So viel Ende war nie. So viel Anfang war nie. Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen
Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat die Broschüre „So viel Ende war nie. So viel Anfang war nie. Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen“ veröffentlicht. Die Publikation wurde gemeinsam von Finn Harmsen und Dr. Anna Kaminsky, Direktorin der Stiftung, erarbeitet. Sie dokumentiert, wie unterschiedlich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland wahrgenommen wurde – zwischen Erleichterung, Scham, Überforderung und dem weitverbreiteten Wunsch, sich selbst als Opfer zu begreifen. Die ausgewählten Zeitzeugenberichte zeigen die Spannbreite zwischen Befreiung und Gewalt, Flucht und Ankunft, Schuld und Verdrängung. Für viele Deutsche markierte der 8. Mai 1945 nicht mehr als das offizielle Ende dessen, was sie in den Monaten zuvor beim Vormarsch der alliierten Truppen individuell erfahren hatten. Die Publikation macht deutlich, dass es nicht das eine, gemeinsame Kriegsende gab, sondern zahlreiche individuelle Enden – und ebenso viele unsichere Anfänge. Ergänzt werden die Zeitzeugenberichte durch eine knappe historische Einordnung zur militärischen Lage, zur bedingungslosen Kapitulation und zu den politischen Zielsetzungen der Alliierten. Die Broschüre berücksichtigt dabei Perspektiven, die lange übersehen wurden: etwa die Erfahrungen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, befreiten sowjetischen Kriegsgefangenen oder die sexualisierte Gewalt gegen Frauen, insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone.
Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat die Broschüre „So viel Ende war nie. So viel Anfang war nie. Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen“ veröffentlicht. Die Publikation wurde gemeinsam von Finn Harmsen und Dr. Anna Kaminsky, Direktorin der Stiftung, erarbeitet. Sie dokumentiert, wie unterschiedlich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland wahrgenommen wurde – zwischen Erleichterung, Scham, Überforderung und dem weitverbreiteten Wunsch, sich selbst als Opfer zu begreifen. Die ausgewählten Zeitzeugenberichte zeigen die Spannbreite zwischen Befreiung und Gewalt, Flucht und Ankunft, Schuld und Verdrängung.
Für viele Deutsche markierte der 8. Mai 1945 nicht mehr als das offizielle Ende dessen, was sie in den Monaten zuvor beim Vormarsch der alliierten Truppen individuell erfahren hatten. Die Publikation macht deutlich, dass es nicht das eine, gemeinsame Kriegsende gab, sondern zahlreiche individuelle Enden – und ebenso viele unsichere Anfänge. Ergänzt werden die Zeitzeugenberichte durch eine knappe historische Einordnung zur militärischen Lage, zur bedingungslosen Kapitulation und zu den politischen Zielsetzungen der Alliierten. Die Broschüre berücksichtigt dabei Perspektiven, die lange übersehen wurden: etwa die Erfahrungen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, befreiten sowjetischen Kriegsgefangenen oder die sexualisierte Gewalt gegen Frauen, insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone.
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FINN HARMSEN UND
ANNA KAMINSKY
Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen
Finn Harmsen und Anna Kaminsky
So viel Ende war nie. So viel Anfang war nie.
Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen
Dr. Anna Kaminsky
ist Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Finn Harmsen,
Studium Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin,
studentischer Mitarbeiter im Projekt „So viel Ende war nie. So viel
Anfang war nie. Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen“
N AF SO VIEL
N
NA ED E WAR NIE
Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen
G
Impressum
So viel Ende war nie. So viel Anfang war nie.
Das Kriegsende in persönlichen Erinnerungen
Finn Harmsen und Anna Kaminsky
Eine Publikation der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
ISBN: 978-3-86331-809-3
Metropol Verlag
Inh. Friedrich Veitl
Ansbacher Str. 70
D-10777 Berlin
Telefon: (0 30) 2 61 84 60
E-Mail: veitl@metropol-verlag.de
Internet: https://www.metropol-verlag.de/kontakt
Alle Rechte vorbehalten
© 2025 Metropol Verlag
Gestaltung:
Korrektorat:
Druck:
Frank Kirchner, ultramarinrot, Berlin
Bettina Grothe
Aalexx Druck Produktion, Großburgwedel
Redaktionsschluss 23. Mai 2025
4
Impressum ...........................................................................................................................................................................4
Inhalt.............................................................................................................................................................................................5
Zum Geleit.............................................................................................................................................................................7
Einführung............................................................................................................................................................................5
1. 1945 – Ein doppelter Wendepunkt ..............................................................................................11
2. Verbrechen und Verantwortung.....................................................................................................16
3. Befreiungserfahrungen und Ambivalenzen...................................................................20
4. Deutsche Perspektiven: Schuld, Verlust, Verdrängung.....................................27
5. Flucht, Vertreibung, Neuanfang................................................................................................... 34
6. Alltag im Chaos.................................................................................................................................................48
7. Verdrängtes Leid – sexualisierte Gewalt gegen Frauen.....................................59
8. Besatzung und politische Neuordnung.................................................................................61
9. Erinnerung, Verantwortung, Ausblick.................................................................................. 77
Abkürzungsverzeichnis......................................................................................................................................79
Abbildungsverzeichnis ......................................................................................................................................80
5
Zum Geleit
Der 8./9. Mai 1945 markiert das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa – ein Tag, an dem die
von Deutschland überfallenen Völker Europas vom Terror des nationalsozialistischen Regimes
befreit wurden. In Deutschland wurde das Kriegsende jedoch nur von einer Minderheit als
Befreiung erlebt: Von den Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager, den aus
„rassischen“ Gründen Entrechteten und zur Ermordung Vorgesehenen, von den nach Deutschland
verschleppten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern sowie von jenen Frauen und Männern,
die aus politischer oder religiöser Überzeugung in Distanz oder im Widerstand das NS-Regime
in Konzentrationslagern, Zuchthäusern oder in der inneren Emigration überlebt hatten. Für die
meisten Deutschen bedeutete der 8. Mai Zusammenbruch, Niederlage und eine ungewisse
Zukunft.
In der Sowjetischen Besatzungszone und der
DDR wurde der 8./9. Mai von Anfang an als
„Tag der Befreiung“ gefeiert und staatlich inszeniert.
Die SED-Propaganda zielte dabei
nicht auf eine kritische Auseinandersetzung
mit der deutschen Schuld, sondern auf die
Legitimation der neuen kommunistischen
Ordnung. In der Bundesrepublik wurde das
Gedenken an das Kriegsende seit den 1960er
Jahren zunehmend kontrovers diskutiert.
Während in den 1940er und 1950er Jahren
die Erinnerung an das Leid der deutschen
Bevölkerung im Krieg, in der Gefangenschaft
oder bei den Vertreibungen im Zentrum
stand, rückte mit den 1960er Jahren die Perspektive
der deutschen Verbrechen und deren
Opfer stärker ins öffentliche Bewusstsein.
Es bedurfte der Rede von Bundespräsident
Richard von Weizsäcker im Jahr 1985, um
den 8. Mai 1945 in seiner Ambivalenz in der
westdeutschen Erinnerungskultur zu verankern:
Als Datum der Niederlage und Ausgangspunkt
von Flucht, Vertreibung und
staatlicher Teilung, aber auch als Datum der
Befreiung von der nationalsozialistischen
Diktatur, in deren Folge sich Westdeutschland
zu einer wohlhabenden, freiheitlichen
Demokratie entwickelte, die sich mit ihren
Nachbarn aussöhnen konnte.
Dass der 8. Mai 1945 für die Menschen in Ostmitteleuropa
ein ausgesprochen janusköpfiges
Datum war, geriet dabei vielen Menschen im
Westen aus dem Blick. Zwar beendete der
Einmarsch der Sowjets dort die nationalsozialistische
Okkupation, doch das Momentum
der Befreiung währte nur kurz. Spätestens ab
1948 wurden die demokratischen Ansätze in
Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und
den anderen Staaten des erweiterten sowjetischen
Einflussbereichs durch die Errichtung
kommunistischer Satellitenregime erstickt.
7
Besonders grausam zeigte sich die Dialektik
von Befreiung und Unterdrückung im Schicksal
der sowjetischen Kriegsgefangenen und
verschleppten Zwangsarbeiter, die nach ihrer
Rückkehr in die Sowjetunion als Verräter
oder Überläufer gebrandmarkt wurden. Für
viele bedeutete dies Lagerhaft, gesellschaftliche
Ächtung oder Tod – sie lebten fortan in
noch größerer Unfreiheit als die ohnehin
entrechtete sowjetische Bevölkerung.
Der 8. Mai mahnt zur historischen Genauigkeit.
Er ist ein Tag der Dankbarkeit gegenüber
den alliierten Streitkräften, die das nationalsozialistische
Regime militärisch besiegten –
allen voran der Sowjetunion, die den höch s-
ten Blutzoll zahlte. Er ist ein Tag der Demut
angesichts der von Deutschland begangenen
Verbrechen. Er ist aber auch Anlass, die vielschichtigen
und zum Teil widersprüchlichen
Erfahrungen Europas im Jahr 1945 zu benennen
– insbesondere derer, für die das Kriegsende
den Übergang von einer Gewaltherrschaft
in eine neue bedeutete. Die Erinnerung
an das Kriegsende muss diese vielfach gebrochene
historische Realität sichtbar machen.
Berlin, im Frühjahr 2025
Finn Harmsen & Anna Kaminsky
8
Einführung
Was bedeutet das Jahr 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom
Nationalsozialismus für Europa und die deutsche Gesellschaft? Der 8. Mai 1945 wird meist
als Wendepunkt markiert, als Moment des Umbruchs, des Neustarts, als Beginn einer neuen
Ordnung, als Befreiung. Diese Sicht auf die Vergangenheit hat sich jedoch erst in den vergangenen
Jahrzehnten herausgebildet. Hinter diesen Begriffen steht eine Wirklichkeit, die aus unzähligen
individuellen Erfahrungen, Widersprüchen und verdrängten Stimmen besteht. Dieser
Text will diese Stimmen in all ihrer Vielfalt und auch Widersprüchlichkeit vernehmbar machen.
Er stützt sich auf Erinnerungen von Zeitzeuginnen
und Zeitzeugen, auf knappe, dichte
Berichte aus verschiedenen Regionen Deutschlands
und Europas, auf Aussagen, die über
Jahrzehnte hinweg in Archiven schlummerten
oder in Familien weitergegeben wurden. Sie
sprechen von Zusammenbruch und Hoffnung,
von Schuld und Verlust, von Befreiung und
Gewalt. Sie widersprechen einander nicht –
sie ergänzen und vervollständigen sich. Im
Mittelpunkt stehen dabei besonders ostdeutsche
Erfahrungen und Stimmen. Bis heute
wird die Nachkriegszeit oft aus westdeutscher
Perspektive erzählt. Dass sich diese grundlegend
von ostdeutschen Erfahrungen unterscheidet
und die Wahrnehmungen bis heute
prägt, geht dabei unter.
Die neun Kapitel dieses Bandes folgen einer
thematischen Ordnung, die das Jahr 1945 nicht
als linearen Ablauf erzählt, sondern als ein
Feld konkurrierender, sehr unterschiedlicher
Wahrnehmungen. Der militärische Sieg der
Alliierten über das nationalsozialistische
Deutschland war keine Erfahrung, die alle
Menschen in gleicher Weise betraf. Für die
einen war er das Ende eines mörderischen
Regimes, für die anderen der Anfang einer
neuen Fremdherrschaft. Manche litten an
der Vergangenheit, andere an der Sorge um
die Zukunft. Dazwischen lagen Schweigen,
Angst, Schuldabwehr und der mühselige Versuch,
zu überleben und Alltag zu gestalten.
Besonders wichtig war es, Themen aufzunehmen,
die lange ausgeblendet wurden und
oft nur am Rande behandelt werden: Das
Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter und aus der Sowjetunion
stammender Kriegsgefangener, die sexualisierte
Gewalt gegen Frauen durch Soldaten
der Roten Armee, das zähe Fortwirken der
nationalsozialistischen Ideologie in der
Nachkriegszeit.
Dieses Buch soll keine abschließende Deutung
liefern. Es will dokumentieren, wie 1945 von
verschiedenen Menschen erlebt wurde – und
was daraus geworden ist. Es lädt ein, hinzuhören,
mitzudenken, Widersprüche auszuhalten.
Die Vergangenheit ist weder vergangen noch
eindimensional. Sie bleibt gegenwärtig – in
ihren Spuren, ihren Stimmen, ihren offenen
Fragen.
9
10
1. 1945 – Ein doppelter Wendepunkt
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden
System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen
vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach
folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung
und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft,
die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ 1
Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985
Der Mai 1945 markiert das Ende eines Krieges
in Europa, der in nie dagewesener Weise
Europa und die Welt verheert und die Weltordnung
erschüttert hatte. Er bedeutete den
militärischen Zusammenbruch des nationalsozialistischen
Deutschlands, das am 1. September
1939 mit dem Überfall auf Polen einen
„totalen Krieg“ zur Eroberung der Weltherrschaft
begonnen hatte. Dieser wurde vom
Deutschen Reich als verbrecherischer, rassistischer
Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug
geführt. 35 – 40 Millionen Menschen verloren
allein in Europa ihr Leben. Sie fielen als Soldaten
im Krieg. Sie wurden in den zahllosen
Massakern und im Holocaust von den Nationalsozialisten
ermordet. Sie starben als Zivilisten
im Kriegsterror und den Luftangriffen
auf Städte in ganz Europa. Insgesamt kostete
der Zweite Weltkrieg weltweit 60 bis 70 Millionen
Menschen das Leben. Den höchsten
Blutzoll zahlte die Sowjetunion mit etwa 27
Millionen Toten.
In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern
waren Millionen Menschen, die
die Nazis als „lebensunwert“ ansahen, getötet
worden: Über sechs Millionen Juden
ermordeten die Nationalsozialisten in den
Vernichtungslagern „im Osten“ und bei Massenerschießungen.
Angehörige ethnischer,
religiöser Minderheiten, Homosexuelle,
Menschen mit Behinderungen, politische
Gegner wurden verfolgt.
Weitere Millionen Menschen, insbesondere
aus den besetzten Ländern in Mittel- und
Osteuropa, waren von den Nazis zur Zwangsarbeit
nach Deutschland verschleppt worden;
Unzählige starben an den unmenschlichen
Bedingungen der Zwangsarbeit und den
menschenunwürdigen Umständen in den
Lagern oder wurden ermordet. In den deutschen
Kriegsgefangenenlagern verhungerten
3,3 Millionen der insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen
Gefangenen. Zehntausende wurden
in gezielten Mordaktionen umgebracht.
1 Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag
des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 8. Mai 1985 in Bonn, Bundespräsidialamt (Hg.), https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2015/02/150202-RvW-Rede-8-Mai-1985.pdf?__blob=publicationFile,
S. 2.
11
Hinzu kamen in allen Ländern unzählige
Zivilisten, die von den deutschen Besatzern
ermordet wurden. Aber auch unter den Deutschen
selbst forderte die NS-Herrschaft eine
hohe Zahl an Opfern: Systematisch brachte
man Regimekritiker und Andersdenkende in
KZ und Gestapo-Gefängnisse. Zigtausende
aus rassistischen, religiösen oder gesundheitlichen
Gründen Verfolgte wurden ermordet.
Mit der bedingungslosen Kapitulation der
deutschen Wehrmacht in der Nacht vom
8. auf den 9. Mai 1945 war das Ende des angeblich
auf 1.000 Jahre angelegten „Dritten
Reiches“ besiegelt. Politisch und moralisch
war es von Beginn an diskreditiert.
Zugleich setzte mit dem Kriegsende ein historischer
Prozess ein, in dem der Begriff
„Befreiung“ eine doppelte Bedeutung erhielt:
Er stand für die Erlösung von einer mörderischen
Diktatur und zugleich – zumindest für
den östlichen Teil Europas – für die Unterwerfung
durch eine neue Diktatur, nunmehr unter
sozialistisch-kommunistischen Vorzeichen.
Damals empfanden nur die wenigsten das Ende
der NS-Herrschaft als Befreiung. In den
ostdeutschen Gebieten war die erste Reaktion
auf den Einmarsch sowjetischer Truppen oft
Furcht – gespeist aus den Schreckensnachrichten
über Gewaltakte, Plünderungen und
Vergewaltigungen. Aber auch in Reaktion auf
und im Wissen um die deutschen Verbrechen,
deren Vergeltung man nun fürchtete.
Dass die Niederlage Deutschlands im Zweiten
Weltkrieg tatsächlich eine Befreiung war,
wurde erst viel später ein selbstverständlicher
Teil der deutschen Erinnerungskultur. Unmittelbar
mit dem Kriegsende empfanden es
die meisten Deutschen als nationale Katastrophe.
Viele Deutsche wurden gegen ihren
Willen und ihre Überzeugungen befreit. Erst
das allmähliche Bewusstwerden der begangenen
Menschheitsverbrechen sowie die Fragen
einer neuen kritischen Generation führten
in der Bundesrepublik allmählich zu einem
Umdenken.
In der späteren DDR hingegen war die Erzählung
von der Befreiung durch das „sowjetische
Brudervolk“ von Beginn an präsent. Hier stand
der Antifaschismus, der die Verantwortung
für die NS-Verbrechen in den Westen verlagerte,
Pate für den Aufbau einer neuen Ordnung.
Dies bot der ostdeutschen Bevölkerung
die Möglichkeit, sich selbst getreu dem
Stalin-Wort „Die Hitler kommen und gehen,
aber das deutsche Volk bleibt“ zu entschulden,
denn die Nazis waren dieser Lesart zufolge
in den Westen geflohen.
Die Bilder des 8. Mai 1945 – jubelnde Menschen
in London, Paris und New York – täuschen
darüber hinweg, wie viel Tragik in die
persönlichen Erfahrungen des Kriegsendes
eingeschrieben ist. Die europäische Karte
wurde neu gezeichnet, mit neuen Grenzen
und riesigen Flüchtlingsströmen. Diese neuen
Grenzlinien folgten weitgehend den Vereinbarungen
des Hitler-Stalins-Paktes vom
23. August 1939. Für Millionen Menschen
bedeutete das Ende des Krieges nicht Heimkehr,
sondern Heimatverlust. Der Zusammenbruch
des „Dritten Reichs“ riss erneut Ordnungen,
Bindungen und Biografien in Stücke.
Im kollektiven Gedächtnis Ost- und Westdeutschlands
wurde der 8. Mai 1945 bald zur
„Stunde Null“. Diese Chiffre suggerierte einen
radikalen Bruch mit dem mörderischen NS-
Regime. Sie war zugleich ein Angebot geschichtsvergessener
Unschuld – als ließe
12
Am 8. Mai 1945 feiern Tausende Menschen in London, England, das Ende des Krieges.
sich die Zukunft ohne die Last der Vergangenheit
gestalten. Doch die „Stunde Null“ war
Fiktion. Sie verdrängte die Kontinuitäten in
der deutschen Gesellschaft, Verwaltung und
Mentalität, die den Neuanfang begleiteten.
In den Aussagen von Zeitzeuginnen und
Zeitzeugen bleibt die Ambivalenz dieses
historischen Moments spürbar:
„Wir wollen eben eine neue Ordnung,
wollen mehr als nur Schutt wegschippen;
denn damit allein ist es nicht getan. Wir
haben die Fehler der alten Zeit am eigenen
Leibe spüren müssen. Die Alten hatten ihre
Erinnerung, in die sie sich hineinflüchten
konnten. Uns ist nichts geblieben. Wir
wollen uns jetzt eine neue Ordnung ohne
die alten Fehler aufbauen. Was nützt es
uns denn, wenn wir jetzt anfangen aufzu-
bauen, und wir haben in wenigen Jahren
das gleiche Ereignis wie jetzt? Nämlich
den totalen Zusammenbruch? Nein, meine
Kameraden, hier müssen wir aus den
Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir
müssen die Augen offenhalten, damit wir
die Wurzeln dieses Übels erkennen.“ 2
„Noch niemals in der Geschichte mußte
die Zukunft einen so totalen Neuanfang
machen. Das Alte ist zerbrochen. Nun ist
es entscheidend, wie wir den Neuanfang
machen. Kein Mensch wird auf einem
Trümmerhaufen sofort ein Haus aufbauen,
sondern er wird den Schutt wegräumen
und ein neues Fundament legen. Das ist
schwieriger und dauert vielleicht länger,
aber es ist notwendig. Wir können heute
unsere Aufgabe nur meistern, wenn wir
2 Vortrags-Manuskript von Werner Ihmels, undatiert [ca. 1945], in: Ihmels, Folkert: Im Räderwerk zweier Diktaturen. Werner
Ihmels 1926–1949, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 1999, S. 27 f.
13
Zu Kriegsende lagen Deutschland und Europa in Trümmern. Im Bild eine zerstörte Straße in Berlin.
mit einer neuen Gesinnung an sie herangehen.“
3
„[…] 1945 war auch für uns, die wir den
Krieg und seine Begleiterscheinungen überlebt
hatten, ein ganz sichtbarer Neubeginn.
Ein Neubeginn, der uns mit Hoffnung erfüllte.
[…] Wir alle waren uns darin einig,
dass wir das Studium in der Bereitschaft
anfingen, den furchtbaren Makel, der auf
dem Namen des deutschen Volkes lastete,
nach Möglichkeit durch studentische Beiträge
etwas zu berichtigen. Wir wollten
uns um einen demokratischen Neubeginn
bemühen.“ 4
Viele derer, die überlebt hatten, konnten über
die gemachten Erfahrungen nicht sprechen.
Zum einen waren die Menschen mit ihrem
eigenen Leid beschäftigt, zum anderen wollte
man oft gar nicht wissen, wie es den Nachbarn
ergangen war. Viele Frauen, die zu
Kriegsende im Osten vergewaltigt worden
waren, schwiegen über diese Er fahrungen
ihr Leben lang:
„Erinnerungen aus dem April 1945 blieben
für mich als Kind unerklärlich und erst im
Erwachsenenalter begriff ich die Tragik
des Geschehens. Es war der 23. April 1945,
der zweite Geburtstag meiner kleinen
Schwester. Ein oder zwei Tage zuvor hatte
mein Vater mich auf den Arm genommen,
damit ich durch ein schmales Kellerfenster
die ersten russischen Soldaten sehen konnte,
die in gebückter Haltung durch den Garten
unseres Hauses in Wittenau in Richtung
Innenstadt schlichen.
3 Ihmels, 1999, S.29.
4 Natonek, Wolfgang: „Rede, gehalten am 19. Oktober 1992 anlässlich der Immatrikulationsfeier im Gewandhaus zu Leipzig“, in:
Blecher, Jens; Schulz, Dieter (Hgg.): Wolfgang Nanotek – Freiheit und Verantwortung, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig
2011, S. 72 f.
14
Ein Bruder meiner Mutter, Soldat in Russland,
hatte bei Fronturlauben oft gesagt:
‚Wehe, wenn dieser Krieg verloren geht!‘
Mein Vater, der ehemals Mitglied im linken
Arbeitersportverein Fichte war, sehnte hingegen
das Ende des Krieges ohne diese Sorge
herbei.
Ein russischer Soldat, der an diesem Apriltag
unser Haus betreten hatte, entdeckte
uns im Keller. Zusammen mit unserem
Vater standen wir Kinder mit erhobenen
Händen auf der Kellertreppe und waren wie
gelähmt, als unserer Mutter vor unseren
Augen Gewalt angetan wurde.
Erst mit ca. 18 Jahren wurde mir klar, dass
ich die Vergewaltigung meiner Mutter erlebt
hatte. Nie wurde darüber gesprochen und
erst Jahre später meine Vermutung bestätigt.
[…] Das Schicksal meiner Mutter hat
unsere Familie zerstört. Auch das große
Schweigen bleibt Teil meiner Erinnerung.“ 5
Der doppelte Charakter des Jahres 1945 – als
Ende und Anfang, als Katastrophe und Versprechen
– spiegelt sich auch in der übergeordneten
geopolitischen Neuordnung. In Jalta
hatten Churchill, Roosevelt und Stalin 1943
über die künftigen Einflusszonen verhandelt,
nicht über die Selbstbestimmung der Völker.
Während im westlichen Teil Deutschlands
unter der alliierten Besatzung der USA,
Frankreichs und Großbritanniens die Weichen
für einen demokratischen Neuanfang gestellt
wurden, kamen Ostdeutschland sowie Mittelund
Osteuropa in den sowjetischen Machtbereich.
Deutschland und Europa wurden ent-
lang ideologischer Trennlinien geteilt, die bald
den Kalten Krieg prägten. Für die Menschen
im östlichen Europa bedeutete die Befreiung
von der NS-Herrschaft den Beginn neuer
Unfreiheit unter sowjetischer Hegemonie.
Wer die Geschichten der Zeitgenossen und
Überlebenden hört, begegnet nicht der Klarheit
des historischen Schlussstrichs, sondern
vielen Fragen und Unsicherheiten. Das Jahr
1945 ist kein Fenster in eine neue Zeit – es
ist ein Spiegel der Verwerfungen, mit denen
Europa in die damalige Gegenwart trat:
„Das Kriegsende 1945, der Sommer dieses
Jahres führte bei nicht wenigen von uns
zunächst zu einem geistigen Zusammenbruch,
denn eine ‚unbesiegbare Idee‘ hatte
plötzlich ein totales, schmähliches Ende
gefunden. Diese Zeit war zugleich ein befreiender
Neuanfang (endlich Frieden!),
verbunden mit Ungewißheiten (wie wird
‚der Feind‘, die Besatzungsmacht mit uns
umgehen?), mit Neugier, (wie wird es weitergehen?),
Ablehnung, Verweigerung,
Ängsten und Aufbruchstimmung. Sozialdemokraten
und Liberale, Kommunisten
und Bürgerliche, welche die NS-Herrschaft
in der inneren Emigration, im Widerstand
oder gar in einem der Nazi-Konzentrationslager
(KZ) überlebten hatten, berichteten
uns von den fürchterlichen Verbrechen der
NS-Diktatur. Die damit ausgelösten Diskussionen
führten bei vielen Jugendlichen
zu der Überzeugung: ‚Nie wieder Krieg‘,
‚Nie wieder eine Uniform‘, vor allem aber
‚Nie wieder eine Diktatur‘.“ 6
5 Dittmer, Klaus: 80 Jahre Kriegsende. Ein Zeitzeuge erinnert sich, in: Der Tagesspiegel vom 26. April 2025, S. B 25.
6 Beyer, Achim: Urteil: 130 Jahre Zuchthaus. Jugendwiderstand in der DDR und der Prozess gegen die „Werdauer Oberschüler“
1951, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2003, S. 16.
