzt erleben,

haben wir nur zu verdient.“ 9

7 BBC-Sendung ab Oktober 1940 bis 1945, in der Thomas Mann über Hitler, die deutschen Verbrechen und das Kriegsgeschehen

aufklärte, in: Ribi, Thomas: Thomas Mann. Hasspredigten gegen Hitler, Neue Züricher Zeitung, 06.03.2025. Sowie auch Ribi,

Thomas: Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland. Mit einem Vorwort und einem Nachwort von Mely Kiyak. Verlag

S. Fischer, Frankfurt 2025. 272 S.

8 Brief von Walter Wenzl vom März 1945, in: Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939–1945, Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen

und Stuttgart 1952, S. 451.

9 Ihmels, Werner in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Böhmen, 1945. Universitätsarchiv Leipzig: NA Ihmels, Persönliche

Papiere, in: C. M. Raddatz, „Carl Werner Oltmann Ihmels“, in: Schultze, Harald; Kurschat, Andreas (Hgg.):, „Ihr Ende schaut

an…“ Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006.

16


Die deutsche Bevölkerung war nicht unwissend.

Oft verschwanden jüdische Nachbarn.

Deren Eigentum eigneten sich Deutsche –

manchmal mit Scham, oftmals schamlos –

an 10 , sobald die Deportierten aus ihren Wohnungen

abgeholt worden waren. In vielen

Berichten wird deutlich, dass die Lager in

den Städten oder an deren Rändern vielen

bekannt waren. Zum KZ Buchenwald fuhr

eine eigene Buslinie von Weimar aus. Nach

Kriegsbeginn waren die zu Millionen nach

Deutschland verschleppten Zwangsarbeiterinnen

und Zwangsarbeiter auf den Höfen,

in den Küchen, an den Werkbänken nicht

zu übersehen. Das Schweigen darüber war

nicht Ausdruck von Unwissen, sondern oft

ein Akt der Verdrängung oder Billigung:

„Auf unsere Frage, ob ihm bekannt sei,

daß Millionen von Europäern unter den

Deutschen gehungert hätten und ermordet

worden seien, sagte er, daß er von solchen

Dingen wenig wisse, und seine Frau fügte

mit ihrer kalten, arroganten Stimme hinzu,

daß ihr so etwas nie zu Ohren gekommen

sei. Aus ihrem Tonfall ging hervor, daß sie

uns für Lügner hielt, und aus seinem, daß

wir unsere Zeit mit Nebensächlichkeiten

vergeudeten. ‚Ich kenne niemanden, der

sich so etwas wie Gaskammern und Exekutionen

ausdenken könnte‘. Jedenfalls

habe er damit nichts zu tun.“ 11

Die juristische Aufarbeitung, die nach dem

Krieg einsetzte, stieß rasch an Grenzen –

politisch, personell, psychologisch. Der

Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess

schuf einen neuen Maßstab internationaler

Strafverfolgung, aber er blieb für viele Deutsche

weit weg und wurde als Zeichen von

„Siegerjustiz“ gewertet. Zugleich diente

„Nürnberg“ der eigenen Entlastung. Dort seien

schließlich die Nazi- und Kriegsverbrecher

vor Gericht gestellt und verurteilt worden.

Verantwortung konnte nicht delegiert werden.

Aber genau das geschah: An die Täter

in Nürnberg, an die Juristen, an die Lehrer.

Die politische Elite der jungen Bundesrepublik

setzte auf wirtschaftlichen Aufbau und

soziale Befriedung. Die Erinnerung an die

Verbrechen des NS-Staates wurde an den

Rand geschoben. Möglichst weit außerhalb

des eigenen Blickfelds.

Lehrer, Richter, Ärzte – viele blieben – zumindest

im Westen – im Amt. Hier war die

Entnazifizierung oftmals eine Formalität.

Wer im Spruchkammerverfahren als „Mitläufer“

galt, konnte auf baldige Rehabilitierung

hoffen. Anders dagegen die Politik der

sowjetischen Besatzungsmacht: Dort wurde

ein rigoroser Elitentausch vollzogen: Lehrer,

Richter, Verwaltungsbeamte wurden aus ihren

Ämtern entfernt und durch neue Kräfte

ersetzt, um einen Neubeginn nach sowjetischem

Muster zu ermöglichen.

Und doch gab es Stimmen der Anklage, nicht

nur aus den Reihen der Alliierten, sondern

auch aus der deutschen Bevölkerung selbst.

Diese sprachen nicht nur die Verbrechen an,

sondern warben für den Aufbau einer neuen,

wahrhaft demokratischen Ordnung:

10 Siehe Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005.

11 Vernehmung von Herrn Schauerte, in: Padover, Saul. K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45.

Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 268.

17


„Jetzt wollten wir eine neue Welt bauen.

Nie wieder sollte es Haß und Krieg geben.

Wir wollten alles kennenlernen, was uns

bisher an Kunst und Kultur vorenthalten

wurde. […] wir waren da, ausgehungert,

aufnahmebegierig und bereit, uns selbst

voll einzubringen.“ 12

Wer sich nach Kriegsende zur deutschen

Verantwortung bekannte und die Verbrechen

benannte, riskierte soziale Isolation.

Die wenigsten empfanden Scham über das

Geschehene, und wenn, vermischte sich

diese mit Abwehr und dem Verweis auf

das eigene Leid. 13 Harald Welzer und seine

Ko-Autorinnen brachten es 2002 im gleichnamigen

Buch auf den Nenner: „Opa war

kein Nazi.“ 14

Die Dokumente aus den frühen Jahren zeigen,

wie sehr die Gesellschaft nach einem

moralischen Ausweg suchte – und wie bereitwillig

sie ihn fand. Das Bild vom „verführten

Volk“, das in die Irre geführt worden

sei, verdrängte die lange Phase der Zustimmung,

das Wohlwollen gegenüber der

Diktatur. Viele Menschen entschuldeten

sich selbst, indem sie sich als Verführte und

Belogene darstellten, wie Victor Klemperer

in seinem Tagebuch 1945 vermerkte:

„Für hier ist der Krieg fraglos vorüber.

Die Gruberin sagte: „Uns haben’s belogen,

moanens, daß nun besser kimmt?“ 15

Auf ähnliche Erklärungen und Selbst-Entschuldung

stieß der amerikanische Journalist

Saul K. Padover, der als Offizier der Abteilung

psychologische Kriegsführung mit

den amerikanischen Truppen in Deutschland

vorrückte. Er dokumentierte in unzähligen

Befragungen, was in den Köpfen der

Menschen vorging:

„Wie sie uns belogen und betrogen haben,

diese Nazis! Sie haben uns den Endsieg

versprochen. Sie haben uns Arbeit versprochen.

Sie haben uns alles versprochen.

Und wir sind hereingefallen auf sie.“ 16

Dass der Holocaust kein Betriebsunfall einer

entgleisten Clique um Hitler, sondern Ergebnis

einer antisemitischen Mehrheitskultur

war, blieb eine Erkenntnis, die nur langsam

in das öffentliche Bewusstsein vordrang. Das

Theaterstück: „Ich bin’s nicht, Hitler ist’s gewesen“,

brachte diese Verdrängung eigener

Verantwortung auf eine griffige Formulierung.

17

12 Graul, Elisabeth: Die Farce, Impuls Verlag, 3. erweiterte Auflage, Magdeburg 1996, S. 43.

13 Bode, Sabine: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015. Dieselbe: Die

vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012. Dieselbe: Kriegsenkel. Die

Erben der vergessenen Generation. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009.

14 Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline; Welzer, Harald: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis.

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002.

15 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945. 1995 (1999), S. 129.

16 Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main

1999, S. 28.

17 Theaterstück von Hermann van Harten, 1984 an den Freien Theateranstalten in Berlin (West) uraufgeführt.

18


„(…) so will aber auch niemand Nazi gewesen

sein von denen, die es fraglos gewesen

sind. – Wo ist die Wahrheit, wie läßt

sie sich nur annähernd finden?“ 18

Erich Nehlhans (1899–1950), der erste Nachkriegsvorsitzende

der Jüdischen Gemeinde

zu Berlin, beschrieb die Situation der Überlebenden

des Holocaust im noch immer von

Hass und Vorurteilen geprägten Nachkriegsdeutschland:

„Unsere Gemeinde soll eine kleine Heimat

für jüdische Menschen sein, bis unsere große

Heimat Palästina die Tore öffnet und wir

das Land der Verheißung betreten. Sie

will die Schwachen stützen und ihnen

Halt geben im Streit mit der noch immer

von Vorurteilen und Haß erfüllten Umwelt.

Wir wollen unsere Brüder zu wahrer

Religiosität zurückführen und ihnen den

Weg zu einem Leben als bewußte Juden

weisen.“ 19

Erst mit dem Generationenwechsel der

1960er Jahre kam das Thema im Westen in

das Zentrum der gesellschaftlichen Debatte

zurück.

18 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945, 1995 (1999), Eintrag vom 5. Mai 1945, S. 138.

19 Nehlhans, Erich: Gemeindezeitung „Der Weg“, 1. März 1946, in: Leo, Annette, „Erich Nelhans“, iin: Fricke, Karl Wilhelm,

Steinbach, Peter, Tuchel, Johannes: Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder, Beck, München 2002, S. 47.

19


3. Befreiungserfahrungen und

Ambivalenzen

„Was sollten wir tun, wohin gehen?“

Die Stunde der Befreiung schlug nicht überall zur gleichen Zeit und nicht in gleicher Weise.

Was am 8. Mai 1945 in der bedingungslosen Kapitulation des Oberkommandos der deutschen

Wehrmacht einen klaren juristischen Ausdruck fand, wurde von den Menschen vor Ort als ein

langsames, oft widersprüchliches Geschehen erfahren. Die alliierten Armeen rückten in ein Land

ein, das zerstört und moralisch zerrüttet war. Ihre Ankunft bedeutete das Ende der Diktatur,

aber nicht den Beginn von Erkenntnis und Anerkennen eigener Schuld und Verstrickung –

und für viele auch nicht das Ende von Angst und Gewalt. Für die meisten Deutschen war das

Ende der bestehenden Ordnung vor allem mit Unsicherheit und Ängsten verbunden.

„Wir nannten sie ‚Armee Gottes‘.“

Für die überlebenden Häftlinge der Konzentrationslager

hatte die Befreiung nach den erlebten

Schrecken oft etwas Unwirkliches. In

den Berichten vieler Überlebender des Nazi-

Terrors finden sich neben den Erzählungen

von Hoffnung auch Zweifel: Sollte der Terror

nun wirklich ein Ende haben? Viele berichten

in ihren Erinnerungen, dass der Tag der Befreiung

ihnen unwirklich erschien, wie ein

Traum. Damit waren die traumatischen Erfahrungen

mit Hunger, Krankheit, dem Zerbrechen

vertrauter Bindungen nicht vorüber,

wie die folgenden Berichte aus Bergen-Belsen

zeigen:

„Wir saßen draußen mit dem Rücken zu

unserer Baracke, umgeben von Leichen,

und hörten dieses Geräusch und plötzlich

hörten wir eine Durchsage: Ihr seid befreit.

Hier spricht die britische Armee, ihr seid

befreit, aber bitte bleibt ruhig. (...) Wissen

Sie, die Leute haben die Vorstellung, dass

wenn Menschen nach einer so schrecklichen

Zeit befreit werden, dass sie vor Freude

aufspringen, aber niemand ist vor Freude

aufgesprungen, wir waren alle sehr still,

zum Teil aus Mangel an Kraft und aus

Mangel daran, wirklich zu glauben, was

passiert, es war einfach zu gewaltig, um

wirklich verstanden zu werden.“ 20

Kurz nachdem das KZ Bergen-Belsen durch

die britische Armee befreit worden war, gab

Anita Lasker-Wallfisch der BBC ein Interview:

„Endlich am 15. kam die Befreiung. Die

Befreiung, auf die wir drei Jahre lang gehofft

haben. Noch können wir es nicht begreifen.

Noch glauben wir zu träumen.

Wir sehen die Engländer durch das Lager

fahren: Menschen, die uns nichts Böses

20 Interview mit Anita Lasker-Wallfisch, geführt von Joanna Buchan, 08.12.1998, USC Shoah Foundation, London (eigene Übersetzung).

https://www.youtube.com/watch?v=-ibZyQA0HUo (Min. 1:32:15).

20


wollen. Menschen, die uns helfen wollen.

Wir können es nicht begreifen. Man hat

Wasser gebracht, Wasser! Drei Wochen

waren wir ohne Wasser. Die Menschen

sind verdurstet. Heute früh ist noch eine

Kameradin von mir gestorben, angesichts

der Befreiung.“ 21

Eine deutsche KZ-Insassin erlebte die

Befreiung zwiespältig:

„Sonntags morgens um zehn kamen die

Engländer mit ihren Panzern ins Lager

Bergen-Belsen. Ich war in einer sogenannten

Schälküche, da hab ich mitgearbeitet,

Steckrüben und Kohlrüben kaputtschneiden.

Es war noch ein deutsches Mädchen

dabei, und alle anderen waren jüdische

Frauen. Als wir befreit wurden, da liefen

die Frauen ans Fenster und brüllten: Vivat,

vivat. Dann haben sie sich umgedreht und

haben uns beide, haben uns praktisch

geschnappt und uns mit Füßen aus der

Baracke rausgetreten und dabei gebrüllt:

Deutsche alles kaputtmachen, Deutsche

alles kaputtmachen, alles kaputtmachen.

Die haben auf uns rumgetrampelt, das

war ein ganz schlimmes Erlebnis für mich,

weil‘s unsere eigenen Kameradinnen

waren im Konzentrationslager.“ 22

Im einige Tage später befreiten KZ Dachau

berichteten ehemalige Häftlinge von ähn-

lichen Situationen. Während jene, die noch

genügend Kraft hatten, den Befreiern in die

Arme fielen und jubelten, nahmen andere

die Befreiung zunächst nur apathisch wahr:

„So mancher, mich eingeschlossen, verstand

gar nicht, was mit ihm vorging, daß

er keine Angst mehr haben mußte, daß er

von einer Minute zur anderen kein gehetztes

Tier, sondern ein freier Mensch geworden

war. Ich kann mich an keinen großen

Jubel erinnern, nur wenige hatten die Kraft

für stürmische Begeisterung, aber jeder gab

auf seine Weise seiner Freude Ausdruck.

Leute knieten nieder und beteten, weinten,

lachten, stürzten sich auf die Befreier und

umarmten sie. Andere suchten nach ihren

Freunden, um mit ihnen den großen Augenblick

zu genießen, und viele wußten

nicht, was sie mit der neuen Freiheit anfangen

sollten. Gab es Angehörige, zu denen

sie zurückkehren konnten, gab es eine

Heimat, die bereit war, sie aufzunehmen,

gab es eine Existenz für sie nach all den

Jahren, während derer für sie ‚gesorgt‘

worden war? Sehr, sehr viele der Befreiten

lagen irgendwo apathisch, entkräftet und

willenlos herum, und viele von ihnen überlebten

ihre Befreiung nur um Stunden

und Tage. Ihnen war nicht mehr zu helfen,

sie wußten gar nicht, daß sie befreit

waren.“ 23

21 Radioansprache von Anita Lasker-Wallfisch nach ihrer Befreiung aus Bergen-Belsen, 16.04.1945, ARD Archivradio,

https://www.swr.de/swrkultur/wissen/archivradio/befreiung-bergen-belsen-april-1945-radioansprache-anita-lasker-104.html.

22 Aus einem Interview mit Ilse Stephan, geführt 1994 von Leonie Wannemacher, Archiv „Deutsches Gedächtnis“, Lüdenscheid.

in: von Plato, Alexander und Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945-

1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 212.

23 Hermann, Heinz J.: Mein Kampf gegen die Endlösung. Von Troppau und Proßnitz durch Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau

und Dachau nach Israel. Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 2002.

21


„Drei Tage später hatten sich Isaac und

ich nicht bewegt und lagen immer noch

auf dem Boden. Wir dachten, dass wir uns

die Geräusche von Jubel, die vom Lagerplatz

zu uns hereindrangen, nur einbildeten.

Es klang so, als versuchten Gefangene,

die fast tot waren, in vielen verschiedenen

Sprachen ‚Befreiung, Befreiung‘ zu rufen.

Diejenigen, die wir am deutlichsten verstanden,

waren die jiddischen Stimmen:

‚Befreiung!‘ Wir waren verwirrt und doch

neugierig, warum so viele Muselmänner –

so nannten wir die Männer, die fast tot

waren – dieses Wort so ekstatisch riefen.

Mein Cousin und ich lehnten uns aneinander,

um Halt zu finden und zwangen

uns, irgendwie aufzustehen. Wir hielten

uns aneinander fest und humpelten auf

zittrigen Beinen nach draußen. Wir sahen

eine Menge jubelnder Gefangener,

von denen jeder der erste sein wollte, der

unsere Retter […] umarmt. Traurigerweise

sahen wir auch viele, die hinfielen und

starben, bevor sie ihre Befreier berühren

konnten.

Die Amerikaner waren durch den Anblick

der ausgemergelten, wandelnden Skelette

und der überall herumliegenden, aufgestapelten

Leichen so schockiert und angewidert,

dass viele von ihnen auf die Knie

fielen, schluchzten und sich übergaben.

Isaac und ich konnten kaum stehen und

hielten uns aneinander fest, zu benommen,

um uns zu bewegen und zu überwältigt,

um überhaupt zu denken. Wir sahen zwei

junge, saubere und gesunde amerikanische

Soldaten, die auf uns zukamen. Wir

wussten nicht einmal, was wir denken

oder fühlen sollten. Sie versuchten, ihr

Entsetzen über unseren Anblick mit einem

freundlichen Lächeln zu verbergen.“ 24

„Ich sah, wie Gefangene zum Haupttor

liefen. Ich war sehr schwach und konnte

kaum laufen, aber ich musste zum Tor.

Ich lief ein Stück, aber dann wurde mir

schwindlig und ich fiel hin. Mein Bruder

wollte nicht, dass ich ging, aber er folgte

mir. Als ich fiel, half er mir auf und ging

mit mir. Überall lagen hunderte von Leichen.

Wir waren gezwungen, auf manche

zu treten, um weiterzukommen.

Auf unserem Weg sahen wir riesige Soldaten,

die in ihren Armen ausgezehrte Opfer

trugen. Sie sprachen uns an, aber wir

konnten sie nicht verstehen. Als wir näher

kamen, sahen wir viele Soldaten das Lager

betreten. Es herrschte so ein Chaos und

Durcheinander, dass die Soldaten nicht

wussten, was sie als erstes tun sollten.

Sie gaben uns sofort zu essen: Kekse, Konserven,

Schokolade. Sie teilten sogar ihre

Zigaretten mit uns. Wir nannten sie

‚Armee Gottes‘. Ich schaute sie an, sie

schauten mich an. Ich wollte ein Soldat

sein, genau wie sie. Als ich so starke Männer

sah, die mein Leben gerettet hatten,

war ich so überwältigt vor Freude und

Glück. Wären sie ein paar Tage später

gekommen, hätte ich vielleicht nicht

überlebt.“ 25

24 Lesser, Ben: Ein Leben, das zählt. Vom Nazi-Albtraum zum American Dream, Wallstein Verlag, Göttingen 2023.

25 Bericht von Steve Ross, in: Dann, Sam: Dachau 29 April 1945. The Rainbow Liberation Memoirs, Texas Tech University Press,

1998.

22


Häftlinge des KZ Dachau begrüßen ihre Befreier.

„Noch weitere 6 Jahre verbrachte ich in

Sibirien, wo die Situation mir manchmal

schlimmer erschien als die in der Kriegsgefangenschaft.“

26

Viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und

Zwangsarbeiter, die aus der Sowjetunion

verschleppt worden und in Fabriken, auf

Feldern, in Haushalten geschunden worden

waren, erlebten das Ende des Krieges nicht

als Rückkehr in die Freiheit, sondern als

Phase der Ungewissheit. Der Weg zurück

in die Heimat war lang, gefährlich oder gar

unmöglich. Besonders für die aus der Sowjetunion

stammenden Gefangenen war die

Rückkehr in die Heimat oft der Beginn einer

neuen Repression: Sie waren durch den Stalin-Befehl

Nummer 270 vom 16. August 1941

zu Vaterlandsverrätern, Feiglingen und Deserteuren

erklärt worden, die vernichtet werden

müssten. Ihnen drohten nun allein für

den Umstand, dass sie die Gefangenschaft in

Deutschland überlebt hatten, erneute Lagerhaft,

Repressionen und Zwangsarbeit – nunmehr

im sowjetischen Gulag.

„In Brest wurde Anna P. von der Filtrationskommission

des NKWD [sowjetische

Geheimpolizei] verhört. Von einigen russischen

Offizieren seien die Russinnen als

26 Bericht von Watschik Howhannisjan – Freitagsbrief Nr. 135, 2009, übersetzt von Dr. Aschot Hayruni. Briefe ehemaliger sowjetischer

Kriegsgefangener. Aus dem Archiv vom KONTAKTE-КОНТАКТЫ e. V. https://kontakte-kontakty.de/watschik-howhannisjan-freitagsbrief-nr-135/

23


‚Deutschen-Hure‘ beschimpft worden. Es

kursierten Gerüchte, daß Familien nach

Hause entlassen würden, während alleinstehende

Mädchen Zwangsarbeit leisten

und junge Männer nach Sibirien in ein Gulag

[Straflager in der UdSSR] müßten.“ 27

„Dann kam der 23. Mai 1945 [sic!] und wir

waren endlich frei! An diesem Tag befreite

uns der KGB einer Armeeeinheit und ordnete

an, dass wir uns auf eigene Faust auf

den Weg nach Dresden machen sollten, von

wo aus wir in die Heimat gebracht würden.

(…) Meine Freunde und ich kleideten uns

neu ein und machten uns auf den Weg nach

Dresden. Bis dorthin waren es mehr als

100 km. Auf allen Straßen waren Menschenmassen

unterwegs, niemand wusste,

wer wohin ging. [...] manch einer führte

seine Habseligkeiten auf einem Fahrrad

oder einer Schubkarre mit sich. Ganz

Europa war in unterschiedlicher Richtung

unterwegs. Nach zehn Tagen erreichten

wir Dresden. Ein junger neunzehnjähriger

Leutnant nahm uns in Empfang, ein

KGBler, und machte uns in strengem Ton

Vorhaltungen, warum wir in Gefangenschaft

geraten waren und nicht wie Soja

Kosmodemjanskaj [Russische Partisanin,

die zur Heldin der Sowjetunion erklärt

wurde, nachdem sie Ende 1941 von der

deutschen Wehrmacht bei einem Sabotageakt

im besetzten Gebiet festgenommen und

öffentlich hingerichtet wurde. [Anm. d.

Übs.]] unser Leben beendet hatten. Wir

hörten uns diesen Grünschnabel an und

jeder dachte bei sich, dass es solche Funktionäre

waren wie er, auf die sich unser

System stützte. Man brachte uns in ein

riesiges Lager, in dem alle zusammengewürfelt

waren: Militärs, Zivilbevölkerung,

Frauen, Kinder aus allen Gebieten der

Ukraine, Weißrusslands, dem Baltikum

und Russland. Die SMERSCH-Kommission

[Tod den Spionen – Überprüfungskommission

für ehemalige Kriegsgefangene]

oder vielmehr der KGB arbeitete auf Hochtouren.

