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Anne Gilly: Gottesdienstliche Praxis in der City (Leseprobe)

In urbanen Räumen zeigen sich Charakteristika der spätmodernen Gesellschaft besonders deutlich und werden in ihren Konsequenzen für die Gestaltung gegenwärtiger gottesdienstlicher Praxis greifbar. In der vorliegenden Studie werden ausgewählte gottesdienstliche Praxisvollzüge aus dem Kontext der Citykirchenarbeit mithilfe eines ethnografischen Forschungsansatzes multiperspektivisch und multimethodisch rekonstruiert. Gottesdienstliche Praxis kommt hierbei als ein komplexes Zusammenspiel von Raum, Körper, Bewegung und Sprache sowie in ihrer sozialräumlichen Einbettung in den Blick. Ausgehend von einer solchen vielschichtigen Analyse werden für die untersuchten Praxisformate unterschiedliche Deutungsperspektiven herausgearbeitet und für gegenwärtige gottesdienst- und kirchentheoretische Fragestellungen fruchtbar gemacht.

In urbanen Räumen zeigen sich Charakteristika der spätmodernen Gesellschaft besonders deutlich und werden in ihren Konsequenzen für die Gestaltung gegenwärtiger gottesdienstlicher Praxis greifbar. In der vorliegenden Studie werden ausgewählte gottesdienstliche Praxisvollzüge aus dem Kontext der Citykirchenarbeit mithilfe eines ethnografischen Forschungsansatzes multiperspektivisch und multimethodisch rekonstruiert. Gottesdienstliche Praxis kommt hierbei als ein komplexes Zusammenspiel von Raum, Körper, Bewegung und Sprache sowie in ihrer sozialräumlichen Einbettung in den Blick. Ausgehend von einer solchen vielschichtigen Analyse werden für die untersuchten Praxisformate unterschiedliche Deutungsperspektiven herausgearbeitet und für gegenwärtige gottesdienst- und kirchentheoretische Fragestellungen fruchtbar gemacht.

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Anne Gilly

Gottesdienstliche Praxis

in der City

Ethnografische Erkundungen und

gottesdienst- und kirchentheoretische

Rekonstruktionen

Arbeiten zur Praktischen Theologie



Vorwort

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die gekürzte Fassung meiner

Dissertationsschrift, die 2023 am Fachbereich Evangelische Theologie der

Goethe-Universität Frankfurt angenommenwurde. Die Entstehung dieses Buches

verdanke ich vielen Personen.

Prof. Dr. Ursula Roth hat meineArbeit von Anfang an begleitet und das erste

Gutachten verfasst. Ich dankeihr für ihr Vertrauen in mich, für die Freiheiten, die

sie mir während des Forschens gelassen hat, sowie für ihre hilfreichen und

klugen Rückmeldungen. Ich habe ihren feinen Sinn für Humor und ihre zugewandte

Art in unserer Zusammenarbeit sehr geschätzt.

Prof. Dr. David Käbisch hat dankenswerterweise das zweite Gutachten erstellt.

Er und alle weiteren Mitglieder des PT/RP-Forschungskolloquiums in

Frankfurt haben die Arbeitbeim Wachsen begleitet. Ich danke ihnen sehr für ihr

engagiertesMitdenken. Mein besonderer Dank gilt meiner langjährigen Kollegin

und Freundin Dr. LauraWeidlich für unzählige hilfreiche Gespräche übermeine

Arbeit, spontanes Korrekturlesen und stundenlanges Brüten über geeignete

Formulierungen. Durch ihren pragmatisch-konstruktiven Blick und ihre Wertschätzung

schaffte sie es immer wieder, mich zu motivieren und zu ermutigen.

Mein Dank gilt zudem unterschiedlichen Forschungsgruppen und Interpretationswerkstätten,

andenen ich teilnehmen und mein Projekt vorstellen

durfte. Ich habe von dieser gemeinsamen Arbeit ungemein profitiert und hierdurch

vielewichtige Erkenntnisse in Bezug auf mein empirisches Datenmaterial

und das ethnografische Forschen gewonnen.

Diese Arbeit wäre in dieser Form nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung,

die ich während meiner Feldforschungsaufenthalte erfahren habe. Ich

danke den Durchführenden der jeweiligen gottesdienstlichen Praxisformate,

allen voran den verantwortlichen Citykirchenpfarrerinnen, ganz herzlich für das

mir entgegengebrachte Vertrauen und ihre Unterstützung meines Forschungsprojektes.

Zudem gilt mein Dank all denjenigen, die meine Forschungsaufenthalte

in unterschiedlichen Städten in Deutschland durch freie Kost und Logis

erleichtert haben.


8 Vorwort

Ich danke den studentischen Hilfskräften, die mich bei meinem Forschungsprojekt

unterstützt haben. In der Abschlussphase meiner Arbeit war

besondersKaren Bergstein mit ihrer Sorgfalt, ihrem guten Überblick undihrem

engagierten Mitdenken eine sehr große Hilfe für mich.

Für die gewissenhafte und mühsame Arbeit des Korrekturlesens der Dissertation

vor der Abgabe dankeich von Herzen Anna Ammon,Dr. Helge Bezold,

Miriam Fleischhacker, Markus Hochbaum, Dr. Simone Mantei, Nathanael Seitz

und Dr. Laura Weidlich.

Den Herausgeber:innen danke ich für die Aufnahme indie Reihe »Arbeiten

zur Praktischen Theologie« und Tilman Meckel von der Evangelischen Verlagsanstalt

für die kompetente und professionelle Betreuung während der Drucklegung.

Das GRADE Center Religionsforschung und Theologie (RuTh) der Goethe-

Universität Frankfurt, die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN)

sowie der Arbeitskreis Empirische Religionsforschung haben die Veröffentlichung

meiner Studie mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt.

Auch dafür danke ich sehr.

Die Entscheidung, eine Promotion an mein Studium anzuschließen,verdankt

sich auch dem Zuspruch, den ich von Prof. Dr. Friedhelm Hartenstein während

meiner Münchner Zeit erfahren habe. Auch wenn ich mich schließlich gegen eine

Weiterarbeit imAlten Testament entschieden habe, hat mich seine kluge und

weise Art, theologisch zu denken und zu sein, tief beeindruckt.

Meinen Eltern Monika und Herbert Gilly danke ich für ihre Unterstützung

und ihr Vertrauen in mich.

Unendlich dankbar bin ich meinen wunderbaren Freund:innen, die mich seit

Jahren mit viel Wärme, Witz und Weisheit in meinem Leben begleiten. Besonders

danke ich Anna Ammon und Miriam Fleischhacker für ihre Empathie, stundenlange

inspirierende Gespräche und den Halt, den sie mir geben.

Mein größter Dank gilt zuletzt meiner Frau Veronika Ege, die mich in den

Jahren meiner Promotion durch alle Höhen und Tiefen mit viel Geduld, Verständnis

und aufbauenden Worten begleitet hat. Mit ihr an meiner Seite durchs

Leben zu gehen und immer wieder herauszufinden, wer wir sind und wie wir

leben wollen, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit und Glück. Was ich ihr verdanke,

lässt sich kaum in Worte ausdrücken. Ihr ist diese Arbeit gewidmet.