15
2. Verbrechen und Verantwortung
„Wir haben nichts gewusst.“ „Wir haben es nicht wissen wollen.“ –
auf diesen Nenner lassen sich die Einstellungen und Aussagen der deutschen Bevölkerung im
Wesentlichen bringen. Das nationalsozialistische Regime war kein anonymer Apparat, sondern
eine von Millionen Deutschen getragene Ordnung der Gewalt und des Terrors. Der industrielle
Mord an den europäischen Juden, die Ermordung der Sinti und Roma, die planmäßige Vernichtung
durch Arbeit, die Erschießungskommandos im Osten, die massenhafte brutale Gewalt in
den besetzten Gebieten – sie waren keine Exzesse, sondern System. Die Berichte von Überlebenden
und Beobachtern stehen für eine beispiellose zivilisatorische Entgrenzung, an der die
Täter selbst, aber auch Mitwisser und Zuschauer beteiligt waren.
Thomas Mann äußerte bereits im September
1941 angesichts der damals bekannten Gräuel
in der Sendung „Deutsche Hörer“ 7 , dass es
nach dem Krieg kein Vergnügen sein werde,
ein Deutscher zu sein. Er informierte 1942
über Probevergasungen von Juden. Er hoffte,
dass sich viele Deutsche gegen Hitler und
seine Mitverbrecher auflehnen würden. Die
deutschsprachigen Sendungen der BBC zählten
zu den meistgehörten „Feindsendungen“
in Deutschland. Sie waren – trotz Verbots –
über die „Volksempfänger“ zu empfangen.
Entgegen vielen Behauptungen nach dem
Ende des Krieges war das Wissen um die
Verbrechen durchaus präsent, wie die Äußerung
eines jungen deutschen Wehrmachtsangehörigen
zeigt:
„Wir dürfen nie vergessen, daß das, was
über uns hereingebrochen ist und noch
hereinbrechen wird, im ganzen verdient
ist. Und erst, wenn wir unsere Schuld
abgebüßt haben und wenn Frieden für
uns wieder mehr ist als Ruhe und Faulheit,
dann wird dieser Opfergang sein
Ende nehmen.“ 8
Werner Ihmels, der 1949 mit 23 Jahren von
den Sowjets wegen seines Widerstands gegen
die Errichtung der neuen Diktatur hingerichtet
wurde, erklärte 1945 als 19-Jähriger
in amerikanischer Gefangenschaft:
„Ich glaube an eine göttliche Gerechtigkeit
in der Geschichte. Was wir jetzt erleben,
haben wir nur zu verdient.“ 9
7 BBC-Sendung ab Oktober 1940 bis 1945, in der Thomas Mann über Hitler, die deutschen Verbrechen und das Kriegsgeschehen
aufklärte, in: Ribi, Thomas: Thomas Mann. Hasspredigten gegen Hitler, Neue Züricher Zeitung, 06.03.2025. Sowie auch Ribi,
Thomas: Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland. Mit einem Vorwort und einem Nachwort von Mely Kiyak. Verlag
S. Fischer, Frankfurt 2025. 272 S.
8 Brief von Walter Wenzl vom März 1945, in: Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939–1945, Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen
und Stuttgart 1952, S. 451.
9 Ihmels, Werner in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Böhmen, 1945. Universitätsarchiv Leipzig: NA Ihmels, Persönliche
Papiere, in: C. M. Raddatz, „Carl Werner Oltmann Ihmels“, in: Schultze, Harald; Kurschat, Andreas (Hgg.):, „Ihr Ende schaut
an…“ Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006.
16
Die deutsche Bevölkerung war nicht unwissend.
Oft verschwanden jüdische Nachbarn.
Deren Eigentum eigneten sich Deutsche –
manchmal mit Scham, oftmals schamlos –
an 10 , sobald die Deportierten aus ihren Wohnungen
abgeholt worden waren. In vielen
Berichten wird deutlich, dass die Lager in
den Städten oder an deren Rändern vielen
bekannt waren. Zum KZ Buchenwald fuhr
eine eigene Buslinie von Weimar aus. Nach
Kriegsbeginn waren die zu Millionen nach
Deutschland verschleppten Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeiter auf den Höfen,
in den Küchen, an den Werkbänken nicht
zu übersehen. Das Schweigen darüber war
nicht Ausdruck von Unwissen, sondern oft
ein Akt der Verdrängung oder Billigung:
„Auf unsere Frage, ob ihm bekannt sei,
daß Millionen von Europäern unter den
Deutschen gehungert hätten und ermordet
worden seien, sagte er, daß er von solchen
Dingen wenig wisse, und seine Frau fügte
mit ihrer kalten, arroganten Stimme hinzu,
daß ihr so etwas nie zu Ohren gekommen
sei. Aus ihrem Tonfall ging hervor, daß sie
uns für Lügner hielt, und aus seinem, daß
wir unsere Zeit mit Nebensächlichkeiten
vergeudeten. ‚Ich kenne niemanden, der
sich so etwas wie Gaskammern und Exekutionen
ausdenken könnte‘. Jedenfalls
habe er damit nichts zu tun.“ 11
Die juristische Aufarbeitung, die nach dem
Krieg einsetzte, stieß rasch an Grenzen –
politisch, personell, psychologisch. Der
Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess
schuf einen neuen Maßstab internationaler
Strafverfolgung, aber er blieb für viele Deutsche
weit weg und wurde als Zeichen von
„Siegerjustiz“ gewertet. Zugleich diente
„Nürnberg“ der eigenen Entlastung. Dort seien
schließlich die Nazi- und Kriegsverbrecher
vor Gericht gestellt und verurteilt worden.
Verantwortung konnte nicht delegiert werden.
Aber genau das geschah: An die Täter
in Nürnberg, an die Juristen, an die Lehrer.
Die politische Elite der jungen Bundesrepublik
setzte auf wirtschaftlichen Aufbau und
soziale Befriedung. Die Erinnerung an die
Verbrechen des NS-Staates wurde an den
Rand geschoben. Möglichst weit außerhalb
des eigenen Blickfelds.
Lehrer, Richter, Ärzte – viele blieben – zumindest
im Westen – im Amt. Hier war die
Entnazifizierung oftmals eine Formalität.
Wer im Spruchkammerverfahren als „Mitläufer“
galt, konnte auf baldige Rehabilitierung
hoffen. Anders dagegen die Politik der
sowjetischen Besatzungsmacht: Dort wurde
ein rigoroser Elitentausch vollzogen: Lehrer,
Richter, Verwaltungsbeamte wurden aus ihren
Ämtern entfernt und durch neue Kräfte
ersetzt, um einen Neubeginn nach sowjetischem
Muster zu ermöglichen.
Und doch gab es Stimmen der Anklage, nicht
nur aus den Reihen der Alliierten, sondern
auch aus der deutschen Bevölkerung selbst.
Diese sprachen nicht nur die Verbrechen an,
sondern warben für den Aufbau einer neuen,
wahrhaft demokratischen Ordnung:
10 Siehe Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005.
11 Vernehmung von Herrn Schauerte, in: Padover, Saul. K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 268.
17
„Jetzt wollten wir eine neue Welt bauen.
Nie wieder sollte es Haß und Krieg geben.
Wir wollten alles kennenlernen, was uns
bisher an Kunst und Kultur vorenthalten
wurde. […] wir waren da, ausgehungert,
aufnahmebegierig und bereit, uns selbst
voll einzubringen.“ 12
Wer sich nach Kriegsende zur deutschen
Verantwortung bekannte und die Verbrechen
benannte, riskierte soziale Isolation.
Die wenigsten empfanden Scham über das
Geschehene, und wenn, vermischte sich
diese mit Abwehr und dem Verweis auf
das eigene Leid. 13 Harald Welzer und seine
Ko-Autorinnen brachten es 2002 im gleichnamigen
Buch auf den Nenner: „Opa war
kein Nazi.“ 14
Die Dokumente aus den frühen Jahren zeigen,
wie sehr die Gesellschaft nach einem
moralischen Ausweg suchte – und wie bereitwillig
sie ihn fand. Das Bild vom „verführten
Volk“, das in die Irre geführt worden
sei, verdrängte die lange Phase der Zustimmung,
das Wohlwollen gegenüber der
Diktatur. Viele Menschen entschuldeten
sich selbst, indem sie sich als Verführte und
Belogene darstellten, wie Victor Klemperer
in seinem Tagebuch 1945 vermerkte:
„Für hier ist der Krieg fraglos vorüber.
Die Gruberin sagte: „Uns haben’s belogen,
moanens, daß nun besser kimmt?“ 15
Auf ähnliche Erklärungen und Selbst-Entschuldung
stieß der amerikanische Journalist
Saul K. Padover, der als Offizier der Abteilung
psychologische Kriegsführung mit
den amerikanischen Truppen in Deutschland
vorrückte. Er dokumentierte in unzähligen
Befragungen, was in den Köpfen der
Menschen vorging:
„Wie sie uns belogen und betrogen haben,
diese Nazis! Sie haben uns den Endsieg
versprochen. Sie haben uns Arbeit versprochen.
Sie haben uns alles versprochen.
Und wir sind hereingefallen auf sie.“ 16
Dass der Holocaust kein Betriebsunfall einer
entgleisten Clique um Hitler, sondern Ergebnis
einer antisemitischen Mehrheitskultur
war, blieb eine Erkenntnis, die nur langsam
in das öffentliche Bewusstsein vordrang. Das
Theaterstück: „Ich bin’s nicht, Hitler ist’s gewesen“,
brachte diese Verdrängung eigener
Verantwortung auf eine griffige Formulierung.
17
12 Graul, Elisabeth: Die Farce, Impuls Verlag, 3. erweiterte Auflage, Magdeburg 1996, S. 43.
13 Bode, Sabine: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015. Dieselbe: Die
vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012. Dieselbe: Kriegsenkel. Die
Erben der vergessenen Generation. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009.
14 Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline; Welzer, Harald: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002.
15 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945. 1995 (1999), S. 129.
16 Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main
1999, S. 28.
17 Theaterstück von Hermann van Harten, 1984 an den Freien Theateranstalten in Berlin (West) uraufgeführt.
18
„(…) so will aber auch niemand Nazi gewesen
sein von denen, die es fraglos gewesen
sind. – Wo ist die Wahrheit, wie läßt
sie sich nur annähernd finden?“ 18
Erich Nehlhans (1899–1950), der erste Nachkriegsvorsitzende
der Jüdischen Gemeinde
zu Berlin, beschrieb die Situation der Überlebenden
des Holocaust im noch immer von
Hass und Vorurteilen geprägten Nachkriegsdeutschland:
„Unsere Gemeinde soll eine kleine Heimat
für jüdische Menschen sein, bis unsere große
Heimat Palästina die Tore öffnet und wir
das Land der Verheißung betreten. Sie
will die Schwachen stützen und ihnen
Halt geben im Streit mit der noch immer
von Vorurteilen und Haß erfüllten Umwelt.
Wir wollen unsere Brüder zu wahrer
Religiosität zurückführen und ihnen den
Weg zu einem Leben als bewußte Juden
weisen.“ 19
Erst mit dem Generationenwechsel der
1960er Jahre kam das Thema im Westen in
das Zentrum der gesellschaftlichen Debatte
zurück.
18 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945, 1995 (1999), Eintrag vom 5. Mai 1945, S. 138.
19 Nehlhans, Erich: Gemeindezeitung „Der Weg“, 1. März 1946, in: Leo, Annette, „Erich Nelhans“, iin: Fricke, Karl Wilhelm,
Steinbach, Peter, Tuchel, Johannes: Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder, Beck, München 2002, S. 47.
19
3. Befreiungserfahrungen und
Ambivalenzen
„Was sollten wir tun, wohin gehen?“
Die Stunde der Befreiung schlug nicht überall zur gleichen Zeit und nicht in gleicher Weise.
Was am 8. Mai 1945 in der bedingungslosen Kapitulation des Oberkommandos der deutschen
Wehrmacht einen klaren juristischen Ausdruck fand, wurde von den Menschen vor Ort als ein
langsames, oft widersprüchliches Geschehen erfahren. Die alliierten Armeen rückten in ein Land
ein, das zerstört und moralisch zerrüttet war. Ihre Ankunft bedeutete das Ende der Diktatur,
aber nicht den Beginn von Erkenntnis und Anerkennen eigener Schuld und Verstrickung –
und für viele auch nicht das Ende von Angst und Gewalt. Für die meisten Deutschen war das
Ende der bestehenden Ordnung vor allem mit Unsicherheit und Ängsten verbunden.
„Wir nannten sie ‚Armee Gottes‘.“
Für die überlebenden Häftlinge der Konzentrationslager
hatte die Befreiung nach den erlebten
Schrecken oft etwas Unwirkliches. In
den Berichten vieler Überlebender des Nazi-
Terrors finden sich neben den Erzählungen
von Hoffnung auch Zweifel: Sollte der Terror
nun wirklich ein Ende haben? Viele berichten
in ihren Erinnerungen, dass der Tag der Befreiung
ihnen unwirklich erschien, wie ein
Traum. Damit waren die traumatischen Erfahrungen
mit Hunger, Krankheit, dem Zerbrechen
vertrauter Bindungen nicht vorüber,
wie die folgenden Berichte aus Bergen-Belsen
zeigen:
„Wir saßen draußen mit dem Rücken zu
unserer Baracke, umgeben von Leichen,
und hörten dieses Geräusch und plötzlich
hörten wir eine Durchsage: Ihr seid befreit.
Hier spricht die britische Armee, ihr seid
befreit, aber bitte bleibt ruhig. (...) Wissen
Sie, die Leute haben die Vorstellung, dass
wenn Menschen nach einer so schrecklichen
Zeit befreit werden, dass sie vor Freude
aufspringen, aber niemand ist vor Freude
aufgesprungen, wir waren alle sehr still,
zum Teil aus Mangel an Kraft und aus
Mangel daran, wirklich zu glauben, was
passiert, es war einfach zu gewaltig, um
wirklich verstanden zu werden.“ 20
Kurz nachdem das KZ Bergen-Belsen durch
die britische Armee befreit worden war, gab
Anita Lasker-Wallfisch der BBC ein Interview:
„Endlich am 15. kam die Befreiung. Die
Befreiung, auf die wir drei Jahre lang gehofft
haben. Noch können wir es nicht begreifen.
Noch glauben wir zu träumen.
Wir sehen die Engländer durch das Lager
fahren: Menschen, die uns nichts Böses
20 Interview mit Anita Lasker-Wallfisch, geführt von Joanna Buchan, 08.12.1998, USC Shoah Foundation, London (eigene Übersetzung).
https://www.youtube.com/watch?v=-ibZyQA0HUo (Min. 1:32:15).
20
wollen. Menschen, die uns helfen wollen.
Wir können es nicht begreifen. Man hat
Wasser gebracht, Wasser! Drei Wochen
waren wir ohne Wasser. Die Menschen
sind verdurstet. Heute früh ist noch eine
Kameradin von mir gestorben, angesichts
der Befreiung.“ 21
Eine deutsche KZ-Insassin erlebte die
Befreiung zwiespältig:
„Sonntags morgens um zehn kamen die
Engländer mit ihren Panzern ins Lager
Bergen-Belsen. Ich war in einer sogenannten
Schälküche, da hab ich mitgearbeitet,
Steckrüben und Kohlrüben kaputtschneiden.
Es war noch ein deutsches Mädchen
dabei, und alle anderen waren jüdische
Frauen. Als wir befreit wurden, da liefen
die Frauen ans Fenster und brüllten: Vivat,
vivat. Dann haben sie sich umgedreht und
haben uns beide, haben uns praktisch
geschnappt und uns mit Füßen aus der
Baracke rausgetreten und dabei gebrüllt:
Deutsche alles kaputtmachen, Deutsche
alles kaputtmachen, alles kaputtmachen.
Die haben auf uns rumgetrampelt, das
war ein ganz schlimmes Erlebnis für mich,
weil‘s unsere eigenen Kameradinnen
waren im Konzentrationslager.“ 22
Im einige Tage später befreiten KZ Dachau
berichteten ehemalige Häftlinge von ähn-
lichen Situationen. Während jene, die noch
genügend Kraft hatten, den Befreiern in die
Arme fielen und jubelten, nahmen andere
die Befreiung zunächst nur apathisch wahr:
„So mancher, mich eingeschlossen, verstand
gar nicht, was mit ihm vorging, daß
er keine Angst mehr haben mußte, daß er
von einer Minute zur anderen kein gehetztes
Tier, sondern ein freier Mensch geworden
war. Ich kann mich an keinen großen
Jubel erinnern, nur wenige hatten die Kraft
für stürmische Begeisterung, aber jeder gab
auf seine Weise seiner Freude Ausdruck.
Leute knieten nieder und beteten, weinten,
lachten, stürzten sich auf die Befreier und
umarmten sie. Andere suchten nach ihren
Freunden, um mit ihnen den großen Augenblick
zu genießen, und viele wußten
nicht, was sie mit der neuen Freiheit anfangen
sollten. Gab es Angehörige, zu denen
sie zurückkehren konnten, gab es eine
Heimat, die bereit war, sie aufzunehmen,
gab es eine Existenz für sie nach all den
Jahren, während derer für sie ‚gesorgt‘
worden war? Sehr, sehr viele der Befreiten
lagen irgendwo apathisch, entkräftet und
willenlos herum, und viele von ihnen überlebten
ihre Befreiung nur um Stunden
und Tage. Ihnen war nicht mehr zu helfen,
sie wußten gar nicht, daß sie befreit
waren.“ 23
21 Radioansprache von Anita Lasker-Wallfisch nach ihrer Befreiung aus Bergen-Belsen, 16.04.1945, ARD Archivradio,
https://www.swr.de/swrkultur/wissen/archivradio/befreiung-bergen-belsen-april-1945-radioansprache-anita-lasker-104.html.
22 Aus einem Interview mit Ilse Stephan, geführt 1994 von Leonie Wannemacher, Archiv „Deutsches Gedächtnis“, Lüdenscheid.
in: von Plato, Alexander und Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945-
1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 212.
23 Hermann, Heinz J.: Mein Kampf gegen die Endlösung. Von Troppau und Proßnitz durch Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau
und Dachau nach Israel. Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 2002.
21
„Drei Tage später hatten sich Isaac und
ich nicht bewegt und lagen immer noch
auf dem Boden. Wir dachten, dass wir uns
die Geräusche von Jubel, die vom Lagerplatz
zu uns hereindrangen, nur einbildeten.
Es klang so, als versuchten Gefangene,
die fast tot waren, in vielen verschiedenen
Sprachen ‚Befreiung, Befreiung‘ zu rufen.
Diejenigen, die wir am deutlichsten verstanden,
waren die jiddischen Stimmen:
‚Befreiung!‘ Wir waren verwirrt und doch
neugierig, warum so viele Muselmänner –
so nannten wir die Männer, die fast tot
waren – dieses Wort so ekstatisch riefen.
Mein Cousin und ich lehnten uns aneinander,
um Halt zu finden und zwangen
uns, irgendwie aufzustehen. Wir hielten
uns aneinander fest und humpelten auf
zittrigen Beinen nach draußen. Wir sahen
eine Menge jubelnder Gefangener,
von denen jeder der erste sein wollte, der
unsere Retter […] umarmt. Traurigerweise
sahen wir auch viele, die hinfielen und
starben, bevor sie ihre Befreier berühren
konnten.
Die Amerikaner waren durch den Anblick
der ausgemergelten, wandelnden Skelette
und der überall herumliegenden, aufgestapelten
Leichen so schockiert und angewidert,
dass viele von ihnen auf die Knie
fielen, schluchzten und sich übergaben.
Isaac und ich konnten kaum stehen und
hielten uns aneinander fest, zu benommen,
um uns zu bewegen und zu überwältigt,
um überhaupt zu denken. Wir sahen zwei
junge, saubere und gesunde amerikanische
Soldaten, die auf uns zukamen. Wir
wussten nicht einmal, was wir denken
oder fühlen sollten. Sie versuchten, ihr
Entsetzen über unseren Anblick mit einem
freundlichen Lächeln zu verbergen.“ 24
„Ich sah, wie Gefangene zum Haupttor
liefen. Ich war sehr schwach und konnte
kaum laufen, aber ich musste zum Tor.
Ich lief ein Stück, aber dann wurde mir
schwindlig und ich fiel hin. Mein Bruder
wollte nicht, dass ich ging, aber er folgte
mir. Als ich fiel, half er mir auf und ging
mit mir. Überall lagen hunderte von Leichen.
Wir waren gezwungen, auf manche
zu treten, um weiterzukommen.
Auf unserem Weg sahen wir riesige Soldaten,
die in ihren Armen ausgezehrte Opfer
trugen. Sie sprachen uns an, aber wir
konnten sie nicht verstehen. Als wir näher
kamen, sahen wir viele Soldaten das Lager
betreten. Es herrschte so ein Chaos und
Durcheinander, dass die Soldaten nicht
wussten, was sie als erstes tun sollten.
Sie gaben uns sofort zu essen: Kekse, Konserven,
Schokolade. Sie teilten sogar ihre
Zigaretten mit uns. Wir nannten sie
‚Armee Gottes‘. Ich schaute sie an, sie
schauten mich an. Ich wollte ein Soldat
sein, genau wie sie. Als ich so starke Männer
sah, die mein Leben gerettet hatten,
war ich so überwältigt vor Freude und
Glück. Wären sie ein paar Tage später
gekommen, hätte ich vielleicht nicht
überlebt.“ 25
24 Lesser, Ben: Ein Leben, das zählt. Vom Nazi-Albtraum zum American Dream, Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
25 Bericht von Steve Ross, in: Dann, Sam: Dachau 29 April 1945. The Rainbow Liberation Memoirs, Texas Tech University Press,
1998.
22
Häftlinge des KZ Dachau begrüßen ihre Befreier.
„Noch weitere 6 Jahre verbrachte ich in
Sibirien, wo die Situation mir manchmal
schlimmer erschien als die in der Kriegsgefangenschaft.“
26
Viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter, die aus der Sowjetunion
verschleppt worden und in Fabriken, auf
Feldern, in Haushalten geschunden worden
waren, erlebten das Ende des Krieges nicht
als Rückkehr in die Freiheit, sondern als
Phase der Ungewissheit. Der Weg zurück
in die Heimat war lang, gefährlich oder gar
unmöglich. Besonders für die aus der Sowjetunion
stammenden Gefangenen war die
Rückkehr in die Heimat oft der Beginn einer
neuen Repression: Sie waren durch den Stalin-Befehl
Nummer 270 vom 16. August 1941
zu Vaterlandsverrätern, Feiglingen und Deserteuren
erklärt worden, die vernichtet werden
müssten. Ihnen drohten nun allein für
den Umstand, dass sie die Gefangenschaft in
Deutschland überlebt hatten, erneute Lagerhaft,
Repressionen und Zwangsarbeit – nunmehr
im sowjetischen Gulag.
„In Brest wurde Anna P. von der Filtrationskommission
des NKWD [sowjetische
Geheimpolizei] verhört. Von einigen russischen
Offizieren seien die Russinnen als
26 Bericht von Watschik Howhannisjan – Freitagsbrief Nr. 135, 2009, übersetzt von Dr. Aschot Hayruni. Briefe ehemaliger sowjetischer
Kriegsgefangener. Aus dem Archiv vom KONTAKTE-КОНТАКТЫ e. V. https://kontakte-kontakty.de/watschik-howhannisjan-freitagsbrief-nr-135/
23
‚Deutschen-Hure‘ beschimpft worden. Es
kursierten Gerüchte, daß Familien nach
Hause entlassen würden, während alleinstehende
Mädchen Zwangsarbeit leisten
und junge Männer nach Sibirien in ein Gulag
[Straflager in der UdSSR] müßten.“ 27
„Dann kam der 23. Mai 1945 [sic!] und wir
waren endlich frei! An diesem Tag befreite
uns der KGB einer Armeeeinheit und ordnete
an, dass wir uns auf eigene Faust auf
den Weg nach Dresden machen sollten, von
wo aus wir in die Heimat gebracht würden.
(…) Meine Freunde und ich kleideten uns
neu ein und machten uns auf den Weg nach
Dresden. Bis dorthin waren es mehr als
100 km. Auf allen Straßen waren Menschenmassen
unterwegs, niemand wusste,
wer wohin ging. [...] manch einer führte
seine Habseligkeiten auf einem Fahrrad
oder einer Schubkarre mit sich. Ganz
Europa war in unterschiedlicher Richtung
unterwegs. Nach zehn Tagen erreichten
wir Dresden. Ein junger neunzehnjähriger
Leutnant nahm uns in Empfang, ein
KGBler, und machte uns in strengem Ton
Vorhaltungen, warum wir in Gefangenschaft
geraten waren und nicht wie Soja
Kosmodemjanskaj [Russische Partisanin,
die zur Heldin der Sowjetunion erklärt
wurde, nachdem sie Ende 1941 von der
deutschen Wehrmacht bei einem Sabotageakt
im besetzten Gebiet festgenommen und
öffentlich hingerichtet wurde. [Anm. d.
Übs.]] unser Leben beendet hatten. Wir
hörten uns diesen Grünschnabel an und
jeder dachte bei sich, dass es solche Funktionäre
waren wie er, auf die sich unser
System stützte. Man brachte uns in ein
riesiges Lager, in dem alle zusammengewürfelt
waren: Militärs, Zivilbevölkerung,
Frauen, Kinder aus allen Gebieten der
Ukraine, Weißrusslands, dem Baltikum
und Russland. Die SMERSCH-Kommission
[Tod den Spionen – Überprüfungskommission
für ehemalige Kriegsgefangene]
oder vielmehr der KGB arbeitete auf Hochtouren.
Man lud uns vor, notierte alles,
was mit uns während des Krieges passiert
war. Natürlich wurden alle Angaben
überprüft. Es hatte im Lager eine Akte
zu jedem von uns gegeben.“ 28
„Als ich nach Georgien zurückgekehrt
war, lernte ich das russische Mädchen
Tatjana Bobrowa kennen und heiratete
sie. Wir bekamen einen Sohn und zwei
Töchter, ein Sohn starb. Die damalige
sowjetische Regierung verzieh mir nicht,
dass ich mich den Faschisten lebend gefangen
gegeben hatte und erklärte mich
wie auch viele Tausend andere ehemalige
Kriegsgefangene zu Verrätern. 1953 schickte
man mich mit der Familie in das ferne
Baschkirien in die Verbannung, wo wir
mehr als 10 Jahre lebten und arbeiteten,
getrennt von allen Verwandten und
Freunden.“ 29
27 Aus einem Interview mit Anna P., geführt 1993 von Eva Ochs, übersetzt von Loretta Troebs, zusammengefaßt von Birgit
Langenscheidt, Archiv „Deutsches Gedächtnis“, Lüdenscheid, in: von Plato, Alexander und Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“.
Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 223.