Man lud uns vor, notierte alles,

was mit uns während des Krieges passiert

war. Natürlich wurden alle Angaben

überprüft. Es hatte im Lager eine Akte

zu jedem von uns gegeben.“ 28

„Als ich nach Georgien zurückgekehrt

war, lernte ich das russische Mädchen

Tatjana Bobrowa kennen und heiratete

sie. Wir bekamen einen Sohn und zwei

Töchter, ein Sohn starb. Die damalige

sowjetische Regierung verzieh mir nicht,

dass ich mich den Faschisten lebend gefangen

gegeben hatte und erklärte mich

wie auch viele Tausend andere ehemalige

Kriegsgefangene zu Verrätern. 1953 schickte

man mich mit der Familie in das ferne

Baschkirien in die Verbannung, wo wir

mehr als 10 Jahre lebten und arbeiteten,

getrennt von allen Verwandten und

Freunden.“ 29

27 Aus einem Interview mit Anna P., geführt 1993 von Eva Ochs, übersetzt von Loretta Troebs, zusammengefaßt von Birgit

Langenscheidt, Archiv „Deutsches Gedächtnis“, Lüdenscheid, in: von Plato, Alexander und Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“.

Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 223.

28 Bericht von Anatolij Prokofjewitsch Kowalewskij – Freitagsbrief Nr. 142, 2010, übersetzt von Valerie Engler. Briefe ehemaliger

sowjetischer Kriegsgefangener. Aus dem Archiv vom KONTAKTE-КОНТАКТЫ e. V. https://kontakte-kontakty.de/anatolij-prokofjewitsch-kowalewskij-freitagsbrief-nr-142/

29 Bericht von Dawid Aleksandrowitsch Dartschija – Freitagsbrief Nr. 137, 2009, übersetzt von Gesine Reinwarth. Briefe ehemaliger

sowjetischer Kriegsgefangener. Aus dem Archiv vom KONTAKTE-КОНТАКТЫ e. V. https://kontakte-kontakty.de/ru/dawidaleksandrowitsch-dartschija-freitagsbrief-nr-137/

24


Was für die nach Deutschland Verschleppten

und Gefangenen zuerst einmal vor allem mit

Freude über die Befreiung und Hoffnung

verbunden war, sorgte unter der deutschen

Bevölkerung für Ängste und Unsicherheit:

„Es war Nachmittag, vielleicht gegen 15

Uhr, als wir in Höhe unseres Hauses auf

der anderen Straßenseite eine größere Menschenansammlung

sahen. Gefangene! Ostarbeiter!

Ukrainer, Polen, Russen, Franzosen.

In Sandbergs Fabrik, im Baugeschäft

Conrad und bei der Firma Wernerscheidt

am Crossener Tor beschäftigt. Untergebracht,

d.h. eingepfercht, waren sie auf dem

Hof hinter der Molkerei Günther. Viele Mädels

waren darunter. Wir tauchten hinter

der Fensterbrüstung ab und verbreiteten

mit unserer Mitteilung Angst im Keller. […]

Bald hörten wir ein gewaltiges Rasseln von

Panzerketten aus Richtung Grundfarbe/

Pechring, in das sich der Jubel der wartenden

Kriegsgefangenen mischte. Sie warfen

ihre Mützen hoch, brüllten, weinten, umarmten,

tanzten.“ 30

„Die Furcht vor den ‚Russen‘ war groß.

Jahrelange Propaganda hatte die ‚Bolschewisten‘

in unserer Vorstellung zu Unmenschen

gemacht, die Kinder schlachten und

Frauen vergewaltigen würden. Der Rotarmist

mit dem bluttropfenden Messer im

Mund – so etwa schwebte er vor meinen

Augen. Der Gedanke, sich das Leben zu

nehmen, wenn die ‚Russen‘ kommen,

wurde schon mal ausgesprochen, nach dem

Motto: ‚Lieber ein Ende mit Schrecken, als

Schrecken ohne Ende!‘“ 31

Insbesondere Frauen fürchteten um ihr Leben:

„Die folgenden Monate waren sehr schlimm.

Ich erinnere mich an die Grundstimmung:

Das Leben ist zu Ende, die ganze Welt ist

zu Ende, es gibt keine Zukunft mehr.“ 32

Für viele stand die Frage im Raum, wo sie

künftig leben sollten:

„Die Unsicherheit war groß: was sollten

wir tun, wohin gehen?“ 33

Die Ambivalenz der Befreiung zeigte sich

auch in den Erfahrungen der Kinder. Für sie

war der Krieg keine Geschichte, sondern Erfahrung.

Die Soldaten – das waren Besatzer

und Befreier, Fremde und Versorger, Bedrohung

und Hoffnung zugleich.

„Das Leben schien nun völlig neu zu beginnen.

Wir jungen Leute nutzten den

Frühling und die Freiheit, uns zu treffen

und bei Spiel und Spaß zu vergnügen.

Mit unserem Schulenglisch versuchten wir

Kontakt zu den amerikanischen Soldaten

aufzunehmen, um in den Besitz bisher

unbekannter Nahrung sowie Genussmittel

zu kommen. An oberster Stelle standen

Zigaretten, vorwiegend Camel, und Kau-

30 Bericht von Manfred K., 1997, S. 11. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

31 Bericht von Hans O., Datum unbekannt, S. 3. Aus Bestand SuperIllu 2015. Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-

Diktatur.

32 Bericht von Anita L., 2007, S. 1. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

33 Bericht Familie Balz, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,

die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 63.

25


gummi. Die Nahrungsmittel waren größtenteils

als Komplekte vorhanden und in

Paketen als Tages- oder Wochenration verpackt.

In Wasser aufgelöst und gekocht,

ließ sich alles als Speise und Getränk verwerten.

Dieser Zustand der allgemeinen

Zufriedenheit und der Hoffnung auf ein

Leben in Frieden und Freude bekam nach

kurzer Zeit einen ersten Knacks. Das Potsdamer

Abkommen der Alliierten sah vor,

Berlin in Sektoren aufzuteilen. Demzufolge

zogen sich die amerikanischen Besatzungstruppen

aus Thüringen in das Hessische

zurück und überließen uns einer

neuen Besatzungsmacht, der sowjetischen.

Diese rückte im Juli 1945 auch bei uns ein.

Damit begann sich vieles zu ändern, im

Aufbau der kommunalen Struktur, in der

Besetzung leitender Stellen, im Aufbau der

Betriebe und in der Versorgung der Bevölkerung.

Der Aufbau der Industrie wurde

anfangs der Reparation geopfert. Ganze

Betriebe und Werke sowie Bahngleise

wurden abgebaut und in die Sowjetunion

transportiert. Das war einesteils berechtigtes

Opfer für deutsche Zerstörungen während

des Krieges in den Weiten Russlands, andererseits

aber ein Handikap, von dem

sich Ostdeutschland kaum oder nur schwer

erholte. Im Westen Deutschlands hingegen,

machte sich mit alten Strukturen ein

wirtschaftlicher Aufschwung auf die Beine,

der durch den Marshall-Plan als Stelze

rundum unterstützt wurde. Das Leben in

unserem Städtchen nahm langsam wieder

normale Konturen an. […]“ 34

Bertolt Becht bezeichnete Berlin zu Kriegsende als den Trümmerhaufen neben Potsdam. Viele Kinder

wuchsen in Ruinen auf.

34 Bericht von Lorenz E., 2004, S. 7 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

26


4. Deutsche Perspektiven: Schuld,

Verlust, Verdrängung

„Es gibt keine Zukunft mehr.“

Zu den Unsicherheiten, wie es nach Kriegsende weitergehen würde, trugen unzählige Gerüchte

bei: Hatte Hitler in seiner „Alpenfestung“ tatsächlich noch einen nachhaltigen Widerstand gegen

die Alliierten organisieren können? Würde es einen neuen Krieg zwischen den USA und

der Sowjetunion geben? Würden sich die USA dafür mit Deutschland verbünden? Wer würde

wem den Krieg erklären? Und was würde das für die Deutschen bedeuten? Zugleich hieß es,

Hitler und Goebbels seien tot. Da es kaum offizielle Nachrichten gab – und diesen, falls es sie

gab, nach den jahrelangen Propagandameldungen und Lügen kaum mehr geglaubt wurde,

bestärkten die Gerüchte die bestehenden Unsicherheiten. Dies betraf alle, unabhängig davon,

wie sie zuvor zum NS-Regime gestanden hatten, ob sie ihm zugejubelt und an einen „Endsieg“

geglaubt hatten, Hitler und Konsorten bereitwillig gefolgt waren oder zu einer der unzähligen

von den Nazis verfolgten, bedrohten und ermordeten Gruppen gehörten. Viele stellten sich die

Frage, wohin sie gehen sollten. Welche Region würde ein sicheres Leben ermöglichen?

Um die deutsche Bevölkerung mit den Gräueln der Naziherrschaft zu konfrontieren, wurden

Tausende in die befreiten Konzentrationslager gebracht, damit sie dort die begangenen Verbrechen

mit eigenen Augen sehen sollten. Im Bild Bewohner Weimars, die im KZ Buchenwald mit den

Leichen getöteter Häftlinge konfrontiert werden.

27


„Wohin sollten wir auch gehen? […] Was

nun folgte, war fast schlimmer als die

Flucht: Waren wir doch nach Hause zurückgekehrt,

um wieder ein friedliches

und normales Leben zu führen.“ 35

„Wo ist die Wahrheit? Wie läßt sie sich

nur annähernd finden?“ 36

Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hatte

sich während der Nazi-Herrschaft ruhig

verhalten. Die NSDAP war bei den Wahlen

im März 1933 mit 43,9 Prozent der Stimmen

stärkste Kraft geworden und Hitler als Reichskanzler

bestätigt worden. Nach der Machtübernahme

installierten die Nazis ihr Terrorregime:

Politische Gegner wurden verhaftet

und in Lager und Gefängnisse verschleppt,

gefoltert und ermordet. Zahlreiche Erlasse

und Gesetze richteten sich gegen jüdische

Deutsche, die in den Folgejahren sukzessive

von allen öffentlichen Ämtern und dem

öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden.

Zigtausende wurden ins Exil getrieben. Nach

dem deutschen Überfall auf Polen begann

die Verschleppung von Menschen aus ganz

Europa in die Konzentrations- und Vernichtungslager.

Widerstand dagegen gab es im

deutschen Reich kaum.

Dies stellte auch Saul K. Padover in einem

ersten Bericht 1944 fest:

„Alle anderen, die sich als vehemente Nazigegner

äußerten, verhielten sich untätig

und konnten sich aktiven Widerstand

nicht einmal vorstellen.“ 37

„Oh, wie sie Hitler seinerzeit geliebt

haben! Nun, da sich das Blatt gewendet

hat und sie ein wenig leiden – freilich

nicht annähernd so viel wie unsere Opfer –,

sind sie auf einmal Nazigegner.“ 38

Als der Krieg Ende 1944 ins Deutsche Reich

zurückkehrte, fürchteten viele Deutsche die

Rache der Sieger. Zu viel war mittlerweile über

deutsche Verbrechen bekannt geworden. Anders

als für die Überlebenden der KZ und der

mörderischen Nazi-Politik erlebten sie das

Kriegsende zwiespältig. In die Erleichterung,

dass der Krieg und die Bombardements nun

vorüber waren, mischten sich Ungewissheiten

und Ängste. Während die einen dem Kriegsende

positiv entgegensahen und sich endlich

Frieden und einen Neubeginn erhofften, trübten

bei anderen die Angst vor dem Ungewissen

sowie die Angst vor Rache und Vergeltung

diese Erwartungen.

Wieder andere hingegen nahmen die Niederlage

und Kapitulation als schweren Schlag

wahr, hatten sie doch bis zum Schluss an den

„Endsieg“ und die Fähigkeiten des „Führers“

mit seiner lange angekündigten „Wunderwaffe“

geglaubt, die drohende Niederlage

noch in einen Sieg zu verwandeln.

35 Bericht Familie Balz, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,

die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019,

S. 64.

36 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1995 (1999), S. 138.

37 Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main

1999, S. 91.

38 Vernehmung von Thal, Bernhard, in: Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45.

Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 54.

28


„Anders als die Völker, denen dieser Sieg

die Befreiung von deutscher Fremd- und

Gewaltherrschaft brachte, bedeutete der

‚Zusammenbruch‘ des nationalsozialistischen

Regimes für viele Deutsche zugleich

den Zusammenbruch ihres Glaubens an

den ‚Führer‘ und ihrer Hoffnungen auf einen

deutschen ‚Endsieg‘. Als Befreiung erlebten

die bedingungslose Kapitulation

zunächst nur die Deutschen, denen der verbrecherische

Charakter von Hitlers Herrschaft

schon vorher bewusst geworden

oder von jeher bewusst gewesen war.“ 39

der als Jude die Nazi-Zeit unter großen Entbehrungen

und Schikanen überlebt hatte,

notierte seine Beobachtungen in seinen

Tagebüchern:

„Auch hat – unglaublichste Sache, aber

buchstäblich wahre! – der Bürgermeister

das über dem Wappen des Giebels des

Amtshauses angebrachte Hakenkreuz

entfernen lassen! – […]“ 41

Für viele Deutsche standen das eigene Leid,

die erlebten Gräuel, der Verlust der Heimat

an erster Stelle. Was Deutsche getan hatten,

wurde kaum reflektiert:

„Mit dieser zweiten Flucht verloren wir

nicht nur unseren Hof und die materielle

Existenz, sondern auch unsere Heimat.

Durch die Willkür eines grausamen Krieges

im eigenen Land fremd geworden, bekamen

wir als Deutsche nach der Aggression

der Polen nun die Willkür der Russen

zu spüren.“ 40

Victor Klemperer, der das Kriegsende in

Bayern erlebte, beschrieb die Ambivalenz

zwischen Abwehr eigener Schuld und Verantwortung

sowie Hoffnung. Noch bis 1945

stramm zum Nationalsozialismus stehende

und diesen verteidigende Funktionäre entfernten

nun die Insignien der Macht an Rathäusern

und Dienststellen. Victor Klemperer,

Zu Kriegsende entledigten sich viele ihrer

NS-Uniformen und warfen diese in den Müll –

in der Hoffnung, so der drohenden Verfolgung

zu entgehen.

39 Rede von Prof. Dr. Heinrich August Winkler zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, 8. Mai 2015, Deutscher

Bundestag (Hg.), https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2015/kw19_gedenkstunde_wkii_rede_winkler-373858.

40 Bericht Familie Balz, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,

die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019,

S. 66.

41 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1995 (1999), Eintrag vom 28. April 1945, S. 128.

29


„Die früher den Arm nicht hoch genug

kriegten, waren plötzlich überzeugte Kommunisten.

Es wurde angeordnet, zu Ehren

der Befreiung, die Häuser mit roten

Fahnen zu beflaggen.“ 42

Viele entdeckten nun auch die über Jahre

verschwundene Nächstenliebe wieder und

versuchten vergessen zu machen, woran sie

sich beteiligt hatten:

„Ich fand unter den Bauern von Unterbernbach

große moralische Unterschiede

[…] Der Ortsbauernführer, der längst von

seiner Liebe zur Partei abgekommen war,

aber seinen Posten nicht hatte aufgeben

dürfen, glich in seiner immerwährenden

Hilfsbereitschaft und Wohltätigkeit für

jeden Flüchtling in Zivil und Uniform

haargenau einem Exemplus der Güte […]

und auf der anderen Seite der Kerl, dem

wir für die erste Nacht zugewiesen waren

und der uns das Wasser zum Waschen verweigerte;

[…] und zwischen diesen beiden

Extremen so viele Abstufungen; darunter

unsere Wirtsleute, dem Übel extrem

näher als dem Guten.“ 43

Hilfeleistungen für Juden wurden besonders

hervorgehoben:

„[...] sie rühmte sich also, wie oft ihr Mann

[…] wie oft er, wie oft sie beide Juden geholfen,

Leute aufgenommen, verborgen, befördert

hatten, die ohne Papiere waren – und

nun soll er leiden und in Aichach laufen die

ärgsten Nazis noch frei herum!

Die Amerikaner sind bestimmt in vielen

Fällen sehr falsch berichtet! […] Und

ich selber. Ich habe der Frau Steiner

gesagt, vielleicht könnte ich ihr einmal

behilflich sein, mein Name sei angesehen

und mich hätten die Nazis aus dem Amt

gejagt. […]“ 44

Gleichzeitig beherrschte die Angst vor fanatischen

Nazis weiter den Alltag. Obwohl der

Krieg längst verloren war, verhängten Militärgerichte

noch immer Todesurteile gegen

desertierende Soldaten, die versuchten, dem

Terror durch Flucht zu entkommen:

„Im August 1939 hatten wir in Dresden

mit angesehen, wie das Heer würdelos

heimlich zusammengeholt worden war;

jetzt sahen wir es würdelos heimlich versickern.

Von der Front bröckelten Grüppchen

und einzelne ab, kamen aus den Wäldern

geschlichen, schlichen durchs Dorf,

suchten Essen, suchten Zivilkleidung,

suchten Ruhe für eine Nacht. Dabei glaubten

einige unter ihnen noch immer an den

Sieg. […] Unter den hier einquartierten

Flüchtlingen aber und unter den Ortsansässigen

[Aichach] gab es niemanden

mehr, der noch im geringsten an den Sieg

oder an den Fortbestand der Hitlerherrschaft

geglaubt hätte. In der vollkommenen

und erbitterten Verurteilung des

Nazismus glichen die Bauern von Unterbernbach

haargenau den Bauern von

Piskowitz. Nur daß die Wenden diese

Feindschaft von Anfang an bezeigt hatten,

die bayerischen Bauern aber hatten

42 Bericht Vogeley, Karl Heinz, 2007, S. 4. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung

der SED-Diktatur.

43 Klemperer, Victor: LTI – Notizbuch eines Philologen. Reclam-Verlag, Leipzig 1975, S. 329.

44 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945, 1995 (1999), Eintrag vom 5. Mai 1945, S. 138.

30


Millionen Deutsche jubelten Hitler und seinen Komplizen zwischen 1933 und 1945 wie hier 1938 in

Bad Godesberg zu. Nach dem Krieg wollte kaum noch jemand Hitleranhänger gewesen sein.

im Beginn auf ihren Führer geschworen.

[…] aber gesinnungsmäßig wäre man sehr

rasch einig gewesen: das Dritte Reich

lehnten sie alle ab.“ 45

„Also, das Gefühl der Befreiung ist eher eine

intellektuelle Leistung, die sich später ergab.“

Deutsche Kriegsgefangene, die nun in alliierter

Hand waren, schwankten zwischen

Resignation und Hoffnung. Für viele dauerte

die Gefangenschaft Jahre – in Frankreich, in

der Sowjetunion, in Großbritannien, den USA.

Ihre Lagerberichte sind weniger Zeugnisse

politischer Einsicht als von körperlichem

Entbehrungskampf. Der Begriff der Befreiung

blieb für sie abstrakt – sie hatten verloren,

aber nicht immer verstanden, warum.

„Die Gefangenen – und ich auch – empfanden

den Tag der Kapitulation schon

als Niederlage, als eine Katastrophe und

eine Niederlage für Volk und Nation und

Reich usw. Also, das Gefühl der Befreiung

ist eher eine intellektuelle Leistung, die

45 Klemperer, Victor: LTI. 1975, S. 328 f.

31


sich später ergab. Aber damals empfand

ich es so, wie damals auch die Redensart

war: Deutschland in der Stunde seiner

tiefsten Erniedrigung. Wir lagen eben

am Boden.“ 46

In den Erinnerungen dominieren Bilder von

Trümmern, Hunger, Flucht, Gewalt – Erfahrungen,

die das Selbstbild der deutschen Nachkriegsgesellschaft

entscheidend prägten. Die

eigene Opferrolle verdeckte dabei oft die eigene

Verantwortung. Der Zusammenbruch des

Nationalsozialismus bedeutete für Millionen

die Auflösung der sozialen Ordnung, die Zerschlagung

von Gewissheiten, das Ende eines

Weltbilds, in dem man selbst sich anderen

überlegen fühlen konnte. Doch an die Stelle

einer kritischen Auseinandersetzung mit den

Ursachen trat nicht selten ein Gefühl der

Kränkung: Wir haben alles verloren, wir waren

ja selbst auch Opfer und haben viel Leid

erfahren, lautete eine oft wiederholte Formel.

Das verführte Volk

In dieser Gemengelage entstand die Legende

vom „verführten Volk“. Sie entlastete – und

sie stabilisierte. Die Schuld wurde externalisiert

und personalisiert: Hitler, Himmler,

Göring. Die Masse sei irregeleitet, nicht

willentlich beteiligt gewesen. Selbst wenn das

Eingeständnis der eigenen Beteiligung an

Verbrechen unausweichlich war, wurde es

mit dem Verweis auf Befehle oder geltende

Gesetze abgemildert: „Was damals Rechtens

war, kann heute nicht Unrecht sein“, brachte

es Hans Filbinger noch 1978 in einem Spiegel-Interview

auf die von vielen benutzte

Entschuldungsformel 47 . Die nationalsozialistische

Herrschaft wurde so zur Episode

moralischer Verirrung, nicht zur Geschichte

einer individuellen und gesellschaftlichen

Komplizenschaft.

Viele Zeitzeugen schildern eine Haltung des

emotionalen Rückzugs. Das Unausgesprochene

durchzog die Familien. Die Verluste – von

Angehörigen, Heimat, Besitz – waren real,

aber sie wurden nicht in ein Verhältnis gesetzt

zu den Verbrechen, deren Konsequenzen sie

auch waren. Stattdessen fand eine Umdeutung

statt: Der Luftangriff auf Dresden, das

Inferno von Hamburg, die Massaker der

Roten Armee an Zivilisten – sie prägten eine

Erinnerungskultur, in der man selbst das

größte Leid erfahren hatte, das gleichsam

wie aus heiterem Himmel über einen gekommen

war. Für das Leid der anderen

blieb wenig Raum:

46 Aus einem Interview mit Siegfried Maruhn, geführt 1987 von Nori Möding und Alexander von Plato, Archiv „Deutsches Gedächtnis“,

Lüdenscheid, in: von Plato, Alexander und Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland

1945–1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 364.

47 Der Spiegel: Affäre Filbinger: „Was Rechtens war ...“. Der Spiegel (14.05.1978), Nr. 20. https://www.spiegel.de/politik/affaere-filbinger-was-rechtens-war-a-9b1dbeab-0002-0001-0000-000040615419?context=issue.

32


„Als Hitler seine Siege feierte, habe ich nie

gehört, daß irgendein Deutscher Anteil am

Los der Unterdrückten genommen hätte.

Im Gegenteil: die Deutschen reagierten

mit Schadenfreude. Als die Wehrmacht

in Holland einmarschierte, haben meine

Nachbarn gesagt: ‚Ihnen ging es gut, als

wir arm waren und am Boden lagen.

Sollen sie ruhig lernen, was es heißt,

arm und notleidend zu sein‘.“ 48

„Die Deutschen, sagte er, seien unschuldig.