Frankfurt am Main, im Mai 2024

Anne Gilly


Inhalt

Vorwort .................................................. 7

Einleitung ................................................ 13

1. Gottesdienste im Citykirchenbereich – ein wenig erforschtes

kirchliches Praxisfeld ................................. 17

2. Die bisherige qualitativ-empirische Gottesdienstforschung

zwischen Rezeptionsorientierung und erkenntnistheoretischem

Realismus .......................................... 20

3. Forschungsinteressen und Aufbau der Arbeit ............... 26

I. Methodologische und methodische Grundlegungen .............. 33

1. Methodologische Fundierung ........................... 33

1.1. Performanz- und praxistheoretische Ansätze – bislang

unausgeschöpfte Potenziale der Gottesdiensttheorie für die

empirische Forschung ............................. 33

1.1.1. Der Gottesdienst als Aufführungsgeschehen ........ 33

1.1.2. Der Gottesdienst als soziale Praxis ............... 36

1.1.3. Zur Verbindung performanz- und praxistheoretischer

Ansätze ................................... 38

1.2. Zur Ethnografie als Forschungsstrategie ................ 40

1.3. Erkenntnistheoretische Zwischenüberlegungen:

Qualitativ empirische Forschung zwischen Realismus und

Konstruktivismus ................................. 44

2. Feldzugang und methodisches Vorgehen ................... 48

2.1. Sampling ....................................... 48

2.1.1. Vorüberlegungen und Auswahlkriterien ........... 49

2.1.2. Vorstellung: Die ›ViertelSternStunde‹ ............. 51

2.1.3. Vorstellung: Der ›Sonntags:proviele‹-Gottesdienst .... 53

2.2. Feldzugang und Datenerhebung ...................... 57

2.2.1. Zur Person der Forscherin ..................... 57

2.2.2. Zur Herstellung des Feldzugangs ................ 59

2.2.3. Datenerhebung .............................. 61

2.2.4. Forschungsethik ............................. 67

2.3. Datenanalyse und Darstellung des Datenmaterials ........ 69

2.3.1. Datenverwaltung und -auswertung ............... 69

2.3.2. Darstellung der Daten und Aufbau der Analysekapitel 71


10 Inhalt

II. Einzelfallrekonstruktionen ................................. 75

1. Die ›ViertelSternStunde‹ in der St. Reinoldikirche Dortmund ... 75

1.1. Deutungsperspektive I: Die ›ViertelSternStunde‹ als

Dienstleistungsangebot ............................. 75

1.1.1. »Das ist ja eine gute Werbung auch« –

Werbepraktiken im Kontext der VSS ............. 77

1.1.2. »Das ist auf jeden Fall ein hoher Erinnerungswert« –

Die VSS als Marke ........................... 84

1.1.3. »Das waren gerade so meine zehn Minuten«

– Die VSS als komprimierte ›Zeit für sich‹ ......... 88

1.2. Deutungsperspektive II: Die ›ViertelSternStunde‹ als

kirchliche Praxis des ›Weihnachtschristentums‹ .......... 95

1.2.1. »Dass wir uns in der Kirche treffen und […] nicht

irgendwo« –›Weihnachtszeiten‹ und

›Weihnachtsräume‹ im Kontext der VSS ........... 98

1.2.2. »Dass die mitgesungen haben und mitgebetet

haben« – Weihnachtliche Praktiken im Kontext

der VSS ................................... 105

1.2.3. »Der Stern steht ja auch für Weihnachten« –

Weihnachtliche Symbolwelten im Kontext der VSS ... 110

1.2.4. »Geschichten, […] die jetzt so ein bisschen im

übertragenen Sinne das Ganze darstellen« –

Weihnachtliche Übersetzungspraktiken im Kontext

der VSS ................................... 117

1.3. Deutungsperspektive III: Die ›ViertelSternStunde‹ als

besinnlicher ›Anders Ort‹ und besinnliche ›Anders Zeit‹ .... 127

1.3.1. »Und bei der Hektik draußen, dass man die Ruhe hier

hat« – Die VSS als beschaulicher ›Anders Ort‹ und

beschauliche ›Anders Zeit‹ ..................... 129

1.3.2. »Was so wirklich wichtig ist zusätzlich zum

Konsumterror« – Die VSS als kritische Besinnung ... 138

2. Der ›Sonntags:proviele‹ Gottesdienst in der

Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche Berlin ................... 146

2.1. Deutungsperspektive I: Der ›Sonntags:proviele‹ Gottesdienst

als praktizierende Gemeinschaft ..................... 146

2.1.1. »Irgendwas von Anbindung« – Stimmliche

Gemeinschaftskonstitution im SPV Gottesdienst ..... 149

2.1.2. »Wir versammeln uns am Tisch des Herren« –

Gemeinschaftskonstitution durch Veränderungen der

räumlichen Anordnung im SPV-Gottesdienst ....... 154


Inhalt 11

2.1.3. »Wir brauchen Kennzeichen, die uns auszeichnen.« –

Sprachliche Gemeinschaftskonstitution im

SPV-Gottesdienst ............................ 160

2.1.4. »Dieses katholisch und evangelisch, dieses

Gemeinsame« – Der SPV-Gottesdienst als

einheitsbetonende ökumenische Gemeinschaft ...... 167

2.2 Deutungsperspektive II: Der ›Sonntags:proviele‹

Gottesdienst als diversitätssensible kirchliche Praxis ...... 171

2.2.1. »Als es da einen anderen Blick gibt auf Behinderung,

auf Erkrankung« – Der SPV-Gottesdienst als

diversitätssensible Praxis bezüglich Krankheit und

körperlicher Beeinträchtigung .................. 173

2.2.2. »Dass auch Homosexualität ein normales Thema ist« –

Der SPV-Gottesdienst als diversitätssensible Praxis

bezüglich geschlechtlicher und sexueller Vielfalt .... 186

2.3. Deutungsperspektive III: Der ›Sonntags:proviele‹-

Gottesdienst als Unterbrechung des Alltags ............. 194

2.3.1. »Wo ich dann auch mal runterkommen kann« – Der

SPV-Gottesdienst als wohltuende Unterbrechung des

Alltags .................................... 197

2.3.2. »Meinem Christusbezug komme ich da am

nächsten« – Der SPV-Gottesdienst als Erfahrung einer

außeralltäglichen Präsenz Gottes ................ 208

III. Fallübergreifende gottesdienst- und kirchentheoretische

Rekonstruktionen ....................................... 221

1. Gottesdienstliche Grenzarbeiten ......................... 221

1.1. Gottesdienstliche Praktiken der Entgrenzung ............ 223

1.2. Gottesdienstliche Arbeiten ›auf der Grenze‹ ............. 225

1.3. Gottesdienstliche Grenzziehungen .................... 227

1.4. Zur Beschaffenheit gottesdienstlicher Grenzarbeiten ...... 230

2. Zur Verschränkung von individualisierter und

gemeinschaftlicher Gottesdienstpraxis .................... 234

2.1. Verdichtungen einer individualisierten Gottesdienstpraxis .. 235

2.2. Zur Pluriformität gottesdienstlicher Vergemeinschaftungen 242

2.3. Zur Verschränkung von individualisierter und

gemeinschaftlicher Gottesdienstpraxis ................. 251

3. Gottesdienstliche Praxis als kirchliche Praxis ............... 258

3.1. ›Kirche‹ als Deutungsrahmen gottesdienstlicher Praxis .... 258

3.2. Gottesdienstliche Praxis als kirchliches Konstitutions- und

Modifikationsgeschehen ............................ 264

IV. Fazit ................................................. 273

V. Literaturverzeichnis ...................................... 283



Einleitung

»Wenn es um die empirische Erforschung der kirchlichen Praxis geht, ist der

Gottesdienst der primus inter pares« 1 ,konstatiert die Praktische Theologin Julia

Koll mit Blick auf die empirische Gottesdienstforschung der vergangenen Jahrzehnte.

Für das besondere Interesse praktisch-theologischer Erkundungen gottesdienstlicher

Praxislassen sich dabei sowohl deskriptive als auch theologischnormative

Gründe anführen: Rein quantitativ gesehen stellen Gottesdienste nach

wie vor ein zentrales kirchliches Praxisfeld dar. Unabhängig davon, ob Weihnachtsgottesdienst,

Kasualgottesdienst oder Sonntagsgottesdienst – häufig sind

es Gottesdienstbesuche, über die der:die Einzelne mit kirchlicher Praxis in Berührung

kommt und anihr partizipiert. 2 Doch auch unter qualitativen Gesichtspunkten

erscheint die gottesdienstliche Praxis als besonders bedeutsam.