28 Bericht von Anatolij Prokofjewitsch Kowalewskij – Freitagsbrief Nr. 142, 2010, übersetzt von Valerie Engler. Briefe ehemaliger
sowjetischer Kriegsgefangener. Aus dem Archiv vom KONTAKTE-КОНТАКТЫ e. V. https://kontakte-kontakty.de/anatolij-prokofjewitsch-kowalewskij-freitagsbrief-nr-142/
29 Bericht von Dawid Aleksandrowitsch Dartschija – Freitagsbrief Nr. 137, 2009, übersetzt von Gesine Reinwarth. Briefe ehemaliger
sowjetischer Kriegsgefangener. Aus dem Archiv vom KONTAKTE-КОНТАКТЫ e. V. https://kontakte-kontakty.de/ru/dawidaleksandrowitsch-dartschija-freitagsbrief-nr-137/
24
Was für die nach Deutschland Verschleppten
und Gefangenen zuerst einmal vor allem mit
Freude über die Befreiung und Hoffnung
verbunden war, sorgte unter der deutschen
Bevölkerung für Ängste und Unsicherheit:
„Es war Nachmittag, vielleicht gegen 15
Uhr, als wir in Höhe unseres Hauses auf
der anderen Straßenseite eine größere Menschenansammlung
sahen. Gefangene! Ostarbeiter!
Ukrainer, Polen, Russen, Franzosen.
In Sandbergs Fabrik, im Baugeschäft
Conrad und bei der Firma Wernerscheidt
am Crossener Tor beschäftigt. Untergebracht,
d.h. eingepfercht, waren sie auf dem
Hof hinter der Molkerei Günther. Viele Mädels
waren darunter. Wir tauchten hinter
der Fensterbrüstung ab und verbreiteten
mit unserer Mitteilung Angst im Keller. […]
Bald hörten wir ein gewaltiges Rasseln von
Panzerketten aus Richtung Grundfarbe/
Pechring, in das sich der Jubel der wartenden
Kriegsgefangenen mischte. Sie warfen
ihre Mützen hoch, brüllten, weinten, umarmten,
tanzten.“ 30
„Die Furcht vor den ‚Russen‘ war groß.
Jahrelange Propaganda hatte die ‚Bolschewisten‘
in unserer Vorstellung zu Unmenschen
gemacht, die Kinder schlachten und
Frauen vergewaltigen würden. Der Rotarmist
mit dem bluttropfenden Messer im
Mund – so etwa schwebte er vor meinen
Augen. Der Gedanke, sich das Leben zu
nehmen, wenn die ‚Russen‘ kommen,
wurde schon mal ausgesprochen, nach dem
Motto: ‚Lieber ein Ende mit Schrecken, als
Schrecken ohne Ende!‘“ 31
Insbesondere Frauen fürchteten um ihr Leben:
„Die folgenden Monate waren sehr schlimm.
Ich erinnere mich an die Grundstimmung:
Das Leben ist zu Ende, die ganze Welt ist
zu Ende, es gibt keine Zukunft mehr.“ 32
Für viele stand die Frage im Raum, wo sie
künftig leben sollten:
„Die Unsicherheit war groß: was sollten
wir tun, wohin gehen?“ 33
Die Ambivalenz der Befreiung zeigte sich
auch in den Erfahrungen der Kinder. Für sie
war der Krieg keine Geschichte, sondern Erfahrung.
Die Soldaten – das waren Besatzer
und Befreier, Fremde und Versorger, Bedrohung
und Hoffnung zugleich.
„Das Leben schien nun völlig neu zu beginnen.
Wir jungen Leute nutzten den
Frühling und die Freiheit, uns zu treffen
und bei Spiel und Spaß zu vergnügen.
Mit unserem Schulenglisch versuchten wir
Kontakt zu den amerikanischen Soldaten
aufzunehmen, um in den Besitz bisher
unbekannter Nahrung sowie Genussmittel
zu kommen. An oberster Stelle standen
Zigaretten, vorwiegend Camel, und Kau-
30 Bericht von Manfred K., 1997, S. 11. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
31 Bericht von Hans O., Datum unbekannt, S. 3. Aus Bestand SuperIllu 2015. Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-
Diktatur.
32 Bericht von Anita L., 2007, S. 1. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
33 Bericht Familie Balz, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,
die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 63.
25
gummi. Die Nahrungsmittel waren größtenteils
als Komplekte vorhanden und in
Paketen als Tages- oder Wochenration verpackt.
In Wasser aufgelöst und gekocht,
ließ sich alles als Speise und Getränk verwerten.
Dieser Zustand der allgemeinen
Zufriedenheit und der Hoffnung auf ein
Leben in Frieden und Freude bekam nach
kurzer Zeit einen ersten Knacks. Das Potsdamer
Abkommen der Alliierten sah vor,
Berlin in Sektoren aufzuteilen. Demzufolge
zogen sich die amerikanischen Besatzungstruppen
aus Thüringen in das Hessische
zurück und überließen uns einer
neuen Besatzungsmacht, der sowjetischen.
Diese rückte im Juli 1945 auch bei uns ein.
Damit begann sich vieles zu ändern, im
Aufbau der kommunalen Struktur, in der
Besetzung leitender Stellen, im Aufbau der
Betriebe und in der Versorgung der Bevölkerung.
Der Aufbau der Industrie wurde
anfangs der Reparation geopfert. Ganze
Betriebe und Werke sowie Bahngleise
wurden abgebaut und in die Sowjetunion
transportiert. Das war einesteils berechtigtes
Opfer für deutsche Zerstörungen während
des Krieges in den Weiten Russlands, andererseits
aber ein Handikap, von dem
sich Ostdeutschland kaum oder nur schwer
erholte. Im Westen Deutschlands hingegen,
machte sich mit alten Strukturen ein
wirtschaftlicher Aufschwung auf die Beine,
der durch den Marshall-Plan als Stelze
rundum unterstützt wurde. Das Leben in
unserem Städtchen nahm langsam wieder
normale Konturen an. […]“ 34
Bertolt Becht bezeichnete Berlin zu Kriegsende als den Trümmerhaufen neben Potsdam. Viele Kinder
wuchsen in Ruinen auf.
34 Bericht von Lorenz E., 2004, S. 7 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
26
4. Deutsche Perspektiven: Schuld,
Verlust, Verdrängung
„Es gibt keine Zukunft mehr.“
Zu den Unsicherheiten, wie es nach Kriegsende weitergehen würde, trugen unzählige Gerüchte
bei: Hatte Hitler in seiner „Alpenfestung“ tatsächlich noch einen nachhaltigen Widerstand gegen
die Alliierten organisieren können? Würde es einen neuen Krieg zwischen den USA und
der Sowjetunion geben? Würden sich die USA dafür mit Deutschland verbünden? Wer würde
wem den Krieg erklären? Und was würde das für die Deutschen bedeuten? Zugleich hieß es,
Hitler und Goebbels seien tot. Da es kaum offizielle Nachrichten gab – und diesen, falls es sie
gab, nach den jahrelangen Propagandameldungen und Lügen kaum mehr geglaubt wurde,
bestärkten die Gerüchte die bestehenden Unsicherheiten. Dies betraf alle, unabhängig davon,
wie sie zuvor zum NS-Regime gestanden hatten, ob sie ihm zugejubelt und an einen „Endsieg“
geglaubt hatten, Hitler und Konsorten bereitwillig gefolgt waren oder zu einer der unzähligen
von den Nazis verfolgten, bedrohten und ermordeten Gruppen gehörten. Viele stellten sich die
Frage, wohin sie gehen sollten. Welche Region würde ein sicheres Leben ermöglichen?
Um die deutsche Bevölkerung mit den Gräueln der Naziherrschaft zu konfrontieren, wurden
Tausende in die befreiten Konzentrationslager gebracht, damit sie dort die begangenen Verbrechen
mit eigenen Augen sehen sollten. Im Bild Bewohner Weimars, die im KZ Buchenwald mit den
Leichen getöteter Häftlinge konfrontiert werden.
27
„Wohin sollten wir auch gehen? […] Was
nun folgte, war fast schlimmer als die
Flucht: Waren wir doch nach Hause zurückgekehrt,
um wieder ein friedliches
und normales Leben zu führen.“ 35
„Wo ist die Wahrheit? Wie läßt sie sich
nur annähernd finden?“ 36
Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hatte
sich während der Nazi-Herrschaft ruhig
verhalten. Die NSDAP war bei den Wahlen
im März 1933 mit 43,9 Prozent der Stimmen
stärkste Kraft geworden und Hitler als Reichskanzler
bestätigt worden. Nach der Machtübernahme
installierten die Nazis ihr Terrorregime:
Politische Gegner wurden verhaftet
und in Lager und Gefängnisse verschleppt,
gefoltert und ermordet. Zahlreiche Erlasse
und Gesetze richteten sich gegen jüdische
Deutsche, die in den Folgejahren sukzessive
von allen öffentlichen Ämtern und dem
öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden.
Zigtausende wurden ins Exil getrieben. Nach
dem deutschen Überfall auf Polen begann
die Verschleppung von Menschen aus ganz
Europa in die Konzentrations- und Vernichtungslager.
Widerstand dagegen gab es im
deutschen Reich kaum.
Dies stellte auch Saul K. Padover in einem
ersten Bericht 1944 fest:
„Alle anderen, die sich als vehemente Nazigegner
äußerten, verhielten sich untätig
und konnten sich aktiven Widerstand
nicht einmal vorstellen.“ 37
„Oh, wie sie Hitler seinerzeit geliebt
haben! Nun, da sich das Blatt gewendet
hat und sie ein wenig leiden – freilich
nicht annähernd so viel wie unsere Opfer –,
sind sie auf einmal Nazigegner.“ 38
Als der Krieg Ende 1944 ins Deutsche Reich
zurückkehrte, fürchteten viele Deutsche die
Rache der Sieger. Zu viel war mittlerweile über
deutsche Verbrechen bekannt geworden. Anders
als für die Überlebenden der KZ und der
mörderischen Nazi-Politik erlebten sie das
Kriegsende zwiespältig. In die Erleichterung,
dass der Krieg und die Bombardements nun
vorüber waren, mischten sich Ungewissheiten
und Ängste. Während die einen dem Kriegsende
positiv entgegensahen und sich endlich
Frieden und einen Neubeginn erhofften, trübten
bei anderen die Angst vor dem Ungewissen
sowie die Angst vor Rache und Vergeltung
diese Erwartungen.
Wieder andere hingegen nahmen die Niederlage
und Kapitulation als schweren Schlag
wahr, hatten sie doch bis zum Schluss an den
„Endsieg“ und die Fähigkeiten des „Führers“
mit seiner lange angekündigten „Wunderwaffe“
geglaubt, die drohende Niederlage
noch in einen Sieg zu verwandeln.
35 Bericht Familie Balz, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,
die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019,
S. 64.
36 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1995 (1999), S. 138.
37 Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main
1999, S. 91.
38 Vernehmung von Thal, Bernhard, in: Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 54.
28
„Anders als die Völker, denen dieser Sieg
die Befreiung von deutscher Fremd- und
Gewaltherrschaft brachte, bedeutete der
‚Zusammenbruch‘ des nationalsozialistischen
Regimes für viele Deutsche zugleich
den Zusammenbruch ihres Glaubens an
den ‚Führer‘ und ihrer Hoffnungen auf einen
deutschen ‚Endsieg‘. Als Befreiung erlebten
die bedingungslose Kapitulation
zunächst nur die Deutschen, denen der verbrecherische
Charakter von Hitlers Herrschaft
schon vorher bewusst geworden
oder von jeher bewusst gewesen war.“ 39
der als Jude die Nazi-Zeit unter großen Entbehrungen
und Schikanen überlebt hatte,
notierte seine Beobachtungen in seinen
Tagebüchern:
„Auch hat – unglaublichste Sache, aber
buchstäblich wahre! – der Bürgermeister
das über dem Wappen des Giebels des
Amtshauses angebrachte Hakenkreuz
entfernen lassen! – […]“ 41
Für viele Deutsche standen das eigene Leid,
die erlebten Gräuel, der Verlust der Heimat
an erster Stelle. Was Deutsche getan hatten,
wurde kaum reflektiert:
„Mit dieser zweiten Flucht verloren wir
nicht nur unseren Hof und die materielle
Existenz, sondern auch unsere Heimat.
Durch die Willkür eines grausamen Krieges
im eigenen Land fremd geworden, bekamen
wir als Deutsche nach der Aggression
der Polen nun die Willkür der Russen
zu spüren.“ 40
Victor Klemperer, der das Kriegsende in
Bayern erlebte, beschrieb die Ambivalenz
zwischen Abwehr eigener Schuld und Verantwortung
sowie Hoffnung. Noch bis 1945
stramm zum Nationalsozialismus stehende
und diesen verteidigende Funktionäre entfernten
nun die Insignien der Macht an Rathäusern
und Dienststellen. Victor Klemperer,
Zu Kriegsende entledigten sich viele ihrer
NS-Uniformen und warfen diese in den Müll –
in der Hoffnung, so der drohenden Verfolgung
zu entgehen.
39 Rede von Prof. Dr. Heinrich August Winkler zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, 8. Mai 2015, Deutscher
Bundestag (Hg.), https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2015/kw19_gedenkstunde_wkii_rede_winkler-373858.
40 Bericht Familie Balz, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,
die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019,
S. 66.
41 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1995 (1999), Eintrag vom 28. April 1945, S. 128.
29
„Die früher den Arm nicht hoch genug
kriegten, waren plötzlich überzeugte Kommunisten.
Es wurde angeordnet, zu Ehren
der Befreiung, die Häuser mit roten
Fahnen zu beflaggen.“ 42
Viele entdeckten nun auch die über Jahre
verschwundene Nächstenliebe wieder und
versuchten vergessen zu machen, woran sie
sich beteiligt hatten:
„Ich fand unter den Bauern von Unterbernbach
große moralische Unterschiede
[…] Der Ortsbauernführer, der längst von
seiner Liebe zur Partei abgekommen war,
aber seinen Posten nicht hatte aufgeben
dürfen, glich in seiner immerwährenden
Hilfsbereitschaft und Wohltätigkeit für
jeden Flüchtling in Zivil und Uniform
haargenau einem Exemplus der Güte […]
und auf der anderen Seite der Kerl, dem
wir für die erste Nacht zugewiesen waren
und der uns das Wasser zum Waschen verweigerte;
[…] und zwischen diesen beiden
Extremen so viele Abstufungen; darunter
unsere Wirtsleute, dem Übel extrem
näher als dem Guten.“ 43
Hilfeleistungen für Juden wurden besonders
hervorgehoben:
„[...] sie rühmte sich also, wie oft ihr Mann
[…] wie oft er, wie oft sie beide Juden geholfen,
Leute aufgenommen, verborgen, befördert
hatten, die ohne Papiere waren – und
nun soll er leiden und in Aichach laufen die
ärgsten Nazis noch frei herum!
Die Amerikaner sind bestimmt in vielen
Fällen sehr falsch berichtet! […] Und
ich selber. Ich habe der Frau Steiner
gesagt, vielleicht könnte ich ihr einmal
behilflich sein, mein Name sei angesehen
und mich hätten die Nazis aus dem Amt
gejagt. […]“ 44
Gleichzeitig beherrschte die Angst vor fanatischen
Nazis weiter den Alltag. Obwohl der
Krieg längst verloren war, verhängten Militärgerichte
noch immer Todesurteile gegen
desertierende Soldaten, die versuchten, dem
Terror durch Flucht zu entkommen:
„Im August 1939 hatten wir in Dresden
mit angesehen, wie das Heer würdelos
heimlich zusammengeholt worden war;
jetzt sahen wir es würdelos heimlich versickern.
Von der Front bröckelten Grüppchen
und einzelne ab, kamen aus den Wäldern
geschlichen, schlichen durchs Dorf,
suchten Essen, suchten Zivilkleidung,
suchten Ruhe für eine Nacht. Dabei glaubten
einige unter ihnen noch immer an den
Sieg. […] Unter den hier einquartierten
Flüchtlingen aber und unter den Ortsansässigen
[Aichach] gab es niemanden
mehr, der noch im geringsten an den Sieg
oder an den Fortbestand der Hitlerherrschaft
geglaubt hätte. In der vollkommenen
und erbitterten Verurteilung des
Nazismus glichen die Bauern von Unterbernbach
haargenau den Bauern von
Piskowitz. Nur daß die Wenden diese
Feindschaft von Anfang an bezeigt hatten,
die bayerischen Bauern aber hatten
42 Bericht Vogeley, Karl Heinz, 2007, S. 4. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung
der SED-Diktatur.
43 Klemperer, Victor: LTI – Notizbuch eines Philologen. Reclam-Verlag, Leipzig 1975, S. 329.
44 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945, 1995 (1999), Eintrag vom 5. Mai 1945, S. 138.
30
Millionen Deutsche jubelten Hitler und seinen Komplizen zwischen 1933 und 1945 wie hier 1938 in
Bad Godesberg zu. Nach dem Krieg wollte kaum noch jemand Hitleranhänger gewesen sein.
im Beginn auf ihren Führer geschworen.
[…] aber gesinnungsmäßig wäre man sehr
rasch einig gewesen: das Dritte Reich
lehnten sie alle ab.“ 45
„Also, das Gefühl der Befreiung ist eher eine
intellektuelle Leistung, die sich später ergab.“
Deutsche Kriegsgefangene, die nun in alliierter
Hand waren, schwankten zwischen
Resignation und Hoffnung. Für viele dauerte
die Gefangenschaft Jahre – in Frankreich, in
der Sowjetunion, in Großbritannien, den USA.
Ihre Lagerberichte sind weniger Zeugnisse
politischer Einsicht als von körperlichem
Entbehrungskampf. Der Begriff der Befreiung
blieb für sie abstrakt – sie hatten verloren,
aber nicht immer verstanden, warum.
„Die Gefangenen – und ich auch – empfanden
den Tag der Kapitulation schon
als Niederlage, als eine Katastrophe und
eine Niederlage für Volk und Nation und
Reich usw. Also, das Gefühl der Befreiung
ist eher eine intellektuelle Leistung, die
45 Klemperer, Victor: LTI. 1975, S. 328 f.
31
sich später ergab. Aber damals empfand
ich es so, wie damals auch die Redensart
war: Deutschland in der Stunde seiner
tiefsten Erniedrigung. Wir lagen eben
am Boden.“ 46
In den Erinnerungen dominieren Bilder von
Trümmern, Hunger, Flucht, Gewalt – Erfahrungen,
die das Selbstbild der deutschen Nachkriegsgesellschaft
entscheidend prägten. Die
eigene Opferrolle verdeckte dabei oft die eigene
Verantwortung. Der Zusammenbruch des
Nationalsozialismus bedeutete für Millionen
die Auflösung der sozialen Ordnung, die Zerschlagung
von Gewissheiten, das Ende eines
Weltbilds, in dem man selbst sich anderen
überlegen fühlen konnte. Doch an die Stelle
einer kritischen Auseinandersetzung mit den
Ursachen trat nicht selten ein Gefühl der
Kränkung: Wir haben alles verloren, wir waren
ja selbst auch Opfer und haben viel Leid
erfahren, lautete eine oft wiederholte Formel.
Das verführte Volk
In dieser Gemengelage entstand die Legende
vom „verführten Volk“. Sie entlastete – und
sie stabilisierte. Die Schuld wurde externalisiert
und personalisiert: Hitler, Himmler,
Göring. Die Masse sei irregeleitet, nicht
willentlich beteiligt gewesen. Selbst wenn das
Eingeständnis der eigenen Beteiligung an
Verbrechen unausweichlich war, wurde es
mit dem Verweis auf Befehle oder geltende
Gesetze abgemildert: „Was damals Rechtens
war, kann heute nicht Unrecht sein“, brachte
es Hans Filbinger noch 1978 in einem Spiegel-Interview
auf die von vielen benutzte
Entschuldungsformel 47 . Die nationalsozialistische
Herrschaft wurde so zur Episode
moralischer Verirrung, nicht zur Geschichte
einer individuellen und gesellschaftlichen
Komplizenschaft.
Viele Zeitzeugen schildern eine Haltung des
emotionalen Rückzugs. Das Unausgesprochene
durchzog die Familien. Die Verluste – von
Angehörigen, Heimat, Besitz – waren real,
aber sie wurden nicht in ein Verhältnis gesetzt
zu den Verbrechen, deren Konsequenzen sie
auch waren. Stattdessen fand eine Umdeutung
statt: Der Luftangriff auf Dresden, das
Inferno von Hamburg, die Massaker der
Roten Armee an Zivilisten – sie prägten eine
Erinnerungskultur, in der man selbst das
größte Leid erfahren hatte, das gleichsam
wie aus heiterem Himmel über einen gekommen
war. Für das Leid der anderen
blieb wenig Raum:
46 Aus einem Interview mit Siegfried Maruhn, geführt 1987 von Nori Möding und Alexander von Plato, Archiv „Deutsches Gedächtnis“,
Lüdenscheid, in: von Plato, Alexander und Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland
1945–1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 364.
47 Der Spiegel: Affäre Filbinger: „Was Rechtens war ...“. Der Spiegel (14.05.1978), Nr. 20. https://www.spiegel.de/politik/affaere-filbinger-was-rechtens-war-a-9b1dbeab-0002-0001-0000-000040615419?context=issue.
32
„Als Hitler seine Siege feierte, habe ich nie
gehört, daß irgendein Deutscher Anteil am
Los der Unterdrückten genommen hätte.
Im Gegenteil: die Deutschen reagierten
mit Schadenfreude. Als die Wehrmacht
in Holland einmarschierte, haben meine
Nachbarn gesagt: ‚Ihnen ging es gut, als
wir arm waren und am Boden lagen.
Sollen sie ruhig lernen, was es heißt,
arm und notleidend zu sein‘.“ 48
„Die Deutschen, sagte er, seien unschuldig.
Auch die deutschen Generäle trügen
keine Schuld. ‚Sie sind Berufssoldaten,
keine Politiker. Sie beschäftigen sich nicht
mit Politik. Sie führen Befehle aus.‘ Auch
den Geschäftsleuten, die Hitler unterstützt
und vom Regime profitiert hatten, komme
keine Schuld zu. ‚Wir sind alle unschuldig‘,
sagte König mit matter Stimme. ‚Man
darf das deutsche Volk nicht bestrafen.‘“ 49
In den frühen Jahren der Bundesrepublik
entstand daraus eine Haltung, die der amerikanische
Historiker Robert Moeller später
als „Gleichgewicht des Leids“ bezeichnete. 50
Dennoch bleibt festzuhalten: Die Verdrängung
war nie vollständig. Es gab Einzelne,
die sprachen – in Tagebüchern, in Briefen, in
Gesprächen mit Vertrauenspersonen. Doch
sie blieben lange randständig. Sie wurden
angefeindet und ausgegrenzt. Die breite Mehrheit
wollte vergessen und nicht erinnert werden.
Die westdeutsche Gesellschaft entwickelte
eine Stabilitätskultur, die auf Schweigen
beruhte. Erst mit der Generation der 68er
wurde diese Struktur brüchig.
48 Vernehmung von Thal, Bernhard, in: Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 54 f.
49 Vernehmung von König, Hans, in: Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn
Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 45 f.
50 Moeller, Robert G.: War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany. University of California
Press, 2001.
33
5. Flucht, Vertreibung und Neuanfang
„Es war wirklich höchste Zeit.“
Während die Truppen der Roten Armee Ende 1944 von Osten her immer näher an das deutsche
Reichsgebiet heranrückten und die deutsche Wehrmacht aus den eroberten und besetzten
Gebieten der Sowjetunion und Polens weiter nach Westen zurückdrängten, als also die Niederlage
längst absehbar war, verbreiteten Nazi-Funktionäre immer noch Durchhalteparolen. Wer
am „Endsieg“ zweifelte, wurde wegen Defätismus angeklagt und hingerichtet.
Der letzte Winter des Krieges wurde zum Vorboten
eines Exodus von historischem Ausmaß.
Millionen Deutsche flohen vor der heranrückenden
Roten Armee, getrieben von der
Angst vor Vergeltung, bestärkt durch Gerüchte,
Propaganda, aber auch Berichte von
jenen, die das Vorrücken der Roten Armee im
Osten er- und überlebt hatten. Die Ostseehäfen
waren überfüllt, Landstraßen verstopft mit
Wagenkolonnen, auf denen Familien ihre
Habseligkeiten türmten. In den Rückblicken
dominieren die Erinnerungen an klirrende
Kälte, nächtliches Artilleriefeuer und das
Dröhnen sowjetischer Panzer.
Die Erinnerungen vieler Menschen sind geprägt
von großen Entbehrungen, Angst und
langen Fußmärschen zwischen den Fronten.
Diese Bewegung hatte oft keinen Plan, jedoch
ein Ziel: Nur weg. In vielen Dörfern, Städten
und Vororten folgten auf den Einmarsch der
Truppen Tage und Wochen der Angst und
der Gewalt.
Die Flucht wurde – entsprechend den Durchhalteparolen
– für viele Gebiete wie Ostpreußen
oder Schlesien viel zu spät angeordnet.
Fliehende Zivilisten mischten sich mit
Truppen, die noch an die Front verlegt wurden.
Ein unbeschreibliches Chaos war die Folge:
„Am 22. März 1945 wurde offiziell der
Befehl gegeben, Possnitz zu räumen. […]
Die wertvolleren Sachen hatte man vorher
schon in einem Banksafe deponiert,
anderes wurde im Garten vergraben. […]
In der Ferne hörte man die Einschläge der
Kanonen und in Richtung Leobschütz
war Feuerschein zu sehen. Für die ersten
2 Kilometer benötigte der Treck mehrere
Stunden.“ 51
„Der Oberste des Militärs gab den Befehl,
dass die Männer nicht flüchten dürfen,
nur die Frauen und die Kinder.“ 52
51 Bericht Familie Deloch, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,
die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 75.
52 Bericht über die Flucht der Familie Balz aus Kukehnen bei Zinten, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn.
Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse.
http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 51.
34
Im eisigen Winter 1944/1945 flohen Millionen Deutsche vor der heranrückenden Front aus
Ostpreußen Richtung Westen.
Da bereits die Vorbereitungen auf eine
Flucht als Hochverrat ausgelegt wurden,
kam der Befehl zur Evakuierung aus den
deutschen Ostgebieten, die zuerst von der
Roten Armee erreicht wurden, für viele
schließlich überraschend und zu spät. Oft
war die sowjetische Armee nur wenige Stunden
entfernt und der Geschützdonner bereits
deutlich zu vernehmen:
„Am 8. Februar [1945] gab Gauleiter Koch
aus Königsberg dann den Befehl, dass die
Bevölkerung nach Westen flüchten soll.
[…] Es war wirklich höchste Zeit zu flüchten.
Es entstand ein großes Chaos. Der
Himmel und die Erde brannten.“ 53
Trotz des Verbots, sich auf eine Flucht vorzubereiten,
hatten viele Menschen angesichts
der näher rückenden Front heimlich begonnen,
das Nötigste zu packen. Die Front erfahrenen
Männer versuchten ihren Frauen und
Familien aus der Ferne Ratschläge zu geben,
wie sie die Flucht vorbereiten sollten:
„Vor allem denke Du nicht wieder zuerst an
die anderen. Du hast genug mit Dir zu tun
[…] Stell Dir nur beizeiten Esswaren genug
bereit, vor allem Eingewecktes, dann
Mehl und Zucker in Säcken und Körben.