Auch die deutschen Generäle trügen

keine Schuld. ‚Sie sind Berufssoldaten,

keine Politiker. Sie beschäftigen sich nicht

mit Politik. Sie führen Befehle aus.‘ Auch

den Geschäftsleuten, die Hitler unterstützt

und vom Regime profitiert hatten, komme

keine Schuld zu. ‚Wir sind alle unschuldig‘,

sagte König mit matter Stimme. ‚Man

darf das deutsche Volk nicht bestrafen.‘“ 49

In den frühen Jahren der Bundesrepublik

entstand daraus eine Haltung, die der amerikanische

Historiker Robert Moeller später

als „Gleichgewicht des Leids“ bezeichnete. 50

Dennoch bleibt festzuhalten: Die Verdrängung

war nie vollständig. Es gab Einzelne,

die sprachen – in Tagebüchern, in Briefen, in

Gesprächen mit Vertrauenspersonen. Doch

sie blieben lange randständig. Sie wurden

angefeindet und ausgegrenzt. Die breite Mehrheit

wollte vergessen und nicht erinnert werden.

Die westdeutsche Gesellschaft entwickelte

eine Stabilitätskultur, die auf Schweigen

beruhte. Erst mit der Generation der 68er

wurde diese Struktur brüchig.

48 Vernehmung von Thal, Bernhard, in: Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45.

Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 54 f.

49 Vernehmung von König, Hans, in: Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn

Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 45 f.

50 Moeller, Robert G.: War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany. University of California

Press, 2001.

33


5. Flucht, Vertreibung und Neuanfang

„Es war wirklich höchste Zeit.“

Während die Truppen der Roten Armee Ende 1944 von Osten her immer näher an das deutsche

Reichsgebiet heranrückten und die deutsche Wehrmacht aus den eroberten und besetzten

Gebieten der Sowjetunion und Polens weiter nach Westen zurückdrängten, als also die Niederlage

längst absehbar war, verbreiteten Nazi-Funktionäre immer noch Durchhalteparolen. Wer

am „Endsieg“ zweifelte, wurde wegen Defätismus angeklagt und hingerichtet.

Der letzte Winter des Krieges wurde zum Vorboten

eines Exodus von historischem Ausmaß.

Millionen Deutsche flohen vor der heranrückenden

Roten Armee, getrieben von der

Angst vor Vergeltung, bestärkt durch Gerüchte,

Propaganda, aber auch Berichte von

jenen, die das Vorrücken der Roten Armee im

Osten er- und überlebt hatten. Die Ostseehäfen

waren überfüllt, Landstraßen verstopft mit

Wagenkolonnen, auf denen Familien ihre

Habseligkeiten türmten. In den Rückblicken

dominieren die Erinnerungen an klirrende

Kälte, nächtliches Artilleriefeuer und das

Dröhnen sowjetischer Panzer.

Die Erinnerungen vieler Menschen sind geprägt

von großen Entbehrungen, Angst und

langen Fußmärschen zwischen den Fronten.

Diese Bewegung hatte oft keinen Plan, jedoch

ein Ziel: Nur weg. In vielen Dörfern, Städten

und Vororten folgten auf den Einmarsch der

Truppen Tage und Wochen der Angst und

der Gewalt.

Die Flucht wurde – entsprechend den Durchhalteparolen

– für viele Gebiete wie Ostpreußen

oder Schlesien viel zu spät angeordnet.

Fliehende Zivilisten mischten sich mit

Truppen, die noch an die Front verlegt wurden.

Ein unbeschreibliches Chaos war die Folge:

„Am 22. März 1945 wurde offiziell der

Befehl gegeben, Possnitz zu räumen. […]

Die wertvolleren Sachen hatte man vorher

schon in einem Banksafe deponiert,

anderes wurde im Garten vergraben. […]

In der Ferne hörte man die Einschläge der

Kanonen und in Richtung Leobschütz

war Feuerschein zu sehen. Für die ersten

2 Kilometer benötigte der Treck mehrere

Stunden.“ 51

„Der Oberste des Militärs gab den Befehl,

dass die Männer nicht flüchten dürfen,

nur die Frauen und die Kinder.“ 52

51 Bericht Familie Deloch, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,

die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 75.

52 Bericht über die Flucht der Familie Balz aus Kukehnen bei Zinten, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn.

Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse.

http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 51.

34


Im eisigen Winter 1944/1945 flohen Millionen Deutsche vor der heranrückenden Front aus

Ostpreußen Richtung Westen.

Da bereits die Vorbereitungen auf eine

Flucht als Hochverrat ausgelegt wurden,

kam der Befehl zur Evakuierung aus den

deutschen Ostgebieten, die zuerst von der

Roten Armee erreicht wurden, für viele

schließlich überraschend und zu spät. Oft

war die sowjetische Armee nur wenige Stunden

entfernt und der Geschützdonner bereits

deutlich zu vernehmen:

„Am 8. Februar [1945] gab Gauleiter Koch

aus Königsberg dann den Befehl, dass die

Bevölkerung nach Westen flüchten soll.

[…] Es war wirklich höchste Zeit zu flüchten.

Es entstand ein großes Chaos. Der

Himmel und die Erde brannten.“ 53

Trotz des Verbots, sich auf eine Flucht vorzubereiten,

hatten viele Menschen angesichts

der näher rückenden Front heimlich begonnen,

das Nötigste zu packen. Die Front erfahrenen

Männer versuchten ihren Frauen und

Familien aus der Ferne Ratschläge zu geben,

wie sie die Flucht vorbereiten sollten:

„Vor allem denke Du nicht wieder zuerst an

die anderen. Du hast genug mit Dir zu tun

[…] Stell Dir nur beizeiten Esswaren genug

bereit, vor allem Eingewecktes, dann

Mehl und Zucker in Säcken und Körben.

Das muss dann alles auf einen Kastenwagen

und den schwarzen Kutschwagen hinten

angehängt, wo Du mit den Kindern

drinsitzen kannst. Betten und was anzuziehen

reichlich auf den Kastenwagen, ein

paar Sack Pferdefutter, sämtlichen Speck

und Futter. Die Wurst tu dir am besten in

einen Reisekorb oder die Wäschetruhe.“ 54

53 Flucht der Familie Balz aus Kukehnen bei Zinten, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge

und Heimatvertriebene, die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de,

Books on demand 2019, S. 50.

54 Bericht von Familie Grundmann aus Malsen, Landkreis Breslau, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn.

Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse.

http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 62 f.

35


Menschen aus der Region Königsberg auf der Flucht.

Die Erfahrung, dass die Front weit schneller

die deutschen Ostgebiete erreichte, als die

NS-Propaganda den Menschen weisgemacht

hatte, brachte für viele die erste reelle Konfrontation

mit dem Krieg und seinen Folgen:

„Es war ja nun Krieg, aber in Ostpreußen

haben wir das nicht gespürt. Es war ja tiefster

Friede bis zum schrecklichen Ende, das

ist ja das Unbegreifliche. Es war mitten im

Frieden, als das schreckliche Ende kam. Keine

Bomben; wir haben niemanden verloren.

Das kam erst alles ganz zum Schluß.“ 55

„Das plötzliche Kriegsende beendete unsere

Flucht nur vorübergehend und angesichts

der Kapitulation der Deutschen traten wir

also den Heimweg an. Max und Charlie

nutzten die Gelegenheit, um sich von uns

abzusetzen. Sie wollten auf keinen Fall den

Russen in die Hände fallen. Noch unterwegs

begriffen wir, wie sehr die beiden

Recht hatten. Bekamen wir doch schon

bald die Wut und Rachegelüste der russischen

Soldaten und polnischen Kriegsgefangenen

zu spüren.“ 56

55 Aus einem Interview mit Eva Früde (Pseudonym), geführt 1995 von Alexander von Plato, Archiv „Deutsches Gedächtnis“, Lüdenscheid,

in: von Plato, Alexander und Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland

1945–1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 196.

56 Bericht der Familie Balz, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,

die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand

2019, S. 63.

36


Besonders Frauen trugen die Lasten von Flucht und Vertreibung.

Allerdings glaubten die meisten, dass ihre

Flucht nur vorübergehend sein würde und

sie nach Ende des Krieges wieder in ihre Häuser

und Wohnorte zurückkehren könnten:

„Sie alle hatten aber nur das gemeinsame

Ziel; nämlich dieses Chaos zu überstehen,

um vielleicht eines Tages zurück zu kehren,

zurück in die Heimat, wenn der Krieg

vorbei sein würde, und wieder normale

Zeiten vorherrschen.“ 57

Lebensmittel wurden haltbar gemacht und

gemeinsam mit Wertgegenständen, die man

nicht auf die Flucht mitnehmen konnte, ver-

graben, damit sie der Roten Armee nicht in

die Hände fallen würden:

„Dann hieß es aber doch: ‚Alles vorbereiten

für eine Flucht!‘ Wo bleiben mit dem

ganzen Hab‘ und Gut? Mitnehmen konnte

man nur das aller Notwendigste. Also

entschloß man sich, Glas, Geschirr, Ledersachen

und so weiter in Kisten gut zu

verpacken und dann alles im Garten zu

vergraben“ 58

Marion Gräfin Dönhoff beschrieb in ihren

Erinnerungen, wie die Flucht verlief. Der Beschreibung

vom letzten Abendbrot haftet etwas

Unwirkliches an:

57 Bericht von Rosel S., 2004, S. 7. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

58 Bericht von Günter S., ohne Datum, S. 1. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

37


„Auch ich hatte schnell, was mir am unentbehrlichsten

schien, in einem Rucksack

zusammengepackt: etwas Kleidung und

ein paar Fotografien und Papiere. Eine

Satteltasche mit Waschsachen, Verbandzeug

und meinem alten spanischen Kruzifix

lag ohnehin fertig gepackt, stets griffbereit.

Trudchen, meine Köchin, hatte schnell

noch Abendbrot gemacht, das wir gemeinsam

verzehrten, auch die beiden Sekretärinnen

stießen dazu. Fräulein Markowski,

die ältere, war eine begeisterte Anhängerin

des Führers, die jahrelang jede Sondermeldung

bejubelt hatte – und jetzt war sie sehr

still, aber ich bin überzeugt, dass sie sich

fragte, ob nicht doch die Ungläubigen und

‚Verräter‘ an diesem Debakel Schuld seien.

[…] Wir aßen also noch rasch zusammen:

Wer weiß, wann man wieder etwas bekommen

würde… Dann standen wir auf, ließen

Speisen und Silber auf dem Tisch zurück

und gingen zum letzten Mal durch die

Haustür, ohne sie zu verschließen. Es war

Mitternacht. Draußen hatte sich inzwischen

der Treck formiert. […] Auch interessierte

mich sehr, was wohl die braunen

Funktionäre, die noch vor drei Tagen alle

Fluchtvorbereitungen für Defaitismus gehalten

hatten und schwer hatten bestrafen

wollen, jetzt wohl täten.“ 59

„Wenn wir schon unter die Russen fallen,

dann schon lieber zu Hause …“– das war

in etwa die Formel, auf die sich viele geeinigt

hatten. Und noch etwas hatten sie alle

miteinander inzwischen beschlossen:

dass ich versuchen sollte, mit meinem

Pferd nach Westen durchzukommen,

denn mich würden die Russen bestimmt

erschießen, während sie selbst nun in Zukunft

für die Russen die Kühe melken und

die Scheunen ausdreschen würden. Wie

irrig die Vorstellung war, dass den Arbeitern

nichts geschehen würde, ahnten weder

sie noch ich damals.“ 60

Auch wenn sich mit dem nahenden Kriegsende

immer mehr Personen auf die Flucht

begaben – Schätzungen zufolge waren 1945

zwei Drittel der Deutschen auf der Flucht 61 –,

gab es auch einige, die ihre Heimat aus verschiedenen

Gründen nicht verlassen wollten:

„Wie andere auch, so wurden Herrmann’s

von Amtswegen aufgefordert sich evakuieren

zu lassen. Emmi war nicht nur sehr heimattreu,

sie war auch verbittert über alles,

was mit dem Krieg und seinen Folgen zusammenhing.

Sie hoffte auf ein friedvolles

Familienleben im eigenen Haus. (…) Das

Haus musste sie allein fertigstellen und

nun, kaum daß es bewohnt war, sollte sie

auch das noch aufgeben? Nein! Das war

ihre Antwort. ‚Erfrieren können wir auch

zu Hause, auf die Straße jage ich euch

nicht!‘“ 62

Oftmals war es auch die Hoffnung auf ein

Wiedersehen mit Angehörigen, die die Menschen

dazu brachte, nicht zu fliehen:

„Nur einige Menschen blieben zurück, die

sich weigerten alles im Stich zu lassen, so

wie z. B. Kurt, der nicht weg wollte und auf

59 Dönhoff, Marion Gräfin: Namen, die keiner mehr nennt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, S. 33.

60 Dönhoff, Marion Gräfin: Namen, die keiner mehr nennt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, S. 36.

61 Von Plato, Alexander und Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–

1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 11.

62 Bericht von Erwin H., 2005, S. 61. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

38


die glückliche Rückkehr seines Vaters hoffte.

Wo hätte er sonst seinen Vater finden

sollen, wenn nicht Zuhause. Bei den Zurückgebliebenen

handelte es sich um einige

Jugendliche, Frauen mit ihren kleinen

Kindern und einige Greise, die genau wie

Kurt, wieder auf die Zusammenführung

ihrer Angehörigen hofften.“ 63

Etwa 12–14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene

aus den deutschen Ostgebieten und

der Tschechoslowakei sowie weitere Millionen

nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiter

mussten in den weitgehend zerstörten

und ohnehin überlasteten Städten untergebracht

und versorgt werden. Allein in die

spätere DDR kamen bis 1946 etwa 4,4 Millionen

Vertriebene bzw. Flüchtlinge, darunter

2,6 Millionen Frauen. 64

Mit dem Kriegsende begann eine zweite Welle

der Vertreibungen. Obwohl sie diesmal

nach Regeln und „geordnet“ erfolgen sollte,

waren weiterhin Willkür und rohe Gewalt an

der Tagesordnung. Oft hatten die Betroffenen

nur wenig Zeit, um die ihnen erlaubten wenigen

Habseligkeiten zu packen. In Polen, der

Tschechoslowakei, Ungarn und anderen Ländern

wurden die Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten

vertrieben – teils in chaotischer

Hast, teils unter Aufsicht von Milizen und

Ortskräften. Die sogenannten „wilden Vertreibungen“

gingen einher mit Misshandlungen,

Plünderungen und willkürlicher Gewalt.

Auf den langen Fußmärschen und in den Auffanglagern

starben viele – an Erschöpfung,

an Krankheiten, an Kälte. Die offiziellen

Zahlen schwanken; Schätzungen zufolge

kamen etwa zwei Millionen Menschen bei

Flucht und Vertreibung zu Tode:

„Am 24. Juni hat mir Tante Herta, als

ich nachmittags in der Herrenstraße zum

Spielen auftauchte, gesagt, daß wir raus

müssen. Ich mußte sofort zurück zum

Taschenberg und die Mutter davon unterrichten.

Im Hof hing die Wäsche für die

Kommandantur. Kopflosigkeit. Der Großvater

muß das Unvermeidliche vorausgeahnt

haben, denn ganz ruhig organisierte

er zusammen mit seinem Schwiegersohn

Emil zwei Handwagen in unseren Hof

und begann mit dem Packen. Der größere

Wagen war aus der Färbergasse herangeholt

worden, der kleinere Wagen war von

uns. Den ganzen 25. Juni über hatten sich

schon Leute auf den Weg gemacht. Wir

konnten es sehen, wie sie die Grünberger

Straße entlangzogen. Aber offenbar ging

es den Polen zu zögerlich. Am späten

Nachmittag kamen zwei Polen durch die

Häuser und forderten uns auf, das Haus

innerhalb von zehn Minuten zu verlassen.

Einer sagte: nach uns kommen noch andere,

und wenn wir dann nicht raus wären,

dürften wir nichts mehr mitnehmen. Wir

machten den Schritt über die Haustürschwelle

und waren heimatlos. Und nicht

nur das, auch rechtlos und anspruchslos.

Denn wohl kaum einer ahnte damals,

daß Rechtlosigkeit und Zurücksetzung

auf Jahre und Jahrzehnte ständige Begleiter

sein werden. 65

63 Bericht von Rosel S., 2004, S. 7. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

64 Helwig, Gisela; Nickel, Hildegard Maria: Frauen in Deutschland 1945-1992, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische

Bildung, Bonn 1993, S. 99.

65 Bericht Manfred K., 1997, S. 16. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

39


andere tschechische Bürger an, verprügelten

den tschechischen Bürgermeister und

jagten ihn davon und begannen mit Repressionen

gegen die Deutschen. Alle Radios

waren abzugeben, die Deutschen hatten

eine weiße Armbinde zu tragen, jeden Tag

wurden Häuser besichtigt und durchsucht,

und immer wieder wurden Deutsche zusammengeschlagen“

67

Vertreibungsbefehl für die deutsche Bevölkerung

aus einer Gemeinde in Schlesien, die am frühen

Morgen des 14.07.1945 ihre Heimat verlassen

mussten.

In ehemals deutschen Gebieten wie im Sudetenland

oder Schlesien, die zur Tschechoslowakei

und Polen 66 gehörten, kam es zu

massiven Anfeindungen und Übergriffen gegen

die verbliebene deutsche Bevölkerung:

„Tschechische Mitbürger, die 1938 in unserer

Stadt geblieben waren, begannen, eine zivile

Ordnung aufzubauen. Dann aber reisten

„Bald wird auf Behörden nur noch tschechisch

gesprochen. Die in Aussig lebenden

Tschechen leisten uneigennützig Dolmetscherdienste.

Eines Tages, es war am 5. Juli

1945, klingelt es. Ein tschechischer Uniformierter

sagt zu meiner Mutter: ‚Sie melden

sich in einer halben Stunde am Langemarkplatz.

Sie dürfen Gepäck mitnehmen,

was sie tragen können, aber keine Wertsachen,

keine Pelze, maximal 400 Mark Bargeld.‘

Ein kleiner Handwagen wird mit

Blick auf die Kinderschar genehmigt. Am

Langemarkplatz werden die Personalien

aufgeschrieben. Dann gehen wir zum

Teplitzer Bahnhof, wo etwa 60 Personen

je einen offenen Güterwaggon besteigen.

Dann beginnt die Fahrt in ein ungewisses

Schicksal.“ 68

Rache und Vergeltungsaktionen bezogen

sich jedoch nicht nur auf deutsche Zivilisten.

Vielfach wurden auch jene angegriffen, die

als Helfer und Kollaborateure der Nazis bzw.

der Deutschen galten:

66 Das Sudetenland war 1938 nach dem Münchner Abkommen vom nationalsozialistischen Deutschland annektiert worden.

Schlesien gehörte schon seit dem 18. Jahrhundert zu Preußen.

67 Bericht Willibald R., 2004, S. 6. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

68 Bericht von Harald M., ohne Datum, S. 1 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-

Diktatur.

40


„Dazu kamen noch das polnische Ehepaar

Stanislaus und Jaschka (Kriegsgefangene,

die später von ihren eigenen Landsleuten

wegen Deutschfreundlichkeit verhaftet

und hingerichtet werden sollten).“ 69

Allein in Polen wurden Schätzungen zufolge

rund 25.000 Personen wegen Kollaboration

mit den Nazis verurteilt. In der Tschechoslowakei

waren es 43.000 70 .

Um sich vor Vergeltung und Verurteilung

zu schützen, versuchten viele Deutsche, sich

als unbeteiligt an Unrecht und Verbrechen

darzustellen:

„Er räumte ein von den Gräueltaten gehört

zu haben, die die Deutschen an Polen und

Juden verübt hatten. ‚Zuerst konnte ich es

nicht glauben, aber später hörte ich Einzelheiten

von Erschießungen, Vergasung

und Massenmord, und ich begriff, daß es

die Wahrheit war.‘ Er schüttelte den Kopf,

als wolle er einen schlechten Traum loswerden.

Noch immer wollte er die Realität

nicht wahrhaben.“ 71

Gewalt erfuhren die Vertriebenen jedoch

nicht nur während der Vertreibungen selbst

und als Racheakte durch die vorher von

Deutschen terrorisierte lokale Bevölkerung.

Sie wurden auch Opfer von Raubüberfällen

auf die überfüllten Züge:

„Es ist die dritte Nacht. Wo sind wir eigentlich?

Plötzlich gellen Hilfeschreie

durch die Nacht. Finstere Gestalten waren

auf den langsam fahrenden Zug aufgesprungen.

Haben Koffer und Taschen über

Bord geworfen und verschwanden so schnell,

wie sie kamen. Sie wußten offensichtlich,

daß alle wehrfähigen Männer entweder

gefallen oder, wie mein Vater, in Kriegsgefangenschaft

waren. Die Überfälle wiederholten

sich. Aus rüstigen Greisen und älteren

Jungen wird eine Art Zugwehr zusammengestellt.“

72

„Sie sehen, wie der Tod in unserem

Dörfchen gehaust hat.“

Die Nachrichten, die von jenen kamen, die

sich entschlossen hatten, nicht vor den Sowjets

zu fliehen oder denen es nicht mehr gelungen

war, bestätigten viele Befürchtungen:

„Im Frühjahr dieses Jahres kam ein Brief

aus Ostpreußen, die erste und letzte Nachricht

aus dem verlorenen Paradies seit der

Vertreibung. Folgendes stand darin: ‚Damals,

als die Russen kamen, es war ein

Dienstag, brannte es an vielen Stellen im

Dorf. Zuerst wurden die beiden Gespannführer

Möhring und Kather, der alte Gärtner

Neubert und der Apotheker Wilmar

erschossen und auch Frau Lukas von der

Klingel. […] Ein paar Tage später wurden

69 Familie Grundmann aus Malsen, Landkreis Breslau, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler,

Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.

dnb.de, Books on demand 2019, S. 63.

70 Rossoliński-Liebe, Grzegorz: Kollaboration im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust – Ein analytisches Konzept. Docupedia-

Zeitgeschichte, 21.07.2020, https://zeitgeschichte-digital.de/doks/frontdoor/deliver/index/docId/1817/file/docupedia_rossolinskiliebe_kollaboration_v2_de_2020.pdf,

S. 8.

71 Vernehmung von König, Hans, in: Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn

Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 45.

72 Bericht von Harald M., ohne Datum, S. 2. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-

Diktatur.

41


dann Magda Arnheim, Lotte Muss mit

Kind und die Oma Muss erschossen und

in Schönau fünf Arbeiter vom Gut und

die Frau vom Förster Schulz, die aber erst

nach acht Tagen starb und sich sehr hat

quälen müssen. Der alte Muss hat sich

damals erhängt. Im Februar gingen dann

die Abtransporte nach dem Ural los. […]

Ich erhielt vor ein paar Monaten […] die

Nachricht, dass mein Mann und die meisten

anderen im Ural gestorben sind. Sie

sehen, wie der Tod in unserem Dörfchen

gehaust hat. Zuerst all die Jungens an der

Front, und nun die anderen.‘“ 73

Die Erfahrungen, insbesondere mit den sowjetischen

Besatzungssoldaten, waren sehr unterschiedlich.