Denn der Gottesdienst gilt in der öffentlichen Wahrnehmung als eine der zentralen,

wenn nicht die zentrale Erscheinungsform kirchlichen Handelns 3 und aus

theologischer Sicht als genuiner Konstitutionsort von ›Kirche‹ und »Zentrum

1

2

3

Koll, Gottesdienstforschung, 23 (Hervorh. im Orig.).

In der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (5. KMU) gaben knapp 80 Prozent

der evangelischen Befragten an, Gottesdienste zu besuchen, dabei 60 Prozent der Befragten

mehrmals im Jahr oder häufiger, vgl. Bedford-Strohm/Jung, Vernetzte Vielfalt,

479.

Dies wird wiederum an den Ergebnissen der 5. KMU deutlich: Gottesdienste im Allgemeinen

und Kasualgottesdienste im Speziellen verzeichneten mit die höchste Nennungsraten

auf die Frage, was den Befragten einfalle, wenn sie ›evangelische Kirche‹

hören, vgl. a. a. O., 461. Zudem stellt die Durchführung von Gottesdiensten nach sozialdiakonischen

Angeboten eine zentrale Erwartung der Befragten an die Kirche dar, vgl.

a. a. O., 474. Die Bedeutung gottesdienstlicher Praxis über den Kontext eigener Kirchenmitgliedschaft

und Partizipation an gottesdienstlichen Formaten hinaus wurde in

jüngerer Zeit auch an den kontrovers und emotional geführten Diskussionen über das

Aussetzen bzw. die Wiederaufnahme von Präsenzgottesdiensten im Kontext der Corona-

Pandemie deutlich, vgl. Menzel, Gottesdienst.


14 Einleitung

des kirchlichen Lebens« 4 .Für empirische Erkundungen gegenwärtiger kirchlich

verantworteter christlich-religiöser Praxis sind gottesdienstliche Vollzüge somit

ein besonders reizvoller Untersuchungsgegenstand.

Die vorliegende Studie widmet sich einer qualitativ-empirischen Analyse

ausgewählter gottesdienstlicher Formate aus dem Kontext der Citykirchenarbeit.

Bevor im Folgenden die Wahl dieses Untersuchungsgegenstandes begründet

und die diese Studie leitendenForschungsinteressen dargelegt werden,sollen

zunächst einige begriffliche und phänomenologische Präzisierungen vorgenommen

werden. Denn weder in der kirchlichen Praxis noch innerhalb (praktisch

)theologischer und religionssoziologischer Diskurse ist eine einheitliche

Verwendungsweise der Begrifflichkeiten ›Citykirchen‹ und ›Citykirchenarbeit‹–

bzw. in katholischen Kontexten häufig ›Citypastoral‹ –festzustellen. 5 Vielmehr

werden beide Begriffe häufig synonym mit anderen, etwa ›Stadtkirchen‹ und

›Stadtkirchenarbeit‹, und mithin inflationär benutzt. 6

Als ›Citykirchen‹ werden im Folgenden unter Bezugnahmen auf kirchenund

religionssoziologische sowie architektonische Diskurse Sakralgebäude

begriffen, »die in einem urbanen Kerngebiet mit hoher Konzentration von

Dienstleistungseinrichtungen stehen, die von ihrer baulichen Gestalt her öffentlich

ausstrahlen und in denen parochieübergreifende Funktionen wahrgenommen

werden.« 7 Diese Definition vereint stadträumliche und funktionale

Aspekte sowie Überlegungen hinsichtlich der Bedeutung der jeweiligen Kirchengebäude.

Stadtgeografisch gesehen bezeichnet die ›City‹ Innenstadtbereiche

von Großstädten, die im Zuge spezifischer sozialräumlicher Entwicklungen

deutscher Großstädte nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere nachhaltige Veränderungen

durchlaufen haben. 8 So führte zum einen die Schaffung von Groß-

4

5

6

7

8

Fechtner, Liturgik, 128. Vgl. hierzu auch Kap. III.3.

Vgl. Löwe, Citykirchen, 13–20 sowie Eufinger/Sellmann, Der verlorene Raum, 130.

Dies wird am Beispiel des 2004 entstandenen ›Netzwerk Citykirchenprojekte‹ deutlich.

Unter den Mitgliedern finden sich eine ganze Reihe an Projekten, die nicht im großstädtischen

Kontext, sondern in mittel- oder gar kleinstädtischen Standorten angesiedelt

sind, vgl. URL-Link: Netzwerk Citykirchenprojekte. Die Rede von ›Citykirchenarbeit‹

verweist hier nicht auf ein spezifisches sozialräumliches Setting, sondern unter funktionalen

Gesichtspunkten auf die spezifische Beschaffenheit der jeweiligen Projekte,

etwa einer parochieübergreifenden Ausrichtung.

Löwe, Citykirchen, 17 (im Orig. hervorgehoben).

An dieser Stelle erfolgt keine ausführliche Auseinandersetzung mit den Begriffen ›Urbanität‹,

›Stadt‹ und ›City‹. Ein solches Unterfangen würde nicht nur den Rahmen der

vorliegenden Ausführungen sprengen, sondern erweist sich auch unter inhaltlichen

Gesichtspunkten insofern als verzichtbar, als mit dieser Studie nicht der Anspruch

verbunden ist, spezifische Charakteristika der entsprechenden Sozialräume in ihrer

Bedeutsamkeit für gottesdienstliche Praxis herauszuarbeiten. Für eine Beschäftigung


Einleitung 15

siedlungen und die Entstehung von ›Speckgürteln‹ am Rande von Großstädten ab

den 1960er-Jahren zueinem massiven Rückgang an Wohnbevölkerung der bis

dato dicht besiedelten Innenstädte. Stattdessen siedeltenverstärkt Einrichtungen

des Dienstleistungs-, Verwaltungs- und Konsumsektors in Innenstädten an und

gaben diesem städtischen Bereich sein spezifisches sozialräumliches Gepräge:

Die Innenstädte wurden zunehmend »sachlich das repräsentative, amtliche, offizielle,

auch visible Gesicht der Stadt, nicht selten auch ihre diskursive Bühne.

[…] Sozial zeigt die City zumeist eine gemischte, wenn auch spezielle Rollenstruktur

(weniger Wohnbevölkerung, eher Repräsentations-, Arbeits-, Freizeitund

Konsumrollen).« 9

Diese Entwicklungen führten aus kirchlicher Perspektive einerseits zu einem

massiven Rückgang an Kirchenmitgliedern der in Innenstädten lokalisierten

Stadtkirchengemeinden, der durch gesamtgesellschaftliche Prozesse

wie abnehmende kirchliche Bindungen, zunehmende weltanschauliche Pluralität

und eine hohe Mobilität der Stadtbewohner:innen weiter verstärkt wurde. 10

Große Stadtkirchen im Innenstadtbereich erschienen dadurch zunehmend »als

völlig überproportioniert für die ›Restgemeinden‹« 11 .Andererseits zeigte sich,

dass innenstädtischen Kirchengebäuden in der öffentlichen Wahrnehmungeine

wichtige Rolle zugedacht und sie über die Grenzen formaler Kirchenmitgliedschaft

hinaus häufig zum Identifikationssymbol für Stadtbewohner:innen und

gar ›Markenzeichen‹ der jeweiligen Stadt wurden. 12 Zudem rangierten zentrale

Innenstadtkirchen ab den 1980er-Jahren zunehmend zubeliebten Besuchszielen.