Das muss dann alles auf einen Kastenwagen
und den schwarzen Kutschwagen hinten
angehängt, wo Du mit den Kindern
drinsitzen kannst. Betten und was anzuziehen
reichlich auf den Kastenwagen, ein
paar Sack Pferdefutter, sämtlichen Speck
und Futter. Die Wurst tu dir am besten in
einen Reisekorb oder die Wäschetruhe.“ 54
53 Flucht der Familie Balz aus Kukehnen bei Zinten, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge
und Heimatvertriebene, die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de,
Books on demand 2019, S. 50.
54 Bericht von Familie Grundmann aus Malsen, Landkreis Breslau, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn.
Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse.
http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 62 f.
35
Menschen aus der Region Königsberg auf der Flucht.
Die Erfahrung, dass die Front weit schneller
die deutschen Ostgebiete erreichte, als die
NS-Propaganda den Menschen weisgemacht
hatte, brachte für viele die erste reelle Konfrontation
mit dem Krieg und seinen Folgen:
„Es war ja nun Krieg, aber in Ostpreußen
haben wir das nicht gespürt. Es war ja tiefster
Friede bis zum schrecklichen Ende, das
ist ja das Unbegreifliche. Es war mitten im
Frieden, als das schreckliche Ende kam. Keine
Bomben; wir haben niemanden verloren.
Das kam erst alles ganz zum Schluß.“ 55
„Das plötzliche Kriegsende beendete unsere
Flucht nur vorübergehend und angesichts
der Kapitulation der Deutschen traten wir
also den Heimweg an. Max und Charlie
nutzten die Gelegenheit, um sich von uns
abzusetzen. Sie wollten auf keinen Fall den
Russen in die Hände fallen. Noch unterwegs
begriffen wir, wie sehr die beiden
Recht hatten. Bekamen wir doch schon
bald die Wut und Rachegelüste der russischen
Soldaten und polnischen Kriegsgefangenen
zu spüren.“ 56
55 Aus einem Interview mit Eva Früde (Pseudonym), geführt 1995 von Alexander von Plato, Archiv „Deutsches Gedächtnis“, Lüdenscheid,
in: von Plato, Alexander und Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland
1945–1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 196.
56 Bericht der Familie Balz, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,
die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand
2019, S. 63.
36
Besonders Frauen trugen die Lasten von Flucht und Vertreibung.
Allerdings glaubten die meisten, dass ihre
Flucht nur vorübergehend sein würde und
sie nach Ende des Krieges wieder in ihre Häuser
und Wohnorte zurückkehren könnten:
„Sie alle hatten aber nur das gemeinsame
Ziel; nämlich dieses Chaos zu überstehen,
um vielleicht eines Tages zurück zu kehren,
zurück in die Heimat, wenn der Krieg
vorbei sein würde, und wieder normale
Zeiten vorherrschen.“ 57
Lebensmittel wurden haltbar gemacht und
gemeinsam mit Wertgegenständen, die man
nicht auf die Flucht mitnehmen konnte, ver-
graben, damit sie der Roten Armee nicht in
die Hände fallen würden:
„Dann hieß es aber doch: ‚Alles vorbereiten
für eine Flucht!‘ Wo bleiben mit dem
ganzen Hab‘ und Gut? Mitnehmen konnte
man nur das aller Notwendigste. Also
entschloß man sich, Glas, Geschirr, Ledersachen
und so weiter in Kisten gut zu
verpacken und dann alles im Garten zu
vergraben“ 58
Marion Gräfin Dönhoff beschrieb in ihren
Erinnerungen, wie die Flucht verlief. Der Beschreibung
vom letzten Abendbrot haftet etwas
Unwirkliches an:
57 Bericht von Rosel S., 2004, S. 7. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
58 Bericht von Günter S., ohne Datum, S. 1. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
37
„Auch ich hatte schnell, was mir am unentbehrlichsten
schien, in einem Rucksack
zusammengepackt: etwas Kleidung und
ein paar Fotografien und Papiere. Eine
Satteltasche mit Waschsachen, Verbandzeug
und meinem alten spanischen Kruzifix
lag ohnehin fertig gepackt, stets griffbereit.
Trudchen, meine Köchin, hatte schnell
noch Abendbrot gemacht, das wir gemeinsam
verzehrten, auch die beiden Sekretärinnen
stießen dazu. Fräulein Markowski,
die ältere, war eine begeisterte Anhängerin
des Führers, die jahrelang jede Sondermeldung
bejubelt hatte – und jetzt war sie sehr
still, aber ich bin überzeugt, dass sie sich
fragte, ob nicht doch die Ungläubigen und
‚Verräter‘ an diesem Debakel Schuld seien.
[…] Wir aßen also noch rasch zusammen:
Wer weiß, wann man wieder etwas bekommen
würde… Dann standen wir auf, ließen
Speisen und Silber auf dem Tisch zurück
und gingen zum letzten Mal durch die
Haustür, ohne sie zu verschließen. Es war
Mitternacht. Draußen hatte sich inzwischen
der Treck formiert. […] Auch interessierte
mich sehr, was wohl die braunen
Funktionäre, die noch vor drei Tagen alle
Fluchtvorbereitungen für Defaitismus gehalten
hatten und schwer hatten bestrafen
wollen, jetzt wohl täten.“ 59
„Wenn wir schon unter die Russen fallen,
dann schon lieber zu Hause …“– das war
in etwa die Formel, auf die sich viele geeinigt
hatten. Und noch etwas hatten sie alle
miteinander inzwischen beschlossen:
dass ich versuchen sollte, mit meinem
Pferd nach Westen durchzukommen,
denn mich würden die Russen bestimmt
erschießen, während sie selbst nun in Zukunft
für die Russen die Kühe melken und
die Scheunen ausdreschen würden. Wie
irrig die Vorstellung war, dass den Arbeitern
nichts geschehen würde, ahnten weder
sie noch ich damals.“ 60
Auch wenn sich mit dem nahenden Kriegsende
immer mehr Personen auf die Flucht
begaben – Schätzungen zufolge waren 1945
zwei Drittel der Deutschen auf der Flucht 61 –,
gab es auch einige, die ihre Heimat aus verschiedenen
Gründen nicht verlassen wollten:
„Wie andere auch, so wurden Herrmann’s
von Amtswegen aufgefordert sich evakuieren
zu lassen. Emmi war nicht nur sehr heimattreu,
sie war auch verbittert über alles,
was mit dem Krieg und seinen Folgen zusammenhing.
Sie hoffte auf ein friedvolles
Familienleben im eigenen Haus. (…) Das
Haus musste sie allein fertigstellen und
nun, kaum daß es bewohnt war, sollte sie
auch das noch aufgeben? Nein! Das war
ihre Antwort. ‚Erfrieren können wir auch
zu Hause, auf die Straße jage ich euch
nicht!‘“ 62
Oftmals war es auch die Hoffnung auf ein
Wiedersehen mit Angehörigen, die die Menschen
dazu brachte, nicht zu fliehen:
„Nur einige Menschen blieben zurück, die
sich weigerten alles im Stich zu lassen, so
wie z. B. Kurt, der nicht weg wollte und auf
59 Dönhoff, Marion Gräfin: Namen, die keiner mehr nennt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, S. 33.
60 Dönhoff, Marion Gräfin: Namen, die keiner mehr nennt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, S. 36.
61 Von Plato, Alexander und Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–
1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 11.
62 Bericht von Erwin H., 2005, S. 61. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
38
die glückliche Rückkehr seines Vaters hoffte.
Wo hätte er sonst seinen Vater finden
sollen, wenn nicht Zuhause. Bei den Zurückgebliebenen
handelte es sich um einige
Jugendliche, Frauen mit ihren kleinen
Kindern und einige Greise, die genau wie
Kurt, wieder auf die Zusammenführung
ihrer Angehörigen hofften.“ 63
Etwa 12–14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene
aus den deutschen Ostgebieten und
der Tschechoslowakei sowie weitere Millionen
nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiter
mussten in den weitgehend zerstörten
und ohnehin überlasteten Städten untergebracht
und versorgt werden. Allein in die
spätere DDR kamen bis 1946 etwa 4,4 Millionen
Vertriebene bzw. Flüchtlinge, darunter
2,6 Millionen Frauen. 64
Mit dem Kriegsende begann eine zweite Welle
der Vertreibungen. Obwohl sie diesmal
nach Regeln und „geordnet“ erfolgen sollte,
waren weiterhin Willkür und rohe Gewalt an
der Tagesordnung. Oft hatten die Betroffenen
nur wenig Zeit, um die ihnen erlaubten wenigen
Habseligkeiten zu packen. In Polen, der
Tschechoslowakei, Ungarn und anderen Ländern
wurden die Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten
vertrieben – teils in chaotischer
Hast, teils unter Aufsicht von Milizen und
Ortskräften. Die sogenannten „wilden Vertreibungen“
gingen einher mit Misshandlungen,
Plünderungen und willkürlicher Gewalt.
Auf den langen Fußmärschen und in den Auffanglagern
starben viele – an Erschöpfung,
an Krankheiten, an Kälte. Die offiziellen
Zahlen schwanken; Schätzungen zufolge
kamen etwa zwei Millionen Menschen bei
Flucht und Vertreibung zu Tode:
„Am 24. Juni hat mir Tante Herta, als
ich nachmittags in der Herrenstraße zum
Spielen auftauchte, gesagt, daß wir raus
müssen. Ich mußte sofort zurück zum
Taschenberg und die Mutter davon unterrichten.
Im Hof hing die Wäsche für die
Kommandantur. Kopflosigkeit. Der Großvater
muß das Unvermeidliche vorausgeahnt
haben, denn ganz ruhig organisierte
er zusammen mit seinem Schwiegersohn
Emil zwei Handwagen in unseren Hof
und begann mit dem Packen. Der größere
Wagen war aus der Färbergasse herangeholt
worden, der kleinere Wagen war von
uns. Den ganzen 25. Juni über hatten sich
schon Leute auf den Weg gemacht. Wir
konnten es sehen, wie sie die Grünberger
Straße entlangzogen. Aber offenbar ging
es den Polen zu zögerlich. Am späten
Nachmittag kamen zwei Polen durch die
Häuser und forderten uns auf, das Haus
innerhalb von zehn Minuten zu verlassen.
Einer sagte: nach uns kommen noch andere,
und wenn wir dann nicht raus wären,
dürften wir nichts mehr mitnehmen. Wir
machten den Schritt über die Haustürschwelle
und waren heimatlos. Und nicht
nur das, auch rechtlos und anspruchslos.
Denn wohl kaum einer ahnte damals,
daß Rechtlosigkeit und Zurücksetzung
auf Jahre und Jahrzehnte ständige Begleiter
sein werden. 65
63 Bericht von Rosel S., 2004, S. 7. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
64 Helwig, Gisela; Nickel, Hildegard Maria: Frauen in Deutschland 1945-1992, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische
Bildung, Bonn 1993, S. 99.
65 Bericht Manfred K., 1997, S. 16. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
39
andere tschechische Bürger an, verprügelten
den tschechischen Bürgermeister und
jagten ihn davon und begannen mit Repressionen
gegen die Deutschen. Alle Radios
waren abzugeben, die Deutschen hatten
eine weiße Armbinde zu tragen, jeden Tag
wurden Häuser besichtigt und durchsucht,
und immer wieder wurden Deutsche zusammengeschlagen“
67
Vertreibungsbefehl für die deutsche Bevölkerung
aus einer Gemeinde in Schlesien, die am frühen
Morgen des 14.07.1945 ihre Heimat verlassen
mussten.
In ehemals deutschen Gebieten wie im Sudetenland
oder Schlesien, die zur Tschechoslowakei
und Polen 66 gehörten, kam es zu
massiven Anfeindungen und Übergriffen gegen
die verbliebene deutsche Bevölkerung:
„Tschechische Mitbürger, die 1938 in unserer
Stadt geblieben waren, begannen, eine zivile
Ordnung aufzubauen. Dann aber reisten
„Bald wird auf Behörden nur noch tschechisch
gesprochen. Die in Aussig lebenden
Tschechen leisten uneigennützig Dolmetscherdienste.
Eines Tages, es war am 5. Juli
1945, klingelt es. Ein tschechischer Uniformierter
sagt zu meiner Mutter: ‚Sie melden
sich in einer halben Stunde am Langemarkplatz.
Sie dürfen Gepäck mitnehmen,
was sie tragen können, aber keine Wertsachen,
keine Pelze, maximal 400 Mark Bargeld.‘
Ein kleiner Handwagen wird mit
Blick auf die Kinderschar genehmigt. Am
Langemarkplatz werden die Personalien
aufgeschrieben. Dann gehen wir zum
Teplitzer Bahnhof, wo etwa 60 Personen
je einen offenen Güterwaggon besteigen.
Dann beginnt die Fahrt in ein ungewisses
Schicksal.“ 68
Rache und Vergeltungsaktionen bezogen
sich jedoch nicht nur auf deutsche Zivilisten.
Vielfach wurden auch jene angegriffen, die
als Helfer und Kollaborateure der Nazis bzw.
der Deutschen galten:
66 Das Sudetenland war 1938 nach dem Münchner Abkommen vom nationalsozialistischen Deutschland annektiert worden.
Schlesien gehörte schon seit dem 18. Jahrhundert zu Preußen.
67 Bericht Willibald R., 2004, S. 6. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
68 Bericht von Harald M., ohne Datum, S. 1 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-
Diktatur.
40
„Dazu kamen noch das polnische Ehepaar
Stanislaus und Jaschka (Kriegsgefangene,
die später von ihren eigenen Landsleuten
wegen Deutschfreundlichkeit verhaftet
und hingerichtet werden sollten).“ 69
Allein in Polen wurden Schätzungen zufolge
rund 25.000 Personen wegen Kollaboration
mit den Nazis verurteilt. In der Tschechoslowakei
waren es 43.000 70 .
Um sich vor Vergeltung und Verurteilung
zu schützen, versuchten viele Deutsche, sich
als unbeteiligt an Unrecht und Verbrechen
darzustellen:
„Er räumte ein von den Gräueltaten gehört
zu haben, die die Deutschen an Polen und
Juden verübt hatten. ‚Zuerst konnte ich es
nicht glauben, aber später hörte ich Einzelheiten
von Erschießungen, Vergasung
und Massenmord, und ich begriff, daß es
die Wahrheit war.‘ Er schüttelte den Kopf,
als wolle er einen schlechten Traum loswerden.
Noch immer wollte er die Realität
nicht wahrhaben.“ 71
Gewalt erfuhren die Vertriebenen jedoch
nicht nur während der Vertreibungen selbst
und als Racheakte durch die vorher von
Deutschen terrorisierte lokale Bevölkerung.
Sie wurden auch Opfer von Raubüberfällen
auf die überfüllten Züge:
„Es ist die dritte Nacht. Wo sind wir eigentlich?
Plötzlich gellen Hilfeschreie
durch die Nacht. Finstere Gestalten waren
auf den langsam fahrenden Zug aufgesprungen.
Haben Koffer und Taschen über
Bord geworfen und verschwanden so schnell,
wie sie kamen. Sie wußten offensichtlich,
daß alle wehrfähigen Männer entweder
gefallen oder, wie mein Vater, in Kriegsgefangenschaft
waren. Die Überfälle wiederholten
sich. Aus rüstigen Greisen und älteren
Jungen wird eine Art Zugwehr zusammengestellt.“
72
„Sie sehen, wie der Tod in unserem
Dörfchen gehaust hat.“
Die Nachrichten, die von jenen kamen, die
sich entschlossen hatten, nicht vor den Sowjets
zu fliehen oder denen es nicht mehr gelungen
war, bestätigten viele Befürchtungen:
„Im Frühjahr dieses Jahres kam ein Brief
aus Ostpreußen, die erste und letzte Nachricht
aus dem verlorenen Paradies seit der
Vertreibung. Folgendes stand darin: ‚Damals,
als die Russen kamen, es war ein
Dienstag, brannte es an vielen Stellen im
Dorf. Zuerst wurden die beiden Gespannführer
Möhring und Kather, der alte Gärtner
Neubert und der Apotheker Wilmar
erschossen und auch Frau Lukas von der
Klingel. […] Ein paar Tage später wurden
69 Familie Grundmann aus Malsen, Landkreis Breslau, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler,
Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.
dnb.de, Books on demand 2019, S. 63.
70 Rossoliński-Liebe, Grzegorz: Kollaboration im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust – Ein analytisches Konzept. Docupedia-
Zeitgeschichte, 21.07.2020, https://zeitgeschichte-digital.de/doks/frontdoor/deliver/index/docId/1817/file/docupedia_rossolinskiliebe_kollaboration_v2_de_2020.pdf,
S. 8.
71 Vernehmung von König, Hans, in: Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn
Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 45.
72 Bericht von Harald M., ohne Datum, S. 2. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-
Diktatur.
41
dann Magda Arnheim, Lotte Muss mit
Kind und die Oma Muss erschossen und
in Schönau fünf Arbeiter vom Gut und
die Frau vom Förster Schulz, die aber erst
nach acht Tagen starb und sich sehr hat
quälen müssen. Der alte Muss hat sich
damals erhängt. Im Februar gingen dann
die Abtransporte nach dem Ural los. […]
Ich erhielt vor ein paar Monaten […] die
Nachricht, dass mein Mann und die meisten
anderen im Ural gestorben sind. Sie
sehen, wie der Tod in unserem Dörfchen
gehaust hat. Zuerst all die Jungens an der
Front, und nun die anderen.‘“ 73
Die Erfahrungen, insbesondere mit den sowjetischen
Besatzungssoldaten, waren sehr unterschiedlich.
Während die einen von Willkür,
Erschießungen, Plünderungen und Vergewaltigungen
berichteten, erlebten andere eine
respektvolle, ja freundliche Behandlung durch
sowjetische Soldaten. Besonders die Kinderfreundlichkeit
blieb vielen in Erinnerung:
„Am Nachmittag fährt ein Trupp russischer
Soldaten vor. Auf einem Lastwagen ist ein
überschweres Maschinengewehr montiert.
Ein paar Männer kommen in das Haus
und es sind die ersten Russen die es betreten.
Ihre Frage nach ‚Soldati‘ und ‚Faschisti‘
wird mit Kopfschütteln beantwortet.
Ihr Erscheinungsbild ist fremd, die
Köpfe kahl geschoren und die Aussprache
rauh. Die Angst der Nacht ist noch nicht
bewältigt und schon kommt neue dazu.
Einer der ungebetenen nimmt das Radio
‚Volksempfänger‘ vom Küchenschrank
und stellt es auf den Fußboden. Den Erwin
hebt er an, und läßt ihn mit den Füßen
voran auf das Gerät fallen. Ohne Strom
war der Kasten sowieso stumm, aber jetzt
sah er nicht mehr wie ein Radio aus. In der
gleichen Zeit gingen andere Soldaten die
Treppe hinauf, traten die verschlossenen
Türen der Scholzwohnung auf und durchsuchten
Zimmer und Kammer. Mit dem
SA-Dolch von Herrn Scholz, seiner Uniform,
einem Revolver und einer Zigarrenkiste
voll Munition kamen sie wütend zu
den ahnungslosen Hausbewohnern. Da
halfen keine Erklärungen und Gesten daß
niemand etwas mit den Fundsachen zu tun
habe, alle dreizehn Personen werden in die
Dachkammer gesperrt. Das Haus wird
von oben bis in den Keller durchsucht und
die dreizehn packt höllische Angst. Vor dem
Haus das Maschinengewehr, werden jetzt
alle erschossen? Wird vielleicht das Haus
angezündet und alle müßen verbrennen?
So fliegen die ausgesprochenen Gedanken
der Angst hin und her. Die Dachsparren
sind noch nicht verschalt und die beiden
älteren Damen Marie H. und Klara F.
fädeln Stricke um die Balken, versuchen
sich zu erhängen. Ernst T. fährt die beiden
barsch an und sagt: ‚Wenn es die Sterbestunde
sein soll, dann für uns alle!“ Damit
war die ungewisse Ruhe wieder hergestellt
und dauerte etwa eine halbe Stunde. Die
Soldaten zogen ab und im Hause stand
und lag nichts mehr am gewohnten Platz.
Schränke ausgeräumt, alles auf dem Fußboden
verstreut, die Wäsche und Fotos betrampelt
und die Betten aufgeschlitzt, so
daß die Federn umherflogen. Ein paar
Hühner fehlten auch.‘“ 74
73 Dönhoff, Marion Gräfin: Namen, die keiner mehr nennt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2009, S. 78.
74 Bericht von Erwin H., 2005, S. 67 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
42
„Nur kurze Zeit verging, da wurden aus
den weißen Tüchern rote Fahnen. Es hieß:
Die Russen kommen! Man sah, dass bei
einigen Fahnen das Hakenkreuz herausgetrennt
war. Diese ‚entweihten‘ Fahnen
schmückten nun die Häuser. Andere Bewohner
hatten roten Inlettstoff herausgehängt.
Alle Ausweise, sogar Schulbücher,
wurden vernichtet. Sie konnten als Beleg
dafür gelten, ein ‚Faschistenanhänger‘ gewesen
zu sein. Es hieß, die Russen erschießen
alle Faschisten. (…) Haus für Haus
wurde nach ‚Faschisten‘ durchsucht. Wer
den Russen verdächtig vorkam, wurde mitgenommen.
Auf dem Hof, wo wir eine Unterkunft
gefunden hatten, wurde eine Verpflegungsstelle
für die russischen Soldaten
eingerichtet. Zwei dampfende Feldküchen
standen längere Zeit auf dem Hof. Die
Hauseigentümer hatten ihr Gehöft vorher
verlassen und waren in den Wald geflüchtet.
Schweine und Hühner waren offenbar
zum Abschuss freigegeben. Sie wurden zur
Bereicherung der Soldatenverpflegung genutzt.“
75
„Vater hatte sich seinen Schnurrbart wachsen
lassen, damit er auch älter aussah. Er
hatte immer noch einen seiner Füße stark
bewickelt. Die erfrorenen Zehen wollten
nicht so schnell heilen. Doch die russischen
Soldaten, die immer noch in diesen Raum
schauten und Faschisten suchten, erkannten
schnell die Armut und sagten nur:
‚Nix Faschist! Viele Kinder, Du arm, viel
arm!‘ und verließen den Raum, soweit sie
überhaupt die Türschwelle überschritten
hatten. Uns Kinder befiel eine höllische
Angst. Die dunklen Gestalten, die fremde
Sprache, ihre Waffen und die Dolche, die
in den Gürteln steckten, ließen uns schon
zittern. Einige hatten ihren Stahlhelm auf
und den Regenumhang noch um. Erleichterung
trat nur ein, wenn einer der Soldaten
uns über den Kopf strich. […] Auch Spielzeug
tauchte eines Tages auf. Eine Puppe
und eine Harmonika bekamen wir von den
russischen Soldaten geschenkt. Später gab
es sogar eine Hand voll braunen Zucker,
wir sagten Pferdezucker dazu. Ein ‚Starschina‘,
ich glaube er hieß Alexander, er
sprach gut deutsch, versorgte jeden Abend
die Kinder, die schon am Gartenzaun
standen und auf ihn warteten, mit dieser
Köstlichkeit.“ 76
„Am späten Nachmittag bringt einer der
einfachen Soldaten ein paar Speckseiten
und einen Beutel Schwarzbrot. Emmi soll
den Speck in Scheiben schneiden und braten.
Ein paar Tiegel sind notwendig, denn
alles soll zu gleicher Zeit fertig sein. Die
besser bekleideten, offenbar hohe Offiziere,
nehmen in der Runde der sechzehn Hausbewohner
Platz und laden zum gemeinsamen
Essen ein. Es ist ein Gedränge auf
Tuchfühlung mit den Russen und zaghaft
und scheu, aber doch mit einer Geste des
Dankes wird der Einladung entsprochen.
Soldaten der ‚Roten Armee‘ und eingeschüchterte
deutsche Menschen stippen in
die gleiche Pfanne nach den Speckscheiben.
Dazu darf jeder auch nach dem schwarzen,
recht harten Brot greifen.
75 Bericht von Heinz B., 2007, S. 7. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
76 Bericht von Heinz B., 2007, S. 8. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
43
In den vergangenen Tagen wurde auf Licht
in den Abendstunden verzichtet, um die
Aufmerksamkeit der Russen nicht auf das
Haus zu ziehen. Jetzt sind sie es selbst, die
nach Licht verlangen. Wie selbstverständlich
werden Stalllaternen und andere
Petroleumlampen angezündet und jeder
empfindet für sich ein bißchen Geborgenheit.
Zum ersten Mal, seit Einmarsch der
‚Roten Armee‘, ist so etwas wie ein Gefühl
da, daß es Russen gibt die keine Angst
verbreiten.“ 77
„Es war der 20. April 1945. Die Nacht verging
ruhig. Im Morgengrauen kam dann
wieder eine erneute Aufregung. Eine Kradbesatzung
hielt fast vor unserem Kellerfenster.
Männer in braunen Uniformen, aber
ein anderer Farbton als die SA, stiegen ab
und rauchten. Die Sprache verstanden wir
nicht. Auch sie verschwanden bald wieder.
Es hieß dann, es seien russische Soldaten
gewesen. Das wollte ich und andere Kinder
nicht glauben. Nach unseren von der Hitlerjugend
und von Plakaten bekannten Vorstellungen
müssen Russen keine richtigen
Menschen, sondern Lebewesen mit tier- und
menschenähnlichem Antlitz. Diese Vorstellung
in Gedanken über Bord zu werfen,
Realitäten anzuerkennen, war mein und
sicher auch vieler anderer Kinder Problem.
Die ersten unvermeidlichen Zweifel an
dem was man uns bisher in den vergangenen
Jahren erzählte und bildhaft zeigte
traten ein.“ 78
„Ein Offizier, der ein ausgezeichnetes
Deutsch sprach, war in unserem Häuschen
untergebracht. Und ich frage mich heute,
weshalb sich der Stab gerade in unserem
kleinen Gehöft, mit den ärmlichsten Häusern
untergebracht hatte. Vermutlich sahen
sie in unserer Armut eben die ihnen genehmere
Arbeiterklasse. Nachts durften wir
Kinder in den Betten schlafen, während
die Soldaten auf dem Fußboden zu schlafen
hatten. Der Offizier kommentierte das
mit den Worten: ‚Die Soldaten seien das
gewöhnt, aber wir Kinder brauchen ein
Bett.‘ Meine Mutter gab dem Offizier zu
verstehen, dass sie nicht gedacht hätte,
dass sich die Russen so human verhalten
würden. ‚In der Zeitung habe ja immer
Schlimmes gestanden‘. Darauf entgegnete
er, ‚sie möge sich nicht täuschen, auch in
ihrer Armee gäbe es Leute, die sich schlimm
benehmen. Aber wir hätten Glück, dass
sich der Stab bei uns befinde, und so
hätten wir nichts zu befürchten.‘“ 79
„Dann rollten die Soldaten singend mit
ihren Panzern über die Salzstraße, wo
wir wohnten. Einige Fremdarbeiterinnen
stiegen auf die Fahrzeuge und sprachen
mit ihren Landsleuten. Es war eine ganz
entspannte Atmosphäre und niemand
hatte Angst. Meine Mutter hätte das sehr
gerne fotografiert, aber wir haben während
der Kriegszeit keinen Fotoapparat
besessen. Am nächsten Morgen ließ der
russische Kommandant alle Speicher bzw.