Während die einen von Willkür,

Erschießungen, Plünderungen und Vergewaltigungen

berichteten, erlebten andere eine

respektvolle, ja freundliche Behandlung durch

sowjetische Soldaten. Besonders die Kinderfreundlichkeit

blieb vielen in Erinnerung:

„Am Nachmittag fährt ein Trupp russischer

Soldaten vor. Auf einem Lastwagen ist ein

überschweres Maschinengewehr montiert.

Ein paar Männer kommen in das Haus

und es sind die ersten Russen die es betreten.

Ihre Frage nach ‚Soldati‘ und ‚Faschisti‘

wird mit Kopfschütteln beantwortet.

Ihr Erscheinungsbild ist fremd, die

Köpfe kahl geschoren und die Aussprache

rauh. Die Angst der Nacht ist noch nicht

bewältigt und schon kommt neue dazu.

Einer der ungebetenen nimmt das Radio

‚Volksempfänger‘ vom Küchenschrank

und stellt es auf den Fußboden. Den Erwin

hebt er an, und läßt ihn mit den Füßen

voran auf das Gerät fallen. Ohne Strom

war der Kasten sowieso stumm, aber jetzt

sah er nicht mehr wie ein Radio aus. In der

gleichen Zeit gingen andere Soldaten die

Treppe hinauf, traten die verschlossenen

Türen der Scholzwohnung auf und durchsuchten

Zimmer und Kammer. Mit dem

SA-Dolch von Herrn Scholz, seiner Uniform,

einem Revolver und einer Zigarrenkiste

voll Munition kamen sie wütend zu

den ahnungslosen Hausbewohnern. Da

halfen keine Erklärungen und Gesten daß

niemand etwas mit den Fundsachen zu tun

habe, alle dreizehn Personen werden in die

Dachkammer gesperrt. Das Haus wird

von oben bis in den Keller durchsucht und

die dreizehn packt höllische Angst. Vor dem

Haus das Maschinengewehr, werden jetzt

alle erschossen? Wird vielleicht das Haus

angezündet und alle müßen verbrennen?

So fliegen die ausgesprochenen Gedanken

der Angst hin und her. Die Dachsparren

sind noch nicht verschalt und die beiden

älteren Damen Marie H. und Klara F.

fädeln Stricke um die Balken, versuchen

sich zu erhängen. Ernst T. fährt die beiden

barsch an und sagt: ‚Wenn es die Sterbestunde

sein soll, dann für uns alle!“ Damit

war die ungewisse Ruhe wieder hergestellt

und dauerte etwa eine halbe Stunde. Die

Soldaten zogen ab und im Hause stand

und lag nichts mehr am gewohnten Platz.

Schränke ausgeräumt, alles auf dem Fußboden

verstreut, die Wäsche und Fotos betrampelt

und die Betten aufgeschlitzt, so

daß die Federn umherflogen. Ein paar

Hühner fehlten auch.‘“ 74

73 Dönhoff, Marion Gräfin: Namen, die keiner mehr nennt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2009, S. 78.

74 Bericht von Erwin H., 2005, S. 67 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

42


„Nur kurze Zeit verging, da wurden aus

den weißen Tüchern rote Fahnen. Es hieß:

Die Russen kommen! Man sah, dass bei

einigen Fahnen das Hakenkreuz herausgetrennt

war. Diese ‚entweihten‘ Fahnen

schmückten nun die Häuser. Andere Bewohner

hatten roten Inlettstoff herausgehängt.

Alle Ausweise, sogar Schulbücher,

wurden vernichtet. Sie konnten als Beleg

dafür gelten, ein ‚Faschistenanhänger‘ gewesen

zu sein. Es hieß, die Russen erschießen

alle Faschisten. (…) Haus für Haus

wurde nach ‚Faschisten‘ durchsucht. Wer

den Russen verdächtig vorkam, wurde mitgenommen.

Auf dem Hof, wo wir eine Unterkunft

gefunden hatten, wurde eine Verpflegungsstelle

für die russischen Soldaten

eingerichtet. Zwei dampfende Feldküchen

standen längere Zeit auf dem Hof. Die

Hauseigentümer hatten ihr Gehöft vorher

verlassen und waren in den Wald geflüchtet.

Schweine und Hühner waren offenbar

zum Abschuss freigegeben. Sie wurden zur

Bereicherung der Soldatenverpflegung genutzt.“

75

„Vater hatte sich seinen Schnurrbart wachsen

lassen, damit er auch älter aussah. Er

hatte immer noch einen seiner Füße stark

bewickelt. Die erfrorenen Zehen wollten

nicht so schnell heilen. Doch die russischen

Soldaten, die immer noch in diesen Raum

schauten und Faschisten suchten, erkannten

schnell die Armut und sagten nur:

‚Nix Faschist! Viele Kinder, Du arm, viel

arm!‘ und verließen den Raum, soweit sie

überhaupt die Türschwelle überschritten

hatten. Uns Kinder befiel eine höllische

Angst. Die dunklen Gestalten, die fremde

Sprache, ihre Waffen und die Dolche, die

in den Gürteln steckten, ließen uns schon

zittern. Einige hatten ihren Stahlhelm auf

und den Regenumhang noch um. Erleichterung

trat nur ein, wenn einer der Soldaten

uns über den Kopf strich. […] Auch Spielzeug

tauchte eines Tages auf. Eine Puppe

und eine Harmonika bekamen wir von den

russischen Soldaten geschenkt. Später gab

es sogar eine Hand voll braunen Zucker,

wir sagten Pferdezucker dazu. Ein ‚Starschina‘,

ich glaube er hieß Alexander, er

sprach gut deutsch, versorgte jeden Abend

die Kinder, die schon am Gartenzaun

standen und auf ihn warteten, mit dieser

Köstlichkeit.“ 76

„Am späten Nachmittag bringt einer der

einfachen Soldaten ein paar Speckseiten

und einen Beutel Schwarzbrot. Emmi soll

den Speck in Scheiben schneiden und braten.

Ein paar Tiegel sind notwendig, denn

alles soll zu gleicher Zeit fertig sein. Die

besser bekleideten, offenbar hohe Offiziere,

nehmen in der Runde der sechzehn Hausbewohner

Platz und laden zum gemeinsamen

Essen ein. Es ist ein Gedränge auf

Tuchfühlung mit den Russen und zaghaft

und scheu, aber doch mit einer Geste des

Dankes wird der Einladung entsprochen.

Soldaten der ‚Roten Armee‘ und eingeschüchterte

deutsche Menschen stippen in

die gleiche Pfanne nach den Speckscheiben.

Dazu darf jeder auch nach dem schwarzen,

recht harten Brot greifen.

75 Bericht von Heinz B., 2007, S. 7. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

76 Bericht von Heinz B., 2007, S. 8. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

43


In den vergangenen Tagen wurde auf Licht

in den Abendstunden verzichtet, um die

Aufmerksamkeit der Russen nicht auf das

Haus zu ziehen. Jetzt sind sie es selbst, die

nach Licht verlangen. Wie selbstverständlich

werden Stalllaternen und andere

Petroleumlampen angezündet und jeder

empfindet für sich ein bißchen Geborgenheit.

Zum ersten Mal, seit Einmarsch der

‚Roten Armee‘, ist so etwas wie ein Gefühl

da, daß es Russen gibt die keine Angst

verbreiten.“ 77

„Es war der 20. April 1945. Die Nacht verging

ruhig. Im Morgengrauen kam dann

wieder eine erneute Aufregung. Eine Kradbesatzung

hielt fast vor unserem Kellerfenster.

Männer in braunen Uniformen, aber

ein anderer Farbton als die SA, stiegen ab

und rauchten. Die Sprache verstanden wir

nicht. Auch sie verschwanden bald wieder.

Es hieß dann, es seien russische Soldaten

gewesen. Das wollte ich und andere Kinder

nicht glauben. Nach unseren von der Hitlerjugend

und von Plakaten bekannten Vorstellungen

müssen Russen keine richtigen

Menschen, sondern Lebewesen mit tier- und

menschenähnlichem Antlitz. Diese Vorstellung

in Gedanken über Bord zu werfen,

Realitäten anzuerkennen, war mein und

sicher auch vieler anderer Kinder Problem.

Die ersten unvermeidlichen Zweifel an

dem was man uns bisher in den vergangenen

Jahren erzählte und bildhaft zeigte

traten ein.“ 78

„Ein Offizier, der ein ausgezeichnetes

Deutsch sprach, war in unserem Häuschen

untergebracht. Und ich frage mich heute,

weshalb sich der Stab gerade in unserem

kleinen Gehöft, mit den ärmlichsten Häusern

untergebracht hatte. Vermutlich sahen

sie in unserer Armut eben die ihnen genehmere

Arbeiterklasse. Nachts durften wir

Kinder in den Betten schlafen, während

die Soldaten auf dem Fußboden zu schlafen

hatten. Der Offizier kommentierte das

mit den Worten: ‚Die Soldaten seien das

gewöhnt, aber wir Kinder brauchen ein

Bett.‘ Meine Mutter gab dem Offizier zu

verstehen, dass sie nicht gedacht hätte,

dass sich die Russen so human verhalten

würden. ‚In der Zeitung habe ja immer

Schlimmes gestanden‘. Darauf entgegnete

er, ‚sie möge sich nicht täuschen, auch in

ihrer Armee gäbe es Leute, die sich schlimm

benehmen. Aber wir hätten Glück, dass

sich der Stab bei uns befinde, und so

hätten wir nichts zu befürchten.‘“ 79

„Dann rollten die Soldaten singend mit

ihren Panzern über die Salzstraße, wo

wir wohnten. Einige Fremdarbeiterinnen

stiegen auf die Fahrzeuge und sprachen

mit ihren Landsleuten. Es war eine ganz

entspannte Atmosphäre und niemand

hatte Angst. Meine Mutter hätte das sehr

gerne fotografiert, aber wir haben während

der Kriegszeit keinen Fotoapparat

besessen. Am nächsten Morgen ließ der

russische Kommandant alle Speicher bzw.

77 Bericht von Erwin H., 2005, S. 75 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

78 Bericht von Rudi H., 2004, S. 24. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

79 Bericht von Hans H., 2005, S. 14 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

44


Vorratsräume für die Bevölkerung öffnen

und jeder konnte Margarine, Zucker,

Getreide und sogar Schuhe nach Hause

schleppen.“ 80

„Wenn nicht ein ganz besonderes Unglück

ins Spiel kam, mußten wir in der Abgeschiedenheit

des Nestes untertauchen können.“

Aber nicht nur die Menschen aus den zuerst

von der Roten Armee erreichten Gebieten in

Ostpreußen flohen. Auch im „Reich“ selbst

mussten viele Menschen ihre Häuser verlassen

und Schutz woanders suchen. Sie flohen aus

Städten wie Hamburg, Berlin, Pforzheim,

Dresden, die von alliierten Luftangriffen zerstört

waren. Victor Klemperer hat seine Flucht

aus dem bombardierten Dresden beschrieben.

Diese führte ihn über die Lausitz schließlich

nach Bayern, von wo er im Sommer 1945 mit

seiner Frau nach Dresden zurückkehren

konnte:

„Zuerst nämlich hatten wir uns in das

wendische Dorf Piskowitz bei Kamenz gewandt.

[…] Wenn nicht ein ganz besonderes

Unglück ins Spiel kam, mußten wir in der

Abgeschiedenheit des Nestes untertauchen

können. Zumal, wie wir genau wußten, die

Bevölkerung stark antinazistisch war. Wenn

es ihr frommer Katholizismus allein nicht

tat, so immunisierte sie bestimmt ihr Wendentum:

Diese Menschen hingen an ihrer

slawischen Sprache, deren sie der Nazismus

im Kult und Religionsunterricht be-

rauben wollte, sie fühlten sich den slawischen

Völkern verwandt und durch die

germanische Selbstvergottung der Nazis

gekränkt […]. Und dann: die Russen

standen bei Görlitz, bald würden sie in

Piskowitz sein, oder es würde uns gelingen,

zu ihnen hinüberzukommen. Mein

Optimismus wurzelte in dem Hochgefühl

der märchenhaften Errettung, dazu auch

in dem glühenden Schutthaufen, als den

wir Dresden verlassen hatten, denn unter

dem Eindruck dieser Vernichtung hielten

wir das Kriegsende für unmittelbar bevorstehend.“

81

Während die einen auf den Einmarsch der

„Russen“ warteten und das Ende der „Hitlerei“

herbeisehnten – „Durch unsere Agnes gehörten

wir zum Dorf, und die Haltung des

Dorfes war eine ganz einheitliche: alles wartete

auf das sichere Ende der Hitlerei, alles

wartete auf die Russen“ 82 –, blieben andere

ihren rassistischen und antisemitischen Vorstellungen

verhaftet: „Mein Optimismus erhielt

den ersten Stoß, ja schlug ins Gegenteil

um, als der Ortsvorsteher […] mich fragte, ob

ich mit irgendwelchen Nichtariern verwandt

sei.“ 83

Während der Flucht waren die entwurzelten

Männer, Frauen und Kinder auf die Mitmenschlichkeit

anderer angewiesen. Nicht

immer gelang es, bei Menschen unterzukommen,

die das wenige, was sie hatten,

teilten. In dieser Zwischenzeit bestimmten

Eigeninitiative und Nachbarschaftshilfe das

80 Bericht von Günter B., 2004, S. 2. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

81 Klemperer, Victor: LTI, 1975, S. 319 f.

82 Klemperer, Victor, LTI, 1975, S. 324.

83 Klemperer, Victor: LTI, 1975, S. 320.

45


Leben. Viele Berichte zeugen von menschlicher

Solidarität und gegenseitiger Hilfe: Das

wenige wurde geteilt, wie es die Klemperers

in Piskowitz erfuhren, als sie am dörflichen

Schlachten der Tiere beteiligt wurden und

ihren Anteil erhielten:

„Wir hatten wie die andern im Dorf auch,

Schweineschlachten; denn wenn man auch

sonst keine Furcht vor den Russen hegte,

so wollte man das gerade fällige Schwein

doch lieber selbst aufessen als es den Befreiern

überlassen […] Ich machte das

Schlachtfest in sehr deprimierter und, sosehr

ich mich deshalb auch verlachte, in

einigermaßen abergläubischer Stimmung

mit. Das Schwein hatte schon eine Woche

vorher geschlachtet werden sollen; damals

standen die Alliierten 20 Kilometer vor

Köln, die Russen waren im Begriff, Breslau

zu nehmen. Der mit Aufträgen überhäufte

Schlachter hatte absagen müssen,

und das Schwein war am Leben geblieben.

Ich hatte mir ein Omen daran genommen;

[…] wenn das Schwein Köln und Breslau

überlebt, dann erlebst du das Ende des

Krieges und deiner Schlächter.“ 84

In vielen Berichten wird deutlich, dass die

Flucht aus vielen Etappen bestand, die oftmals

erst nach Kriegsende beendet waren.

Denn auch wenn es gelungen war, für kurze

Zeit einen Unterschlupf zu finden, zwang

die näher rückende Front die Menschen,

immer weiter nach Westen zu fliehen:

„Die nächsten zwölf Fluchttage waren

übervoll von Strapazen, von Hunger, von

Schlaf auf nacktem Steinboden einer Bahn-

hofshalle, von Bomben auf den fahrenden

Zug, auf den Wartesaal, in dem es endlich

ein Essen geben sollte, von nächtlichem

Wandern die zerstörte Bahnstrecke entlang,

vom Waten in Bächen neben zerschmetterten

Brücken, vom Kauern in

Bunkern, von Schwitzen, von Frieren und

Zittern in durchnäßtem Fußzeug, von

Schußgarbengeknatter der Tiefflieger –

aber schlimmer als alles das und unbarmherzig

quälte die Angst vor Kontrolle,

vor Verhaftung. […] ‚Laß uns nicht in

die Hand unserer Feinde fallen, sie sind

hundertmal grausamer als jeder Tod.‘“ 85

Trotz alledem dominiert in vielen Zeitzeugenerinnerungen

nicht der Hass, sondern ein

resignierter Pragmatismus. Immer wieder

wird betont, dass man trotz aller schlimmen

Erfahrungen auch Glück gehabt habe, denn

man habe überlebt. Der Neuanfang in der

Fremde, in Niedersachsen, Hessen, Bayern

oder in der sowjetischen Besatzungszone,

war selten freiwillig, oft mit Ablehnung durch

die Einheimischen verbunden, und doch

wurde er zur Grundlage neuer Lebensläufe.

Die Neuankömmlinge wurden „Flüchtlinge“

genannt, später „Vertriebene“ und in der DDR

„Umsiedler“. Alle Begriffe standen für soziale

Marginalisierung, für Wohnungsnot, für

Nachrang auf den Lebensmittelkarten – aber

auch für organisatorischen Ehrgeiz, politische

Mobilisierung, kulturelle Selbstvergewisserung.

Die Heimatvertriebenenverbände wurden

in der frühen Bundesrepublik zu einer

Stimme, die nicht nur das erlittene Unrecht

benannte, sondern es politisch zu artikulieren

suchte – als Teil eines konservativen Gedächt-

84 Klemperer, Victor: LTI, 1975, S. 326 f.

85 Klemperer, Victor: LTI, 1975, S. 327 f.

46


Gedenkstätte Seelower Höhen

Schlacht Seelower Höhen

Vom 16.–19 April 1945 fand die Schlacht um die „Seelower Höhen“ statt. Diese Schlacht

gilt als der Beginn des Sturms auf die Reichshauptstadt Berlin. Ewa eine Million sowjetische

Soldaten und 190.000 Wehrmachtssoldaten standen sich hier gegenüber. Unter den

Deutschen befanden sich auch viele Jugendliche, die als „letztes Aufgebot“ noch in den

letzten Kriegstagen und -wochen in den „Volkssturm“ eingezogen worden waren. Nur

unzureichend vorbereitet und ausgerüstet, wurden sie in den letzten Kriegstagen einem

sinnlosen Tod ausgeliefert. Am 18. April gelang den sowjetischen Truppen der Durchbruch.

Damit war der Weg nach Berlin offen.

nisprojekts, das lange jede Verbindung zur

NS-Vergangenheit mied. In der DDR konnten

sich die Vertriebenen nicht organisieren. Sie

galten als revanchistisch. Zudem wurden ihre

Erfahrungen während Flucht und Vertreibung

geleugnet.

Auf individueller Ebene blieb der Verlust oft

ein lebenslanges Trauma. Viele hofften noch

Jahre und Jahrzehnte später, zurückkehren

zu können. Fotos wurden aufgehoben, Adressen

aufgeschrieben, Schlüssel verwahrt. Die

Heimat war nicht nur ein geografischer Ort,

sondern ein Symbol für das Verlorene – das

sichere Leben, das Haus, die Sprache, das Vertraute.

Marion Gräfin Dönhoff hat diesen Erfahrungen

in ihrem Buch „Namen, die keiner

mehr nennt“ 86 einen wehmütigen Ausdruck

verliehen, der die Verlusterfahrung für ein

westdeutsches Publikum greifbar machte.

86 Dönhoff, Marion Gräfin: Namen, die keiner mehr nennt. U. a. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2009.

47


6. Alltag im Chaos

„Ja, der Krieg war aus, aber der Kampf ums Überleben war damit nicht vorbei.“ 87

Der Krieg hatte auch in dem Land, von dem er begonnen wurde, unerbittlich gewütet: Deutschland

glich zu Kriegsende einer Trümmerwüste. Hunderttausende hatten in den Bombennächten

ihre Familien, ihre Wohnungen, Hab und Gut verloren. Tausende galten als vermisst. Die

Hauptstadt Berlin wurde von Bertolt Brecht „der große Trümmerhaufen neben Potsdam“ genannt.

In den kriegszerstörten Städten war nicht mehr von den „eigenen vier Wänden“ die Rede. Viele

Menschen waren froh, die Bombardierungen überhaupt überlebt und noch ein Dach über dem

Kopf zu haben. Sie lebten in Massenunterkünften und Lagern, die in allen verfügbaren Räumlichkeiten

eingerichtet wurden: ehemaligen Zwangsarbeiterlagern, Kasernen, Schulen, Gasthäusern,

Hotels, Sporthallen – jeder verfügbare Quadratmeter Raum wurde mit obdachlosen

Menschen belegt.

Das Kriegsende bedeutete für die meisten

Deutschen nicht sofortige Erleichterung, sondern

den Eintritt in einen neuen Ausnahmezustand.

Viele hatten zwar ihr nacktes Leben

gerettet, sonst aber alles verloren. Die Städte

lagen in Trümmern, Verkehrswege waren zer

Wie schon zu Kriegszeiten waren es vor allem Frauen, die nach Kriegsende die Trümmer beseitigten,

sich um die Kinder und Älteren kümmerten und das Leben wieder in Gang brachten.

87 Bericht von Hans O., ohne Datum, S. 4. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

48


stört, die Verwaltung, Ordnungsstrukturen

nicht handlungsfähig. Die Stromversorgung

war zusammengebrochen. Die Gasversorgung

war wegen der drohenden Explosionsgefahr

abgestellt:

„Als vorgestern das Licht wiederkam, hieß

es noch, verdunkelt müsse weiter werden.

Das wurde gestern widerrufen, und gestern,

am 12. Mai 1945 also, sahen wir das erste

Mal seit dem 1. September 39, seit bald

sechs Jahren, beleuchtete Fenster. Nur

wenige Fenster im Dorf, und doch sah der

Ort gleich ganz anders aus. Es war ein

großer Eindruck.“ 88

In den ersten Monaten nach Kriegsende lebte

man im Provisorium – zwischen Not und

Hoffnung, zwischen Improvisation und Er-

schöpfung. Nahezu sämtliche öffentliche

Transportmittel wie Bus, Bahn oder Straßenbahn

verkehrten nicht mehr. Für die wenigen

in Privatbesitz befindlichen Autos gab es kein

Benzin. Zudem waren viele Straßen durch

Bombentrichter oder herumliegende Trümmer

unpassierbar und mussten erst geräumt

werden. Hinzu kam eine grassierende Kriminalität.

89 Seuchen und Epidemien breiteten

sich unter der von Hunger und Krieg geschwächten

Bevölkerung aus. Längst verschwunden

geglaubte Krankheiten wie Skorbut,

Tuberkulose, Typhus und Ruhr begannen

zu grassieren. In vielen Städten gab es kaum

funktionierende medizinische Versorgung.

Medikamente waren rar, Ärzte überlastet,

Krankenhäuser zerstört. Die psychischen

Folgen von Gewalt und Krieg blieben unerkannt,

wurden verdrängt und verschwiegen.

Für die Versorgung der hungernden Bevölkerung sorgten die Besatzungsmächte. Im Bild sowjetische

Soldaten bei der Suppenausgabe an Zivilisten in Berlin.

88 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945. 1995 (1999), Eintrag vom 13. Mai 1945, S. 143.

89 Geyer, Martin H.: Die Nachkriegszeit als Gewaltzeit. Ausnahmezustände nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Siehe https://

www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/303647/die-nachkriegszeit-als-gewaltzeit/

49


Dazu kam der allgegenwärtige Hunger. Viele

Menschen lebten von dem, was sie in den

Ruinen fanden oder auf dem Schwarzmarkt

tauschen konnten. Der Tauschhandel ersetzte

die Währung. Und ob man etwas zum Tauschen

hatte, hing oft genug von der Besatzungszone

ab, in der die Menschen lebten:

Zigaretten gegen Mehl, Seife gegen Kartoffeln.