Im Hintergrund standen hierbei zum einen der stark anwachsende Städtetourismus,

der sich im Zuge des insgesamt massiv anwachsenden Tourismus

ausbildete. 13 Zum anderen erfreuten sich zentral gelegene Stadtkirchen auch

bei einheimischen, sich im Innenstadtbereich aufhaltenden Flaneur:innen und

Passant:innen zunehmender Beliebtheit. 14

9

10

11

12

13

14

mit den entsprechenden Theoriediskursen vgl. exemplarisch Eufinger, Ambivalenzen

sowie Löw/Steets/Stoetzer, Stadt- und Raumsoziologie.

Ebertz, Kirche, 243 (Hervorh. im Orig.). Angesichts dieser Spezifika des Sozialraumes

›City‹ erscheint es sinnvoll, zwischen ›Citykirchenarbeit‹ und ›Stadtkirchenarbeit‹ im

Kontext kleinerer Städte bzw. in großstädtischen Wohnvierteln zu unterscheiden, vgl.

a. a. O., 242 f. sowie Ders., Citypastoral, 255.

Vgl. Löwe, Citykirchen, 25 f.

Grünberg/Reitz-Dinse, Kirche, 348. Vgl. auch Woydack, Der räumliche Gott, 102 f.

Vgl. Grünberg/Reitz-Dinse, Kirche, 353.

Zu den Hintergründen dieser Entwicklungen vgl. König, Konsumgesellschaft, 123–131.

Laut einer 2018 veröffentlichten Studie zu zwölf Citykirchen im deutschsprachigen

Raum sind knapp 20 Prozent aller Besucher:innen im weitesten Sinne ortsansässig, d.h.

sie wohnen, arbeiten oder kaufen (regelmäßig) in der entsprechenden Stadt ein. Der Rest


16 Einleitung

Auf diese Entwicklungen wurde kirchlicherseits mit der Etablierung der

Citykirchenarbeit reagiert, die im deutschsprachigen Raum nach angelsächsischem

Vorbild ab den 1980ern in verschiedenen Städten entstand. 15 Als ›Citykirchenarbeit‹

lassen sich hierbei kirchlich verantwortete Handlungsfelder und

Projekte begreifen, die an ›Citykirchen‹ im vorangehend dargelegten Sinn angesiedelt

sind und eine parochieübergreifende Ausrichtung verfolgen. 16 So zielt

die Citykirchenarbeit von ihrer Programmatik und Angebotsstruktur darauf

ab, ›Kirche für die ganze Stadt‹ zu sein – so eine gängige Formulierung – und

übergemeindliche kirchliche Projekte und Angebote zu konzipieren. 17

Für empirische Erkundungen gegenwärtiger kirchlich verantworteter religiöser

Praxis zeigt sich die Citykirchenarbeit nun besonders reizvoll, weil in

diesem Praxiskontext Charakteristika der spätmodernen deutschen Gesellschaft

in besonderer Weise sichtbar und in ihren Konsequenzen für die Gestaltung

gegenwärtiger kirchlicher Praxis greifbar werden. So lässt sich, wie zu sehen war,

bereits die Entstehung der Citykirchenarbeit maßgeblich als eine Reaktion auf

spezifische gesamtgesellschaftliche Entwicklungen begreifen, und das Wissen

um die Heraus- und Anforderungen einer kirchlichen Praxis in der Spätmoderne

gehört gewissermaßen zur DNA der Citykirchenarbeit. Denn im Sozialraum

›Großstadt‹ verdichten sich die Spätmoderne prägende und mit Schlagwörtern

wie ›Individualisierung‹, ›Pluralisierung‹ oder ›Säkularisierung‹ als Ausgangsbedingungen

gegenwärtiger kirchlicher Praxis einschlägig diskutierten Prozesse

18 »wie in einem Brennglas« 19 .Zentralist dabei, dass die genannten Phänomene

im Kontext der Citykirchenarbeit nicht als vergleichsweise abstrakte Beschreibungen

›der Gesellschaft‹, sondern als Attribute eines konkreten Sozialraumes in

den Blick kommen, in dem kirchliche Praxis verortet ist und mit dem sie auf

unterschiedliche Weise in Beziehung steht. 20 Gerade eine Beschäftigung mit der

Citykirchenarbeit bietet sich daher für eine empirische Analyse an, die ihren

Ausgangspunkt an konkreten kirchlichen Praxisformaten nimmt und danach

fragt, wie für die Spätmoderne konstitutive Prozesse darin ihre Niederschläge

finden.

Im Folgenden soll in einem ersten Schritt die bisherige empirische Forschung

zur Citykirchenarbeit skizziert werden (1.), bevor sodann ein kurzer Überblick

15

16

17

18

19

20

der Besucher:innen setzt sich aus Tourist:innen und Geschäftsreisenden zusammen, vgl.

Rebenstorf, Besucher*innen, 46.

Vgl. Grünberg/Reitz-Dinse, Kirche, 353.

Vgl. Körs, Kirchenräumen, 53 f.

Vgl. Grünberg, Sprache, 206.

Vgl. exemplarisch Stolz/Ballif, Zukunft sowie Steck, Praktische Theologie, Bd. 1, 156–

173.

Läpple/Messling/Trabant, Stadt, 11. Vgl. hierzu auch Löwe, Citykirchen, 1.

Vgl. Dedring, City-Kirchen-Arbeit, 45.50.


1. Gottesdienste im Citykirchenbereich 17

über qualitativ-empirische Arbeiten zu gottesdienstlichen Formaten folgt, die in

jüngerer Zeit erschienen sind (2.). Ausgehend von den hierin konstatierten inhaltlichen

und methodologischen Desideraten und von Überlegungen, im Hinblick

auf welche für die spätmoderne Gottesdienstpraxis insgesamt virulenten

Fragestellungen und Diskurse gerade das Praxisfeld der Citykirchenarbeit erhellende

Einsichten verspricht, werden sodann die dieser Studie zugrunde liegenden

Forschungsfragen sowie der Aufbau dieser Arbeit skizziert (3.).

1. Gottesdienste im Citykirchenbereich –ein wenig

erforschtes kirchliches Praxisfeld

Nicht nur gottesdienstliche Praxisformate, sondern die Citykirchenarbeit insgesamt

ist seit ihrer Entstehung vor mehr als drei Jahrzehnten selten zum Gegenstand

der empirischen Forschung geworden. Eine von Frank M. Löwe 1999

veröffentlichte praktisch-theologische Studie zur Gemeindestruktur von Citykirchen

verfügt neben theoretisch-konzeptionellen Überlegungen auch über einen

empirischen Teil. 21 Darin geht Löwe am Beispiel mehrerer Citykirchen in

Berlin der Frage nach, welche Bedeutung die Parochialgemeinde vor Ort (noch)

spielt, welche Gemeindeformen sich jenseits des Parochialprinzips ausmachen

lassen und welche Rolle hierfür Faktoren wie die geografische Lage der Kirche

oder die Beschaffenheit des Kirchengebäudes spielen. 22 Dabei generiert er

in einer qualitativen Untersuchung zu sechs Berliner Citykirchen mithilfe von

teilnehmenden Beobachtungen und Expert:inneninterviews Daten, wobei er

aufgrund der leichten Zugänglichkeit vor allem Gottesdienste als zu untersuchende

Veranstaltungsformate auswählt. Diese Daten finden jedoch keine eigene

Darstellung, sondern münden in einer kurzen Objekt-, Umfeld- und Nutzungsanalyse

zu den einzelnenKirchen sowie einer Reihevon Hypothesen, die sodann

mithilfe einer quantitativen Befragung von Gottesdienstbesucher:innen überprüft

werden. 23 Als zentrales Ergebnis seiner Studie hält Löwe fest, dass das

Parochialprinzip unter quantitativen Gesichtspunkten an Bedeutung verliert und

an seine Stelle stärker funktional, personal oder konfessionell orientierte Gemeindestrukturen

rücken. 24

In einer 2010 erschienenen raumsoziologischen Studie widmet sich Anna

Körs am Beispiel von vier Stadtkirchen in Norddeutschland Bedeutungszuschreibungen

von Kirchengebäuden und arbeitet hierzu mit Expert:inneninterviews

mit kirchlichen Verantwortlichen sowie quantitativen Befragungen von

21

22

23

24

Vgl. Löwe, Citykirchen.