77 Bericht von Erwin H., 2005, S. 75 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
78 Bericht von Rudi H., 2004, S. 24. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
79 Bericht von Hans H., 2005, S. 14 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
44
Vorratsräume für die Bevölkerung öffnen
und jeder konnte Margarine, Zucker,
Getreide und sogar Schuhe nach Hause
schleppen.“ 80
„Wenn nicht ein ganz besonderes Unglück
ins Spiel kam, mußten wir in der Abgeschiedenheit
des Nestes untertauchen können.“
Aber nicht nur die Menschen aus den zuerst
von der Roten Armee erreichten Gebieten in
Ostpreußen flohen. Auch im „Reich“ selbst
mussten viele Menschen ihre Häuser verlassen
und Schutz woanders suchen. Sie flohen aus
Städten wie Hamburg, Berlin, Pforzheim,
Dresden, die von alliierten Luftangriffen zerstört
waren. Victor Klemperer hat seine Flucht
aus dem bombardierten Dresden beschrieben.
Diese führte ihn über die Lausitz schließlich
nach Bayern, von wo er im Sommer 1945 mit
seiner Frau nach Dresden zurückkehren
konnte:
„Zuerst nämlich hatten wir uns in das
wendische Dorf Piskowitz bei Kamenz gewandt.
[…] Wenn nicht ein ganz besonderes
Unglück ins Spiel kam, mußten wir in der
Abgeschiedenheit des Nestes untertauchen
können. Zumal, wie wir genau wußten, die
Bevölkerung stark antinazistisch war. Wenn
es ihr frommer Katholizismus allein nicht
tat, so immunisierte sie bestimmt ihr Wendentum:
Diese Menschen hingen an ihrer
slawischen Sprache, deren sie der Nazismus
im Kult und Religionsunterricht be-
rauben wollte, sie fühlten sich den slawischen
Völkern verwandt und durch die
germanische Selbstvergottung der Nazis
gekränkt […]. Und dann: die Russen
standen bei Görlitz, bald würden sie in
Piskowitz sein, oder es würde uns gelingen,
zu ihnen hinüberzukommen. Mein
Optimismus wurzelte in dem Hochgefühl
der märchenhaften Errettung, dazu auch
in dem glühenden Schutthaufen, als den
wir Dresden verlassen hatten, denn unter
dem Eindruck dieser Vernichtung hielten
wir das Kriegsende für unmittelbar bevorstehend.“
81
Während die einen auf den Einmarsch der
„Russen“ warteten und das Ende der „Hitlerei“
herbeisehnten – „Durch unsere Agnes gehörten
wir zum Dorf, und die Haltung des
Dorfes war eine ganz einheitliche: alles wartete
auf das sichere Ende der Hitlerei, alles
wartete auf die Russen“ 82 –, blieben andere
ihren rassistischen und antisemitischen Vorstellungen
verhaftet: „Mein Optimismus erhielt
den ersten Stoß, ja schlug ins Gegenteil
um, als der Ortsvorsteher […] mich fragte, ob
ich mit irgendwelchen Nichtariern verwandt
sei.“ 83
Während der Flucht waren die entwurzelten
Männer, Frauen und Kinder auf die Mitmenschlichkeit
anderer angewiesen. Nicht
immer gelang es, bei Menschen unterzukommen,
die das wenige, was sie hatten,
teilten. In dieser Zwischenzeit bestimmten
Eigeninitiative und Nachbarschaftshilfe das
80 Bericht von Günter B., 2004, S. 2. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
81 Klemperer, Victor: LTI, 1975, S. 319 f.
82 Klemperer, Victor, LTI, 1975, S. 324.
83 Klemperer, Victor: LTI, 1975, S. 320.
45
Leben. Viele Berichte zeugen von menschlicher
Solidarität und gegenseitiger Hilfe: Das
wenige wurde geteilt, wie es die Klemperers
in Piskowitz erfuhren, als sie am dörflichen
Schlachten der Tiere beteiligt wurden und
ihren Anteil erhielten:
„Wir hatten wie die andern im Dorf auch,
Schweineschlachten; denn wenn man auch
sonst keine Furcht vor den Russen hegte,
so wollte man das gerade fällige Schwein
doch lieber selbst aufessen als es den Befreiern
überlassen […] Ich machte das
Schlachtfest in sehr deprimierter und, sosehr
ich mich deshalb auch verlachte, in
einigermaßen abergläubischer Stimmung
mit. Das Schwein hatte schon eine Woche
vorher geschlachtet werden sollen; damals
standen die Alliierten 20 Kilometer vor
Köln, die Russen waren im Begriff, Breslau
zu nehmen. Der mit Aufträgen überhäufte
Schlachter hatte absagen müssen,
und das Schwein war am Leben geblieben.
Ich hatte mir ein Omen daran genommen;
[…] wenn das Schwein Köln und Breslau
überlebt, dann erlebst du das Ende des
Krieges und deiner Schlächter.“ 84
In vielen Berichten wird deutlich, dass die
Flucht aus vielen Etappen bestand, die oftmals
erst nach Kriegsende beendet waren.
Denn auch wenn es gelungen war, für kurze
Zeit einen Unterschlupf zu finden, zwang
die näher rückende Front die Menschen,
immer weiter nach Westen zu fliehen:
„Die nächsten zwölf Fluchttage waren
übervoll von Strapazen, von Hunger, von
Schlaf auf nacktem Steinboden einer Bahn-
hofshalle, von Bomben auf den fahrenden
Zug, auf den Wartesaal, in dem es endlich
ein Essen geben sollte, von nächtlichem
Wandern die zerstörte Bahnstrecke entlang,
vom Waten in Bächen neben zerschmetterten
Brücken, vom Kauern in
Bunkern, von Schwitzen, von Frieren und
Zittern in durchnäßtem Fußzeug, von
Schußgarbengeknatter der Tiefflieger –
aber schlimmer als alles das und unbarmherzig
quälte die Angst vor Kontrolle,
vor Verhaftung. […] ‚Laß uns nicht in
die Hand unserer Feinde fallen, sie sind
hundertmal grausamer als jeder Tod.‘“ 85
Trotz alledem dominiert in vielen Zeitzeugenerinnerungen
nicht der Hass, sondern ein
resignierter Pragmatismus. Immer wieder
wird betont, dass man trotz aller schlimmen
Erfahrungen auch Glück gehabt habe, denn
man habe überlebt. Der Neuanfang in der
Fremde, in Niedersachsen, Hessen, Bayern
oder in der sowjetischen Besatzungszone,
war selten freiwillig, oft mit Ablehnung durch
die Einheimischen verbunden, und doch
wurde er zur Grundlage neuer Lebensläufe.
Die Neuankömmlinge wurden „Flüchtlinge“
genannt, später „Vertriebene“ und in der DDR
„Umsiedler“. Alle Begriffe standen für soziale
Marginalisierung, für Wohnungsnot, für
Nachrang auf den Lebensmittelkarten – aber
auch für organisatorischen Ehrgeiz, politische
Mobilisierung, kulturelle Selbstvergewisserung.
Die Heimatvertriebenenverbände wurden
in der frühen Bundesrepublik zu einer
Stimme, die nicht nur das erlittene Unrecht
benannte, sondern es politisch zu artikulieren
suchte – als Teil eines konservativen Gedächt-
84 Klemperer, Victor: LTI, 1975, S. 326 f.
85 Klemperer, Victor: LTI, 1975, S. 327 f.
46
Gedenkstätte Seelower Höhen
Schlacht Seelower Höhen
Vom 16.–19 April 1945 fand die Schlacht um die „Seelower Höhen“ statt. Diese Schlacht
gilt als der Beginn des Sturms auf die Reichshauptstadt Berlin. Ewa eine Million sowjetische
Soldaten und 190.000 Wehrmachtssoldaten standen sich hier gegenüber. Unter den
Deutschen befanden sich auch viele Jugendliche, die als „letztes Aufgebot“ noch in den
letzten Kriegstagen und -wochen in den „Volkssturm“ eingezogen worden waren. Nur
unzureichend vorbereitet und ausgerüstet, wurden sie in den letzten Kriegstagen einem
sinnlosen Tod ausgeliefert. Am 18. April gelang den sowjetischen Truppen der Durchbruch.
Damit war der Weg nach Berlin offen.
nisprojekts, das lange jede Verbindung zur
NS-Vergangenheit mied. In der DDR konnten
sich die Vertriebenen nicht organisieren. Sie
galten als revanchistisch. Zudem wurden ihre
Erfahrungen während Flucht und Vertreibung
geleugnet.
Auf individueller Ebene blieb der Verlust oft
ein lebenslanges Trauma. Viele hofften noch
Jahre und Jahrzehnte später, zurückkehren
zu können. Fotos wurden aufgehoben, Adressen
aufgeschrieben, Schlüssel verwahrt. Die
Heimat war nicht nur ein geografischer Ort,
sondern ein Symbol für das Verlorene – das
sichere Leben, das Haus, die Sprache, das Vertraute.
Marion Gräfin Dönhoff hat diesen Erfahrungen
in ihrem Buch „Namen, die keiner
mehr nennt“ 86 einen wehmütigen Ausdruck
verliehen, der die Verlusterfahrung für ein
westdeutsches Publikum greifbar machte.
86 Dönhoff, Marion Gräfin: Namen, die keiner mehr nennt. U. a. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2009.
47
6. Alltag im Chaos
„Ja, der Krieg war aus, aber der Kampf ums Überleben war damit nicht vorbei.“ 87
Der Krieg hatte auch in dem Land, von dem er begonnen wurde, unerbittlich gewütet: Deutschland
glich zu Kriegsende einer Trümmerwüste. Hunderttausende hatten in den Bombennächten
ihre Familien, ihre Wohnungen, Hab und Gut verloren. Tausende galten als vermisst. Die
Hauptstadt Berlin wurde von Bertolt Brecht „der große Trümmerhaufen neben Potsdam“ genannt.
In den kriegszerstörten Städten war nicht mehr von den „eigenen vier Wänden“ die Rede. Viele
Menschen waren froh, die Bombardierungen überhaupt überlebt und noch ein Dach über dem
Kopf zu haben. Sie lebten in Massenunterkünften und Lagern, die in allen verfügbaren Räumlichkeiten
eingerichtet wurden: ehemaligen Zwangsarbeiterlagern, Kasernen, Schulen, Gasthäusern,
Hotels, Sporthallen – jeder verfügbare Quadratmeter Raum wurde mit obdachlosen
Menschen belegt.
Das Kriegsende bedeutete für die meisten
Deutschen nicht sofortige Erleichterung, sondern
den Eintritt in einen neuen Ausnahmezustand.
Viele hatten zwar ihr nacktes Leben
gerettet, sonst aber alles verloren. Die Städte
lagen in Trümmern, Verkehrswege waren zer
Wie schon zu Kriegszeiten waren es vor allem Frauen, die nach Kriegsende die Trümmer beseitigten,
sich um die Kinder und Älteren kümmerten und das Leben wieder in Gang brachten.
87 Bericht von Hans O., ohne Datum, S. 4. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
48
stört, die Verwaltung, Ordnungsstrukturen
nicht handlungsfähig. Die Stromversorgung
war zusammengebrochen. Die Gasversorgung
war wegen der drohenden Explosionsgefahr
abgestellt:
„Als vorgestern das Licht wiederkam, hieß
es noch, verdunkelt müsse weiter werden.
Das wurde gestern widerrufen, und gestern,
am 12. Mai 1945 also, sahen wir das erste
Mal seit dem 1. September 39, seit bald
sechs Jahren, beleuchtete Fenster. Nur
wenige Fenster im Dorf, und doch sah der
Ort gleich ganz anders aus. Es war ein
großer Eindruck.“ 88
In den ersten Monaten nach Kriegsende lebte
man im Provisorium – zwischen Not und
Hoffnung, zwischen Improvisation und Er-
schöpfung. Nahezu sämtliche öffentliche
Transportmittel wie Bus, Bahn oder Straßenbahn
verkehrten nicht mehr. Für die wenigen
in Privatbesitz befindlichen Autos gab es kein
Benzin. Zudem waren viele Straßen durch
Bombentrichter oder herumliegende Trümmer
unpassierbar und mussten erst geräumt
werden. Hinzu kam eine grassierende Kriminalität.
89 Seuchen und Epidemien breiteten
sich unter der von Hunger und Krieg geschwächten
Bevölkerung aus. Längst verschwunden
geglaubte Krankheiten wie Skorbut,
Tuberkulose, Typhus und Ruhr begannen
zu grassieren. In vielen Städten gab es kaum
funktionierende medizinische Versorgung.
Medikamente waren rar, Ärzte überlastet,
Krankenhäuser zerstört. Die psychischen
Folgen von Gewalt und Krieg blieben unerkannt,
wurden verdrängt und verschwiegen.
Für die Versorgung der hungernden Bevölkerung sorgten die Besatzungsmächte. Im Bild sowjetische
Soldaten bei der Suppenausgabe an Zivilisten in Berlin.
88 Klemperer, Victor: Tagebücher 1945. 1995 (1999), Eintrag vom 13. Mai 1945, S. 143.
89 Geyer, Martin H.: Die Nachkriegszeit als Gewaltzeit. Ausnahmezustände nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Siehe https://
www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/303647/die-nachkriegszeit-als-gewaltzeit/
49
Dazu kam der allgegenwärtige Hunger. Viele
Menschen lebten von dem, was sie in den
Ruinen fanden oder auf dem Schwarzmarkt
tauschen konnten. Der Tauschhandel ersetzte
die Währung. Und ob man etwas zum Tauschen
hatte, hing oft genug von der Besatzungszone
ab, in der die Menschen lebten:
Zigaretten gegen Mehl, Seife gegen Kartoffeln.
„Um all das kümmerten sich die Frauen,
die selbst fast am Verhungern waren. Die
Männer waren tot oder in Kriegsgefangenschaft
oder kriegsversehrt.“ 90
Frauen stellten zu Kriegsende in ganz
Deutschland die Bevölkerungsmehrheit:
36 Millionen Frauen und nur 29 Millionen
Männer. Im Durchschnitt kamen damit 125
Frauen auf 100 Männer, noch schlimmer
sah es unter jungen Leuten aus, wo 160
Frauen auf 100 Männer kamen. 91
„Kann ich mir einen Mann leisten?“ fragte
das Hamburger Echo seine Leserinnen
1948. 92
Frauen hatten bereits während des Krieges
die Hauptlast getragen: Sie hatten die im Krieg
kämpfenden und abwesenden Männer ersetzt,
hielten die Wirtschaft aufrecht und kümmerten
sich um die Kinder und den Zusammenhalt
der Familien. An dieser Situation änderte
sich auch am Kriegsende nichts. Besonders
auf den Frauen lastete weiterhin die Sorge für
das Überleben der Familien. Dies geschah
oftmals nicht aus freier Entscheidung, sondern
weil sonst niemand da war, der sich
hätte kümmern können. Die Männer waren
gefallen, in Gefangenschaft oder galten als
vermisst. Wer den Krieg und die Gefangenschaft
überlebte, kehrte oft nach langen Jahren
der Abwesenheit in ein zerstörtes Land
zurück. Viele Männer waren an Körper und
Geist beschädigt und fühlten sich vom Alltag
überfordert. Und so waren es die Frauen, an
denen nicht nur der Aufbau des Landes und
die Beseitigung der Trümmer hing. Sie standen
stundenlang für Lebensmittel an, nähten
aus Uniformstoffen Kinderkleider, organisierten
Kohlen, flickten Schuhe:
„Herta Bechtloff musste unter den schwierigen
Bedingungen der Besatzung, ständiger
Kontrollen, Plünderungen und Hausdurchsuchungen
ihre vier Kinder ernähren,
beschäftigen und mit Spiel und Aufgaben
in den Tagesablauf einbeziehen. Sie und
andere Mütter in ähnlicher Lage haben in
dieser Zeit Unglaubliches an Geduld, Kraft,
Mut und Wille zum Überleben aufgebracht.“
93
In vielen Haushalten lebten Vertriebene,
Kriegswitwen, Waisen, Rückkehrer unter einem
Dach. Familienstrukturen lösten sich
auf oder wurden neu gebildet. Kinder wuchsen
in instabilen Verhältnissen auf, viele mit
90 Bericht Familie Grundmann aus Malsen, Landkreis Breslau, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler,
Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse.
http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 19.
91 Zeitklicks: Viele Frauen und wenige Männer. https://www.zeitklicks.de/bundesrepublik-i/alltag/nach-dem-krieg/viele-frauenwenige-maenner#:~:text=Nach%20dem%20Kriegsende%20lebten%20in%20ganz%20Deutschland%2036%2C6,Hier%20
kamen%20auf%20160%20Frauen%20nur%20100%20M%C3%A4nner.
92 Hamburger Echo, 28.08.1948, in: Ramelsberger, Annette: Als der Mann zur Last wurde, Süddeutsche Zeitung, 07.05.2015. Siehe
auch Kaminsky, Annette: Heimkehr 1948. C.H.Beck Verlag, München 1998.
93 Bericht von Helmut B., 2004, S. 9. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
50
einer Mutter, aber ohne Vater. Ein wiederkehrendes
Motiv in den Erzählungen der damals
Erwachsenen ist die große Unsicherheit.
Niemand wusste genau, was der Morgen
bringen würde. Viele hatten jedoch den
unbedingten Willen, die schweren Zeiten zu
überstehen und nicht zu jammern. Der harte
Alltag und der Überlebenskampf machten
auch die Menschen hart.
Premierminister Winston Churchill feiert am
8. Mai 1945 mit der Londoner Bevölkerung das
Ende des Krieges.
„Dies ist nicht der Sieg einer Partei
oder einer Klasse…“
„Meine lieben Freunde, dies ist eure Stunde.
Dies ist nicht der Sieg einer Partei oder einer
Klasse. Es ist ein Sieg der großen britischen
Nation als Ganzes. (...) Ich freue
mich, dass wir alle heute eine Nacht frei
nehmen können und morgen einen weiteren
Tag. Morgen werden auch unsere großen
russischen Verbündeten den Sieg feiern,
und danach müssen wir mit der Aufgabe
beginnen, unsere Gesundheit und unsere
Häuser wieder aufzubauen und unser Möglichstes
zu tun, um dieses Land zu einem
Land zu machen, in dem alle eine Chance
haben, in dem alle eine Pflicht haben. Wir
müssen uns der Erfüllung unserer Pflicht
gegenüber unseren eigenen Landsleuten
und gegenüber unseren tapferen Verbündeten
in den Vereinigten Staaten zuwenden,
die von Japan so bösartig und heimtückisch
angegriffen wurden. Wir werden Hand in
Hand mit ihnen gehen. Auch wenn es ein
harter Kampf ist, werden wir nicht diejenigen
sein, die daran scheitern.“ 94
„General Eisenhower teilt mir mit, dass
die deutschen Streitkräfte vor den Vereinten
Nationen kapituliert haben. In ganz
Europa wehen die Fahnen der Freiheit.
(...). Es bleibt noch viel zu tun. Der im
Westen errungene Sieg muss nun auch im
Osten errungen werden. Die ganze Welt
muss von dem Bösen gereinigt werden, von
dem die Hälfte der Welt befreit worden ist.
Vereint haben die den Frieden liebenden
Nationen im Westen bewiesen, dass ihre
Waffen bei weitem stärker sind als die
Macht der Diktatoren oder die Tyrannei
der Militärcliquen, die uns einst weich
und schwach nannten. 95
94 Rede des britischen Premierministers Winston Churchill zum „Victory Day in Europe“ am 08.05.1945 in London (eigene Übersetzung).
The Churchill Project (Hg.). https://winstonchurchill.hillsdale.edu/victory-in-europe/.
95 Ansprache des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman anlässlich des „Victory in Europe“ am 08.05.1945 (eigene Übersetzung).
America’s National Churchill Museum. https://www.bing.com/videos/riverview/relatedvideo?q=victory+day+rede+truman&mid=94A80376B6D2A34CD77194A80376B6D2A34CD771&FORM=VIRE.
51
Im weitgehend zerstörten Berlin war ein
Wiederaufbau zunächst nur schwer umsetzbar.
Überall lagen Trümmer.
„Genossen! Mitbürger und Mitbürgerinnen!
Der große Tag des Sieges über Deutschland
ist gekommen. Von der Roten Armee und
den Truppen unserer Verbündeten auf die
Knie gezwungen, hat sich das faschistische
Deutschland für besiegt erklärt und bedingungslos
kapituliert. (…) Jetzt haben wir
vollen Grund zu erklären, dass der historische
Tag der endgültigen Niederwerfung
Deutschlands, der Tag des großen Sieges
unseres Volkes über den deutschen Imperialismus
gekommen ist. Die großen Opfer,
die wir für die Freiheit und Unabhängigkeit
unseres Heimatlandes gebracht haben, die
unermesslichen Entbehrungen und Leiden,
die unser Volk während des Krieges zu erdulden
hatte, die auf dem Altar des Vaterlandes
dargebrachte angespannte Arbeit im
Hinterland und an der Front sind nicht
Sowjetische Soldaten im zerstörten Berlin.
vergeblich gewesen, sondern durch den vollen
Sieg über den Feind gekrönt worden.
Der jahrhundertelange Kampf der slawischen
Völker um ihre Existenz und Unabhängigkeit
hat mit dem Sieg über die deutschen
Okkupanten und die deutsche Tyrannei
geendet. Von nun an wird das große
Banner der Völkerfreiheit und des Völkerfriedens
über Europa wehen. (…) Die
Periode des Krieges in Europa ist zu Ende.
Die Periode der friedlichen Entwicklung
hat begonnen. Ich beglückwünsche euch
zum Siege, meine lieben Mitbürger und
Mitbürgerinnen! Ruhm und Ehre unserer
heldenhaften Roten Armee, die die Unabhängigkeit
unserer Heimat behauptete und
den Sieg über den Feind errungen hat!
Ruhm und Ehre unserem großen Volke,
dem Siegervolk! Ewiger Ruhm den in den
52
Kämpfen gegen den Feind gefallenen Helden,
die ihr Leben hingaben für die Freiheit
und das Glück unseres Volkes!“ 96
Den Siegermächten ging es vor allem um
zwei Punkte: Einerseits sollte Deutschland
entnazifiziert und entmilitarisiert werden.
Nie wieder sollte Deutschland in der Lage
sein, seine Nachbarn zu überfallen. Andererseits
sollte so schnell wie möglich das tägliche
Leben normalisiert werden. Die Ordnung
kehrte nicht mit der Kapitulation zurück,
sondern mit der Wiederherstellung von Regeln.
Die Alliierten versuchten, Verwaltung,
Polizei und Infrastruktur zu reaktivieren.
Doch der Wiederaufbau kam angesichts der
immensen Zerstörungen nur langsam voran.
Das große Hungern
Die Menschen interessierte vor allem eine
Frage: Woher konnten sie etwas zu essen bekommen?
Immer mehr Nahrungsmittel und
lebenswichtige Güter wie Kohlen und Brennstoffe
waren seit 1941 rationiert und per „Kartenbewirtschaftung“
an die Bevölkerung verteilt
worden. Das große Hungern begann jedoch
erst mit Kriegsende. Lebensmittel waren
nur auf dem „Schwarzmarkt“ oder über
„Lebensmittelkarten“ erhältlich, die zum
wichtigsten Dokument der Nachkriegszeit
wurden – ihr Verlust kam einer Katastrophe
gleich. Verteilt wurden die Karten über sog.
Hausbeauftragte, die auch Meldekarte und
Arbeitsbescheinigung, die die Voraussetzung
für den Erhalt einer Lebensmittelkarte
waren, regelmäßig kontrollierten. Zur ohnehin
schwierigen Situation kam hinzu, dass
der Winter 1946 auf 1947 besonders hart
Brotausgabe an die Berliner Bevölkerung.
war. Ihm folgte ein Dürresommer, der die erhoffte
Ernte zunichte machte und die Versorgung
der Bevölkerung zusätzlich erschwerte.
Die Karten waren in Lebensmittel-, Kleiderund
Brennstoffabschnitte unterteilt. Über
Ankündigungen im Rundfunk und durch
Anschläge an Litfaßsäulen und in Zeitungen
erfuhren die Menschen, welche Kartenabschnitte
aufgerufen waren, auf die in den
Läden die Waren ausgegeben wurden. Wer
zu spät kam, stand oft vor leeren Regalen
und musste ohne die für das Überleben so
wichtige Ration nach Hause gehen. Denn
auch die Bewirtschaftung der Lebensmittel
bedeutete nicht, dass alle die ihnen auf
die Karten zustehenden Nahrungsmittel
96 Ansprache von Josef Stalin an das sowjetische Volk am 9. Mai 1945, in: Stalin, J.W.: Über den großen Vaterländischen Krieg der
Sowjetunion, 3. Auflage Moskau 1946.
53
erhielten. Diese konnten nur ausgegeben
werden, wenn sie ihren Weg in die Städte gefunden
hatten. Das gestaltete sich durch die
zerstörten Transportwege sowie den Mangel
an LKW und Benzin schwierig. Im Osten
erschwerte die von den Sowjets betriebene
Demontage des zweiten Schienengleises und
vieler Industrieanlagen den Aufbau zusätzlich.
Auch kümmerten sich die Landregionen,
die zur Versorgung der Städte eingeteilt
waren, zuerst um die Versorgung der eigenen
Bevölkerung und kamen ihren Ablieferungspflichten
nur zögernd nach. Der Verlust der
Gebiete im Osten, aus denen vormals ein
Großteil der Getreide- und Kartoffellieferungen
gekommen war, verschärfte die Lage
weiter:
„Der Winter stand vor der Tür und wir
hatten weder etwas zum Heizen noch zum
Essen. Oft gingen wir hungrig zu Dritt in
unser einziges Bett. Die Rationen auf die
Lebensmittelmarken waren sehr klein.