„Um all das kümmerten sich die Frauen,

die selbst fast am Verhungern waren. Die

Männer waren tot oder in Kriegsgefangenschaft

oder kriegsversehrt.“ 90

Frauen stellten zu Kriegsende in ganz

Deutschland die Bevölkerungsmehrheit:

36 Millionen Frauen und nur 29 Millionen

Männer. Im Durchschnitt kamen damit 125

Frauen auf 100 Männer, noch schlimmer

sah es unter jungen Leuten aus, wo 160

Frauen auf 100 Männer kamen. 91

„Kann ich mir einen Mann leisten?“ fragte

das Hamburger Echo seine Leserinnen

1948. 92

Frauen hatten bereits während des Krieges

die Hauptlast getragen: Sie hatten die im Krieg

kämpfenden und abwesenden Männer ersetzt,

hielten die Wirtschaft aufrecht und kümmerten

sich um die Kinder und den Zusammenhalt

der Familien. An dieser Situation änderte

sich auch am Kriegsende nichts. Besonders

auf den Frauen lastete weiterhin die Sorge für

das Überleben der Familien. Dies geschah

oftmals nicht aus freier Entscheidung, sondern

weil sonst niemand da war, der sich

hätte kümmern können. Die Männer waren

gefallen, in Gefangenschaft oder galten als

vermisst. Wer den Krieg und die Gefangenschaft

überlebte, kehrte oft nach langen Jahren

der Abwesenheit in ein zerstörtes Land

zurück. Viele Männer waren an Körper und

Geist beschädigt und fühlten sich vom Alltag

überfordert. Und so waren es die Frauen, an

denen nicht nur der Aufbau des Landes und

die Beseitigung der Trümmer hing. Sie standen

stundenlang für Lebensmittel an, nähten

aus Uniformstoffen Kinderkleider, organisierten

Kohlen, flickten Schuhe:

„Herta Bechtloff musste unter den schwierigen

Bedingungen der Besatzung, ständiger

Kontrollen, Plünderungen und Hausdurchsuchungen

ihre vier Kinder ernähren,

beschäftigen und mit Spiel und Aufgaben

in den Tagesablauf einbeziehen. Sie und

andere Mütter in ähnlicher Lage haben in

dieser Zeit Unglaubliches an Geduld, Kraft,

Mut und Wille zum Überleben aufgebracht.“

93

In vielen Haushalten lebten Vertriebene,

Kriegswitwen, Waisen, Rückkehrer unter einem

Dach. Familienstrukturen lösten sich

auf oder wurden neu gebildet. Kinder wuchsen

in instabilen Verhältnissen auf, viele mit

90 Bericht Familie Grundmann aus Malsen, Landkreis Breslau, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler,

Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse.

http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 19.

91 Zeitklicks: Viele Frauen und wenige Männer. https://www.zeitklicks.de/bundesrepublik-i/alltag/nach-dem-krieg/viele-frauenwenige-maenner#:~:text=Nach%20dem%20Kriegsende%20lebten%20in%20ganz%20Deutschland%2036%2C6,Hier%20

kamen%20auf%20160%20Frauen%20nur%20100%20M%C3%A4nner.

92 Hamburger Echo, 28.08.1948, in: Ramelsberger, Annette: Als der Mann zur Last wurde, Süddeutsche Zeitung, 07.05.2015. Siehe

auch Kaminsky, Annette: Heimkehr 1948. C.H.Beck Verlag, München 1998.

93 Bericht von Helmut B., 2004, S. 9. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

50


einer Mutter, aber ohne Vater. Ein wiederkehrendes

Motiv in den Erzählungen der damals

Erwachsenen ist die große Unsicherheit.

Niemand wusste genau, was der Morgen

bringen würde. Viele hatten jedoch den

unbedingten Willen, die schweren Zeiten zu

überstehen und nicht zu jammern. Der harte

Alltag und der Überlebenskampf machten

auch die Menschen hart.

Premierminister Winston Churchill feiert am

8. Mai 1945 mit der Londoner Bevölkerung das

Ende des Krieges.

„Dies ist nicht der Sieg einer Partei

oder einer Klasse…“

„Meine lieben Freunde, dies ist eure Stunde.

Dies ist nicht der Sieg einer Partei oder einer

Klasse. Es ist ein Sieg der großen britischen

Nation als Ganzes. (...) Ich freue

mich, dass wir alle heute eine Nacht frei

nehmen können und morgen einen weiteren

Tag. Morgen werden auch unsere großen

russischen Verbündeten den Sieg feiern,

und danach müssen wir mit der Aufgabe

beginnen, unsere Gesundheit und unsere

Häuser wieder aufzubauen und unser Möglichstes

zu tun, um dieses Land zu einem

Land zu machen, in dem alle eine Chance

haben, in dem alle eine Pflicht haben. Wir

müssen uns der Erfüllung unserer Pflicht

gegenüber unseren eigenen Landsleuten

und gegenüber unseren tapferen Verbündeten

in den Vereinigten Staaten zuwenden,

die von Japan so bösartig und heimtückisch

angegriffen wurden. Wir werden Hand in

Hand mit ihnen gehen. Auch wenn es ein

harter Kampf ist, werden wir nicht diejenigen

sein, die daran scheitern.“ 94

„General Eisenhower teilt mir mit, dass

die deutschen Streitkräfte vor den Vereinten

Nationen kapituliert haben. In ganz

Europa wehen die Fahnen der Freiheit.

(...). Es bleibt noch viel zu tun. Der im

Westen errungene Sieg muss nun auch im

Osten errungen werden. Die ganze Welt

muss von dem Bösen gereinigt werden, von

dem die Hälfte der Welt befreit worden ist.

Vereint haben die den Frieden liebenden

Nationen im Westen bewiesen, dass ihre

Waffen bei weitem stärker sind als die

Macht der Diktatoren oder die Tyrannei

der Militärcliquen, die uns einst weich

und schwach nannten. 95

94 Rede des britischen Premierministers Winston Churchill zum „Victory Day in Europe“ am 08.05.1945 in London (eigene Übersetzung).

The Churchill Project (Hg.). https://winstonchurchill.hillsdale.edu/victory-in-europe/.

95 Ansprache des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman anlässlich des „Victory in Europe“ am 08.05.1945 (eigene Übersetzung).

America’s National Churchill Museum. https://www.bing.com/videos/riverview/relatedvideo?q=victory+day+rede+truman&mid=94A80376B6D2A34CD77194A80376B6D2A34CD771&FORM=VIRE.

51


Im weitgehend zerstörten Berlin war ein

Wiederaufbau zunächst nur schwer umsetzbar.

Überall lagen Trümmer.

„Genossen! Mitbürger und Mitbürgerinnen!

Der große Tag des Sieges über Deutschland

ist gekommen. Von der Roten Armee und

den Truppen unserer Verbündeten auf die

Knie gezwungen, hat sich das faschistische

Deutschland für besiegt erklärt und bedingungslos

kapituliert. (…) Jetzt haben wir

vollen Grund zu erklären, dass der historische

Tag der endgültigen Niederwerfung

Deutschlands, der Tag des großen Sieges

unseres Volkes über den deutschen Imperialismus

gekommen ist. Die großen Opfer,

die wir für die Freiheit und Unabhängigkeit

unseres Heimatlandes gebracht haben, die

unermesslichen Entbehrungen und Leiden,

die unser Volk während des Krieges zu erdulden

hatte, die auf dem Altar des Vaterlandes

dargebrachte angespannte Arbeit im

Hinterland und an der Front sind nicht

Sowjetische Soldaten im zerstörten Berlin.

vergeblich gewesen, sondern durch den vollen

Sieg über den Feind gekrönt worden.

Der jahrhundertelange Kampf der slawischen

Völker um ihre Existenz und Unabhängigkeit

hat mit dem Sieg über die deutschen

Okkupanten und die deutsche Tyrannei

geendet. Von nun an wird das große

Banner der Völkerfreiheit und des Völkerfriedens

über Europa wehen. (…) Die

Periode des Krieges in Europa ist zu Ende.

Die Periode der friedlichen Entwicklung

hat begonnen. Ich beglückwünsche euch

zum Siege, meine lieben Mitbürger und

Mitbürgerinnen! Ruhm und Ehre unserer

heldenhaften Roten Armee, die die Unabhängigkeit

unserer Heimat behauptete und

den Sieg über den Feind errungen hat!

Ruhm und Ehre unserem großen Volke,

dem Siegervolk! Ewiger Ruhm den in den

52


Kämpfen gegen den Feind gefallenen Helden,

die ihr Leben hingaben für die Freiheit

und das Glück unseres Volkes!“ 96

Den Siegermächten ging es vor allem um

zwei Punkte: Einerseits sollte Deutschland

entnazifiziert und entmilitarisiert werden.

Nie wieder sollte Deutschland in der Lage

sein, seine Nachbarn zu überfallen. Andererseits

sollte so schnell wie möglich das tägliche

Leben normalisiert werden. Die Ordnung

kehrte nicht mit der Kapitulation zurück,

sondern mit der Wiederherstellung von Regeln.

Die Alliierten versuchten, Verwaltung,

Polizei und Infrastruktur zu reaktivieren.

Doch der Wiederaufbau kam angesichts der

immensen Zerstörungen nur langsam voran.

Das große Hungern

Die Menschen interessierte vor allem eine

Frage: Woher konnten sie etwas zu essen bekommen?

Immer mehr Nahrungsmittel und

lebenswichtige Güter wie Kohlen und Brennstoffe

waren seit 1941 rationiert und per „Kartenbewirtschaftung“

an die Bevölkerung verteilt

worden. Das große Hungern begann jedoch

erst mit Kriegsende. Lebensmittel waren

nur auf dem „Schwarzmarkt“ oder über

„Lebensmittelkarten“ erhältlich, die zum

wichtigsten Dokument der Nachkriegszeit

wurden – ihr Verlust kam einer Katastrophe

gleich. Verteilt wurden die Karten über sog.

Hausbeauftragte, die auch Meldekarte und

Arbeitsbescheinigung, die die Voraussetzung

für den Erhalt einer Lebensmittelkarte

waren, regelmäßig kontrollierten. Zur ohnehin

schwierigen Situation kam hinzu, dass

der Winter 1946 auf 1947 besonders hart

Brotausgabe an die Berliner Bevölkerung.

war. Ihm folgte ein Dürresommer, der die erhoffte

Ernte zunichte machte und die Versorgung

der Bevölkerung zusätzlich erschwerte.

Die Karten waren in Lebensmittel-, Kleiderund

Brennstoffabschnitte unterteilt. Über

Ankündigungen im Rundfunk und durch

Anschläge an Litfaßsäulen und in Zeitungen

erfuhren die Menschen, welche Kartenabschnitte

aufgerufen waren, auf die in den

Läden die Waren ausgegeben wurden. Wer

zu spät kam, stand oft vor leeren Regalen

und musste ohne die für das Überleben so

wichtige Ration nach Hause gehen. Denn

auch die Bewirtschaftung der Lebensmittel

bedeutete nicht, dass alle die ihnen auf

die Karten zustehenden Nahrungsmittel

96 Ansprache von Josef Stalin an das sowjetische Volk am 9. Mai 1945, in: Stalin, J.W.: Über den großen Vaterländischen Krieg der

Sowjetunion, 3. Auflage Moskau 1946.

53


erhielten. Diese konnten nur ausgegeben

werden, wenn sie ihren Weg in die Städte gefunden

hatten. Das gestaltete sich durch die

zerstörten Transportwege sowie den Mangel

an LKW und Benzin schwierig. Im Osten

erschwerte die von den Sowjets betriebene

Demontage des zweiten Schienengleises und

vieler Industrieanlagen den Aufbau zusätzlich.

Auch kümmerten sich die Landregionen,

die zur Versorgung der Städte eingeteilt

waren, zuerst um die Versorgung der eigenen

Bevölkerung und kamen ihren Ablieferungspflichten

nur zögernd nach. Der Verlust der

Gebiete im Osten, aus denen vormals ein

Großteil der Getreide- und Kartoffellieferungen

gekommen war, verschärfte die Lage

weiter:

„Der Winter stand vor der Tür und wir

hatten weder etwas zum Heizen noch zum

Essen. Oft gingen wir hungrig zu Dritt in

unser einziges Bett. Die Rationen auf die

Lebensmittelmarken waren sehr klein.

In der großen Not habe ich den wenigen

Zucker gegen Mehl eingetauscht (erst im

Frühjahr wurde es besser) da haben wir

mit Brennnesseln, Rüben und einigen Kartoffeln

den Hunger gestillt.“ 97

Alles irgendwie Genieß- und Verwertbare

wurde zum Nahrungsmittel. Die Zeitungen

waren voller Empfehlungen, wie das Wenige

geschickt gestreckt werden konnte. Alle wurden

zu Überlebenskünstlern. Auf Fensterbänken,

in öffentlichen Parks, auf den Hausdächern,

auf allen verfügbaren Flächen bauten

die Menschen Gemüse an. Neue Rezepte

entstanden. Aus Kartoffelschalen wurde Kuchen

gebacken. Sauerampfer, Löwenzahn

und Brennnesseln gaben Salate ab. Rübenblätter

dienten als Spinatersatz. In den Zeitungen

wurden Kochrezepte für Mehlsuppen

aus Erbsen, Grünkern oder Mais abgedruckt,

man empfahl Vogelmiere und Geißfußblätter

als Gemüse und warb für Torten aus Eicheln

und Kaffeesatz:

„Irgendwie musste das Leben weiter gehen.

Jeder Apfel am Straßenrand wurde aufgehoben,

auf den Feldern Ähren gelesen,

Pilze gesammelt, aus Brennesseln Salat

gemacht Maiblumen ebenfalls hergerichtet.

Aus Rüben wurde Sirup gekocht.

Jeder versuchte am Leben zu bleiben.“ 98

Wie tiefgreifend diese Erfahrungen waren,

zeigte sich noch Jahrzehnte später: Viele derjenigen,

die das große Hungern erlebt hatten,

konnten kein Essen wegwerfen.

Nicht nur beim Essen war Improvisation angesagt.

Zum Waschen wurden Kastanien verwendet.

Aus Wehrmachtsuniformen wurden

Mäntel geschneidert und diese mit Efeublättern,

Kartoffelschalen, Sauerampfer, roten Rüben

oder Ochsengalle gefärbt. Schuhe wurden

aus Autoreifen hergestellt. Wehrmachtsgeschirr

lieferte die Materialien für Haushaltsgegenstände

wie Eimer, Kochtöpfe und Siebe.

Wer noch etwas zum Tauschen hatte, brachte

seine wenigen Habseligkeiten auf den Schwarzmarkt,

um hier zusätzliche Nahrungsmittel,

Garn, Strümpfe oder Kohlen einzutauschen.

Wer das Glück hatte, während der Bombardements

aufs Land evakuiert worden zu sein,

konnte jetzt seine Kontakte dorthin nutzen,

um an Lebensmittel zu kommen. An freien

97 Bericht von Ida U., 1996, S. 25. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

98 Bericht von Lenchen S., 2005, S. 4. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

54


Tagen fuhren viele Städter zum „Hamstern“

aufs Land. Noch brauchbare Bekleidung,

Möbel, Geschirr, Schmuck, Bücher – alles

wurde für Lebensmittel getauscht. Frauen

und Kinder „stoppelten“ im Herbst auf den

abgeernteten Feldern, sobald diese freigegeben

waren:

„Jetzt ging es ums Überleben – um einen

Neubeginn. Wir Kinder spielten in den

Trümmern Potsdams weiter Krieg – diesmal

Amis gegen Russen. Wer auch immer

von den Jungs auf diese Idee gekommen

war, vom ‚Kalten Krieg‘ konnte er wohl

1945/46 noch nichts geahnt haben. Die

Russen gaben uns Brot, fragten wo unsere

älteren Schwestern sind und kauften uns

für 5 Mark Alliierten-Geld große Flaschen

ab, um darin Wodka abzufüllen. Wenn die

Flaschen leer waren, landeten sie in der

Havel und für uns begann das Geschäft

von vorne. Die elegant gekleideten Ami-

Soldaten – die amerikanische Militärmission

war in Potsdam – erfragten die Tanzlokale

der Stadt und spendierten dafür Kaugummis

oder Camel-Zigaretten, die wir auf

dem Schwarzmarkt weiter verschacherten.

Unsere Eltern kümmerten sich um das

Heranschaffen von Nahrungsmitteln. Sie

legten einen Garten an, fütterten im Keller

Kaninchen, fuhren mit Porzellan, Besteck

und Wäsche mit den überfüllten Hamsterzügen

über Land und orientierten sich beruflich

und politisch neu. Unsere Mutter –

sie hatte in Berlin die höhere Handelsschule

besucht – ging als Schreibraft zur

Brandenburgischen Landesregierung – –

in der DDR-Zeit Rat des Bezirkes – und

entwickelte sich dort bis zur Sekretärin.

Sie trat der neugegründeten sozialistischen

Einheitspartei Deutschlands bei, in der

Hoffnung auf ein friedliches und demokratisches

Deutschland.“ 99

Die Versorgungssätze legte jede Besatzungsmacht

für ihre Zone fest. 100 Die SMAD (Sowjetische

Militäradministration) tat dies für

ihre Zone, die SBZ (Sowjetische Besatzungszone).

Unmittelbar nach der Kapitulation 1945

standen den Menschen jeden Tag zwei Scheiben

Brot, eine dünne Haferflockensuppe und –

wenn vorhanden – auch ein paar Kartoffeln

zu. Im Laufe der nächsten Monate erhöhten

sich die Rationen. Diejenigen, die das Glück

hatten, nach Karte I versorgt zu werden,

erhielten im November 1945 beispielsweise

450 g Brot, 50 g Fleisch, 31 g Fett, 40 g Nährmittel

und 25 g Zucker. Die „Sonstigen“-Gruppe

musste mit lediglich 250 g Brot, 23 g

Fleisch, 7 g Fett, 15 g Nährmittel und 15 g

Zucker auskommen. Im Winter 1945 konnte

ein Mensch seiner Kartenration zufolge

durchschnittlich 750 bis 1.200 Kilokalorien

pro Tag zu sich nehmen. Das war zum Sterben

zu viel und zum Leben zu wenig. ‚Otto

Normalverbraucher‘, von Gert Fröbe im gleichnamigen

Film von 1948 dargestellt, brachte in

der Regel noch 45 Kilogramm auf die Waage:

„Einmal wurden wir beim Weißkohlklau

von Russen erwischt, die uns in ihre Behausung

mitnahmen. Angst-schlotternd

mußten wir bei ihnen zunächst unseren

Sack mit Kohl ausschütten, eine Unmenge

Kartoffeln schälen, dann unsere beim

Raub benutzten Messer abgeben. Nach

99 Bericht von Helmut B., 2003, S. 01f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

100 Gries, Rainer: Die Rationengesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität: Leipzig, München und Köln nach dem

Kriege. Verlag Westfälisches Dampfboot, 1991.

55


getanem Schälwerk durften wir unsere

Säcke wieder mit Kohlköpfen füllen und

wurden nach Hause gejagt. Im Herbst von

den Malchower Apfelalleen Äpfel stibitzen

war auch nicht ohne Risiko. Denn so in

unmittelbarer Stadtnähe waren das sehr

begehrte Pfründe, die von den Eigentümern

stark bewacht wurden. Weit verbreitet und

überlebenswichtig waren in den ersten

Nachkriegsjahren die so genannten

‚Hamsterfahrten‘ zum Bauern aufs Land,

um Lebensmittel gegen entbehrliche oder

manchmal auch gar nicht so entbehrliche,

jedoch nichtessbare andere Haushalts- oder

Wertgegenstände einzutauschen. Die Zahl

der Hamsterfahrer war groß und der

‚Markt‘ in der näheren Umgebung der

Stadt bald abgegrast, so daß immer weitere

Reisen in Kauf genommen werden mußten.

Reichte anfangs eine Fahrt von Spandau

über Brieselang und Finkenkrug oder

weiter ausgedehnt bis Neustadt an der

Dosse aus, so mußte man schon bald bis

hinter Magdeburg fahren, um beim Bauern

einen Sack Kartoffeln, im günstigsten Fall

vielleicht sogar ein Stückchen Speck zu

ergattern.“ 101

Die Verteilung der knappen Lebensmittel

erfolgte in der SBZ zunächst nach dem von

den Nationalsozialisten eingeführten System.

Ab 1. November 1945 setzte die sowjetische

Besatzungsmacht ein neues Verteilungssystem

in Kraft. Dieses sah eine Versorgung

nach dem Wohnort und dem sozialen Status

vor. Das hieß, Bewohner von Großstädten

wurden besser versorgt als Einwohner kleiner

Orte oder Landbewohner, von denen

man annahm, dass sie sich durch eigene

Höfe und Gärten teilweise selbst versorgen

konnten.

Die Karten waren in fünf Kategorien unterteilt.

Die begehrteste, weil am besten versorgte

Kategorie war die I, die Schwerstarbeitern

und Funktionären vorbehalten war. In die

Kategorie II wurden Schwerarbeiter, in die

III Arbeiter und in die IV Angestellte eingestuft.

Kinder und die „sonstige Bevölkerung“,

zu der Rentner, Schwerbehinderte, nichterwerbs

tätige oder – erwerbsfähige Personen

sowie Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen

zählten, erhielten die Karten

der Gruppe V. In manchen Orten wurden die

Karten der Gruppe I und II zusammengelegt.

Erst 1947 wurde die „Sonstigen“-Karte, die

die Bevölkerung als „Friedhofskarte“ bezeichnete,

in der gesamten SBZ abgeschafft.

Im Sommer 1946 erfolgte eine erste Anhebung

der Rationen, die jedoch zum Jahresende

wieder rückgängig gemacht werden musste.

Der harte erste Nachkriegswinter und die

Dürre des folgenden Sommers hatten zu katastrophalen

Verlusten bei der Ernte geführt.

Die Bodenreform, durch die ab Herbst 1945

leistungsfähige Großgrundbesitzbetriebe in

eine Vielzahl kleiner Parzellen für „Neubauern“

aufgeteilt worden waren, wirkte sich zusätzlich

nachteilig auf die Versorgungssituation

aus. Den Neubauern, die zum großen Teil

aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten

vertrieben waren, fehlte es oftmals an landwirtschaftlichen

Kenntnissen. Aber auch

Saatgut und Maschinen waren rar, so dass

die Hektarerträge dramatisch sanken. Oft

reichte die Ernte nur für die Eigenversorgung

der Neubauern und ihrer Familien.

101 Bericht von Hans O., ohne Datum, S. 8. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

56


Erst im Februar 1947 konnten die „Hungerrationen“

endgültig angehoben werden und

erreichten nun laut amtlichen Angaben zwischen

1.500 und 2.200 Kilokalorien täglich.

Allerdings kamen die auf den Karten ausgewiesenen

Rationen noch immer nicht regelmäßig

beim Verbraucher an. So streckten die

Bäcker das Mehl mit Wasser, um auf das geforderte

Brotgewicht zu kommen. Die auf den

Karten angegebenen Mengen Fett, Fleisch

oder Käse wurden nur teilweise oder gar nicht

„aufgerufen“.

Bis 1948 unterschied sich die Lebenssituation

in den vier Besatzungszonen kaum. Überall

herrschten Mangel, Hunger und Not.