Vgl. a. a. O., 91.

Vgl. a. a. O., 209–213.

Vgl. a. a. O., 288–292.


18 Einleitung

Kirchenbesucher:innen. 25 Dabei erstellt auch Körs ausgehend vom Datenmaterial

fürjede KircheeineObjekt-, Nutzungs- und Umfeldanalyse. 26 Weiterführend

macht sie fallübergreifend sechs verschiedene Bedeutungszuschreibungen von

Kirchengebäuden aus (eine kirchlich-gemeindliche, geschichtliche, religiöse,

städtische, kirchlich-bauliche sowie bauwerklich-atmosphärische) und zeichnet

nach, inwiefern diese Bedeutungszuschreibungen von Faktoren wie der Besuchshäufigkeit,

dem Wissen über das jeweilige Kirchengebäude oder persönlichen

religiösen Glaubensüberzeugungen der Befragten abhängen. 27

Auch in einer 2018 erschienenen soziologisch-theologischen Studie zu Citykirchen

als Tourismusphänomen liegt der Schwerpunkt auf den jeweiligen

Kirchengebäuden. 28 Um »ein differenziertes Bild der gegenwärtigen Besucher:innenschaft

von Citykirchen zu erhalten« 29 ,werden mithilfe standardisierter

Fragebögen Kirchenbesucher:innen von zwölf Citykirchen in Deutschland

und der Schweiz zu ihrer Motivation für das Aufsuchen der Kirche, ihren religiösen

Einstellungen und ihrem Raumerleben befragt. Die Ergebnisse geben

Einblicke in die soziodemografische Zusammensetzung von Citykirchenbesucher:innen

30 und zeigen bspw.die großeBedeutung von (bau )historischen sowie

atmosphärischen Dimensionen als Motivation für den Besuch von Citykirchen

auf. 31 Für zwei Kirchen, den Berliner Dom und das Grossmünster in Zürich, wird

darüber hinaus mithilfe einer Diskurs- und Korpusanalyse von Zeitungsberichten

und anderen Veröffentlichungen sowie Expert:inneninterviews das ›symbolische

Kapital‹ der Kirchengebäude im Sinne von politischen, (bau )geschichtlichen,

ästhetisch-atmosphärischen und religiösen Bedeutungszuschreibungen erhoben.

Davon ausgehend werden teilnehmende Beobachtungen und Kurzinterviews

zu den Verhaltensweisen von Besucher:innen im Kirchenraum durchgeführt. 32

Diese Daten finden wiederum keine eigene Darstellung, sondern münden in einer

knappen Typologie unterschiedlicher Besuchsweisen von Citykirchen, die sich

entlang von Aspektenwie dem Wissen über die jeweilige Kirche, Verweildauer im

Kirchenraum sowie der dort vollzogenen Praktiken ausmachen lassen. 33

25

26

27

28

29

30

31

32

33

Vgl. Körs, Kirchenräumen. Im Zuge einer Arbeit zur diakonischen Nutzung von Kirchenräumen

kommen auf wenigen Seiten auch Wahrnehmungsweisen des Grossmünsters

Zürich anhand von Einträgen in einem Fürbittenbuch sowie Beschreibungen

von Einzelpersonen zur Sprache, vgl. Sigrist, Kirchen, 71–86.

Vgl. Körs, Kirchenräumen, 133–199.

Vgl. a. a. O., 324–364.

Vgl. Rebenstorf et al., Tourismus.

Rebenstorf et al., Einleitung, 16.

Vgl. Rebenstorf, Besucher*innen, 48–67.

Vgl. Rebenstorf, Bedeutung, 95 f.

Vgl. Rebenstorf et al., Einleitung, 18 f.

Vgl. Zarnow/Hirblinger/Schlüter, Besuchsprofile, 175–189.


1. Gottesdienste im Citykirchenbereich 19

Zu guter Letzt ist eine von 2015 bis 2018 am ›Zentrum für angewandte

Pastoralforschung‹ Bochum durchgeführte Studie zu nennen, die darauf zielt,

einen Überblick über aktuell bestehende Citykirchenprojekte und ihre jeweiligen

Angebote zu gewinnen und diese zu evaluieren. 34 Hierfür werden mithilfe

einer Analyse von Dokumenten der Öffentlichkeitsarbeit, Fotografien von

Räumlichkeiten, Interviews mit haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden sowie

Eindrücken aus teilnehmenden Beobachtungen bestehende Citykirchenprojekte

kartografiert, um daraus praktische Konsequenzen für eine zukünftige

Ausrichtung der Citykirchenarbeit abzuleiten. Berücksichtigung finden zudem

Leitbilder und Selbstdarstellungen citykirchlicher Projekte auf deren Homepages

und Werbemedien. 35 Der dazu erschienene Arbeitsbericht bietet eine Typologie

citykirchlicher Projekte entlang fünf inhaltlicher Kategorien (Hilfsangebote,

Begegnung, Spiritualität, Information, christlicher Habitus/christliche Identität)

und drei zeitlicher Kategorien (punktuell, mittelfristig, langfristig), die »den

Status Quo der Citykirchen in seiner Breite ab[deckt]« 36 .Der Tatsache, dass der

Arbeitsbericht im Duktus von Handlungsempfehlungen formuliert ist, mag geschuldet

sein, dass sich darin wenig Informationen über das methodische Vorgehen

finden. Zudem kommt das empirische Datenmaterial nur am Rande zur

Sprache und wenn, dann zumeist in Form von Interviewauszügen, die dazu

dienen, die Plausibilität der Handlungsempfehlungender Autor:innen empirisch

zu untermauern.

Diese kurze Übersicht über empirische Studien zur Citykirchenarbeit verdeutlicht

in inhaltlicher Hinsicht, dass gottesdienstliche Formate bislang nur

am Rand Beachtung gefunden haben. Eine empirische Arbeit, die sich dezidiert

mit liturgischen Formaten im Citykirchenbereich beschäftigt, liegt nicht vor.

Diese Feststellungdeckt sich mit der Beobachtung, dass diesem Praxisfeld in der

wissenschaftlichen Reflexion bislang insgesamt wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde.

So beschränkt sich die Beschäftigung mit gottesdienstlichen Formaten im

Bereich der Citykirchenarbeit vor allem auf Praxisliteratur, wobei kirchliche

Akteur:innen gottesdienstliche Formate an ›ihren‹ Citykirchen vorstellen und

dazu Hintergrundinformationen geben. 37 Darüber hinaus liegen einzelne Aufsätze

vor, in denen meist unter einem recht programmatischen Zugriff Überlegungen

zu Gottesdiensten im Citykirchenkontext angestellt werden. 38

34

35

36

37

38

Vgl. Eufinger/Sellmann, Empfehlungen.

Vgl. a. a. O., 17–21.

A.a. O., 9.

Vgl. Petersen, Stadtliturgien sowie einzelne Beiträge in Friedrichs, Alternative Gottesdienste.

So wird etwa in einem Aufsatz über Impulse der Citykirchenarbeit für die Gestaltung

gottesdienstlicher Praxis ausgehend von theoretischen Überlegungen für mehr distanzierte

Beteiligungsformen plädiert, vgl. Reitz-Dinse, Grenzen.