In der großen Not habe ich den wenigen
Zucker gegen Mehl eingetauscht (erst im
Frühjahr wurde es besser) da haben wir
mit Brennnesseln, Rüben und einigen Kartoffeln
den Hunger gestillt.“ 97
Alles irgendwie Genieß- und Verwertbare
wurde zum Nahrungsmittel. Die Zeitungen
waren voller Empfehlungen, wie das Wenige
geschickt gestreckt werden konnte. Alle wurden
zu Überlebenskünstlern. Auf Fensterbänken,
in öffentlichen Parks, auf den Hausdächern,
auf allen verfügbaren Flächen bauten
die Menschen Gemüse an. Neue Rezepte
entstanden. Aus Kartoffelschalen wurde Kuchen
gebacken. Sauerampfer, Löwenzahn
und Brennnesseln gaben Salate ab. Rübenblätter
dienten als Spinatersatz. In den Zeitungen
wurden Kochrezepte für Mehlsuppen
aus Erbsen, Grünkern oder Mais abgedruckt,
man empfahl Vogelmiere und Geißfußblätter
als Gemüse und warb für Torten aus Eicheln
und Kaffeesatz:
„Irgendwie musste das Leben weiter gehen.
Jeder Apfel am Straßenrand wurde aufgehoben,
auf den Feldern Ähren gelesen,
Pilze gesammelt, aus Brennesseln Salat
gemacht Maiblumen ebenfalls hergerichtet.
Aus Rüben wurde Sirup gekocht.
Jeder versuchte am Leben zu bleiben.“ 98
Wie tiefgreifend diese Erfahrungen waren,
zeigte sich noch Jahrzehnte später: Viele derjenigen,
die das große Hungern erlebt hatten,
konnten kein Essen wegwerfen.
Nicht nur beim Essen war Improvisation angesagt.
Zum Waschen wurden Kastanien verwendet.
Aus Wehrmachtsuniformen wurden
Mäntel geschneidert und diese mit Efeublättern,
Kartoffelschalen, Sauerampfer, roten Rüben
oder Ochsengalle gefärbt. Schuhe wurden
aus Autoreifen hergestellt. Wehrmachtsgeschirr
lieferte die Materialien für Haushaltsgegenstände
wie Eimer, Kochtöpfe und Siebe.
Wer noch etwas zum Tauschen hatte, brachte
seine wenigen Habseligkeiten auf den Schwarzmarkt,
um hier zusätzliche Nahrungsmittel,
Garn, Strümpfe oder Kohlen einzutauschen.
Wer das Glück hatte, während der Bombardements
aufs Land evakuiert worden zu sein,
konnte jetzt seine Kontakte dorthin nutzen,
um an Lebensmittel zu kommen. An freien
97 Bericht von Ida U., 1996, S. 25. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
98 Bericht von Lenchen S., 2005, S. 4. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
54
Tagen fuhren viele Städter zum „Hamstern“
aufs Land. Noch brauchbare Bekleidung,
Möbel, Geschirr, Schmuck, Bücher – alles
wurde für Lebensmittel getauscht. Frauen
und Kinder „stoppelten“ im Herbst auf den
abgeernteten Feldern, sobald diese freigegeben
waren:
„Jetzt ging es ums Überleben – um einen
Neubeginn. Wir Kinder spielten in den
Trümmern Potsdams weiter Krieg – diesmal
Amis gegen Russen. Wer auch immer
von den Jungs auf diese Idee gekommen
war, vom ‚Kalten Krieg‘ konnte er wohl
1945/46 noch nichts geahnt haben. Die
Russen gaben uns Brot, fragten wo unsere
älteren Schwestern sind und kauften uns
für 5 Mark Alliierten-Geld große Flaschen
ab, um darin Wodka abzufüllen. Wenn die
Flaschen leer waren, landeten sie in der
Havel und für uns begann das Geschäft
von vorne. Die elegant gekleideten Ami-
Soldaten – die amerikanische Militärmission
war in Potsdam – erfragten die Tanzlokale
der Stadt und spendierten dafür Kaugummis
oder Camel-Zigaretten, die wir auf
dem Schwarzmarkt weiter verschacherten.
Unsere Eltern kümmerten sich um das
Heranschaffen von Nahrungsmitteln. Sie
legten einen Garten an, fütterten im Keller
Kaninchen, fuhren mit Porzellan, Besteck
und Wäsche mit den überfüllten Hamsterzügen
über Land und orientierten sich beruflich
und politisch neu. Unsere Mutter –
sie hatte in Berlin die höhere Handelsschule
besucht – ging als Schreibraft zur
Brandenburgischen Landesregierung – –
in der DDR-Zeit Rat des Bezirkes – und
entwickelte sich dort bis zur Sekretärin.
Sie trat der neugegründeten sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands bei, in der
Hoffnung auf ein friedliches und demokratisches
Deutschland.“ 99
Die Versorgungssätze legte jede Besatzungsmacht
für ihre Zone fest. 100 Die SMAD (Sowjetische
Militäradministration) tat dies für
ihre Zone, die SBZ (Sowjetische Besatzungszone).
Unmittelbar nach der Kapitulation 1945
standen den Menschen jeden Tag zwei Scheiben
Brot, eine dünne Haferflockensuppe und –
wenn vorhanden – auch ein paar Kartoffeln
zu. Im Laufe der nächsten Monate erhöhten
sich die Rationen. Diejenigen, die das Glück
hatten, nach Karte I versorgt zu werden,
erhielten im November 1945 beispielsweise
450 g Brot, 50 g Fleisch, 31 g Fett, 40 g Nährmittel
und 25 g Zucker. Die „Sonstigen“-Gruppe
musste mit lediglich 250 g Brot, 23 g
Fleisch, 7 g Fett, 15 g Nährmittel und 15 g
Zucker auskommen. Im Winter 1945 konnte
ein Mensch seiner Kartenration zufolge
durchschnittlich 750 bis 1.200 Kilokalorien
pro Tag zu sich nehmen. Das war zum Sterben
zu viel und zum Leben zu wenig. ‚Otto
Normalverbraucher‘, von Gert Fröbe im gleichnamigen
Film von 1948 dargestellt, brachte in
der Regel noch 45 Kilogramm auf die Waage:
„Einmal wurden wir beim Weißkohlklau
von Russen erwischt, die uns in ihre Behausung
mitnahmen. Angst-schlotternd
mußten wir bei ihnen zunächst unseren
Sack mit Kohl ausschütten, eine Unmenge
Kartoffeln schälen, dann unsere beim
Raub benutzten Messer abgeben. Nach
99 Bericht von Helmut B., 2003, S. 01f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
100 Gries, Rainer: Die Rationengesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität: Leipzig, München und Köln nach dem
Kriege. Verlag Westfälisches Dampfboot, 1991.
55
getanem Schälwerk durften wir unsere
Säcke wieder mit Kohlköpfen füllen und
wurden nach Hause gejagt. Im Herbst von
den Malchower Apfelalleen Äpfel stibitzen
war auch nicht ohne Risiko. Denn so in
unmittelbarer Stadtnähe waren das sehr
begehrte Pfründe, die von den Eigentümern
stark bewacht wurden. Weit verbreitet und
überlebenswichtig waren in den ersten
Nachkriegsjahren die so genannten
‚Hamsterfahrten‘ zum Bauern aufs Land,
um Lebensmittel gegen entbehrliche oder
manchmal auch gar nicht so entbehrliche,
jedoch nichtessbare andere Haushalts- oder
Wertgegenstände einzutauschen. Die Zahl
der Hamsterfahrer war groß und der
‚Markt‘ in der näheren Umgebung der
Stadt bald abgegrast, so daß immer weitere
Reisen in Kauf genommen werden mußten.
Reichte anfangs eine Fahrt von Spandau
über Brieselang und Finkenkrug oder
weiter ausgedehnt bis Neustadt an der
Dosse aus, so mußte man schon bald bis
hinter Magdeburg fahren, um beim Bauern
einen Sack Kartoffeln, im günstigsten Fall
vielleicht sogar ein Stückchen Speck zu
ergattern.“ 101
Die Verteilung der knappen Lebensmittel
erfolgte in der SBZ zunächst nach dem von
den Nationalsozialisten eingeführten System.
Ab 1. November 1945 setzte die sowjetische
Besatzungsmacht ein neues Verteilungssystem
in Kraft. Dieses sah eine Versorgung
nach dem Wohnort und dem sozialen Status
vor. Das hieß, Bewohner von Großstädten
wurden besser versorgt als Einwohner kleiner
Orte oder Landbewohner, von denen
man annahm, dass sie sich durch eigene
Höfe und Gärten teilweise selbst versorgen
konnten.
Die Karten waren in fünf Kategorien unterteilt.
Die begehrteste, weil am besten versorgte
Kategorie war die I, die Schwerstarbeitern
und Funktionären vorbehalten war. In die
Kategorie II wurden Schwerarbeiter, in die
III Arbeiter und in die IV Angestellte eingestuft.
Kinder und die „sonstige Bevölkerung“,
zu der Rentner, Schwerbehinderte, nichterwerbs
tätige oder – erwerbsfähige Personen
sowie Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen
zählten, erhielten die Karten
der Gruppe V. In manchen Orten wurden die
Karten der Gruppe I und II zusammengelegt.
Erst 1947 wurde die „Sonstigen“-Karte, die
die Bevölkerung als „Friedhofskarte“ bezeichnete,
in der gesamten SBZ abgeschafft.
Im Sommer 1946 erfolgte eine erste Anhebung
der Rationen, die jedoch zum Jahresende
wieder rückgängig gemacht werden musste.
Der harte erste Nachkriegswinter und die
Dürre des folgenden Sommers hatten zu katastrophalen
Verlusten bei der Ernte geführt.
Die Bodenreform, durch die ab Herbst 1945
leistungsfähige Großgrundbesitzbetriebe in
eine Vielzahl kleiner Parzellen für „Neubauern“
aufgeteilt worden waren, wirkte sich zusätzlich
nachteilig auf die Versorgungssituation
aus. Den Neubauern, die zum großen Teil
aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten
vertrieben waren, fehlte es oftmals an landwirtschaftlichen
Kenntnissen. Aber auch
Saatgut und Maschinen waren rar, so dass
die Hektarerträge dramatisch sanken. Oft
reichte die Ernte nur für die Eigenversorgung
der Neubauern und ihrer Familien.
101 Bericht von Hans O., ohne Datum, S. 8. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
56
Erst im Februar 1947 konnten die „Hungerrationen“
endgültig angehoben werden und
erreichten nun laut amtlichen Angaben zwischen
1.500 und 2.200 Kilokalorien täglich.
Allerdings kamen die auf den Karten ausgewiesenen
Rationen noch immer nicht regelmäßig
beim Verbraucher an. So streckten die
Bäcker das Mehl mit Wasser, um auf das geforderte
Brotgewicht zu kommen. Die auf den
Karten angegebenen Mengen Fett, Fleisch
oder Käse wurden nur teilweise oder gar nicht
„aufgerufen“.
Bis 1948 unterschied sich die Lebenssituation
in den vier Besatzungszonen kaum. Überall
herrschten Mangel, Hunger und Not.
‚Leib- und Magenfragen‘ bestimmten den
Alltag. Dennoch hatte sich unter der Bevölkerung
schnell die Gewissheit verbreitet, dass
es sich in den westlichen Besatzungszonen
besser lebte. Amerikanische CARE-Pakete
verbreiteten in den Haushalten der westlichen
Besatzungszonen und der Westsektoren
Berlins schmerzhaft entbehrte und seit Jahren
aus den Läden verschwundene Waren ‚Made
in USA‘. Deren Qualität war besser als die der
Waren, die die deutsche Bevölkerung seit den
Tagen der Kriegsbewirtschaftung und Rationierung
in der Regel zu kaufen bekam. Während
amerikanische Soldaten Schokolade,
Zigaretten, Kaffee, Kaugummis und Strümpfe
verteilten – allesamt Waren, die auf dem
Schwarzen Markt einen hohen Tauschwert
hatten –, konnten die Russen lediglich Brot
oder Suppe fürs tägliche Überleben ausgeben.
Mit der Übernahme des sowjetischen Zuteilungssystems
wurde auch in der SBZ ein
System der Sonderzuteilungen, die Pajoks,
auch ,Stalinpakete‘ genannt, eingeführt.
Allerdings waren die Gaben vor allem Funktionären
und Angehörige der Intelligenz
sowie umworbenen Künstlern vorbehalten.
In diesen Pajoks steckten in der Regel
Grundnahrungsmittel:
„Es ging damals eigentlich alles ums Essen,
ganz primitiv. Und ums Rauchen und
um den Kaffee. Weil ich an zwei Theatern
im sogenannten russischen Sektor, so hieß
das ja damals, war, bekam ich ein Pajok.
Das war ein Care-Paket, nur in anderer
Form. Es war irrsinnig groß, ich konnte
das ganze Haus damit mitfüttern, und es
waren natürlich robustere Sachen drin als
in einem Care-Paket. Da war viel Schmalz
und Zucker und Mehl und all solche Sachen,
das war toll, da konnte man tauschen,
und das tat man dann auch...“, erinnerte
sich die Schauspielerin Brigitte Mira. 102
„Das Chaos der ersten Tage wurde weidlich
genutzt, um Lebensmittellager der Wehrmacht
zu plündern. Am Wasserturm in
der Rykestraße war so eins, aus dem ganze
Käse durch die Straßen gerollt oder Säcke
mit Mehl und Teigwaren geschleppt wurden.
Als wir uns der Aufsicht unserer
Mutter entziehen und zu dem begehrten
Ort vordringen konnten, kamen wir allerdings
schon zu spät: ein Kochgeschirr voller
Kommißstiefelnägel war meine ganze Ausbeute.
Die waren zwar nicht eßbar, erwiesen
sich aber als passables Spielzeug.“ 103
102 Erinnerungsbericht von Brigitte Mira, in: „Man trifft sich“ – ein deutsch-deutsches Familientreffen. Programm des Kabarett
Die Distel 1999, S. 35.
103 Bericht von Hans O., ohne Datum, S. 4. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
57
„Wir standen auf einen Schlag völlig ohne
Geld da! Kein Geldbriefträger brachte mehr
die monatliche Geldanweisung vom Gehalt
unseres verschollenen Vaters. Bargeld
war üblicherweise nicht in größerer Menge
im Haus und die Ersparnisse auf dem
Sparkassenbuch waren mit einem der ersten
Befehle der Besatzungsmacht ‚eingefroren‘.
Nun gab es zwar ohnehin kaum
noch etwas in den Läden zu kaufen. Die
wenigen Produkte auf den Lebensmittelkarten
waren billig. Aber alleine schon die
Miete war auf einmal nicht mehr bezahlbar!“
104
„Anträge beim Sozialamt um Unterstützung
blieben zunächst ohne Erfolg, wurden
abschlägig beschieden, weil unser Vater
‚PG‘ gewesen war, Mitglied in der NSDAP,
der Nazipartei. Diese Mitgliedschaft klebte
lange Zeit noch als Makel an uns, war
vielleicht auch einer der Beweggründe
unserer Mutter dafür, daß sie 1946 in die
SED eintrat. Inwieweit sie es auch aus der
Überzeugung heraus tat, daß sie damit
Lehren aus der faschistischen Vergangenheit
und dem verlorenen Krieg gezogen
hatte, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit
feststellen. So oder so wollte sie damit für
uns, ihre Kinder, das Beste erreichen. Mit
uns vier Kindern eine Arbeit zu finden,
wo sie nichts anderes als Hauswirtschaft
gelernt hatte, war für unsere Mutter schwer.
Sie begann als ‚Trümmerfrau‘, wie die
vielen Frauen genannt wurden, die egal
ob dazu durch Befehl oder die finanzielle
Misere gezwungen mit dem Freiräumen
der Straßen von Trümmern und dem
Abtragen von Hausruinen schon gleich
nach den ersten Tagen nach Kriegsende
begannen.“ 105
Und doch gibt es in den Berichten aus jener
Zeit auch Momente der Leichtigkeit. Ein erstes
Tanzvergnügen im Keller, ein gefundenes
Buch auf dem Schwarzmarkt. Es sind diese
kleinen Episoden, die zeigen, dass selbst im
größten Chaos das Bedürfnis nach Sinn, nach
Schönheit, nach Zukunft nicht verschwunden
war. Der Alltag war hart, aber die Menschen
versuchten, ihn erträglich zu gestalten. Die
Nachkriegszeit war unbeschreiblich schwierig.
Doch bevor neu aufgebaut werden konnte,
musste durchgehalten werden.
104 Bericht von Hans O., ohne Datum, S. 4. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
105 Bericht von Hans O., ohne Datum, S. 5. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
58
7. Verdrängtes Leid – sexualisierte
Gewalt gegen Frauen
Für viele Frauen mischte sich in die Erleichterung über das Kriegsende und die tägliche Mühsal
zusätzlich die Furcht vor der Zukunft. Sie hatten ihre Familien während des Krieges zusammengehalten,
selbst zutiefst verängstigt die Kinder in den Bombennächten getröstet und beschützt,
die Alten und Kranken versorgt – und waren jetzt am Ende ihrer Kräfte. Zur ständigen Angst
um sich selbst, die Kinder und die Männer kam die Sorge, wie der nächste Tag bewältigt werden
sollte. Für Frauen im Osten Deutschlands beherrschte zudem die Angst vor Vergewaltigungen
durch die sowjetischen Besatzer den Alltag. Etwa zwei Millionen ostdeutscher Frauen wurden
Schätzungen zufolge während der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegswochen Opfer von Vergewaltigungen;
Tausende wurden schwanger oder infizierten sich mit Geschlechtskrankheiten.
106 Bis heute gibt es hierzu nur Schätzungen. Zum einen, weil damals keine offizielle Statistik
geführt wurde. Zum anderen, weil es keine Anlaufstellen für Opfer von Vergewaltigungen
durch die neuen Machthaber gab. Hinzu kam, dass viele Frauen traumatisiert und aus Angst
vor Stigmatisierung und Unverständnis ihres Umfelds schwiegen. Wer überlebt hatte, konnte
oder wollte über die Gewalttaten nicht sprechen. Zum einen waren viele Menschen mit ihrem
eigenen Leid und dem eigenen Überleben beschäftigt. Zum anderen wollten viele oft nicht
wissen, was ihren Nachbarn und insbesondere den Frauen zugestoßen war.
Die massenhafte Vergewaltigung von Frauen
und Mädchen durch Soldaten der Roten Armee
in den letzten Kriegswochen und den
ersten Nachkriegsmonaten wurde über Jahrzehnte
hinweg weder öffentlich noch privat
angemessen erinnert. In der DDR war das
Thema tabuisiert und konnte erst nach 1990
angesprochen werden – oftmals begleitet von
Anzweiflungen und verbalen Angriffen auf
die betroffenen Frauen. Erst spät fanden die
Betroffenen eine Sprache für das, was ihnen
widerfahren war – wenn sie denn überhaupt
davon zu sprechen vermochten.
Die Gewalt war flächendeckend, und entsprechende
Gerüchte und Meldungen eilten
der vorrückenden Roten Armee voraus:
„Die Frauen und Männer, die der Krieg
verschont hatte, mussten jeden Tag zur
Feldarbeit antreten. Die Frauen traf es
doppelt hart: Nach dem schweren Tagewerk
mussten sie sich des Nachts in die
Wälder retten, um den Russen und Polen
zu entkommen, die sie vergewaltigen wollten.
Viele von ihnen erlebten unbeschreibliches
Leid, worüber die meisten später
106 Sander, Helke; Spohr, Julia: BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/
Main 1995, S. 15–17.
59
lieber schwiegen. Betroffen waren auch
junge Mädchen und selbst die Eltern waren
nicht in der Lage, sie zu schützen. 107
Die sowjetische Militärführung sah dem Geschehen
weitgehend tatenlos zu. Zwar existierten
Befehle gegen Plünderung und Gewalt,
doch ihre Durchsetzung war inkonsequent.
Der Krieg hatte die Gewalt in jeglicher Hinsicht
entgrenzt. Der Hass auf die Deutschen,
genährt durch das unermessliche Leid der
sowjetischen Bevölkerung, verband sich mit
einem Verständnis von Vergeltung, das auf
den Körper der Frau zielte:
„Unsere Mutter hatte sich stets in dem
dunkelsten Winkel versteckt, Angst habend,
vergewaltigt zu werden. Sie hatte sich
auch mit dunklen Sachen gekleidet und
sah mit ihren 32 Jahren wesentlich älter
aus.“ 108
Die deutschen Behörden der Nachkriegszeit
begegneten den Vergewaltigungen mit einer
Mischung aus Hilflosigkeit, Scham, politischer
Rücksichtnahme und Verdrängung.
In der DDR widersprach das Thema dem
offiziellen Narrativ vom antifaschistischen
Befreier. Die Gewalt sowjetischer Soldaten
passte nicht ins Bild.
Die betroffenen Frauen blieben allein – medizinisch,
rechtlich, psychologisch. Viele litten
ein Leben lang unter den Folgen. Manche
gebaren Kinder, die sie weder gewollt hatten
noch lieben konnten. Andere wurden unfruchtbar,
depressiv, verstummten. Der Umgang
mit den Opfern war häufig von Stigmatisierung
geprägt. Wer überlebt hatte, galt als
beschmutzt. Wer sprach, wurde gemieden.
Die Gewalt war ein offenes Geheimnis – zu
offen, um es zu leugnen, zu schmerzhaft,
um es zu benennen:
„Nie wurde darüber gesprochen und erst
Jahre später meine Vermutung bestätigt.
[…] Das Schicksal meiner Mutter hat
unsere Familie zerstört. Auch das große
Schweigen bleibt Teil meiner Erinnerung.“
109
Erst seit den 1990er Jahren beginnt sich langsam
eine historische Auseinandersetzung mit
diesem Thema zu etablieren. Publikationen,
Filme, Zeitzeugenprojekte haben die Stimmen
der Betroffenen dokumentiert. Sie erzählen
keine Geschichten von Heldinnen. Sie
erzählen von Ohnmacht, von Scham, von
Überleben. Und sie fordern ein, dass auch
dieses Kapitel Teil der Geschichte des Kriegsendes
ist – nicht marginal, nicht nachträglich,
sondern zentral. Der Krieg hörte nicht auf,
als die Waffen schwiegen. Für viele Frauen
begann er in jenem Moment erst wirklich –
in ihren Körpern, in ihren Erinnerungen,
in dem, was ihnen – stellvertretend für alle
Deutschen – genommen und angetan wurde.
107 Bericht Familie Balz, in: Kibler, Marlies; Speth, Erika: Tragödie und Neubeginn. Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene,
die zwischen 1945 und 1954 nach Möckmühl kamen, erzählen ihre Erlebnisse. http://dnb.dnb.de, Books on demand 2019, S. 64.
108 Bericht von Heinz B., 2007, S. 8. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
109 Dittmer, Klaus: 80 Jahre Kriegsende. Ein Zeitzeuge erinnert sich, in: Der Tagesspiegel vom 26. April 2025, S. B 25.
60
8. Besatzung und politische Neuordnung
Was sollte aus Deutschland werden? Diese Frage stellte sich so mancher, der den Krieg überlebt
hatte. Unter der Bevölkerung kursierten wilde Gerüchte: Die Alliierten würden alle deutschen
Frauen sterilisieren, die Männer zur Zwangsarbeit fortbringen und aus ganz Deutschland einen
riesigen Kartoffelacker machen, sagten die einen. Nein, meinten andere, Deutschland solle
als Rachepfand an die Sowjetunion übergeben werden, die dann aus Deutschland einen riesigen
Gulag machen wolle. Sicher schien nur eins: Die Zukunft war ungewiss.
Mit dem militärischen Zusammenbruch des
„Dritten Reiches“ und der bedingungslosen
Kapitulation übernahmen die Alliierten die
Verantwortung. Deutschland und Berlin wurden
in vier Besatzungszonen geteilt. Was als
Provisorium gedacht war, überdauerte schließlich
mehr als vier Jahrzehnte staatlicher Teilung.
Schon bald zeigte sich, dass die Vorstellungen
der Siegermächte sehr unterschiedlich waren.
Während die drei westlichen Alliierten auf
den Aufbau demokratischer Strukturen und
Institutionen setzten, verfolgte die sowjetische
Führung unter Stalin andere Ziele. In ihren
Einflussgebieten im östlichen Europa sowie
in ihrer Besatzungszone in Deutschland
Handbuch für Offiziere der alliierten Militäradministration.
61
wurden die Weichen für den Aufbau einer
neuen Diktatur gestellt.
Die anfängliche Übereinkunft der Alliierten
über die Entmilitarisierung, Demokratisierung
und Entnazifizierung wurde in der Praxis
rasch zu einem Feld machtpolitischer Divergenzen.
In der sowjetischen Zone verstand
man Entnazifizierung als politische Neuausrichtung
im Zeichen des Sozialismus. Wer zur
alten Elite gehört hatte, wurde systematisch
entfernt. Verwaltungsapparate, Bildungswesen,
Medien und Justiz wurden gesäubert –
und zugleich mit neuen Kräften besetzt, die
den ideologischen Vorstellungen der sowjetischen
Besatzer entsprachen. In den westlichen
Besatzungszonen hingegen fand ein solcher
Elitenwechsel weder in der Wirtschaft noch
in der Justiz oder im Bildungswesen statt.
In der Sowjetischen Besatzungszone, aus der
1949 die DDR hervorging, nahm die Sowjetische
Militäradministration am 9. Juni 1945
ihre Arbeit auf. Sie regelte nicht nur alle politischen
und wirtschaftlichen Fragen wie die
Zulassung der Parteien, die Herstellung der
öffentlichen Ordnung und die Inbetriebnahme
der Fabriken und Verwaltungen, sondern
war auch für die Versorgung der Bevölkerung
in ihrem Besatzungsgebiet zuständig.
Die Sowjetunion ging in allen von ihr besetzten
Gebieten – und nicht nur im besiegten
Deutschland – mit äußerster Brutalität
gegen tatsächliche und vermeintliche Gegner
und Kritiker vor. Hunderttausende Menschen
verschwanden in Lagern und Gefängnissen
oder wurden nach Sibirien in die
Gulags verschleppt. Tausende wurden hingerichtet.
Dies betraf jedoch nicht nur Deutsche,
sondern die Bevölkerung in allen von
der Sowjetunion besetzten Ländern. Für die
drei baltischen Staaten wiederholten sich
bspw. die Erfahrungen aus der ersten sowjetischen
Besatzung 1940 infolge der Vereinbarungen
im Geheimen Zusatzprotokoll des
Hitler-Stalin-Paktes. Unter dem Decknamen
„Operation Priboi“ führten die sowjetischen
Behörden im März 1949 Massendeportationen
durch. Etwa 90.000 Menschen wurden
aus Estland, Lettland und Litauen in weit
entfernte Gegenden der Sowjetunion und in
die sibirischen Gulags deportiert. Der überwiegende
Teil der Verschleppten waren Frauen
und Kinder unter 16 Jahren. 110
Wie am Kriegsende befürchtet worden war,
traf es auch die deutsche Bevölkerung:
„Nach einigen Tagen wurden Marschblöcke
zusammengestellt, die jeweils schätzungsweise
800 bis 1000 Gefangene enthielten.