‚Leib- und Magenfragen‘ bestimmten den

Alltag. Dennoch hatte sich unter der Bevölkerung

schnell die Gewissheit verbreitet, dass

es sich in den westlichen Besatzungszonen

besser lebte. Amerikanische CARE-Pakete

verbreiteten in den Haushalten der westlichen

Besatzungszonen und der Westsektoren

Berlins schmerzhaft entbehrte und seit Jahren

aus den Läden verschwundene Waren ‚Made

in USA‘. Deren Qualität war besser als die der

Waren, die die deutsche Bevölkerung seit den

Tagen der Kriegsbewirtschaftung und Rationierung

in der Regel zu kaufen bekam. Während

amerikanische Soldaten Schokolade,

Zigaretten, Kaffee, Kaugummis und Strümpfe

verteilten – allesamt Waren, die auf dem

Schwarzen Markt einen hohen Tauschwert

hatten –, konnten die Russen lediglich Brot

oder Suppe fürs tägliche Überleben ausgeben.

Mit der Übernahme des sowjetischen Zuteilungssystems

wurde auch in der SBZ ein

System der Sonderzuteilungen, die Pajoks,

auch ,Stalinpakete‘ genannt, eingeführt.

Allerdings waren die Gaben vor allem Funktionären

und Angehörige der Intelligenz

sowie umworbenen Künstlern vorbehalten.

In diesen Pajoks steckten in der Regel

Grundnahrungsmittel:

„Es ging damals eigentlich alles ums Essen,

ganz primitiv. Und ums Rauchen und

um den Kaffee. Weil ich an zwei Theatern

im sogenannten russischen Sektor, so hieß

das ja damals, war, bekam ich ein Pajok.

Das war ein Care-Paket, nur in anderer

Form. Es war irrsinnig groß, ich konnte

das ganze Haus damit mitfüttern, und es

waren natürlich robustere Sachen drin als

in einem Care-Paket. Da war viel Schmalz

und Zucker und Mehl und all solche Sachen,

das war toll, da konnte man tauschen,

und das tat man dann auch...“, erinnerte

sich die Schauspielerin Brigitte Mira. 102

„Das Chaos der ersten Tage wurde weidlich

genutzt, um Lebensmittellager der Wehrmacht

zu plündern. Am Wasserturm in

der Rykestraße war so eins, aus dem ganze

Käse durch die Straßen gerollt oder Säcke

mit Mehl und Teigwaren geschleppt wurden.

Als wir uns der Aufsicht unserer

Mutter entziehen und zu dem begehrten

Ort vordringen konnten, kamen wir allerdings

schon zu spät: ein Kochgeschirr voller

Kommißstiefelnägel war meine ganze Ausbeute.

Die waren zwar nicht eßbar, erwiesen

sich aber als passables Spielzeug.“ 103

102 Erinnerungsbericht von Brigitte Mira, in: „Man trifft sich“ – ein deutsch-deutsches Familientreffen. Programm des Kabarett

Die Distel 1999, S. 35.

103 Bericht von Hans O., ohne Datum, S. 4. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

57


„Wir standen auf einen Schlag völlig ohne

Geld da! Kein Geldbriefträger brachte mehr

die monatliche Geldanweisung vom Gehalt

unseres verschollenen Vaters. Bargeld

war üblicherweise nicht in größerer Menge

im Haus und die Ersparnisse auf dem

Sparkassenbuch waren mit einem der ersten

Befehle der Besatzungsmacht ‚eingefroren‘.

Nun gab es zwar ohnehin kaum

noch etwas in den Läden zu kaufen. Die

wenigen Produkte auf den Lebensmittelkarten

waren billig. Aber alleine schon die

Miete war auf einmal nicht mehr bezahlbar!“

104

„Anträge beim Sozialamt um Unterstützung

blieben zunächst ohne Erfolg, wurden

abschlägig beschieden, weil unser Vater

‚PG‘ gewesen war, Mitglied in der NSDAP,

der Nazipartei. Diese Mitgliedschaft klebte

lange Zeit noch als Makel an uns, war

vielleicht auch einer der Beweggründe

unserer Mutter dafür, daß sie 1946 in die

SED eintrat. Inwieweit sie es auch aus der

Überzeugung heraus tat, daß sie damit

Lehren aus der faschistischen Vergangenheit

und dem verlorenen Krieg gezogen

hatte, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit

feststellen. So oder so wollte sie damit für

uns, ihre Kinder, das Beste erreichen. Mit

uns vier Kindern eine Arbeit zu finden,

wo sie nichts anderes als Hauswirtschaft

gelernt hatte, war für unsere Mutter schwer.

Sie begann als ‚Trümmerfrau‘, wie die

vielen Frauen genannt wurden, die egal

ob dazu durch Befehl oder die finanzielle

Misere gezwungen mit dem Freiräumen

der Straßen von Trümmern und dem

Abtragen von Hausruinen schon gleich

nach den ersten Tagen nach Kriegsende

begannen.“ 105

Und doch gibt es in den Berichten aus jener

Zeit auch Momente der Leichtigkeit. Ein erstes

Tanzvergnügen im Keller, ein gefundenes

Buch auf dem Schwarzmarkt. Es sind diese

kleinen Episoden, die zeigen, dass selbst im

größten Chaos das Bedürfnis nach Sinn, nach

Schönheit, nach Zukunft nicht verschwunden

war. Der Alltag war hart, aber die Menschen

versuchten, ihn erträglich zu gestalten. Die

Nachkriegszeit war unbeschreiblich schwierig.

Doch bevor neu aufgebaut werden konnte,

musste durchgehalten werden.

104 Bericht von Hans O., ohne Datum, S. 4. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

105 Bericht von Hans O., ohne Datum, S. 5. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

58


7. Verdrängtes Leid – sexualisierte

Gewalt gegen Frauen

Für viele Frauen mischte sich in die Erleichterung über das Kriegsende und die tägliche Mühsal

zusätzlich die Furcht vor der Zukunft. Sie hatten ihre Familien während des Krieges zusammengehalten,

selbst zutiefst verängstigt die Kinder in den Bombennächten getröstet und beschützt,

die Alten und Kranken versorgt – und waren jetzt am Ende ihrer Kräfte. Zur ständigen Angst

um sich selbst, die Kinder und die Männer kam die Sorge, wie der nächste Tag bewältigt werden

sollte. Für Frauen im Osten Deutschlands beherrschte zudem die Angst vor Vergewaltigungen

durch die sowjetischen Besatzer den Alltag. Etwa zwei Millionen ostdeutscher Frauen wurden

Schätzungen zufolge während der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegswochen Opfer von Vergewaltigungen;

Tausende wurden schwanger oder infizierten sich mit Geschlechtskrankheiten.

106 Bis heute gibt es hierzu nur Schätzungen. Zum einen, weil damals keine offizielle Statistik

geführt wurde. Zum anderen, weil es keine Anlaufstellen für Opfer von Vergewaltigungen

durch die neuen Machthaber gab. Hinzu kam, dass viele Frauen traumatisiert und aus Angst

vor Stigmatisierung und Unverständnis ihres Umfelds schwiegen. Wer überlebt hatte, konnte

oder wollte über die Gewalttaten nicht sprechen. Zum einen waren viele Menschen mit ihrem

eigenen Leid und dem eigenen Überleben beschäftigt. Zum anderen wollten viele oft nicht

wissen, was ihren Nachbarn und insbesondere den Frauen zugestoßen war.

Die massenhafte Vergewaltigung von Frauen

und Mädchen durch Soldaten der Roten Armee

in den letzten Kriegswochen und den

ersten Nachkriegsmonaten wurde über Jahrzehnte

hinweg weder öffentlich noch privat

angemessen erinnert. In der DDR war das

Thema tabuisiert und konnte erst nach 1990

angesprochen werden – oftmals begleitet von

Anzweiflungen und verbalen Angriffen auf

die betroffenen Frauen. Erst spät fanden die

Betroffenen eine Sprache für das, was ihnen

widerfahren war – wenn sie denn überhaupt

davon zu sprechen vermochten.

Die Gewalt war flächendeckend, und entsprechende

Gerüchte und Meldungen eilten

der vorrückenden Roten Armee voraus:

„Die Frauen und Männer, die der Krieg

verschont hatte, mussten jeden Tag zur

Feldarbeit antreten. Die Frauen traf es

doppelt hart: Nach dem schweren Tagewerk

mussten sie sich des Nachts in die

Wälder retten, um den Russen und Polen

zu entkommen, die sie vergewaltigen wollten.

Viele von ihnen erlebten unbeschreibliches

Leid, worüber die meisten später

106 Sander, Helke; Spohr, Julia: BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/

Main 1995, S. 15–17.

59


lieber schwiegen. Betroffen waren auch

junge Mädchen und selbst die Eltern waren

nicht in der Lage, sie zu schützen. 107

Die sowjetische Militärführung sah dem Geschehen

weitgehend tatenlos zu. Zwar existierten

Befehle gegen Plünderung und Gewalt,

doch ihre Durchsetzung war inkonsequent.

Der Krieg hatte die Gewalt in jeglicher Hinsicht

entgrenzt. Der Hass auf die Deutschen,

genährt durch das unermessliche Leid der

sowjetischen Bevölkerung, verband sich mit

einem Verständnis von Vergeltung, das auf

den Körper der Frau zielte:

„Unsere Mutter hatte sich stets in dem

dunkelsten Winkel versteckt, Angst habend,

vergewaltigt zu werden. Sie hatte sich

auch mit dunklen Sachen gekleidet und

sah mit ihren 32 Jahren wesentlich älter

aus.“ 108

Die deutschen Behörden der Nachkriegszeit

begegneten den Vergewaltigungen mit einer

Mischung aus Hilflosigkeit, Scham, politischer

Rücksichtnahme und Verdrängung.

In der DDR widersprach das Thema dem

offiziellen Narrativ vom antifaschistischen

Befreier. Die Gewalt sowjetischer Soldaten

passte nicht ins Bild.

Die betroffenen Frauen blieben allein – medizinisch,

rechtlich, psychologisch. Viele litten

ein Leben lang unter den Folgen. Manche

gebaren Kinder, die sie weder gewollt hatten

noch lieben konnten. Andere wurden unfruchtbar,

depressiv, verstummten. Der Umgang

mit den Opfern war häufig von Stigmatisierung

geprägt. Wer überlebt hatte, galt als

beschmutzt. Wer sprach, wurde gemieden.

Die Gewalt war ein offenes Geheimnis – zu

offen, um es zu leugnen, zu schmerzhaft,

um es zu benennen:

„Nie wurde darüber gesprochen und erst

Jahre später meine Vermutung bestätigt.

[…] Das Schicksal meiner Mutter hat

unsere Familie zerstört. Auch das große

Schweigen bleibt Teil meiner Erinnerung.“

109

Erst seit den 1990er Jahren beginnt sich langsam

eine historische Auseinandersetzung mit

diesem Thema zu etablieren. Publikationen,

Filme, Zeitzeugenprojekte haben die Stimmen

der Betroffenen dokumentiert. Sie erzählen

keine Geschichten von Heldinnen. Sie

erzählen von Ohnmacht, von Scham, von

Überleben. Und sie fordern ein, dass auch

dieses Kapitel Teil der Geschichte des Kriegsendes

ist – nicht marginal, nicht nachträglich,

sondern zentral. Der Krieg hörte nicht auf,

als die Waffen schwiegen. Für viele Frauen

begann er in jenem Moment erst wirklich –

in ihren Körpern, in ihren Erinnerungen,

in dem, was ihnen – stellvertretend für alle

Deutschen – genommen und angetan wurde.

107 Bericht Familie Balz, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,

die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 64.

108 Bericht von Heinz B., 2007, S. 8. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

109 Dittmer, Klaus: 80 Jahre Kriegsende. Ein Zeitzeuge erinnert sich, in: Der Tagesspiegel vom 26. April 2025, S. B 25.

60


8. Besatzung und politische Neuordnung

Was sollte aus Deutschland werden? Diese Frage stellte sich so mancher, der den Krieg überlebt

hatte. Unter der Bevölkerung kursierten wilde Gerüchte: Die Alliierten würden alle deutschen

Frauen sterilisieren, die Männer zur Zwangsarbeit fortbringen und aus ganz Deutschland einen

riesigen Kartoffelacker machen, sagten die einen. Nein, meinten andere, Deutschland solle

als Rachepfand an die Sowjetunion übergeben werden, die dann aus Deutschland einen riesigen

Gulag machen wolle. Sicher schien nur eins: Die Zukunft war ungewiss.

Mit dem militärischen Zusammenbruch des

„Dritten Reiches“ und der bedingungslosen

Kapitulation übernahmen die Alliierten die

Verantwortung. Deutschland und Berlin wurden

in vier Besatzungszonen geteilt. Was als

Provisorium gedacht war, überdauerte schließlich

mehr als vier Jahrzehnte staatlicher Teilung.

Schon bald zeigte sich, dass die Vorstellungen

der Siegermächte sehr unterschiedlich waren.

Während die drei westlichen Alliierten auf

den Aufbau demokratischer Strukturen und

Institutionen setzten, verfolgte die sowjetische

Führung unter Stalin andere Ziele. In ihren

Einflussgebieten im östlichen Europa sowie

in ihrer Besatzungszone in Deutschland

Handbuch für Offiziere der alliierten Militäradministration.

61


wurden die Weichen für den Aufbau einer

neuen Diktatur gestellt.

Die anfängliche Übereinkunft der Alliierten

über die Entmilitarisierung, Demokratisierung

und Entnazifizierung wurde in der Praxis

rasch zu einem Feld machtpolitischer Divergenzen.

In der sowjetischen Zone verstand

man Entnazifizierung als politische Neuausrichtung

im Zeichen des Sozialismus. Wer zur

alten Elite gehört hatte, wurde systematisch

entfernt. Verwaltungsapparate, Bildungswesen,

Medien und Justiz wurden gesäubert –

und zugleich mit neuen Kräften besetzt, die

den ideologischen Vorstellungen der sowjetischen

Besatzer entsprachen. In den westlichen

Besatzungszonen hingegen fand ein solcher

Elitenwechsel weder in der Wirtschaft noch

in der Justiz oder im Bildungswesen statt.

In der Sowjetischen Besatzungszone, aus der

1949 die DDR hervorging, nahm die Sowjetische

Militäradministration am 9. Juni 1945

ihre Arbeit auf. Sie regelte nicht nur alle politischen

und wirtschaftlichen Fragen wie die

Zulassung der Parteien, die Herstellung der

öffentlichen Ordnung und die Inbetriebnahme

der Fabriken und Verwaltungen, sondern

war auch für die Versorgung der Bevölkerung

in ihrem Besatzungsgebiet zuständig.

Die Sowjetunion ging in allen von ihr besetzten

Gebieten – und nicht nur im besiegten

Deutschland – mit äußerster Brutalität

gegen tatsächliche und vermeintliche Gegner

und Kritiker vor. Hunderttausende Menschen

verschwanden in Lagern und Gefängnissen

oder wurden nach Sibirien in die

Gulags verschleppt. Tausende wurden hingerichtet.

Dies betraf jedoch nicht nur Deutsche,

sondern die Bevölkerung in allen von

der Sowjetunion besetzten Ländern. Für die

drei baltischen Staaten wiederholten sich

bspw. die Erfahrungen aus der ersten sowjetischen

Besatzung 1940 infolge der Vereinbarungen

im Geheimen Zusatzprotokoll des

Hitler-Stalin-Paktes. Unter dem Decknamen

„Operation Priboi“ führten die sowjetischen

Behörden im März 1949 Massendeportationen

durch. Etwa 90.000 Menschen wurden

aus Estland, Lettland und Litauen in weit

entfernte Gegenden der Sowjetunion und in

die sibirischen Gulags deportiert. Der überwiegende

Teil der Verschleppten waren Frauen

und Kinder unter 16 Jahren. 110

Wie am Kriegsende befürchtet worden war,

traf es auch die deutsche Bevölkerung:

„Nach einigen Tagen wurden Marschblöcke

zusammengestellt, die jeweils schätzungsweise

800 bis 1000 Gefangene enthielten.

Sie verließen in Abständen das Lager in

Neubrandenburg und zogen Richtung Osten.

Bewacht wurden wir von sowjetischen

Soldaten, die auf Pferden saßen. Statt der

üblichen Sattel, waren sie mit Keilkissen

oder Bettauflagen versehen, die mit Stricken

bei den Pferden befestigt waren. (…)

Bei dem ununterbrochenen Marsch gab es

Durst, aber wir hatten nichts zu trinken.

Anfangs marschierten wir durch die gleichen

Orte, die bereits beim Marsch nach

Neubrandenburg berührt wurden. In

manchen Orten kamen Frauen mit Wassereimern

an den Straßenrand, denn sie

sahen wie es um uns bestellt war. Die

110 „Wir waren die abgesegnete Beute Stalins“. Reinvere, Jüri: Wie das Kriegsende 1945 im Baltikum wahrgenommen wurde,

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.05.2025, S. 13. Siehe auch Skarga, Barbara: Nach der Befreiung. Aufzeichnungen aus

dem Gulag 1944–1956. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2024.

62


Bewacher ließen das jedoch nicht zu. Mit

ihren Pferden rissen sie die Eimer um und

das schöne Wasser versickerte im Sand.

In gewissen Abständen wurden Pausen

eingelegt. Das geschah jedoch vorwiegend

außerhalb von Ortschaften. Wenn wir

Glück hatten, befand sich dort ein Fließ

oder es war Wasser im Straßengraben. Es

war logisch, daß sich die Durstigen auf das

Naß stürzten. Die Folgen blieben nicht

aus. Nach und nach bekamen immer

mehr Leute Durchfall und sie mußten in

kürzeren Abständen, ihre Hose ‚lüften‘

und der ‚Bedrängnis‘ freien Lauf lassen.

Dabei war aber Eile geboten, denn schnell

waren die Bewacher heran und schlugen

mit ihren Stöcken auf den blanken Hintern.

Die Betroffenen waren nicht zu beneiden.

Sie bekamen im Laufe der Zeit

‚weiche‘ Knien. Ihre Kräfte ließen nach.

Besonders ältere Leute unter uns, hatten

das auszustehen. Es durfte niemand zurückbleiben.

Die Kräftigeren griffen unter

die Arme und schleppten die Schwachen

mit. Das Nichtweiterkönnen wäre einem

Todesurteil gleich gekommen. Wir haben

alle bis zur Abend- bzw. Nachtpause mitnehmen

können. Die Nacht verbrachten

wir natürlich im Freien. Auf einem übersichtlichen

Platz mußten wir uns in einem

Viereck positionieren. Die uns begleitenden

Bewacher entfachten an den Ecken Feuer

und legten sich dann dort hin. Natürlich

war die Beobachtung immer gegeben, es

konnte niemand verschwinden. Wir waren

erst einmal froh, daß eine längere Ruhepause

eintrat. Einmal entdeckten wir an

einem solchen Lagerplatz einen Rest an

Kartoffeln, natürlich waren sie roh, trotzdem

würgten wir einige davon in uns

hinein. Sie haben fürchterlich geschmeckt,

aber sie füllten etwas den Magen. Sobald

die Sonne sich zeigte, mußten wir hoch

und jeder bekam ein paar Löffel Wassersuppe.

Danach ging es wieder auf die

Straße und durch weitere Ortschaften,

immer Richtung Osten.“ 111

Zentral für die Durchsetzung der neuen

Machtverhältnisse war in allen von der Sowjetunion

besetzten Ländern die Rolle der jeweiligen

Kommunistischen Parteien, die –

wenn ihre Mitglieder den stalinistischen Terror

überlebt hatten – zumeist aus dem sowjetischen

Exil und mit entsprechenden Vorstellungen

in ihre Heimatländer zurückgekehrt

waren. Im Osten Deutschlands war dies die

KPD, die im Schatten der sowjetischen Besatzungsmacht

ihre politische Rückkehr organisierte.

Bereits im Sommer 1945 propagierte

sie einen „antifaschistisch-demokratischen

Neubeginn“. In der SED, die im April 1946

aus der erzwungenen Vereinigung von KPD

und SPD hervorgegangen war, hatten Kommunisten

das Sagen, die mit der sowjetischen

Armee aus dem Exil heimgekehrt waren. Die

Gründung der SED bedeutete nicht nur die

Ausschaltung politischer Konkurrenz, sondern

auch den Aufbau eines Herrschaftssystems,

das seine Legitimation aus der behaupteten

moralischen Überlegenheit gegenüber dem

kapitalistischen Westen bezog.

Die sowjetische Besatzungsmacht konnte sich

damit in der SBZ auf die SED stützen, die mit

ihrer Hilfe die Schaltstellen der staatlichen

und kommunalen Verwaltung, des Rundfunks

111 Bericht von Herbert K., 2005, S. 11 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

63


und der Presse, der enteigneten Betriebe wie

auch der neu gegründeten Massenorganisationen

wie der FDJ besetzt hatte. Wolfgang

Leonhard (1921–2014), der mit der „Gruppe

Ulbricht“ im Mai 1945 aus dem sowjetischen

Exil nach Deutschland zurückkehrte, beschreibt

die Zielsetzung der kommunistischen

Führung wie folgt:

„Es muß demokratisch aussehen, aber wir

müssen alles in der Hand haben“ 112

Die Bevölkerung nahm diese Entwicklung

mit einer Mischung aus Resignation, Fatalismus,

Zustimmung, Skepsis und auch Widerstand

hin. Die Besatzungsmacht wurde einerseits

als fremd und bestimmend erlebt, andererseits

zugleich auch als ordnende Kraft

inmitten des Chaos.

Vor der massiven politischen Repression, die

unmittelbar mit der Besatzung begann, versuchten

sich Hunderttausende durch Flucht

in den Westen zu retten. Innerhalb weniger

Monate verschwanden Zigtausende in den

Folterkellern der Geheimpolizei, in den Speziallagern

oder wurden in die Sowjetunion

deportiert. Die Familien der Verschwundenen

erfuhren oft jahrzehntelang nicht, was mit

ihren Angehörigen passiert war.

In der sowjetischen Besatzungszone vollzog

sich der Aufbau des neuen Staates von oben,

gestützt durch die Besatzungsmacht, aber

unter dem Anschein demokratischer Beteiligung.

Wahlen wurden abgehalten, doch die

Listen waren kontrolliert. Passte das Wahlergebnis

nicht wie bei den Landtagswahlen

1946, wurden diese kurzerhand nicht mehr

offen durchgeführt. Zwar wurde die nur we-

nige Monate zuvor aus der Zwangsvereinigung

von SPD und KPD hervorgegangene SED mit

47,5 Prozent stärkste Kraft. Das Ergebnis

reichte jedoch nur in einem Land für die

absolute Mehrheit. Die Liberal-Demokratische

Partei (LDP) und die Christlich Demokratische

Union (CDU) hatten zusammen mehr Stimmen

als die SED. Bei den am gleichen Tag

ebenfalls zum letzten Mal einigermaßen frei

stattfindenden Wahlen in Berlin wurde die

SPD stärkste Kraft. Um künftig solche Ergebnisse

zu verhindern, wurde das Wahlrecht

geändert und fortan nur noch nach Einheitslisten

gewählt. Parteien durften zwar weiter

bestehen, aber nur innerhalb der „Einheitsfront“

unter Führung der SED. Mit der

Gründung der DDR 1949 wurde diese Entwicklung

formalisiert. Hier wurde schließlich

die SED als die „führende Kraft“ sogar

in der Verfassung festgeschrieben.