20 Einleitung

In methodischer Hinsicht sind in erster Linie quantitative Untersuchungsdesigns

zu konstatieren, die vor allem mithilfe standardisierter Fragebögen der

Rezeption aufseiten citykirchlicher Besucher:innen nachgehen. Zwar kommen

vereinzelt auch qualitative Forschungsansätze und -methoden zur Anwendung,

diese erfüllen jedoch primär eine quantitativen Untersuchungen dienende und

diesen mithin untergeordnete Funktion. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich,

dass die mithilfe qualitativen Methoden generierten Daten in den aufgeführten

Studien durchgängig keine eigene, für die Leser:innenschaft nachvollziehbare

Analyse und Darstellung finden.

2. Die bisherige qualitativ-empirische Gottesdienstforschung

zwischen Rezeptionsorientierung und

erkenntnistheoretischem Realismus

Im Zuge der verstärkten empirischenAusrichtung der Praktischen Theologie seit

der sogenannten ›empirischen Wende‹ in den 1970er-Jahren sind im deutschsprachigen

Raum unter Anknüpfung an vielfältige Methoden der Sozialwissenschaften

zahlreiche empirische Arbeiten zu gottesdienstlichen Praxisvollzügen

entstanden. 39

Galt das Hauptinteresse lange vor allem quantitativen Erhebungen der Besuchshäufigkeit,

des Teilnahmeverhaltens sowie von Erwartungshaltungen in

Bezugauf verschiedene Gottesdienstformen,sosindinden vergangenen20Jahren

verstärkt auch qualitative Studien zu unterschiedlichen gottesdienstlichen Formaten

durchgeführt worden. Diese haben einen großen Beitrag für ein vertieftes

Verständnis spätmoderner gottesdienstlicher Praxis geleistet und sowohl aufseiten

kirchlicher Akteur:innen als auch aufseiten der praktisch theologischen

Reflexionzueiner verstärktenWahrnehmung derBedürfnisse undInteressender

Gottesdienstbesucher:innen geführt. Denn bei dem Großteil dieser Arbeiten liegt

der inhaltliche Schwerpunkt auf der Rezeption der gottesdienstlichen Feiern aufseiten

derBesucher:innen, wobeiinmethodischerHinsichtprimärmit qualitativen

Interviews, 40 seltener mit schriftlichen Erlebniserzählungen im Nachgang an die

besuchtenGottesdienste gearbeitet wird. 41 Dieserezeptionsorientierte Perspektive

wird zwar in einzelnen Studien durch imRahmen einer teilnehmenden Beobachtung

angefertigte Beobachtungsprotokolle ergänzt, jedoch handelt es sich

hierbei umeinen andere Methoden und Daten ergänzenden und diesen deutlich

39

40

41

Zum Folgenden vgl. auch die prägnante Zusammenfassung bei Walti, Gottesdienst, 93 f.

sowie Koll, Gottesdienstforschung.

Exemplarisch sind zu nennen: Pohl-Patalong, Gottesdienst; Merzyn, Trauung sowie

Fopp, Trauung.

Vgl. Kaiser, Musik sowie Stork-Denker, Beteiligung.


2. Die bisherige qualitativ-empirische Gottesdienstforschung 21

untergeordnetenZugangzum Untersuchungsgegenstand. 42 Dabeifällt auf, dass in

den jeweiligen Studien methodologische und epistemologische Reflexionen hinsichtlich

des Untersuchungsgegenstandes und des Aussagegehaltes der Ergebnissemeist

wenigRaumeinnehmen. Dies führtetwadazu, dass ausgehendvon den

Aussagen der Interviewpartner:innen unmittelbare Rückschlüsse auf ihr Erleben

oder weiterführend auf die dem Erlebnis zugrunde liegende gottesdienstliche

Praxis gezogen werden, ohne deren Charakter als durch die konkrete Interviewsituation

evozierte sprachlich verfasste Deutungen des eigenen Erlebens zu reflektieren.

43

Erst in jüngerer Zeit sind eine Reihe von Arbeiten entstanden, die nicht

ausschließlich rezeptionsorientiert vorgehen, sondern an der eigentlichen Gottesdienstpraxis

ansetzen und zueiner Weitung des methodischen Repertoires

der empirischen Gottesdienstforschung beigetragen haben. Dabei ist erstens eine

2011 erschienene praktisch-theologische Arbeit Achim Knechts zunennen, in

der dieser unter einer phänomenologischen Perspektive den Erlebnisqualitäten

gottesdienstlicher Vollzüge nachgeht. 44 Knecht nimmt darin eine Reihe von

erlebnistheoretischen Klärungen vor, die er jeweils mit im Rahmen von teilnehmenden

Beobachtungen von Gottesdiensten angefertigten Feldprotokollen

beschließt. Dem empirischen Datenmaterial kommt dabei in erster Linie die

Funktion zu, Einsichten aus den jeweiligen Theoriediskursen beispielhaft zu

illustrieren. 45 Dieser Tatsache mag geschuldet sein, dass die Protokollauszüge

teilweise recht unverbunden und ohne Einbettung in den Fließtext präsentiert

werden undsich der Zusammenhang zwischen den im Fließtext vorgenommenen

Deutungen und den zitierten Protokollauszügen nicht immer unmittelbar er-

42

43

44

45

So werden etwa in einer Arbeit zu religiösen Feiern zum Schulanfang u. a. anhand von

Beobachtungsprotokollen zweier Einschulungsgottesdienste Kategorien herausgearbeitet,

die als Basis für weiterführende theoretische Überlegungen dienen, vgl. Saß,

Schulanfang, 95–124. Auch eine primär rezeptionsorientierte Perspektive auf religiöse

Jugendfeiern wird um Beobachtungsprotokolle zweier Vorbereitungstreffen sowie Jugendfeiern

ergänzt, denen die Funktion zukommt, theoretische Überlegungen in der

Praxis zu illustrieren, vgl. Handke, Jugendfeiern, 190–194, 221–227.

Vgl. exemplarisch Pohl-Patalong, Gottesdienst. Dies ist umso auffälliger, als innerhalb

der Sozialwissenschaften die Annahme einer »Homologie von Erzählkonstitution

und Erfahrungskonstitution« (Przyborski/Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung,

80) bereits seit vielen Jahrzehnten umstritten ist. Zur Diskussion vgl. a. a. O., 80.228.

Stattdessen wird der Charakter von Interviews als interaktive und konstruktive Leistung

aller Beteiligten, als eine ›performative‹ bzw. ›diskursive Praxis‹ betont, vgl. Dausien/

Mecheril, Biographie sowie Lucius-Hoene/Deppermann, Rekonstruktion.

Vgl. Knecht, Erlebnis Gottesdienst.

Vgl. a. a. O., 112 f.


22 Einleitung

schließt. 46 Zudem fällt auf,dass trotz des in der methodologischen Grundlegung

der Arbeit zum Ausdruck kommenden Bewusstseins um den Charakter der

Beobachtungsprotokolle als Deutungen des gottesdienstlichen Geschehens die

Beobachtungen und Analysen des Forschers in der Darstellung der Ergebnisse

im Modus unmittelbarer Schlüsse darüber präsentiert werden, wie spezifische

Sachverhalte ›sind‹. Ähnlich wie im Falle der qualitativen Interviewforschung

wird hier von der deutenden Versprachlichungeines Erlebens unmittelbar auf die

gedeutete Praxis selbst geschlossen, nur dass hier die Forschungsperson und

nicht eine interviewte Person die Deutung vornimmt.