Sie verließen in Abständen das Lager in
Neubrandenburg und zogen Richtung Osten.
Bewacht wurden wir von sowjetischen
Soldaten, die auf Pferden saßen. Statt der
üblichen Sattel, waren sie mit Keilkissen
oder Bettauflagen versehen, die mit Stricken
bei den Pferden befestigt waren. (…)
Bei dem ununterbrochenen Marsch gab es
Durst, aber wir hatten nichts zu trinken.
Anfangs marschierten wir durch die gleichen
Orte, die bereits beim Marsch nach
Neubrandenburg berührt wurden. In
manchen Orten kamen Frauen mit Wassereimern
an den Straßenrand, denn sie
sahen wie es um uns bestellt war. Die
110 „Wir waren die abgesegnete Beute Stalins“. Reinvere, Jüri: Wie das Kriegsende 1945 im Baltikum wahrgenommen wurde,
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.05.2025, S. 13. Siehe auch Skarga, Barbara: Nach der Befreiung. Aufzeichnungen aus
dem Gulag 1944–1956. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2024.
62
Bewacher ließen das jedoch nicht zu. Mit
ihren Pferden rissen sie die Eimer um und
das schöne Wasser versickerte im Sand.
In gewissen Abständen wurden Pausen
eingelegt. Das geschah jedoch vorwiegend
außerhalb von Ortschaften. Wenn wir
Glück hatten, befand sich dort ein Fließ
oder es war Wasser im Straßengraben. Es
war logisch, daß sich die Durstigen auf das
Naß stürzten. Die Folgen blieben nicht
aus. Nach und nach bekamen immer
mehr Leute Durchfall und sie mußten in
kürzeren Abständen, ihre Hose ‚lüften‘
und der ‚Bedrängnis‘ freien Lauf lassen.
Dabei war aber Eile geboten, denn schnell
waren die Bewacher heran und schlugen
mit ihren Stöcken auf den blanken Hintern.
Die Betroffenen waren nicht zu beneiden.
Sie bekamen im Laufe der Zeit
‚weiche‘ Knien. Ihre Kräfte ließen nach.
Besonders ältere Leute unter uns, hatten
das auszustehen. Es durfte niemand zurückbleiben.
Die Kräftigeren griffen unter
die Arme und schleppten die Schwachen
mit. Das Nichtweiterkönnen wäre einem
Todesurteil gleich gekommen. Wir haben
alle bis zur Abend- bzw. Nachtpause mitnehmen
können. Die Nacht verbrachten
wir natürlich im Freien. Auf einem übersichtlichen
Platz mußten wir uns in einem
Viereck positionieren. Die uns begleitenden
Bewacher entfachten an den Ecken Feuer
und legten sich dann dort hin. Natürlich
war die Beobachtung immer gegeben, es
konnte niemand verschwinden. Wir waren
erst einmal froh, daß eine längere Ruhepause
eintrat. Einmal entdeckten wir an
einem solchen Lagerplatz einen Rest an
Kartoffeln, natürlich waren sie roh, trotzdem
würgten wir einige davon in uns
hinein. Sie haben fürchterlich geschmeckt,
aber sie füllten etwas den Magen. Sobald
die Sonne sich zeigte, mußten wir hoch
und jeder bekam ein paar Löffel Wassersuppe.
Danach ging es wieder auf die
Straße und durch weitere Ortschaften,
immer Richtung Osten.“ 111
Zentral für die Durchsetzung der neuen
Machtverhältnisse war in allen von der Sowjetunion
besetzten Ländern die Rolle der jeweiligen
Kommunistischen Parteien, die –
wenn ihre Mitglieder den stalinistischen Terror
überlebt hatten – zumeist aus dem sowjetischen
Exil und mit entsprechenden Vorstellungen
in ihre Heimatländer zurückgekehrt
waren. Im Osten Deutschlands war dies die
KPD, die im Schatten der sowjetischen Besatzungsmacht
ihre politische Rückkehr organisierte.
Bereits im Sommer 1945 propagierte
sie einen „antifaschistisch-demokratischen
Neubeginn“. In der SED, die im April 1946
aus der erzwungenen Vereinigung von KPD
und SPD hervorgegangen war, hatten Kommunisten
das Sagen, die mit der sowjetischen
Armee aus dem Exil heimgekehrt waren. Die
Gründung der SED bedeutete nicht nur die
Ausschaltung politischer Konkurrenz, sondern
auch den Aufbau eines Herrschaftssystems,
das seine Legitimation aus der behaupteten
moralischen Überlegenheit gegenüber dem
kapitalistischen Westen bezog.
Die sowjetische Besatzungsmacht konnte sich
damit in der SBZ auf die SED stützen, die mit
ihrer Hilfe die Schaltstellen der staatlichen
und kommunalen Verwaltung, des Rundfunks
111 Bericht von Herbert K., 2005, S. 11 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
63
und der Presse, der enteigneten Betriebe wie
auch der neu gegründeten Massenorganisationen
wie der FDJ besetzt hatte. Wolfgang
Leonhard (1921–2014), der mit der „Gruppe
Ulbricht“ im Mai 1945 aus dem sowjetischen
Exil nach Deutschland zurückkehrte, beschreibt
die Zielsetzung der kommunistischen
Führung wie folgt:
„Es muß demokratisch aussehen, aber wir
müssen alles in der Hand haben“ 112
Die Bevölkerung nahm diese Entwicklung
mit einer Mischung aus Resignation, Fatalismus,
Zustimmung, Skepsis und auch Widerstand
hin. Die Besatzungsmacht wurde einerseits
als fremd und bestimmend erlebt, andererseits
zugleich auch als ordnende Kraft
inmitten des Chaos.
Vor der massiven politischen Repression, die
unmittelbar mit der Besatzung begann, versuchten
sich Hunderttausende durch Flucht
in den Westen zu retten. Innerhalb weniger
Monate verschwanden Zigtausende in den
Folterkellern der Geheimpolizei, in den Speziallagern
oder wurden in die Sowjetunion
deportiert. Die Familien der Verschwundenen
erfuhren oft jahrzehntelang nicht, was mit
ihren Angehörigen passiert war.
In der sowjetischen Besatzungszone vollzog
sich der Aufbau des neuen Staates von oben,
gestützt durch die Besatzungsmacht, aber
unter dem Anschein demokratischer Beteiligung.
Wahlen wurden abgehalten, doch die
Listen waren kontrolliert. Passte das Wahlergebnis
nicht wie bei den Landtagswahlen
1946, wurden diese kurzerhand nicht mehr
offen durchgeführt. Zwar wurde die nur we-
nige Monate zuvor aus der Zwangsvereinigung
von SPD und KPD hervorgegangene SED mit
47,5 Prozent stärkste Kraft. Das Ergebnis
reichte jedoch nur in einem Land für die
absolute Mehrheit. Die Liberal-Demokratische
Partei (LDP) und die Christlich Demokratische
Union (CDU) hatten zusammen mehr Stimmen
als die SED. Bei den am gleichen Tag
ebenfalls zum letzten Mal einigermaßen frei
stattfindenden Wahlen in Berlin wurde die
SPD stärkste Kraft. Um künftig solche Ergebnisse
zu verhindern, wurde das Wahlrecht
geändert und fortan nur noch nach Einheitslisten
gewählt. Parteien durften zwar weiter
bestehen, aber nur innerhalb der „Einheitsfront“
unter Führung der SED. Mit der
Gründung der DDR 1949 wurde diese Entwicklung
formalisiert. Hier wurde schließlich
die SED als die „führende Kraft“ sogar
in der Verfassung festgeschrieben.
Die westlichen Besatzungszonen gingen einen
anderen Weg. Die Gründung der Bizone 1947
und später der Trizone, die Einführung der
D-Mark 1948, schließlich das Grundgesetz
1949, die Gründung der Bundesrepublik sowie
die Wirtschaftsreformen unter Ludwig
Erhard – sie bildeten die Etappen eines
föderalen und marktwirtschaftlich geprägten
Staatsaufbaus, der sich bewusst vom zentralistischen
Modell des Ostens abgrenzte.
Die Unterschiede zwischen beiden deutschen
Staaten manifestierten sich zunächst in wirtschaftlichen
Fragen. Während die DDR eine
zentrale Planwirtschaft aufbaute, die mit
Fünfjahresplänen und Produktionszielen arbeitete,
setzte die Bundesrepublik auf Wettbewerb,
Konsum und das Leitbild einer sozialen
Marktwirtschaft. Aber nicht nur wirt-
112 Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 1995, S. 232.
64
schaftlich hatten die Menschen in den Westzonen
und der späteren Bundesrepublik das
bessere Los gezogen: Die anhaltenden Repressionen,
die politische Unterdrückung, die zu
Tausenden Verschwundenen und Verschleppten,
deren Schicksal sich teilweise erst nach
dem Zusammenbruch der kommunistischen
Herrschaft klärte 113 , bestärkten das Gefühl,
dass die Menschen im Westen es besser hatten.
Bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 floh
ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung –
das waren über vier Millionen Menschen –
in den Westen.
Auch in der Justiz traten die Gegensätze deutlich
hervor. In der DDR wurde das Recht zunehmend
als Instrument politischer Erziehung
und Macht genutzt. Volksrichter ersetzten
Juristen alter Prägung. Schauprozesse und
politische Verfahren, deren Urteile bereits
vor Prozessbeginn festgelegt worden waren,
demonstrierten die Durchsetzung des neuen
Willens – und erreichten ihren Zweck, die
Bevölkerung einzuschüchtern. In der Bundesrepublik
hingegen wurde der Wiederaufbau
der Justiz von der Problematik der personellen
Kontinuitäten überschattet. Zahlreiche Juristen
– von Rolf Hochhuth 1978 als „furchtbare
Juristen“ bezeichnet –, die an NS-Terrorurteilen
beteiligt waren, blieben im Amt. Dieser
Umstand bot später Anlass für scharfe Kritik.
114 In den 1950er Jahren jedoch wurde dies
nach den ersten Prozessen zu Beginn der
1950er Jahre kaum öffentlich problematisiert.
Juristen wie der hessische Generalstaatsanwalt
Fritz Bauer, der die „Auschwitz-Prozesse“
maßgeblich vorantrieb, waren Anfeindungen
und Ausgrenzung ausgesetzt.
Die Rolle der Parteien unterschied sich ebenso
grundlegend. Während in der DDR mit der
SED eine staatsparteiliche Struktur entstand,
die keine Opposition duldete, entwickelte sich
in der Bundesrepublik ein pluralistisches
Parteiensystem. CDU/CSU, SPD, FDP und
andere Kräfte kämpften im demokratischen
Wettstreit um Wählerstimmen. In der DDR
hingegen spielten freie Wahlen keine Rolle.
Hier wurden durch Einheitslisten die Ergebnisse
vorgegeben und vorweggenommen. Das
Wählen selbst verkam zum „Zettel falten“.
Unter den unterschiedlichen politischen
Gegebenheiten entwickelten sich auch die
Gesellschaften der beiden deutschen Staaten
rasch auseinander: in ihren Institutionen, in
ihrer Sprache, in ihren Alltagspraktiken, in
ihren Mentalitäten. Westdeutschland sah sich
als Teil des Westens: liberal, marktorientiert,
eingebunden in die NATO und die Europäische
Gemeinschaft. Der Osten verstand sich
als Bollwerk des Sozialismus, als Vorposten
der internationalen Arbeiterbewegung, als
westlichster Vorposten des sowjetischen
Machtbereichs. Die beiden deutschen Staaten
standen zeit ihrer Existenz in einer Spannung
von Nähe und Distanz, von Abgrenzung und
Ähnlichkeit. Der Aufbau dieser Ordnungen
war kein technischer Vorgang, sondern ein
ideologischer Wettlauf um die Zukunft
Deutschlands, den die Menschen im Osten
durch ihre „Abstimmung mit den Füßen“ –
solange dies noch über die offene Grenze in
Berlin möglich war – eindeutig entschieden
hatten.
113 Roginskij, Arsenij; Drauschke, Frank; Kaminsky, Anna (Hg): „Erschossen in Moskau“. Die deutschen Opfer des Stalinismus auf
dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953. 4. Auflage, Metropol Verlag, Berlin 2020. Sowie Köster-Hetzendorf, Maren: Ich
hab dich so gesucht... Der Krieg und seine verlorenen Kinder. Pattloch Verlag, Augsburg 1995.
114 Müller, Ingo: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. Kindler Verlag, München 1987.
65
Gleichzeitig blieb die Teilung – zumindest
bis zum Mauerbau 1961 – ein kontrovers
diskutiertes Thema. Sie belastete nicht nur
den politischen Raum, sondern vor allem
auch die Lebensrealität von Familien, Freundeskreisen
und Arbeitsbeziehungen. Die innerdeutsche
Grenze trennte die Menschen in
Ost und West und bedeutete Todesgefahr für
die Fluchtwilligen aus dem Osten. Und doch
lebte der Gedanke an die Einheit in Briefen,
Besuchen und Fernsehbildern weiter.
Enteignungen und Bodenreform –
Klassenkampf gegen den Mittelstand
Bereits 1945 begannen in der SBZ großflächige
Enteignungen. Großgrundbesitz, Konzerne,
Banken – sie wurden unter dem Schlagwort
der „Demokratisierung der Wirtschaft“
in Volkseigentum überführt. Landlose Bauern
erhielten Boden zugesprochen
In Wolfshagen erinnert seit 1985 ein Denkmal an die Bodenreform. Das zu DDR-Zeiten errichtete
Denkmal zeigt einen alten Anhängepflug sowie den propagandistischen Schriftzug: „Junkerland in
Bauernhand“, mit dem die damaligen Enteignungen und Vertreibung der Eigentümer begründet
wurden. Bis heute fehlt eine kritische Kommentierung des Denkmals.
66
„Die offizielle Politik zur Integration der
Heimatvertriebenen in der SBZ/DDR
war vorrangig darauf gerichtet, ihnen
durch […] Arbeits- und Qualifizierungsprozesse
Möglichkeiten zu verschaffen,
sich aus eigener Kraft wieder neue Existenzen
aufzubauen. Für viele heimatvertriebene
Bauern ergaben sich auch durch
die SBZ-Bodenreform der Jahre 1945/
1946 Möglichkeiten zu einer neuen Existenzgründung
in der Landwirtschaft.
So hat beispielsweise aus dem verwandtschaftlichen
Umfeld meiner Frau ein ehemaliger
Bauer aus Ostpreußen in Hof
Redentin bei Wismar (Mecklenburg) einen
Neubauernhof bekommen, den er bis zu
seinem Tode zunächst als Einzelbauer,
später als LPG-Bauer bewirtschaftet hat.
Doch dieser Weg war für viele Neubauern
in den ersten Jahren sehr mühsam. Vorallem
dann, wenn sie bei der Aufteilung
bzw. der Verlosung von Ackerland, Wiesen,
Vieh, Landmaschinen, Wohngebäuden und
Stallungen ein schlechtes Los gezogen hatten.
Statistische Angaben weisen darauf
hin, daß im Zusammenhang mit der
SBZ-Bodenreform von den geschaffenen
210.000 Neubauernstellen 91.000 von
Heimatvertriebenen übernommen wurden.
Jeder zweite bis dritte Neubauer war demzufolge
ein Heimatvertriebener. Dieser Anteil
wäre sicher noch größer gewesen, wenn
so manche Heimatvertriebene – z. B. aus
politisch-moralischen Gründen oder weil
sie von der baldigen Rückkehr in die angestammte
Heimat noch überzeugt waren –
die Übernahme einer Neubauernstelle
nicht abgelehnt hätten.“ 115
Der wirtschaftliche Umbau diente dabei nicht
nur ökonomischen Zielen, sondern war Teil
der politischen Umgestaltung. Wer sich gegen
die neue Ordnung stellte, riskierte nicht nur
den Verlust seines Eigentums, sondern auch
seiner Freiheit. Wer sich dem neuen System
entzog, wurde repressiert. Wer Kritik äußerte,
wurde isoliert. Wer floh, wurde als Verräter
stigmatisiert. Die SBZ wurde zur Bühne eines
umfassenden sozialen und politischen Experiments,
dessen Folgen weit über die unmittelbare
Nachkriegszeit hinausreichen sollten.
Der Weg zur DDR war kein historischer Automatismus
– aber er war früh vorgezeichnet.
Auf ihrem Gründungsparteitag im Frühjahr
1946 in Berlin hatte die SED erklärt, dass für
sie die dringlichste „Gegenwartsaufgabe“ darin
bestehe, die Lebenslage der Bevölkerung
zu verbessern. Auf der Grund lage von Wirtschaftsplänen
sollte die Wirtschaft aufgebaut
und die Währung gesichert werden: „Planmäßige
Förderung der Bedarfsgütererzeugung
in Industrie und Handwerk unter Einschaltung
der Privatinitiative. Stärkste Intensivierung
und Förderung der Landwirtschaft.
Wiederaufbau der zerstörten Städte und beschleunigte
Wiederherstellung des Transports
und der Sicherheit des Verkehrs [...]
Sicherung des lebensnotwendigen Bedarfs der
breiten Volksmassen an Nahrung, Kleidung
und Heizung“, hieß es in ihren damals verabschiedeten
Grundsätzen und Zielen. 116
Die Bodenreform des Jahres 1945 und die
Verstaatlichung der Betriebe von tatsächlichen
oder angeblichen „Nazi- und Kriegsver-
115 Bericht von Heinz S., ohne Datum, S. 21 f. Aus Bestand SuperIllu 2015, Im Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-
Diktatur.
116 Grundsätze und Ziele der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands angenommen auf dem Vereinigungsparteitag von KPD
und SPD am 21./22. April 1946. Dokumente zur Geschichte der SED, Band 2 1945–1971. Berlin 1986, S. 34f.
67
brechern“, die im Juni 1946 eingeleitet wurde,
sollten die Grundlage für die spätere Einführung
der Planwirtschaft bilden. Angesichts
anhaltender Demontagen und unkalkulierbarer
Reparationsleistungen aus der in Gang
gesetzten Industrieproduktion durch die
Sowjets war zumeist an eine zentrale Wirtschaftsplanung
nicht zu denken. Im September
1947 musste der II. Parteitag der SED
feststellen, dass sich an der katastrophalen
Lage wenig geändert hatte: „Millionen deutscher
Kinder, Frauen und Männer leiden
schwer unter dem Mangel an Nahrung,
Kleidung, Wohnung und Heizung“. Wieder
stand die „Verbesserung der Lebensbedingungen“
an der Spitze aller Aufgaben. 117
Mit Fragebögen wie diesen versuchten die Siegermächte,
Angehörige von NS-Organisationen
ausfindig zu machen.
Entnazifizierung und Entmilitarisierung
Für die Siegermächte war – jenseits der
Staatsspitze – nicht klar erkennbar, wer von
den Deutschen ein Naziverbrecher gewesen
war, wer ein Mitläufer oder wer gar im Widerstand
oder unschuldig war. Um sich ein Bild
machen zu können, wurden Fragebögen entwickelt,
mit denen die Deutschen ihre Zugehörigkeit
zu NS-Organisationen angeben sollten.
Zudem wurden Befragungen unter der
Bevölkerung durchgeführt, um die Stimmungslage
zu erkunden. Das Bild, das sich
aus den Befragungen ergab, war überall ähnlich:
Man habe nichts gewusst, habe mitmachen
müssen, sei unschuldig:
„Die Fragen, die wir in harmlosen Formulierungen
stellten, zielten auf Themen
wie Politik, Politiker, Krieg und Geschichte
ab. Beiläufig plauderten wir über dieses
und jenes, aber irgendwann kamen wir auf
die entscheidenden Punkte zu sprechen
(die Russen, der Krieg, die Juden, Greueltaten,
Zwangsarbeiter, die Zukunft). Nazis,
Nazisympathisanten und deutschnational
Gesinnte verrieten sich unweigerlich bei
diesen Fragen. Anfangs mochte sich jemand
als leidenschaftlicher Regimegegner präsentieren,
um den Eindruck zu vermitteln, er
stehe auf der richtigen Seite, auf der Seite
der Sieger, doch irgendwann, vielleicht ein
wenig provoziert, gab er sich als fanatischer
Befürworter des Krieges zu erkennen und
verteidigte das Recht der Deutschen auf
einen Platz an der Sonne. Rasch stellten
wir fest, daß die Behauptung, man sei
Nazigegner gewesen, eine bequeme Ausrede
war, und nach einer Weile fanden wir
117 Beide Zitate aus: Entschließung zur politischen Lage, angenommen auf dem II. Parteitag der SED vom 20.–24.9.1947, in: Dokumente
zur Geschichte der SED, Band 2 1945–1971. Berlin 1986, S. 68.
68
diese Ausrede nicht mehr komisch.“ 118
„Sie habe vierzig Jahre lang als Volksschullehrerin
gearbeitet und sei unpolitisch. ‚In
politischen Dingen‘, sagte sie und strahlt
über das ganze Gesicht, ‚bin ich wie ein
Kind, wie ein richtiges Kind. Was ich über
diese komplizierte Materie weiß, habe ich
alles von meinem Mann.‘ Ihr Mann sei
nicht berufstätig. Aus gesundheitlichen
Gründen könne er keine schweren Arbeiten
verrichten. Daher verdiene sie das Geld,
während ihr Mann sich um den Haushalt
kümmere. Er sei vor vielen Jahren in die
NSDAP eingetreten – man habe ja gemusst
– und gehe regelmäßig zu den Parteiversammlungen,
und wenn er nach Hause
komme, erzähle er ausführlich, was dort
besprochen worden sei. Sie selbst, sagte sie
fröhlich, sei natürlich kein Nazi. (…). In
gewisser Hinsicht war Frau Pernitz unsere
beste ‚Klientin‘, geradezu eine Fundgrube
in Sachen NS-Ideologie. Sie hatte, ohne
es selber zu wissen, das Gedankengut der
Nazis komplett und mit allen Fasern aufgesaugt.
Und da ihr dieser Umstand nicht
bewußt war, wäre ihr nie eingefallen, ihre
Gedanken für sich zu behalten. Sie war wie
ein offenes Buch, aus dem sich das perfekte
Bild einer Lehrerin im Dritten Reich ergab.
(…). Frau Pernitz’ Augen leuchteten
bei der Erinnerung an die Kindheit des
Führers. Kein einziges Mal kam ihr das
Wort Hitler über die Lippen, stets verwendete
sie ‚der Führer‘ und sprach die Worte
ehrfurchtsvoll und verzückt aus. (…) Vor
allem über die Gründe, die zum Krieg geführt
hatten, wollten wir mehr erfahren.
‚Das ist ganz einfach‘, sagte Frau Pernitz.
‚England hat mit dem Krieg angefangen.
Die Engländer wollten Deutschland seinen
rechtmäßigen Platz in Europa streitig machen.
Sie selbst haben ein großes Kolonialreich,
aber wenn Deutschland versucht,
Lebensraum zu erwerben, legen sie uns
immer wieder Hindernisse in den Weg.‘
Und wieso kam es zum Krieg gegen
Rußland? ‚Die Russen‘, sagte sie düster,
‚hatten schon seit langem aufgerüstet,
weil sie Deutschland überfallen wollten.
Also haben wir uns verteidigt, indem wir
sie angegriffen haben. Die Bolschewisten
sind uns schon immer ein Greuel gewesen,
sie haben auf deutschem Boden nichts zu
suchen. Daher haben wir sie angegriffen,
bevor sie uns angreifen konnten.‘ Und
Polen? ‚Das war ein reiner Verteidigungskrieg.
Deutschland mußte sich vor den
Polen schützen.‘ Traurig schüttelte sie den
Kopf. ‚Jetzt ist alles verloren.‘ (…). Vor
einigen Jahren habe sie in Aachen miterlebt,
wie die Nazis die alte Synagoge niedergebrannt
hätten. Das habe sie doch
sehr erschüttert. ‚Es war nicht recht, das
Heiligtum der Juden zu zerstören. Was
einem nicht gehört, darf man nicht kaputtmachen.‘
Was sie von den Juden halte?
‚Die Juden sind die Feinde des deutschen
Volkes und der Menschheit‘, erwiderte sie
prompt. Und dann: ‚Ich weiß nicht, ob
das stimmt. Das haben wir immer so gehört.‘
Ob sie Juden kenne? ‚O ja. Ich hatte
eine jüdische Bekannte, Selma Bloch, sie
war die Tochter eines Dirigenten. Eine
patente Dame. Die Juden haben viel Gutes
118 Padover, Saul K.,: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main
1999, S. 28
69
Wilhelm Sprick (1928–2018) war von 1945 bis 1950 in verschiedenen sowjetischen Speziallagern
gefangen. In den Lagern war der Besitz von Bleistift und Papier verboten. Nach seiner Entlassung
verarbeitete er seine Erfahrungen im Lager in zahlreichen Zeichnungen.
für das deutsche Volk getan, aber der Partei
waren sie ein Dorn im Auge, und deshalb
wurden sie vernichtet.‘“ 119
Anders sah dies natürlich bei jenen aus,
die während der NS-Diktatur im Widerstand
waren:
„Während der ganzen Zeit der Diktatur
hatten wir Sozialdemokraten kameradschaftlich
mit Katholiken und Kommunisten
zusammengearbeitet. Wir hofften,
daß aus der Volksfront eine große einheitliche
sozialistische und demokratische
Organisation hervorgehen würde. Deshalb
lehnten wir es nach der Befreiung auch
ab, uns als sozialdemokratische Partei
zu konstituieren. Aber schon am zweiten
Tage nach der Befreiung mussten wir erkennen,
dass die KPD die alte geblieben
war. Man wollte die Volksfront nur als
eine Brücke zu nicht-kommunistischen
Kreisen benutzen.“ 120
„Mein Vater hatte inzwischen als Altkommunist
und Aktivist des Widerstands eine
wichtige Funktion in der Stadtverwaltung
von Dresden eingenommen. Durch seine
Fürsprache wurde mir der Abteilungsleiter-
Posten für die Elektrische Energieversor-
119 Vernehmung von Pernitz, Agnes, in: Padover, Saul K.: Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45,
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 72–76
120 Brill, Hermann: Gegen den Strom, Bollwerk Verlag, K. Drott, Offenbach 1946, S. 96.
70
gung in der Stadtverwaltung angeboten.
Sofort stellte ich mich vor. Mit meinen politischen
und fachlichen Eigenschaften war
man vorerst sehr zufrieden. Doch als ich
es ablehnte, in die KPD einzutreten, war
alles vorbei. Ich erhielt vom Arbeitsamt
wenige Tage später unter dem Vorwand
meiner Tätigkeit bei der Kriegsmarine ein
Arbeitsverbot. Bereits vor 1933 hatte das
Verhalten der KPD und ihre absolute
Abhängigkeit von Moskau bei mir eine
Gegnerschaft zur Politik der KPD und der
‚Utopie des Kommunismus‘ erzeugt. Der
Hitler-Stalin-Pakt des Jahres 1939 (der sogenannte
‚Nichtangriffspakt‘) verstärkte mich
in dieser Haltung. Meines Erachtens hatte
Stalin mit diesem Pakt Hitler den Rücken
freigehalten für den Überfall auf Polen und
den Angriff auf Frankreich und England.