Die westlichen Besatzungszonen gingen einen

anderen Weg. Die Gründung der Bizone 1947

und später der Trizone, die Einführung der

D-Mark 1948, schließlich das Grundgesetz

1949, die Gründung der Bundesrepublik sowie

die Wirtschaftsreformen unter Ludwig

Erhard – sie bildeten die Etappen eines

föderalen und marktwirtschaftlich geprägten

Staatsaufbaus, der sich bewusst vom zentralistischen

Modell des Ostens abgrenzte.

Die Unterschiede zwischen beiden deutschen

Staaten manifestierten sich zunächst in wirtschaftlichen

Fragen. Während die DDR eine

zentrale Planwirtschaft aufbaute, die mit

Fünfjahresplänen und Produktionszielen arbeitete,

setzte die Bundesrepublik auf Wettbewerb,

Konsum und das Leitbild einer sozialen

Marktwirtschaft. Aber nicht nur wirt-

112 Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 1995, S. 232.

64


schaftlich hatten die Menschen in den Westzonen

und der späteren Bundesrepublik das

bessere Los gezogen: Die anhaltenden Repressionen,

die politische Unterdrückung, die zu

Tausenden Verschwundenen und Verschleppten,

deren Schicksal sich teilweise erst nach

dem Zusammenbruch der kommunistischen

Herrschaft klärte 113 , bestärkten das Gefühl,

dass die Menschen im Westen es besser hatten.

Bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 floh

ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung –

das waren über vier Millionen Menschen –

in den Westen.

Auch in der Justiz traten die Gegensätze deutlich

hervor. In der DDR wurde das Recht zunehmend

als Instrument politischer Erziehung

und Macht genutzt. Volksrichter ersetzten

Juristen alter Prägung. Schauprozesse und

politische Verfahren, deren Urteile bereits

vor Prozessbeginn festgelegt worden waren,

demonstrierten die Durchsetzung des neuen

Willens – und erreichten ihren Zweck, die

Bevölkerung einzuschüchtern. In der Bundesrepublik

hingegen wurde der Wiederaufbau

der Justiz von der Problematik der personellen

Kontinuitäten überschattet. Zahlreiche Juristen

– von Rolf Hochhuth 1978 als „furchtbare

Juristen“ bezeichnet –, die an NS-Terrorurteilen

beteiligt waren, blieben im Amt. Dieser

Umstand bot später Anlass für scharfe Kritik.

114 In den 1950er Jahren jedoch wurde dies

nach den ersten Prozessen zu Beginn der

1950er Jahre kaum öffentlich problematisiert.

Juristen wie der hessische Generalstaatsanwalt

Fritz Bauer, der die „Auschwitz-Prozesse“

maßgeblich vorantrieb, waren Anfeindungen

und Ausgrenzung ausgesetzt.

Die Rolle der Parteien unterschied sich ebenso

grundlegend. Während in der DDR mit der

SED eine staatsparteiliche Struktur entstand,

die keine Opposition duldete, entwickelte sich

in der Bundesrepublik ein pluralistisches

Parteiensystem. CDU/CSU, SPD, FDP und

andere Kräfte kämpften im demokratischen

Wettstreit um Wählerstimmen. In der DDR

hingegen spielten freie Wahlen keine Rolle.

Hier wurden durch Einheitslisten die Ergebnisse

vorgegeben und vorweggenommen. Das

Wählen selbst verkam zum „Zettel falten“.

Unter den unterschiedlichen politischen

Gegebenheiten entwickelten sich auch die

Gesellschaften der beiden deutschen Staaten

rasch auseinander: in ihren Institutionen, in

ihrer Sprache, in ihren Alltagspraktiken, in

ihren Mentalitäten. Westdeutschland sah sich

als Teil des Westens: liberal, marktorientiert,

eingebunden in die NATO und die Europäische

Gemeinschaft. Der Osten verstand sich

als Bollwerk des Sozialismus, als Vorposten

der internationalen Arbeiterbewegung, als

westlichster Vorposten des sowjetischen

Machtbereichs. Die beiden deutschen Staaten

standen zeit ihrer Existenz in einer Spannung

von Nähe und Distanz, von Abgrenzung und

Ähnlichkeit. Der Aufbau dieser Ordnungen

war kein technischer Vorgang, sondern ein

ideologischer Wettlauf um die Zukunft

Deutschlands, den die Menschen im Osten

durch ihre „Abstimmung mit den Füßen“ –

solange dies noch über die offene Grenze in

Berlin möglich war – eindeutig entschieden

hatten.

113 Roginskij, Arsenij; Drauschke, Frank; Kaminsky, Anna (Hg): „Erschossen in Moskau“. Die deutschen Opfer des Stalinismus auf

dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953. 4. Auflage, Metropol Verlag, Berlin 2020. Sowie Köster-Hetzendorf, Maren: Ich

hab dich so gesucht... Der Krieg und seine verlorenen Kinder. Pattloch Verlag, Augsburg 1995.

114 Müller, Ingo: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. Kindler Verlag, München 1987.

65


Gleichzeitig blieb die Teilung – zumindest

bis zum Mauerbau 1961 – ein kontrovers

diskutiertes Thema. Sie belastete nicht nur

den politischen Raum, sondern vor allem

auch die Lebensrealität von Familien, Freundeskreisen

und Arbeitsbeziehungen. Die innerdeutsche

Grenze trennte die Menschen in

Ost und West und bedeutete Todesgefahr für

die Fluchtwilligen aus dem Osten. Und doch

lebte der Gedanke an die Einheit in Briefen,

Besuchen und Fernsehbildern weiter.

Enteignungen und Bodenreform –

Klassenkampf gegen den Mittelstand

Bereits 1945 begannen in der SBZ großflächige

Enteignungen. Großgrundbesitz, Konzerne,

Banken – sie wurden unter dem Schlagwort

der „Demokratisierung der Wirtschaft“

in Volkseigentum überführt. Landlose Bauern

erhielten Boden zugesprochen

In Wolfshagen erinnert seit 1985 ein Denkmal an die Bodenreform. Das zu DDR-Zeiten errichtete

Denkmal zeigt einen alten Anhängepflug sowie den propagandistischen Schriftzug: „Junkerland in

Bauernhand“, mit dem die damaligen Enteignungen und Vertreibung der Eigentümer begründet

wurden. Bis heute fehlt eine kritische Kommentierung des Denkmals.

66


„Die offizielle Politik zur Integration der

Heimatvertriebenen in der SBZ/DDR

war vorrangig darauf gerichtet, ihnen

durch […] Arbeits- und Qualifizierungsprozesse

Möglichkeiten zu verschaffen,

sich aus eigener Kraft wieder neue Existenzen

aufzubauen. Für viele heimatvertriebene

Bauern ergaben sich auch durch

die SBZ-Bodenreform der Jahre 1945/

1946 Möglichkeiten zu einer neuen Existenzgründung

in der Landwirtschaft.

So hat beispielsweise aus dem verwandtschaftlichen

Umfeld meiner Frau ein ehemaliger

Bauer aus Ostpreußen in Hof

Redentin bei Wismar (Mecklenburg) einen

Neubauernhof bekommen, den er bis zu

seinem Tode zunächst als Einzelbauer,

später als LPG-Bauer bewirtschaftet hat.

Doch dieser Weg war für viele Neubauern

in den ersten Jahren sehr mühsam. Vorallem

dann, wenn sie bei der Aufteilung

bzw. der Verlosung von Ackerland, Wiesen,

Vieh, Landmaschinen, Wohngebäuden und

Stallungen ein schlechtes Los gezogen hatten.

Statistische Angaben weisen darauf

hin, daß im Zusammenhang mit der

SBZ-Bodenreform von den geschaffenen

210.000 Neubauernstellen 91.000 von

Heimatvertriebenen übernommen wurden.

Jeder zweite bis dritte Neubauer war demzufolge

ein Heimatvertriebener. Dieser Anteil

wäre sicher noch größer gewesen, wenn

so manche Heimatvertriebene – z. B. aus

politisch-moralischen Gründen oder weil

sie von der baldigen Rückkehr in die angestammte

Heimat noch überzeugt waren –

die Übernahme einer Neubauernstelle

nicht abgelehnt hätten.“ 115

Der wirtschaftliche Umbau diente dabei nicht

nur ökonomischen Zielen, sondern war Teil

der politischen Umgestaltung. Wer sich gegen

die neue Ordnung stellte, riskierte nicht nur

den Verlust seines Eigentums, sondern auch

seiner Freiheit. Wer sich dem neuen System

entzog, wurde repressiert. Wer Kritik äußerte,

wurde isoliert. Wer floh, wurde als Verräter

stigmatisiert. Die SBZ wurde zur Bühne eines

umfassenden sozialen und politischen Experiments,

dessen Folgen weit über die unmittelbare

Nachkriegszeit hinausreichen sollten.

Der Weg zur DDR war kein historischer Automatismus

– aber er war früh vorgezeichnet.

Auf ihrem Gründungsparteitag im Frühjahr

1946 in Berlin hatte die SED erklärt, dass für

sie die dringlichste „Gegenwartsaufgabe“ darin

bestehe, die Lebenslage der Bevölkerung

zu verbessern. Auf der Grund lage von Wirtschaftsplänen

sollte die Wirtschaft aufgebaut

und die Währung gesichert werden: „Planmäßige

Förderung der Bedarfsgütererzeugung

in Industrie und Handwerk unter Einschaltung

der Privatinitiative. Stärkste Intensivierung

und Förderung der Landwirtschaft.

Wiederaufbau der zerstörten Städte und beschleunigte

Wiederherstellung des Transports

und der Sicherheit des Verkehrs [...]

Sicherung des lebensnotwendigen Bedarfs der

breiten Volksmassen an Nahrung, Kleidung

und Heizung“, hieß es in ihren damals verabschiedeten

Grundsätzen und Zielen. 116

Die Bodenreform des Jahres 1945 und die

Verstaatlichung der Betriebe von tatsächlichen

oder angeblichen „Nazi- und Kriegsver-

115 Bericht von Heinz S., ohne Datum, S. 21 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Im Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-

Diktatur.

116 Grundsätze und Ziele der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands angenommen auf dem Vereinigungsparteitag von KPD

und SPD am 21./22. April 1946. Dokumente zur Geschichte der SED, Band 2 1945–1971. Berlin 1986, S. 34f.

67


brechern“, die im Juni 1946 eingeleitet wurde,

sollten die Grundlage für die spätere Einführung

der Planwirtschaft bilden. Angesichts

anhaltender Demontagen und unkalkulierbarer

Reparationsleistungen aus der in Gang

gesetzten Industrieproduktion durch die

Sowjets war zumeist an eine zentrale Wirtschaftsplanung

nicht zu denken. Im September

1947 musste der II. Parteitag der SED

feststellen, dass sich an der katastrophalen

Lage wenig geändert hatte: „Millionen deutscher

Kinder, Frauen und Männer leiden

schwer unter dem Mangel an Nahrung,

Kleidung, Wohnung und Heizung“. Wieder

stand die „Verbesserung der Lebensbedingungen“

an der Spitze aller Aufgaben. 117

Mit Fragebögen wie diesen versuchten die Siegermächte,

Angehörige von NS-Organisationen

ausfindig zu machen.

Entnazifizierung und Entmilitarisierung

Für die Siegermächte war – jenseits der

Staatsspitze – nicht klar erkennbar, wer von

den Deutschen ein Naziverbrecher gewesen

war, wer ein Mitläufer oder wer gar im Widerstand

oder unschuldig war. Um sich ein Bild

machen zu können, wurden Fragebögen entwickelt,

mit denen die Deutschen ihre Zugehörigkeit

zu NS-Organisationen angeben sollten.

Zudem wurden Befragungen unter der

Bevölkerung durchgeführt, um die Stimmungslage

zu erkunden. Das Bild, das sich

aus den Befragungen ergab, war überall ähnlich:

Man habe nichts gewusst, habe mitmachen

müssen, sei unschuldig:

„Die Fragen, die wir in harmlosen Formulierungen

stellten, zielten auf Themen

wie Politik, Politiker, Krieg und Geschichte

ab. Beiläufig plauderten wir über dieses

und jenes, aber irgendwann kamen wir auf

die entscheidenden Punkte zu sprechen

(die Russen, der Krieg, die Juden, Greueltaten,

Zwangsarbeiter, die Zukunft). Nazis,

Nazisympathisanten und deutschnational

Gesinnte verrieten sich unweigerlich bei

diesen Fragen. Anfangs mochte sich jemand

als leidenschaftlicher Regimegegner präsentieren,

um den Eindruck zu vermitteln, er

stehe auf der richtigen Seite, auf der Seite

der Sieger, doch irgendwann, vielleicht ein

wenig provoziert, gab er sich als fanatischer

Befürworter des Krieges zu erkennen und

verteidigte das Recht der Deutschen auf

einen Platz an der Sonne. Rasch stellten

wir fest, daß die Behauptung, man sei

Nazigegner gewesen, eine bequeme Ausrede

war, und nach einer Weile fanden wir

117 Beide Zitate aus: Entschließung zur politischen Lage, angenommen auf dem II. Parteitag der SED vom 20.–24.9.1947, in: Dokumente

zur Geschichte der SED, Band 2 1945–1971. Berlin 1986, S. 68.

68


diese Ausrede nicht mehr komisch.“ 118

„Sie habe vierzig Jahre lang als Volksschullehrerin

gearbeitet und sei unpolitisch. ‚In

politischen Dingen‘, sagte sie und strahlt

über das ganze Gesicht, ‚bin ich wie ein

Kind, wie ein richtiges Kind. Was ich über

diese komplizierte Materie weiß, habe ich

alles von meinem Mann.‘ Ihr Mann sei

nicht berufstätig. Aus gesundheitlichen

Gründen könne er keine schweren Arbeiten

verrichten. Daher verdiene sie das Geld,

während ihr Mann sich um den Haushalt

kümmere. Er sei vor vielen Jahren in die

NSDAP eingetreten – man habe ja gemusst

– und gehe regelmäßig zu den Parteiversammlungen,

und wenn er nach Hause

komme, erzähle er ausführlich, was dort

besprochen worden sei. Sie selbst, sagte sie

fröhlich, sei natürlich kein Nazi. (…). In

gewisser Hinsicht war Frau Pernitz unsere

beste ‚Klientin‘, geradezu eine Fundgrube

in Sachen NS-Ideologie. Sie hatte, ohne

es selber zu wissen, das Gedankengut der

Nazis komplett und mit allen Fasern aufgesaugt.

Und da ihr dieser Umstand nicht

bewußt war, wäre ihr nie eingefallen, ihre

Gedanken für sich zu behalten. Sie war wie

ein offenes Buch, aus dem sich das perfekte

Bild einer Lehrerin im Dritten Reich ergab.

(…). Frau Pernitz’ Augen leuchteten

bei der Erinnerung an die Kindheit des

Führers. Kein einziges Mal kam ihr das

Wort Hitler über die Lippen, stets verwendete

sie ‚der Führer‘ und sprach die Worte

ehrfurchtsvoll und verzückt aus. (…) Vor

allem über die Gründe, die zum Krieg geführt

hatten, wollten wir mehr erfahren.

‚Das ist ganz einfach‘, sagte Frau Pernitz.

‚England hat mit dem Krieg angefangen.

Die Engländer wollten Deutschland seinen

rechtmäßigen Platz in Europa streitig machen.

Sie selbst haben ein großes Kolonialreich,

aber wenn Deutschland versucht,

Lebensraum zu erwerben, legen sie uns

immer wieder Hindernisse in den Weg.‘

Und wieso kam es zum Krieg gegen

Rußland? ‚Die Russen‘, sagte sie düster,

‚hatten schon seit langem aufgerüstet,

weil sie Deutschland überfallen wollten.

Also haben wir uns verteidigt, indem wir

sie angegriffen haben. Die Bolschewisten

sind uns schon immer ein Greuel gewesen,

sie haben auf deutschem Boden nichts zu

suchen. Daher haben wir sie angegriffen,

bevor sie uns angreifen konnten.‘ Und

Polen? ‚Das war ein reiner Verteidigungskrieg.

Deutschland mußte sich vor den

Polen schützen.‘ Traurig schüttelte sie den

Kopf. ‚Jetzt ist alles verloren.‘ (…). Vor

einigen Jahren habe sie in Aachen miterlebt,

wie die Nazis die alte Synagoge niedergebrannt

hätten. Das habe sie doch

sehr erschüttert. ‚Es war nicht recht, das

Heiligtum der Juden zu zerstören. Was

einem nicht gehört, darf man nicht kaputtmachen.‘

Was sie von den Juden halte?

‚Die Juden sind die Feinde des deutschen

Volkes und der Menschheit‘, erwiderte sie

prompt. Und dann: ‚Ich weiß nicht, ob

das stimmt. Das haben wir immer so gehört.‘

Ob sie Juden kenne? ‚O ja. Ich hatte

eine jüdische Bekannte, Selma Bloch, sie

war die Tochter eines Dirigenten. Eine

patente Dame. Die Juden haben viel Gutes

118 Padover, Saul K.,: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main

1999, S. 28

69


Wilhelm Sprick (1928–2018) war von 1945 bis 1950 in verschiedenen sowjetischen Speziallagern

gefangen. In den Lagern war der Besitz von Bleistift und Papier verboten. Nach seiner Entlassung

verarbeitete er seine Erfahrungen im Lager in zahlreichen Zeichnungen.

für das deutsche Volk getan, aber der Partei

waren sie ein Dorn im Auge, und deshalb

wurden sie vernichtet.‘“ 119

Anders sah dies natürlich bei jenen aus,

die während der NS-Diktatur im Widerstand

waren:

„Während der ganzen Zeit der Diktatur

hatten wir Sozialdemokraten kameradschaftlich

mit Katholiken und Kommunisten

zusammengearbeitet. Wir hofften,

daß aus der Volksfront eine große einheitliche

sozialistische und demokratische

Organisation hervorgehen würde. Deshalb

lehnten wir es nach der Befreiung auch

ab, uns als sozialdemokratische Partei

zu konstituieren. Aber schon am zweiten

Tage nach der Befreiung mussten wir erkennen,

dass die KPD die alte geblieben

war. Man wollte die Volksfront nur als

eine Brücke zu nicht-kommunistischen

Kreisen benutzen.“ 120

„Mein Vater hatte inzwischen als Altkommunist

und Aktivist des Widerstands eine

wichtige Funktion in der Stadtverwaltung

von Dresden eingenommen. Durch seine

Fürsprache wurde mir der Abteilungsleiter-

Posten für die Elektrische Energieversor-

119 Vernehmung von Pernitz, Agnes, in: Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45,

Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 72–76

120 Brill, Hermann: Gegen den Strom, Bollwerk Verlag, K. Drott, Offenbach 1946, S. 96.

70


gung in der Stadtverwaltung angeboten.

Sofort stellte ich mich vor. Mit meinen politischen

und fachlichen Eigenschaften war

man vorerst sehr zufrieden. Doch als ich

es ablehnte, in die KPD einzutreten, war

alles vorbei. Ich erhielt vom Arbeitsamt

wenige Tage später unter dem Vorwand

meiner Tätigkeit bei der Kriegsmarine ein

Arbeitsverbot. Bereits vor 1933 hatte das

Verhalten der KPD und ihre absolute

Abhängigkeit von Moskau bei mir eine

Gegnerschaft zur Politik der KPD und der

‚Utopie des Kommunismus‘ erzeugt. Der

Hitler-Stalin-Pakt des Jahres 1939 (der sogenannte

‚Nichtangriffspakt‘) verstärkte mich

in dieser Haltung. Meines Erachtens hatte

Stalin mit diesem Pakt Hitler den Rücken

freigehalten für den Überfall auf Polen und

den Angriff auf Frankreich und England.

Ich wollte keiner neuen Diktatur dienen,

mich vielmehr mit aller Kraft für eine demokratische

Entwicklung einsetzen.“ 121

Die Alliierten legten die Regelungen zur Entnazifizierung

sehr unterschiedlich aus. Zwar

waren mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 8 vom

30.11.1945 bzw. der Kontrollratsdirektive 38

vom 12.10.1946 allgemeine Richtlinien erlassen

worden, wer verhaftet, überprüft und bestraft

werden sollte, aber diese wurden von der

sowjetischen Besatzungsmacht anders gehandhabt

als von den westlichen Besatzungsmächten.

Mit dem Befehl 000315 vom 18.04.1945

wurden Regelungen in Kraft gesetzt, die es

den Sowjets erlaubten, alle, die als „feindlich“

angesehen wurden, zu verhaften – unabhängig

davon, ob sie NS-Funktionäre waren und was

Detlev Putzar (1930–2018), als noch 15-Jähriger

1945 verhaftet und zu 10 Jahren Arbeitsstraflager

verurteilt, durchläuft ebenfalls verschiedene sowjetische

Speziallager. Um die dort gemachten

Erfahrungen zu verarbeiten, fängt auch er an zu

zeichnen. Im Bild eine Baracke im Speziallager

Sachsenhausen.

sie getan hatten. Der Willkür und stalinistischen

Verfolgungspraxis waren damit in der

sowjetischen Besatzungszone Tür und Tor

geöffnet.

Ein Instrument dazu waren die Sowjetischen

Militärgerichte (SMT) sowie die insgesamt

zehn sogenannten Speziallager. Einige davon

wurden in ehemaligen nationalsozialistischen

121 Berger, Siegfried: „Ich nehme das Urteil nicht an“. Ein Berliner Streikführer des 17. Juni vor dem sowjetischen Militärtribunal,

Berlin: Der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 5. Auflage, 2001,

S. 11.

71


Konzentrationslagern wie Sachsenhausen

und Buchenwald oder Kriegsgefangenenlagern

wie in Mühlberg oder Fünfeichen eingerichtet.

Über 120.000 Menschen wurden –

meist ohne Urteil – in diese Lager gebracht.

Ein Drittel verhungerte oder starb an Krankheiten

wie Tuberkulose. Zu den Gefangenen

in den Lagern gehörten kleinere und mittlere

Angehörige von NS-Organisationen, Kritiker

der sowjetischen Besatzungsmacht, Fabrikund

Landbesitzer, willkürlich Verhaftete und

auch Mitglieder von Gewerkschaften oder

Parteien, die die Sowjets als Gegner oder

„feindliche Elemente“ entsprechend ihrem

Befehl 00315 ansahen. Aktiv und direkt in

NS-Verbrechen verstrickte Personen wie KZ-

Aufseherinnen und Aufseher oder Angehörige

von SS oder Gestapo bildeten nur eine sehr

kleine Gruppe unter den Häftlingen. Etwa

fünf Prozent der Gefangenen waren Jugendliche

zwischen 12 und 17 Jahren, die als angebliche

Werwölfe verhaftet worden waren.

Die den Verhaftungen und Verschleppungen

zugrunde gelegten Vorwürfe wurden in der

Regel nicht überprüft. Ab Ende 1945 kamen

auch SMT-Verurteilte in die Lager:

„Und am 31. Juli 45 begann das Sowjetische

Militärtribunal. (...) Das Urteil wurde

am 1. August gesprochen. (...) Es gab weder

Staatsanwalt, also Ankläger, noch Verteidiger.