Als einezweite Linie empirischer Untersuchungen, die am Vollzugsmoment

gottesdienstlicher Praxis ansetzen, lassen sich interaktionsanalytische und mikrosoziologische

Arbeiten nennen, die gottesdienstliche Vollzüge mithilfe videografischer

Mitschnitte analysieren. 47 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang

eine 2016 veröffentlichte praktisch-theologische Studie von Christian Walti zum

Gottesdienst als ›Interaktionsritual‹. 48 Darin zeichnet Walti in minutiöser Feinanalyse

nach, wie in einzelnen gottesdienstlichen Sequenzen zwischen den

Beteiligten spezifische rituelle Interaktionsordnungen hergestellt werden und

welche ›implizite Theologie‹ in diesen Interaktionsordnungen zum Ausdruck

kommt. Vergleichbar feinanalytisch gehen der Linguist Heiko Hausendorf und

der Soziologe Reinhold Schmitt in mehreren Studien zu unterschiedlichen gottesdienstlichen

Vollzügen vor. 49 Mit ihrer ›multimodalen Interaktionsanalyse‹ 50

untersuchen sie ebenfalls auf Grundlage videografischer Aufzeichnungen das

Zusammenspiel von (Kirchen )Raum, Sprache und Bewegung und zeichnen situative

und interaktive Aushandlungsprozesse zwischen den Teilnehmenden

nach, etwa in Bezug auf die ›Lösung‹ spezifischer handlungspraktischer Anforderungen

im Verlauf der Gottesdienste.

46

47

48

49

50

So heißt es im Fließtext an einer Stelle etwa, dass die Pfarrperson »beim schwungvollen

Segnen einen Eindruck« hinterließ, »der zum Erleben von Nähe und Faszination beiträgt«

(a. a. O., 283). In dem nachfolgend zitieren Protokollauszug wird beschrieben, wie die

Pfarrperson schwungvoll die Segensgeste ausführt, es wird aber nicht ersichtlich, auf

welcher empirischen Beobachtung die Analyse gründet, die Pfarrperson trage hierdurch

»zum Erleben von Nähe und Faszination« bei.

Teilweise wird ein solches Vorgehen als ›fokussierte Ethnografie‹ bezeichnet, jedoch ist

die Zuordnung zur Ethnografie aufgrund der geringen Bedeutung, die die subjektiven

Erfahrungen der Forschungsperson und deren literarisierte Fassung im Verlauf des

Forschungsprozesses spielen, umstritten. Zur Diskussion vgl. Knoblauch, Fokussierte

Ethnographie; Ders., Klärung sowie Breidenstein/Hirschauer, Endlich fokussiert?.

Vgl. Walti, Gottesdienst.

Vgl. etwa Hausendorf/Schmitt, Opening; dies., Stühle sowie dies., Abendmahl.

Für eine ausführliche Darstellung dieses methodischen Zugangs vgl. Hausendorf/

Schmitt, Sprache, 9–16.


2. Die bisherige qualitativ-empirische Gottesdienstforschung 23

Die Arbeiten von Walti sowie Hausendorf und Schmitt stellen innovative

Erweiterungen der qualitativ-empirischen Gottesdienstforschung dar, die die

interaktive und situative Hervorbringung gottesdienstlicher Vollzüge mit neuer

Präzision zur Geltung bringen. Jedoch verzichten sowohl Walti als auch Hausendorf

und Schmitt in ihren Studien darauf, ihre Analysen mit den Perspektiven

anderer Feldteilnehmer:innen zu ergänzen und ggf. zu kontrastieren. 51 Das

hieraus resultierende Problem einer gewissen Einseitigkeit und Exklusivität

hinsichtlich der Interpretationen wird in den Studien von Hausendorf und

Schmitt dadurch verstärkt, dass die Darstellung des empirischen Materials mit

der ihrer Interpretation zusammenfällt, ohne dass interpretative Anteile vonseiten

der beiden Forscher explizit kenntlich gemacht werden. Dass es sich bei

ihren Analysen jedoch keineswegs um eine deskriptive und deutungsfreie Darstellung

der Praxis handelt, wird insbesondere dort deutlich, wo Hausendorf und

Schmitt ausgehend von dem Datenmaterial Schlüsse auf die Wahrnehmungen

der beteiligten Gottesdienstteilnehmer:innen ziehen. 52 Walti ist hingegen um

eine größere Transparenz hinsichtlich interpretativer Anteile seiner Analysen

bemüht und unterscheidet in seinen Sequenzanalysen die Wiedergabe des Datenmaterials

von seinen Interpretationen der jeweiligen Szene. Beide Schritte

macht er jeweils durch eigene Überschriften kenntlich und erleichtertesdem:der

Leser:in hiermit, seine Interpretationen im Einzelnen nachzuvollziehen undggf.

zu anderen Deutungen der beschriebenen Szenen zu kommen.

Eine dritte Linie von am Vollzugsmoment gottesdienstlicher Praxis ansetzenden

Studien bilden ethnografische Arbeiten. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang

im deutschsprachigen Raum primär eine 2018 veröffentlichte

Untersuchung des Praktischen Theologen Bertram Schirr zu »Fürbitten als religiöse

Performance« 53 .Schirrs übergeordnetes Forschungsinteresse gilt Körpertechniken,

»die es Menschen als Gegenüber Gottes für andere gemeinsam zu

beten ermöglichen« 54 .Spezifischer zielt seine Untersuchung darauf ab, Prozesse

der Körperformierung, der ›Zusammenarbeit‹ zwischen Mitwirkenden und

Besucher:innen sowie der Repräsentation spezifischer Gebetsinhalte nachzu-

51

52

53

54

In der Studie Waltis fand zwar auch die Methode der ›Video-Elizitation‹ Anwendung, d.h.

von den Videoaufzeichnungen ausgehende Interviews mit Gottesdienstteilnehmer:innen,

jedoch wurden die hierdurch generierten Daten »nur beiläufig zur Interpretation

herangezogen« (Walti, Gottesdienst, 108).

So sprechen Hausendorf und Schmitt an einer Stelle etwa davon, für Gottesdienstbesucher:innen

wirkten Gegenstände im Altarraum in ihrer »harmonische[n], mittigsynchrone[n]

Anordnung in ihrer Funktion als religiös-rituelle Bestandteile des Gottesdienstes

unabhängig davon, ob sie ein faktisches Wissen um die konkrete religiösliturgische

Bedeutung der einzelnen Objekte besitzen« (Dies., Opening, 61).

Schirr, Fürbitten.

A.a. O., 74 (im Orig. hervorgehoben).


24 Einleitung

zeichnen. 55 Dabei trianguliert Schirr unterschiedliche Daten, die er aus der

teilnehmenden Beobachtung, Interviews mit Mitwirkenden und Gottesdienstbesucher:innen

sowie Audioaufzeichnungen der Gottesdienste gewinnt.

Schirr leistet mit seiner Studie einen wichtigen Beitrag für eine ethnografisch

fundierte Gottesdienstforschung, die ihren Untersuchungsgegenstand

multiperspektivisch und unter Zuhilfenahme der Forschungsperson als Ressource

zu erschließen vermag. Vorallem unter Rückgriff auf englischsprachige

Forschungsdiskurse erschließt er dabei die Potenziale eines ethnografischen

Vorgehens für die Erforschung gottesdienstlicher Gebetstechniken. 56 In der

Darstellung seiner Ergebnisse wählt Schirr dabei den Weg, zuerst ›Szenen der

Beschreibung‹ in Form von bis zu 20 Seiten langen Auszügen aus seinen Feldprotokollen

zu präsentieren, die bis auf Überschriften unkommentiert bleiben.

Daraufhin folgt jeweils ein Kapitel ›Interpretation‹,indem unter Bezugnahme auf

Interviewausschnitte oder Gottesdienstaufzeichnungensowie durch numerische

Rückverweise auf im vorangehenden Kapitel abgedruckte Feldprotokolle analytische

und theoretisierende Schlüsse gezogen werden. Zwar kann bei dieser

Darstellungsform der:die Leser:in die FeldprotokolleimWortlaut nachvollziehen,

jedoch erschwert die in unterschiedliche Kapitel aufgeteilte Wiedergabe der

Feldprotokolle und die ihrer Interpretation die Nachvollziehbarkeit Schirrs interpretatorischer

Schlüsse. Zudem fällt auf, dass Schirr unterschiedlich mit dem

Datenmaterial verfährt, indem erFeldprotokolle als ›Szenen der Beschreibung‹,

Interviewausschnitte jedoch im Zusammenhang von ›Interpretationen‹ präsentiert.