Ich wollte keiner neuen Diktatur dienen,
mich vielmehr mit aller Kraft für eine demokratische
Entwicklung einsetzen.“ 121
Die Alliierten legten die Regelungen zur Entnazifizierung
sehr unterschiedlich aus. Zwar
waren mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 8 vom
30.11.1945 bzw. der Kontrollratsdirektive 38
vom 12.10.1946 allgemeine Richtlinien erlassen
worden, wer verhaftet, überprüft und bestraft
werden sollte, aber diese wurden von der
sowjetischen Besatzungsmacht anders gehandhabt
als von den westlichen Besatzungsmächten.
Mit dem Befehl 000315 vom 18.04.1945
wurden Regelungen in Kraft gesetzt, die es
den Sowjets erlaubten, alle, die als „feindlich“
angesehen wurden, zu verhaften – unabhängig
davon, ob sie NS-Funktionäre waren und was
Detlev Putzar (1930–2018), als noch 15-Jähriger
1945 verhaftet und zu 10 Jahren Arbeitsstraflager
verurteilt, durchläuft ebenfalls verschiedene sowjetische
Speziallager. Um die dort gemachten
Erfahrungen zu verarbeiten, fängt auch er an zu
zeichnen. Im Bild eine Baracke im Speziallager
Sachsenhausen.
sie getan hatten. Der Willkür und stalinistischen
Verfolgungspraxis waren damit in der
sowjetischen Besatzungszone Tür und Tor
geöffnet.
Ein Instrument dazu waren die Sowjetischen
Militärgerichte (SMT) sowie die insgesamt
zehn sogenannten Speziallager. Einige davon
wurden in ehemaligen nationalsozialistischen
121 Berger, Siegfried: „Ich nehme das Urteil nicht an“. Ein Berliner Streikführer des 17. Juni vor dem sowjetischen Militärtribunal,
Berlin: Der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 5. Auflage, 2001,
S. 11.
71
Konzentrationslagern wie Sachsenhausen
und Buchenwald oder Kriegsgefangenenlagern
wie in Mühlberg oder Fünfeichen eingerichtet.
Über 120.000 Menschen wurden –
meist ohne Urteil – in diese Lager gebracht.
Ein Drittel verhungerte oder starb an Krankheiten
wie Tuberkulose. Zu den Gefangenen
in den Lagern gehörten kleinere und mittlere
Angehörige von NS-Organisationen, Kritiker
der sowjetischen Besatzungsmacht, Fabrikund
Landbesitzer, willkürlich Verhaftete und
auch Mitglieder von Gewerkschaften oder
Parteien, die die Sowjets als Gegner oder
„feindliche Elemente“ entsprechend ihrem
Befehl 00315 ansahen. Aktiv und direkt in
NS-Verbrechen verstrickte Personen wie KZ-
Aufseherinnen und Aufseher oder Angehörige
von SS oder Gestapo bildeten nur eine sehr
kleine Gruppe unter den Häftlingen. Etwa
fünf Prozent der Gefangenen waren Jugendliche
zwischen 12 und 17 Jahren, die als angebliche
Werwölfe verhaftet worden waren.
Die den Verhaftungen und Verschleppungen
zugrunde gelegten Vorwürfe wurden in der
Regel nicht überprüft. Ab Ende 1945 kamen
auch SMT-Verurteilte in die Lager:
„Und am 31. Juli 45 begann das Sowjetische
Militärtribunal. (...) Das Urteil wurde
am 1. August gesprochen. (...) Es gab weder
Staatsanwalt, also Ankläger, noch Verteidiger.
Und das schlimmste war ja eigentlich
aus meiner Sicht, dass das was zu Protokoll
gegeben wurde alles in russischer Sprache
war. Und es war eine Dolmetscherin,
auch eine Armeeangehörige, die das übersetzt
hat. Aber wir selbst haben in Deutsch
nichts gesehen. Und dann unterschreiben.
Da hat man das dann unterschrieben ohne
eigentlich genau zu wissen, was man unterschreibt.“
122
„Ein Staatsanwalt verlas die Anklage und
ereiferte sich, wie sehr ich mich in der
Hitlerzeit schuldig gemacht hätte. Der
Richter stellte ein paar Fragen, unterbrach
mich aber sofort, wenn meine Antworten
nicht in sein Konzept paßten. Was
ich zur Entlastung anführen, an Zeugen
nennen wollte, wurde gar nicht zugelassen.
Einen Verteidiger hatte ich nicht.
Publikum, also Öffentlichkeit, war nicht
vorhanden. Nach etwa 10 bis 15 Minuten
wurde die ‚Verhandlung‘ unterbrochen,
wenige Minuten später war dann die Urteilsverkündung:
8 Jahre Gefängnis ohne
Anrechnung der Internierungszeit.“ 123
„Wer waren die Menschen, die in diesem
Lager eingesperrt, den Torturen ausgesetzt
waren, ihnen zum Opfer fielen? Mit Sicherheit
nicht die, als die sie die sowjetische
Besatzungsmacht ausgab: schuldige Nazis
und Kriegsverbrecher. Das war weder ich,
der 16jährige bei Kriegsende, noch waren
das fast alle anderen Internierten. Diese
waren zum Teil ‚vorsorglich‘ Inhaftierte,
Menschen, vor denen die neuen Machthaber
im Osten Deutschlands Angst hatten,
weil sie den Ausbau einer kommunistischen
Diktatur hätten stören können. Oder sie
waren zufällig und willkürlich Eingesperrte,
Menschen, die wegen einer lächerlichen
Angelegenheit, einer nachbarlichen Denun-
122 Podcast-Manuskript von Gespräch mit Werner Höpfner, 2016, S. 4. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
123 Bericht Wolfgang Völzke, 1992, S. 14 f. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung
der SED-Diktatur.
72
ziation oder ihrer bloßen Anwesenheit bei
einem unsinnigen ‚verdächtigen‘ Vorfall
verhaftet worden waren. Oder es waren
Menschen, die sich bewußt gegen die erneute
Diktatur und gegen die Sowjetisierung
gestellt hatten. Vor der Gründung der DDR
gab es viele Menschen, die die gleichschaltenden
Reformen nicht hinnahmen, sich
dem Zwang, der von der Vorherrschaft der
SED ausging, nicht beugen wollten. (…)
Und schließlich noch die tragisch-kuriosen
Fälle: Altkommunisten und Juden, die
schon unter Hitler im KZ gewesen waren,
waren trotz Anbruchs der ‚neuen Zeit‘
wieder in Haft, als ‚Abweichler‘ oder als
‚den Aufbau des Sozialismus gefährdende
Personen.‘“ 124
„Einige wirklich Schuldige sind sicher
unter den Internierten gewesen: höhere
Parteifunktionäre, Sonderrichter, Wehrwirtschaftsführer,
die durchaus Machtmißbrauch
und Verbrechen begangen
hatten – doch niemand machte sich die
Mühe, diese ganz wenigen herauszusuchen,
und seltsamerweise wurden sie
eher entlassen als mancher andere.“ 125
„Alles um zu überleben – Als Jugendlicher
im Speziallager Sachsenhausen“
Reinhard Wolff kam als 16-Jähriger
ins sowjetische Speziallager Sachsenhausen.
In der Dokumentation berichtet
er über seine Erfahrungen.
„Hunger und Kälte, Isolierung und Angst
führten zur körperlichen und psychischen
Auszehrung. Die Ernährung war völlig
unzureichend und einseitig, Abmagerung
und Erkrankungen (Dystrophie, Ödeme,
Tbc) konnten bei den meisten Häftlingen
nicht ausbleiben. Von der Außenwelt abgeschnitten,
ohne sinnvolle Betätigung, ohne
Nachricht von den Angehörigen: Langeweile,
Sorgen und Sehnsucht beschleunigten
den Verfall der Kräfte“ 126
„Schwach, schwach – der körperliche Zustand.
Es war ja so, die Verpflegung war
zum Sterben zu viel, aber zum Leben zu
wenig. Und ein Kräfteaufbau, ja wo sollten
die Kräfte herkommen? Von der Krautsuppe,
von der dünnen Suppe, die man bekam?
(...) Es fehlte ja an Vitaminen, an gehaltvollen
Substanzen, um Kräfte zu entwickeln.
Bloß, das war ja nicht der Sinn der
Sache. Wir sollten ja da nicht gestärkt
werden, sondern es war ja doch ganz bewusst
so am Existenzminimum gehalten,
dass wir die Arbeit man geradeso verrichten
konnten, aber eben doch – ich hätte
beinahe gesagt – nicht übermütig werden
sollten.“ 127
„Das Bedrückendste war nicht der Hunger,
die Kälte, sondern das Bedrückendste war
eigentlich, dass ich meinen Angehörigen
kein Lebenszeichen geben konnte. Dass sie
124 Bericht von Wolfgang Völzke, 1992, S. 8 f. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung
der SED-Diktatur.
125 Bericht von Wolfgang Völzke, 1992, S. 10. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung
der SED-Diktatur.
126 Bericht von Wolfgang Völzke, 1992, S. 7. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung
der SED-Diktatur.
127 Podcast-Manuskript Gespräch mit Werner Höpfner, 2016, S. 9. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
73
also nicht wussten, ich lebe noch. Denn das
wäre ja für sie schon eine Beruhigung, zu
wissen, der Junge ist da und da und er
lebt.“ 128
Als die Lager 1950 nach Gründung der DDR
aufgelöst wurden, kamen etwa 15.000 Menschen
frei. 3.500 Gefangene wurden an die
DDR-Behörden übergeben und in den berüchtigten
„Waldheimer Prozessen“ verurteilt.
Die Prozesse verliefen unter Ausschluss der
Öffentlichkeit. Die erhobenen Vorwürfe wurden
nicht überprüft, und die Angeklagten erhielten
weder rechtlichen Beistand noch die
Möglichkeit, sich zu verteidigen. Die harten
Urteile wurden teilweise in Schauprozessen,
teils unter Ausschluss der Öffentlichkeit quasi
im Minutentakt gefällt. Gegen 24 Angeklagte
wurde die Todesstrafe verhängt. 129
Auch in den westlichen Besatzungszonen
wurden entsprechende Lager eingerichtet, um
jene Deutschen, die nach dem „automatical
arrest“ inhaftiert worden waren, zu überprüfen.
In den Lagern der drei westlichen Alliierten
– USA, Großbritannien und Frankreich –
befanden sich etwa 250.000 Häftlinge. Im
Vergleich zu den Sowjets internierten die
westlichen Besatzungsmächte bei einer dreimal
größeren Bevölkerung weit weniger Menschen.
Im Unterschied zu den sowjetischen
Lagern erfolgten hier die Überprüfungen
binnen weniger Monate. Diejenigen, denen
man Verbrechen zur Last legte, wurden an
die entsprechenden Gerichte übergeben. Bis
1948 wurden alle westlichen Lager aufgelöst.
Darüber hinaus überprüften die westlichen
Besatzungsmächte bis Februar 1950 mehrere
Millionen Menschen im Zuge der Entnazifizierung.
1.667 Personen wurden als Hauptschuldige
eingestuft und an Gerichte übergeben.
Zudem stellten sie in 23.060 Fällen
eine NS-Belastung fest und stuften in
150.425 Fällen die überprüften Personen als
„minderbelastet“ ein. In 1.005.854 Fällen
wurden diese als „Mitläufer“ bewertet, und
1.213.873 Menschen wurden nach den Überprüfungen
als entlastet angesehen. 130
„Die Amerikaner bemühten sich dann nach
der Kapitulation sehr, uns umzuerziehen.
Ich habe diese Umerziehung nicht als
schimpflich oder als Zumutung empfunden,
sondern habe da ganz gerne teilgenommen.
Es gab also einmal Sprachunterricht,
aber auch Unterricht in ‚Fundamentals‘
der Demokratie, amerikanische Verfassung,
Wahlsystem usw. Bei uns in der Schule
hatten wir ja eher die Verächtlichmachung
aller demokratischen Überlieferung mitbekommen.
Es gab daneben auch Propaganda-
oder sagen wir besser Aufklärungsfilme
über die KZ-Greuel. Und da muß ich sagen,
es war tatsächlich das erste Mal, daß
man vor diese Wirklichkeit gestellt wurde.
Wenn man es rückwirkend kritisch prüft,
kann man auch aus den Jahren in Deutschland
Erinnerungen rauskramen, wo einem
etwas nicht geheuer vorkam, von Berichten
aus Konzentrationslagern. Aber ich glaube,
die große Mehrheit hat sich nicht vorstellen
können, daß das dieses Ausmaß hatte und
daß die Menschen, vor allem die Juden,
systematisch umgebracht wurden. Es war
128 Podcast-Manuskript Gespräch mit Werner Höpfner, 2016, S. 13. Aus Bestand Meinhard Stark „Gulag-Archiv“, Archiv der Bundesstiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
129 https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/die-waldheimer-prozesse
130 Von Plato, Alexander und Leh, Almut: Ein unglaublicher Frühling. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948,
Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 94.
74
auf jeden Fall so, daß dann in der Gefangenschaft
uns Filme gezeigt wurden mit den
Leichenbergen aus den Konzentrationslagern.
Und da regte sich dann der eine oder
andere und sagte: ‚Ja, davon habe ich auch
gehört.‘ Und da setzte dann auch unter
den Gefangenen ein Umdenkungsprozeß
ein. Es gab dann auch eine interne Auseinandersetzung
darüber, die ganz fruchtbar
war. Die Amerikaner haben eben Umerziehung
nicht mit dem Holzhammer betrieben,
sondern versucht, Fakten und
Dokumente für sich sprechen zu lassen.“ 131
Auch in den sowjetischen Lagern gab es Umerziehungsmaßnahmen,
die jedoch anders
abliefen als bei den westlichen Alliierten:
„Eines Tages kam also dieser Politagitator
auf mich zu und sagte: Ich habe erfahren,
daß zehn Mann aus unserem Lager sich
melden dürfen für einen Politlehrgang in
K. Der dauert etwa ein Vierteljahr und
findet genau in der Zeit statt, wo drüben in
Rußland unschöne klimatische Verhältnisse
sind, wo der Herbst in den Winter übergeht,
wo also nur Kälte, Nässe, Schlamm,
Schmutz, alles auf Dich zukommt. Und in
dieser Zeit könnte ich also gemütlich in einem
Hörsaal sitzen und könnte mir Dinge
erzählen lassen, von denen ich bisher noch
nie was gehört hatte.[...] Ich hatte natürlich
keinerlei Kontakt mit dem Marxismus gehabt,
mit der philosophischen Anschauung,
mit Hegel und all diesen Dingen, die da
vorausgedacht worden sind. Da war also
bei uns zu Hause natürlich niemals irgend
was drüber gesagt worden. Und auch in
der Wehrmachtsausbildung wurde da nicht
drüber gesprochen, so daß das für mich eine
sehr interessante Tätigkeit wurde. Ich habe
mich gemeldet, ich wurde angenommen.
Wir kamen dann in ein extra für diese
Zwecke eingerichtetes Lager und hatten
dort schön jeden Tag wie in der Schule
unseren Unterricht in fünf Fächern. Ein
Lehrgebiet war der historische dialektische
Materialismus. Das zweite war die Geschichte
der KPdSU, zu deutsch der Kommunistischen
Partei der Sowjetunion.
Das dritte war die deutsche Arbeiterbewegung,
insbesondere natürlich die Kommunistische
Partei Deutschlands und – ganz
wichtig - die SED, eine Partei neuen Typs,
damals ja gerade frisch entstanden. Das
vierte fällt mir nicht ein. Und das fünfte
war dann praktische Arbeit: Wie bringe ich
das nun meinen mitgefangenen Brüdern
bei? Wie kannst du das eventuell außerhalb
einer Gefangenschaft – ihr kommt
ja alle demnächst mal nach Hause – wie
kannst du das weitertragen in dein Umfeld
hinein, daß endlich mal der Weltkommunismus
durch meine Mithilfe erreicht werden
kann? So ungefähr haben die sich das
wahrscheinlich vorgestellt. (…) Und dann
wurde uns natürlich auch erklärt, was da
in Auschwitz und Theresienstadt und so
weiter stattgefunden hat, und auch, was für
Verbrechen von deutschen Truppen – will
ich mich mal ausdrücken, ob das nun
Waffen-SS war oder ob das militärische
Einheiten waren –, also von deutschen
131 Aus einem Interview mit Siegfried Maruhn, geführt 1987 von Nori Möding und Alexander von Plato, Archiv „Deutsches
Gedächtnis“, Lüdenscheid, in: Von Plato, Alexander; Leh, Almut: Ein unglaublicher Frühling. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland
1945–1948, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 1997, S. 364–365
75
Truppen auch an der Zivilbevölkerung in
Rußland verübt worden waren, das wurde
uns natürlich schon alles erzählt und
eigentlich auch so mit der Aufforderung:
Jetzt denkt mal darüber nach, wie gut ihr
es jetzt hier habt.“ 132
Der wichtigste Unterschied zwischen den
Lagern der Alliierten waren und blieben die
Lebensbedingungen. Während in den sowjetischen
Lagern etwa ein Drittel der Häftlinge
unter den menschenunwürdigen Bedingungen
ums Leben kam, starben in den Lagern
der Westalliierten nur wenige Internierte.
Als es im Lager Sandbostel im Hungerwinter
1946/1947 zu Todesfällen kam, beauftragte
das britische Unterhaus eine Untersuchungskommission,
um künftig Todesfälle in den
Lagern zu vermeiden.
132 Aus einem Interview mit Hans Graetz, geführt 1995 von Leonie Wannenmacher, Archiv „Deutsche Gedächtnis“, Lüdenscheid,
in: Von Plato, Alexander; Leh, Almut: Ein unglaublicher Frühling. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948,
Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 1997, S. 366–368
76
9. Erinnerung, Verantwortung, Ausblick
Das Jahr 1945 steht als Chiffre für einen Wendepunkt der europäischen Geschichte – aber auch
für ein fortdauerndes Ringen um Deutung. Was als Zusammenbruch begann, wurde zur Geburtsstunde
zweier deutscher Staaten, zur Zäsur des 20. Jahrhunderts, zur Spaltung Deutschlands,
Europas und der Welt im Kalten Krieg.
In der Bundesrepublik wurde die Erinnerung
an das Kriegsende zunächst von Verlustnarrativen
dominiert: Flucht, Vertreibung, Bombennächte.
Die Verbrechen des NS-Staates
rückten erst allmählich ins öffentliche Bewusstsein
und ins Zentrum des Erinnerns
und Gedenkens. In der DDR wiederum wurde
Erinnerung zur Staatsaufgabe, aber unter
einem verengten Vorzeichen: Der antifaschistische
Widerstand wurde gefeiert, andere
Widerstandsformen an den Rand gedrängt
oder ganz tabuisiert. Die Frage nach individueller
Schuld blieb ausgeklammert. Die
Shoah kam bis in die 1980er Jahre in offiziellen
Gedenkakten kaum vor, während
kommunistische Heldengeschichten
kanonisch wurden.
Erinnerung ist kein Kontinuum, sondern ein
Prozess der Aushandlung. In den Familien, in
den Schulklassen, in den Medien vollzog sich
ein langsames Erwachen: Was haben die Eltern
getan? Was wurde verschwiegen? Und
was war vergessen? Die Nachkriegskinder
fragten nach – manchmal zu spät. Die Enkel
begannen zu recherchieren. Die Archive öffneten
sich. Die Stimmen der Überlebenden,
der Täter, der Zuschauer und der Nachgeborenen
überlagern sich. Ihre Zeugnisse widersprechen
einander nicht – sie ergänzen sich
in ihrer Widersprüchlichkeit.
Die Stimmen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
tragen diese Botschaft. Sie sprechen
von Angst und Mut, von Ohnmacht und Handlung,
von Verrat und Treue. Sie machen Geschichte
greifbar – nicht als Abfolge von Daten,
sondern als Gewebe aus Einsichten und
Verdrängung, letztlich von Schicksalen und
Leben in schwierigen Zeiten. Ihre Zeugenschaft
ist ein Geschenk. Es liegt an uns, es
anzunehmen – nicht als Bürde, sondern als
Möglichkeit.
1945 bedeutete für viele das Ende – und zugleich
einen neuen Anfang. Die Stimmen derjenigen,
die die damaligen Zeiten erlebten,
erinnern daran, wie komplex die Erfahrungen
jener Monate waren: Zwischen Trauma und
Aufbruch, zwischen persönlicher Schuld und
kollektivem Schweigen. Diese Perspektiven –
gerade aus ostdeutscher Sicht – sind Teil unserer
gemeinsamen Geschichte. In den letzten
Monaten ist oft der Appell „Nie wieder!“
beschworen worden. Damit das keine hohle
Phrase wird, darf Verantwortung nicht delegiert
werden. Gerade vor dem Hintergrund
unserer Geschichte im 20. Jahrhundert und
der Verantwortung Deutschlands für die
Verbrechen im Nationalsozialismus und
Zweiten Weltkrieg.
77
Die Stimmen, die in diesem Text zu Wort
kamen, sprechen aus einer untergegangenen
Welt. Ihre Worte, oft gefasst nach langem
Schweigen, sind keine historischen Fußnoten,
sondern Brennpunkte kollektiver Erfahrung.
Doch wer sich auf Zeugnisse verlässt,
darf sich nicht mit ihnen begnügen. Was heute
zählt, ist ein Zugang zur Geschichte, der nicht
auf Identifikation zielt, sondern auf kritische
Nähe. Die Vergangenheit verlangt keine Zustimmung.
Sie fordert Urteilskraft. Und sie
stellt Bedingungen: für das Verständnis von
Verantwortung, für das Verhältnis zur Demokratie,
für das Maß, in dem Gesellschaft sich
selbst hinterfragt.
Künftige Generationen werden keine persönlichen
Berichte mehr hören. Sie werden Texte
lesen, Bilder sehen, Fragmente finden.
Umso entscheidender ist, dass wir heute die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass diese
Fragmente sprechfähig bleiben. Das erfordert
Archivierung, Forschung, Vermittlung.
Wenn Erinnerung Zukunft haben soll,
braucht sie Gegenwart.
78
Abkürzungsverzeichnis
CDU
CSU
DDR
FDJ
Gestapo
Gulag
KGB
KPD
KZ
LDP
LPG
NATO
NSDAP
SA
SBZ
SED
SMAD
SMT
SPD
SS
Christlich Demokratische Union Deutschlands
Christlich-Soziale Union in Bayern
Deutsche Demokratische Republik
Freie Deutsche Jugend
Geheime Staatspolizei im Nationalsozialismus
System der Straf- und Arbeitslager in der Sowjetunion
Sowjetische Geheimpolizei (später NKWD)
Kommunistische Partei Deutschlands
Konzentrationslager
Liberal-Demokratische Partei Deutschlands
Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft
Nordatlantikpakt (Politisch-Militärisches Bündnis)
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
Sturmabteilung (Ordnungsdienst der NSDAP)
Sowjetische Besatzungszone
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
Sowjetische Militäradministration in Deutschland
Sowjetisches Militärtribunal
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Schutzstaffel (Organisation der NSDAP)
79
Abbildungsverzeichnis
(Titel) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345244 (6) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld,
Bild EBW_PH_1345244 (9) Ministry of Information Photo Division Photographer (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ve_
Day_Celebrations_in_London,_England,_UK,_8_May_1945_D24586.jpg), „Ve Day Celebrations in London, England, UK, 8 May
1945 D24586“, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-UKGov
(10) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345284 (19) Unknown author (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Prisoners_liberation_dachau.jpg),
„Prisoners liberation dachau“, United States Holocaust Memorial
Museum, courtesy of National Archives and Records Administration, College Park, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf
Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-US (22) Bundesarchiv, Bild 183-2005-0803-519 / CC-
BY-SA 3.0 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-2005-0803-519,_Berlin,_Kinder_spielen_in_
Trümmern.jpg), „Bundesarchiv Bild 183-2005-0803-519, Berlin, Kinder spielen in Trümmern“, https://creativecommons.org/
licenses/by-sa/3.0/de/legalcode (23) Walter Chichersky, U.S. Signal Corps, 16. April 1945 (https://commons.wikimedia.org/wiki/
File:NaziConcentrationCamp.gif), „NaziConcentrationCamp“, National Archives at College Park, Maryland, als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-US (25) Bundesstiftung
Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345295 (27) Bundesarchiv, Bild 183-H12704 / CC-BY-SA 3.0 (https://commons.
wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-H12704,_Bad_Godesberg,_Vorbereitung_Münchener_Abkommen.jpg), „Bundesarchiv
Bild 183-H12704, Bad Godesberg, Vorbereitung Münchener Abkommen“, https://creativecommons.org/licenses/bysa/3.0/de/legalcode
(31) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345061 (32) Bundesstiftung Aufarbeitung,
Eastblockworld, Bild EBW_PH_1328208 (33) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345067 (36)
Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_1344554 (43) Tsungam / CC BY-SA 4.0 (https://commons.wikimedia.
org/wiki/File:Seelow_-_2015-07-04_-_Gedenkstätte_Seelower_Höhen_(59)-HDR.jpg), https://creativecommons.org/licenses/
by-sa/4.0/legalcode (44) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345150 (45) Bundesstiftung Aufarbeitung,
Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345293 (47) War Office official photographer, Major W. G. Horton (https://commons.wikimedia.org/
wiki/File:Winston_Churchill_waves_to_crowds_in_Whitehall_in_London_as_they_celebrate_VE Day,_8May_1945._H41849.jpg),
„Winston Churchill waves to crowds in Whitehall in London as they celebrate VE Day, 8 May 1945. H41849“, als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-UKGov (48) Bundesstiftung
Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345309, Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345303
(49) Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1345239 (57) Supreme Headquarters Allied Expeditionary
Force: Military Government Germany. Technical Manual for Legal and Prison Officers. 2nd Edition. (62) Doris Antony, Berlin
(https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wolfshagen_Bodenreform_Denkmal.jpg), „Wolfshagen Bodenreform Denkmal“,
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode (64) Oswald Lehnich (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Entnazifizierungs_fragebogen.jpg),
„Entnazifizierungs fragebogen“, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons:
https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-ineligible (66) Bundesstiftung Aufarbeitung, Wilhelm Sprick, Bundesstiftung
Aufarbeitung, Wilhelm Sprick (67) Bundesstiftung Aufarbeitung, Detlev Putzar
80
ISBN: 978-3-86331-809-3
Bundesstiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur
Kronenstraße 5
10117 Berlin