Und das schlimmste war ja eigentlich

aus meiner Sicht, dass das was zu Protokoll

gegeben wurde alles in russischer Sprache

war. Und es war eine Dolmetscherin,

auch eine Armeeangehörige, die das übersetzt

hat. Aber wir selbst haben in Deutsch

nichts gesehen. Und dann unterschreiben.

Da hat man das dann unterschrieben ohne

eigentlich genau zu wissen, was man unterschreibt.“

122

„Ein Staatsanwalt verlas die Anklage und

ereiferte sich, wie sehr ich mich in der

Hitlerzeit schuldig gemacht hätte. Der

Richter stellte ein paar Fragen, unterbrach

mich aber sofort, wenn meine Antworten

nicht in sein Konzept paßten. Was

ich zur Entlastung anführen, an Zeugen

nennen wollte, wurde gar nicht zugelassen.

Einen Verteidiger hatte ich nicht.

Publikum, also Öffentlichkeit, war nicht

vorhanden. Nach etwa 10 bis 15 Minuten

wurde die ‚Verhandlung‘ unterbrochen,

wenige Minuten später war dann die Urteilsverkündung:

8 Jahre Gefängnis ohne

Anrechnung der Internierungszeit.“ 123

„Wer waren die Menschen, die in diesem

Lager eingesperrt, den Torturen ausgesetzt

waren, ihnen zum Opfer fielen? Mit Sicherheit

nicht die, als die sie die sowjetische

Besatzungsmacht ausgab: schuldige Nazis

und Kriegsverbrecher. Das war weder ich,

der 16jährige bei Kriegsende, noch waren

das fast alle anderen Internierten. Diese

waren zum Teil ‚vorsorglich‘ Inhaftierte,

Menschen, vor denen die neuen Machthaber

im Osten Deutschlands Angst hatten,

weil sie den Ausbau einer kommunistischen

Diktatur hätten stören können. Oder sie

waren zufällig und willkürlich Eingesperrte,

Menschen, die wegen einer lächerlichen

Angelegenheit, einer nachbarlichen Denun-

122 Podcast-Manuskript von Gespräch mit Werner Höpfner, 2016, S. 4. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der

Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

123 Bericht Wolfgang Völzke, 1992, S. 14 f. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung

der SED-Diktatur.

72


ziation oder ihrer bloßen Anwesenheit bei

einem unsinnigen ‚verdächtigen‘ Vorfall

verhaftet worden waren. Oder es waren

Menschen, die sich bewußt gegen die erneute

Diktatur und gegen die Sowjetisierung

gestellt hatten. Vor der Gründung der DDR

gab es viele Menschen, die die gleichschaltenden

Reformen nicht hinnahmen, sich

dem Zwang, der von der Vorherrschaft der

SED ausging, nicht beugen wollten. (…)

Und schließlich noch die tragisch-kuriosen

Fälle: Altkommunisten und Juden, die

schon unter Hitler im KZ gewesen waren,

waren trotz Anbruchs der ‚neuen Zeit‘

wieder in Haft, als ‚Abweichler‘ oder als

‚den Aufbau des Sozialismus gefährdende

Personen.‘“ 124

„Einige wirklich Schuldige sind sicher

unter den Internierten gewesen: höhere

Parteifunktionäre, Sonderrichter, Wehrwirtschaftsführer,

die durchaus Machtmißbrauch

und Verbrechen begangen

hatten – doch niemand machte sich die

Mühe, diese ganz wenigen herauszusuchen,

und seltsamerweise wurden sie

eher entlassen als mancher andere.“ 125

„Alles um zu überleben – Als Jugendlicher

im Speziallager Sachsenhausen“

Reinhard Wolff kam als 16-Jähriger

ins sowjetische Speziallager Sachsenhausen.

In der Dokumentation berichtet

er über seine Erfahrungen.

„Hunger und Kälte, Isolierung und Angst

führten zur körperlichen und psychischen

Auszehrung. Die Ernährung war völlig

unzureichend und einseitig, Abmagerung

und Erkrankungen (Dystrophie, Ödeme,

Tbc) konnten bei den meisten Häftlingen

nicht ausbleiben. Von der Außenwelt abgeschnitten,

ohne sinnvolle Betätigung, ohne

Nachricht von den Angehörigen: Langeweile,

Sorgen und Sehnsucht beschleunigten

den Verfall der Kräfte“ 126

„Schwach, schwach – der körperliche Zustand.

Es war ja so, die Verpflegung war

zum Sterben zu viel, aber zum Leben zu

wenig. Und ein Kräfteaufbau, ja wo sollten

die Kräfte herkommen? Von der Krautsuppe,

von der dünnen Suppe, die man bekam?

(...) Es fehlte ja an Vitaminen, an gehaltvollen

Substanzen, um Kräfte zu entwickeln.

Bloß, das war ja nicht der Sinn der

Sache. Wir sollten ja da nicht gestärkt

werden, sondern es war ja doch ganz bewusst

so am Existenzminimum gehalten,

dass wir die Arbeit man geradeso verrichten

konnten, aber eben doch – ich hätte

beinahe gesagt – nicht übermütig werden

sollten.“ 127

„Das Bedrückendste war nicht der Hunger,

die Kälte, sondern das Bedrückendste war

eigentlich, dass ich meinen Angehörigen

kein Lebenszeichen geben konnte. Dass sie

124 Bericht von Wolfgang Völzke, 1992, S. 8 f. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung

der SED-Diktatur.

125 Bericht von Wolfgang Völzke, 1992, S. 10. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung

der SED-Diktatur.

126 Bericht von Wolfgang Völzke, 1992, S. 7. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung

der SED-Diktatur.

127 Podcast-Manuskript Gespräch mit Werner Höpfner, 2016, S. 9. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung

zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

73


also nicht wussten, ich lebe noch. Denn das

wäre ja für sie schon eine Beruhigung, zu

wissen, der Junge ist da und da und er

lebt.“ 128

Als die Lager 1950 nach Gründung der DDR

aufgelöst wurden, kamen etwa 15.000 Menschen

frei. 3.500 Gefangene wurden an die

DDR-Behörden übergeben und in den berüchtigten

„Waldheimer Prozessen“ verurteilt.

Die Prozesse verliefen unter Ausschluss der

Öffentlichkeit. Die erhobenen Vorwürfe wurden

nicht überprüft, und die Angeklagten erhielten

weder rechtlichen Beistand noch die

Möglichkeit, sich zu verteidigen. Die harten

Urteile wurden teilweise in Schauprozessen,

teils unter Ausschluss der Öffentlichkeit quasi

im Minutentakt gefällt. Gegen 24 Angeklagte

wurde die Todesstrafe verhängt. 129

Auch in den westlichen Besatzungszonen

wurden entsprechende Lager eingerichtet, um

jene Deutschen, die nach dem „automatical

arrest“ inhaftiert worden waren, zu überprüfen.

In den Lagern der drei westlichen Alliierten

– USA, Großbritannien und Frankreich –

befanden sich etwa 250.000 Häftlinge. Im

Vergleich zu den Sowjets internierten die

westlichen Besatzungsmächte bei einer dreimal

größeren Bevölkerung weit weniger Menschen.

Im Unterschied zu den sowjetischen

Lagern erfolgten hier die Überprüfungen

binnen weniger Monate. Diejenigen, denen

man Verbrechen zur Last legte, wurden an

die entsprechenden Gerichte übergeben. Bis

1948 wurden alle westlichen Lager aufgelöst.

Darüber hinaus überprüften die westlichen

Besatzungsmächte bis Februar 1950 mehrere

Millionen Menschen im Zuge der Entnazifizierung.

1.667 Personen wurden als Hauptschuldige

eingestuft und an Gerichte übergeben.

Zudem stellten sie in 23.060 Fällen

eine NS-Belastung fest und stuften in

150.425 Fällen die überprüften Personen als

„minderbelastet“ ein. In 1.005.854 Fällen

wurden diese als „Mitläufer“ bewertet, und

1.213.873 Menschen wurden nach den Überprüfungen

als entlastet angesehen. 130

„Die Amerikaner bemühten sich dann nach

der Kapitulation sehr, uns umzuerziehen.

Ich habe diese Umerziehung nicht als

schimpflich oder als Zumutung empfunden,

sondern habe da ganz gerne teilgenommen.

Es gab also einmal Sprachunterricht,

aber auch Unterricht in ‚Fundamentals‘

der Demokratie, amerikanische Verfassung,

Wahlsystem usw. Bei uns in der Schule

hatten wir ja eher die Verächtlichmachung

aller demokratischen Überlieferung mitbekommen.

Es gab daneben auch Propaganda-

oder sagen wir besser Aufklärungsfilme

über die KZ-Greuel. Und da muß ich sagen,

es war tatsächlich das erste Mal, daß

man vor diese Wirklichkeit gestellt wurde.

Wenn man es rückwirkend kritisch prüft,

kann man auch aus den Jahren in Deutschland

Erinnerungen rauskramen, wo einem

etwas nicht geheuer vorkam, von Berichten

aus Konzentrationslagern. Aber ich glaube,

die große Mehrheit hat sich nicht vorstellen

können, daß das dieses Ausmaß hatte und

daß die Menschen, vor allem die Juden,

systematisch umgebracht wurden. Es war

128 Podcast-Manuskript Gespräch mit Werner Höpfner, 2016, S. 13. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung

zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

129 https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/die-waldheimer-prozesse

130 Von Plato, Alexander und Leh, Almut: Ein unglaublicher Frühling. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948,

Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 94.

74


auf jeden Fall so, daß dann in der Gefangenschaft

uns Filme gezeigt wurden mit den

Leichenbergen aus den Konzentrationslagern.

Und da regte sich dann der eine oder

andere und sagte: ‚Ja, davon habe ich auch

gehört.‘ Und da setzte dann auch unter

den Gefangenen ein Umdenkungsprozeß

ein. Es gab dann auch eine interne Auseinandersetzung

darüber, die ganz fruchtbar

war. Die Amerikaner haben eben Umerziehung

nicht mit dem Holzhammer betrieben,

sondern versucht, Fakten und

Dokumente für sich sprechen zu lassen.“ 131

Auch in den sowjetischen Lagern gab es Umerziehungsmaßnahmen,

die jedoch anders

abliefen als bei den westlichen Alliierten:

„Eines Tages kam also dieser Politagitator

auf mich zu und sagte: Ich habe erfahren,

daß zehn Mann aus unserem Lager sich

melden dürfen für einen Politlehrgang in

K. Der dauert etwa ein Vierteljahr und

findet genau in der Zeit statt, wo drüben in

Rußland unschöne klimatische Verhältnisse

sind, wo der Herbst in den Winter übergeht,

wo also nur Kälte, Nässe, Schlamm,

Schmutz, alles auf Dich zukommt. Und in

dieser Zeit könnte ich also gemütlich in einem

Hörsaal sitzen und könnte mir Dinge

erzählen lassen, von denen ich bisher noch

nie was gehört hatte.[...] Ich hatte natürlich

keinerlei Kontakt mit dem Marxismus gehabt,

mit der philosophischen Anschauung,

mit Hegel und all diesen Dingen, die da

vorausgedacht worden sind. Da war also

bei uns zu Hause natürlich niemals irgend

was drüber gesagt worden. Und auch in

der Wehrmachtsausbildung wurde da nicht

drüber gesprochen, so daß das für mich eine

sehr interessante Tätigkeit wurde. Ich habe

mich gemeldet, ich wurde angenommen.

Wir kamen dann in ein extra für diese

Zwecke eingerichtetes Lager und hatten

dort schön jeden Tag wie in der Schule

unseren Unterricht in fünf Fächern. Ein

Lehrgebiet war der historische dialektische

Materialismus. Das zweite war die Geschichte

der KPdSU, zu deutsch der Kommunistischen

Partei der Sowjetunion.

Das dritte war die deutsche Arbeiterbewegung,

insbesondere natürlich die Kommunistische

Partei Deutschlands und – ganz

wichtig - die SED, eine Partei neuen Typs,

damals ja gerade frisch entstanden. Das

vierte fällt mir nicht ein. Und das fünfte

war dann praktische Arbeit: Wie bringe ich

das nun meinen mitgefangenen Brüdern

bei? Wie kannst du das eventuell außerhalb

einer Gefangenschaft – ihr kommt

ja alle demnächst mal nach Hause – wie

kannst du das weitertragen in dein Umfeld

hinein, daß endlich mal der Weltkommunismus

durch meine Mithilfe erreicht werden

kann? So ungefähr haben die sich das

wahrscheinlich vorgestellt. (…) Und dann

wurde uns natürlich auch erklärt, was da

in Auschwitz und Theresienstadt und so

weiter stattgefunden hat, und auch, was für

Verbrechen von deutschen Truppen – will

ich mich mal ausdrücken, ob das nun

Waffen-SS war oder ob das militärische

Einheiten waren –, also von deutschen

131 Aus einem Interview mit Siegfried Maruhn, geführt 1987 von Nori Möding und Alexander von Plato, Archiv „Deutsches

Gedächtnis“, Lüdenscheid, in: Von Plato, Alexander; Leh, Almut: Ein unglaublicher Frühling. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland

1945–1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 1997, S. 364–365

75


Truppen auch an der Zivilbevölkerung in

Rußland verübt worden waren, das wurde

uns natürlich schon alles erzählt und

eigentlich auch so mit der Aufforderung:

Jetzt denkt mal darüber nach, wie gut ihr

es jetzt hier habt.“ 132

Der wichtigste Unterschied zwischen den

Lagern der Alliierten waren und blieben die

Lebensbedingungen. Während in den sowjetischen

Lagern etwa ein Drittel der Häftlinge

unter den menschenunwürdigen Bedingungen

ums Leben kam, starben in den Lagern

der Westalliierten nur wenige Internierte.

Als es im Lager Sandbostel im Hungerwinter

1946/1947 zu Todesfällen kam, beauftragte

das britische Unterhaus eine Untersuchungskommission,

um künftig Todesfälle in den

Lagern zu vermeiden.

132 Aus einem Interview mit Hans Graetz, geführt 1995 von Leonie Wannenmacher, Archiv „Deutsche Gedächtnis“, Lüdenscheid,

in: Von Plato, Alexander; Leh, Almut: Ein unglaublicher Frühling. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948,

Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 1997, S. 366–368

76


9. Erinnerung, Verantwortung, Ausblick

Das Jahr 1945 steht als Chiffre für einen Wendepunkt der europäischen Geschichte – aber auch

für ein fortdauerndes Ringen um Deutung. Was als Zusammenbruch begann, wurde zur Geburtsstunde

zweier deutscher Staaten, zur Zäsur des 20. Jahrhunderts, zur Spaltung Deutschlands,

Europas und der Welt im Kalten Krieg.

In der Bundesrepublik wurde die Erinnerung

an das Kriegsende zunächst von Verlustnarrativen

dominiert: Flucht, Vertreibung, Bombennächte.

Die Verbrechen des NS-Staates

rückten erst allmählich ins öffentliche Bewusstsein

und ins Zentrum des Erinnerns

und Gedenkens. In der DDR wiederum wurde

Erinnerung zur Staatsaufgabe, aber unter

einem verengten Vorzeichen: Der antifaschistische

Widerstand wurde gefeiert, andere

Widerstandsformen an den Rand gedrängt

oder ganz tabuisiert. Die Frage nach individueller

Schuld blieb ausgeklammert. Die

Shoah kam bis in die 1980er Jahre in offiziellen

Gedenkakten kaum vor, während

kommunistische Heldengeschichten

kanonisch wurden.

Erinnerung ist kein Kontinuum, sondern ein

Prozess der Aushandlung. In den Familien, in

den Schulklassen, in den Medien vollzog sich

ein langsames Erwachen: Was haben die Eltern

getan? Was wurde verschwiegen? Und

was war vergessen? Die Nachkriegskinder

fragten nach – manchmal zu spät. Die Enkel

begannen zu recherchieren. Die Archive öffneten

sich. Die Stimmen der Überlebenden,

der Täter, der Zuschauer und der Nachgeborenen

überlagern sich. Ihre Zeugnisse widersprechen

einander nicht – sie ergänzen sich

in ihrer Widersprüchlichkeit.

Die Stimmen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen

tragen diese Botschaft. Sie sprechen

von Angst und Mut, von Ohnmacht und Handlung,

von Verrat und Treue. Sie machen Geschichte

greifbar – nicht als Abfolge von Daten,

sondern als Gewebe aus Einsichten und

Verdrängung, letztlich von Schicksalen und

Leben in schwierigen Zeiten. Ihre Zeugenschaft

ist ein Geschenk. Es liegt an uns, es

anzunehmen – nicht als Bürde, sondern als

Möglichkeit.

1945 bedeutete für viele das Ende – und zugleich

einen neuen Anfang. Die Stimmen derjenigen,

die die damaligen Zeiten erlebten,

erinnern daran, wie komplex die Erfahrungen

jener Monate waren: Zwischen Trauma und

Aufbruch, zwischen persönlicher Schuld und

kollektivem Schweigen. Diese Perspektiven –

gerade aus ostdeutscher Sicht – sind Teil unserer

gemeinsamen Geschichte. In den letzten

Monaten ist oft der Appell „Nie wieder!“

beschworen worden. Damit das keine hohle

Phrase wird, darf Verantwortung nicht delegiert

werden. Gerade vor dem Hintergrund

unserer Geschichte im 20. Jahrhundert und

der Verantwortung Deutschlands für die

Verbrechen im Nationalsozialismus und

Zweiten Weltkrieg.

77


Die Stimmen, die in diesem Text zu Wort

kamen, sprechen aus einer untergegangenen

Welt. Ihre Worte, oft gefasst nach langem

Schweigen, sind keine historischen Fußnoten,

sondern Brennpunkte kollektiver Erfahrung.

Doch wer sich auf Zeugnisse verlässt,

darf sich nicht mit ihnen begnügen. Was heute

zählt, ist ein Zugang zur Geschichte, der nicht

auf Identifikation zielt, sondern auf kritische

Nähe. Die Vergangenheit verlangt keine Zustimmung.

Sie fordert Urteilskraft. Und sie

stellt Bedingungen: für das Verständnis von

Verantwortung, für das Verhältnis zur Demokratie,

für das Maß, in dem Gesellschaft sich

selbst hinterfragt.

Künftige Generationen werden keine persönlichen

Berichte mehr hören. Sie werden Texte

lesen, Bilder sehen, Fragmente finden.

Umso entscheidender ist, dass wir heute die

Voraussetzungen dafür schaffen, dass diese

Fragmente sprechfähig bleiben. Das erfordert

Archivierung, Forschung, Vermittlung.

Wenn Erinnerung Zukunft haben soll,

braucht sie Gegenwart.

78


Abkürzungsverzeichnis

CDU

CSU

DDR

FDJ

Gestapo

Gulag

KGB

KPD

KZ

LDP

LPG

NATO

NSDAP

SA

SBZ

SED

SMAD

SMT

SPD

SS

Christlich Demokratische Union Deutschlands

Christlich-Soziale Union in Bayern

Deutsche Demokratische Republik

Freie Deutsche Jugend

Geheime Staatspolizei im Nationalsozialismus

System der Straf- und Arbeitslager in der Sowjetunion

Sowjetische Geheimpolizei (später NKWD)

Kommunistische Partei Deutschlands

Konzentrationslager

Liberal-Demokratische Partei Deutschlands

Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft

Nordatlantikpakt (Politisch-Militärisches Bündnis)

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

Sturmabteilung (Ordnungsdienst der NSDAP)

Sowjetische Besatzungszone

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

Sowjetische Militäradministration in Deutschland

Sowjetisches Militärtribunal

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Schutzstaffel (Organisation der NSDAP)

79


Abbildungsverzeichnis

(Titel) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345244 (6) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld,

Bild EBW_PH_1345244 (9) Ministry of Information Photo Division Photographer (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ve_

Day_Celebrations_in_London,_England,_UK,_8_May_1945_D24586.jpg), „Ve Day Celebrations in London, England, UK, 8 May

1945 D24586“, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-UKGov

(10) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345284 (19) Unknown author (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Prisoners_liberation_dachau.jpg),

„Prisoners liberation dachau“, United States Holocaust Memorial

Museum, courtesy of National Archives and Records Administration, College Park, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf

Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-US (22) Bundesarchiv, Bild 183-2005-0803-519 / CC-

BY-SA 3.0 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-2005-0803-519,_Berlin,_Kinder_spielen_in_

Trümmern.jpg), „Bundesarchiv Bild 183-2005-0803-519, Berlin, Kinder spielen in Trümmern“, https://creativecommons.org/

licenses/by-sa/3.0/de/legalcode (23) Walter Chichersky, U.S. Signal Corps, 16. April 1945 (https://commons.wikimedia.org/wiki/

File:NaziConcentrationCamp.gif), „NaziConcentrationCamp“, National Archives at College Park, Maryland, als gemeinfrei gekennzeichnet,

Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-US (25) Bundesstiftung

Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345295 (27) Bundesarchiv, Bild 183-H12704 / CC-BY-SA 3.0 (https://commons.

wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-H12704,_Bad_Godesberg,_Vorbereitung_Münchener_Abkommen.jpg), „Bundesarchiv

Bild 183-H12704, Bad Godesberg, Vorbereitung Münchener Abkommen“, https://creativecommons.org/licenses/bysa/3.0/de/legalcode

(31) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345061 (32) Bundesstiftung Aufarbeitung,

Eastblockworld, Bild EBW_PH_1328208 (33) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345067 (36)

Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_1344554 (43) Tsungam / CC BY-SA 4.0 (https://commons.wikimedia.

org/wiki/File:Seelow_-_2015-07-04_-_Gedenkstätte_Seelower_Höhen_(59)-HDR.jpg), https://creativecommons.org/licenses/

by-sa/4.0/legalcode (44) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345150 (45) Bundesstiftung Aufarbeitung,

Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345293 (47) War Office official photographer, Major W. G. Horton (https://commons.wikimedia.org/

wiki/File:Winston_Churchill_waves_to_crowds_in_Whitehall_in_London_as_they_celebrate_VE Day,_8May_1945._H41849.jpg),

„Winston Churchill waves to crowds in Whitehall in London as they celebrate VE Day, 8 May 1945. H41849“, als gemeinfrei gekennzeichnet,

Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-UKGov (48) Bundesstiftung

Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345309, Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345303

(49) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345239 (57) Supreme Headquarters Allied Expeditionary

Force: Military Government Germany. Technical Manual for Legal and Prison Officers. 2nd Edition. (62) Doris Antony, Berlin

(https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wolfshagen_Bodenreform_Denkmal.jpg), „Wolfshagen Bodenreform Denkmal“,

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode (64) Oswald Lehnich (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Entnazifizierungs_fragebogen.jpg),

„Entnazifizierungs fragebogen“, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons:

https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-ineligible (66) Bundesstiftung Aufarbeitung, Wilhelm Sprick, Bundesstiftung

Aufarbeitung, Wilhelm Sprick (67) Bundesstiftung Aufarbeitung, Detlev Putzar

80



ISBN: 978-3-86331-809-3

Bundesstiftung zur

Aufarbeitung der SED-Diktatur

Kronenstraße 5

10117 Berlin

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!