Dementsprechend geht er auch nur in Hinsicht auf die Interviewausschnitte

auf sprachliche Besonderheiten und Auffälligkeiten ein, aus denen interpretative

Rückschlüsse gezogen werden können, nicht jedoch auf von ihm verfasste

Feldprotokolle.

Die vorangehende Übersicht hat deutlich gemacht, dass in den vergangenen

Jahrzehnten mehrere qualitativ-empirische Studien zu gottesdienstlicher

Praxis erschienen sind, die zu einem vertieften Verständnis gegenwärtiger

Gottesdienstpraxis geführt haben. Gleichwohl wurden auch eine Reihe von

thematischen wie methodologischen Forschungsdesideraten der gegenwärtigen

qualitativ-empirischen Gottesdienstforschung deutlich. So fällt erstens auf, dass

es kaum Untersuchungen gibt, in denen die Sichtweisen der Durchführenden

und der Besucher:innen untersucht und miteinander ins Gespräch gebracht

werden. 57 Ein solches Vorgehen erscheint vielversprechend,umunterschiedliche

Perspektiven von in unterschiedlichen Rollen am gottesdienstlichen Geschehen

Beteiligten herauszuarbeiten und ggf. auch Diskrepanzen zwischen den Inten-

55

56

57

Vgl. a. a. O., 75.

Vgl. a. a. O., 79–88.

Vgl. Koll, Gottesdienstforschung, 25.


2. Die bisherige qualitativ-empirische Gottesdienstforschung 25

tionen der Durchführenden und Rezeptionsweisen aufseiten der Besucher:innen

aufzuzeigen.

Auch wenn in den vergangenen Jahren eine Reihe von Arbeiten erschienen,

die am Vollzugsmoment der gottesdienstlichen Praxis ansetzt, wurde zweitens

deutlich, dass die diesbezügliche Gottesdienstforschung nach wie vor am Anfang

steht. Dies gilt insbesondere für ethnografische Ansätze, die bisher ineinzelnen

Studien, etwa Schirrs Arbeit zum Fürbittengebet, erprobt wurden, jedoch noch

nicht im Hinblick auf das gottesdienstliche Geschehen als Ganzes. 58 Aspekte wie

die Wirkweisen einzelner Bestandteile des gottesdienstlichen Geschehens wie

dem Raum, sprachlichen Elementen oder körperlichen Bewegungen und ihrem

Zusammenspiel sowie atmosphärische Dimensionen von Gottesdiensten sind

empirisch nach wie vor wenig erforscht. 59 Dieser Befund überrascht insbesondere

deshalb, weil innerhalb der Gottesdiensttheorie in den vergangenen Jahren

ausgehend von kulturwissenschaftlichen Modellen innovative Ansätze auszumachen

sind, die das gottesdienstlicheGeschehen als Zusammenspiel von Raum,

Körpern, Sprache und Bewegung unter Berücksichtigung atmosphärischer Dimensionen

(neu) zur Geltung bringen. 60

Zu guter Letzt zeigte die vorangehende Übersicht methodologische und methodische

Desiderate der bisherigen empirischen Gottesdienstforschung auf. So

stellt sich in epistemologischer Hinsicht erstens die Frage nach dem Verhältnis

von gottesdienstlicher Praxis und ihrer Rekonstruktion durch und mithilfe unterschiedlicher

Methoden und aus ihnen resultierenden Daten (Feldprotokolle,

Interviews, Aufzeichnungen etc.). Explizite Reflektionen hierzu haben in der

bisherigen empirischen Gottesdienstforschung wenig oder gar keinen Raum

58

59

60

Anleihen an ein ethnografisches Vorgehen nimmt die 2019 erschienene praktischtheologische

Studie zur Sozialität ›besonderer Gottesdienste‹, vgl. Martin, Sozialität.

Darin nimmt die Forscherin zwar im Rahmen von teilnehmenden Beobachtungen an den

jeweiligen Gottesdiensten teil, jedoch fungieren die Protokolle zu den gottesdienstlichen

Vollzügen vor allem der Generierung von Kontextwissen für den Einsatz weiterer Methoden

wie Interviews oder Gruppendiskussionen und spielen im Vergleich zu anderen

Datensorten eine deutlich untergeordnete Rolle. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich,

dass sich in der Darstellung der Daten kaum Bezugnahmen auf Feldprotokolle finden

und diese im Gegensatz zu anderem Datenmaterial nicht zitiert werden. Martin spricht

daher folgerichtig auch »nicht von einer ethnographischen Studie, sondern von einer

ethnographischen Grundierung« (a. a. O., 34) ihrer Arbeit, die sie vor allem in der Datentriangulation

und einer offenen Forschungshaltung verwirklicht sieht. In einer 2020

erschienenen qualitativ-empirischen Studie zum ›Phänomen Kirchentag‹ finden sich auf

wenigen Seiten auch Beschreibungen von zwei Gottesdiensten im Rahmen eines Kirchentagsbesuchs,

vgl. Renner, Kirchentag, 197–206.

Vgl. Koll, Gottesdienstforschung, 25.

Vgl. Kap. I.1.1.


26 Einleitung

eingenommen und zumindest auf der Ebene der schriftlichen Darstellung der

Ergebnisse stellt sich nicht selten der Eindruck eines erkenntnistheoretischen

Realismus ein, der von einer Korrespondenz von sprachlichen Repräsentationsformen

und der ›Realität‹ ausgeht.

Damit ist zweitens der Aspekt der Darstellung der empirischenAnalysen und

Ergebnisse berührt. Ausgehend von den vorangehenden Beobachtungen gilt es

hierbei insbesondere Darstellungsformen zu finden, die der Leser:innenschaft

den Nachvollzug interpretativer Schlüsse vonseiten der Forscher:innen undggf.

deren kritische Infragestellung möglich machen.

3. Forschungsinteressen und Aufbau der Arbeit

Die vorliegende qualitativ-empirische Studie zielt auf eine multiperspektivische

Rekonstruktion zweier gottesdienstlicher Praxisformate aus dem Kontext der Citykirchenarbeit.

Dabei besteht das primäre Anliegen nicht darin, typische

Merkmale bzw. Merkmalskombinationen des Feldes ›Gottesdienste im Citykirchenbereich‹

anhand der zwei ausgewählten Formate zuergründen. Ein solches

Unterfangen wäre angesichts der Heterogenität und Vielfalt gottesdienstlicher

Formate inder Citykirchenarbeit schlichtweg unmöglich. Vielmehr gilt das Interesse

dieser Studie, die beiden gottesdienstlichen Formate mit ihren spezifischen

Eigenheiten und Charakteristika nachzuzeichnen. 61

In methodologischer bzw. methodischer Hinsicht will diese Arbeit einen Beitrag

zur Überwindung der starken Rezeptionsorientierung leisten, die die empirische

Gottesdienstforschung lange dominiert hat. Vielmehr sollen die beiden

untersuchten Formate aus Sicht unterschiedlicher Teilnehmer:innen am Geschehen

in den Blick kommen und Aspekte der Intention aufseiten der Durchführenden,

der gottesdienstlichen Feiern in ihrem Vollzugsmoment sowie der

Rezeption miteinander ins Gespräch gebracht werden. Insbesondere gilt es dabei,

unter Rückgriff auf Einsichten der jüngeren Gottesdiensttheorie das gottesdienstliche

Geschehen in seinem Vollzugsmoment als Komplex von Raum,

Sprache und Bewegungen mit seinen atmosphärischen und emotionalen Qualitäten

zur Geltung zu bringen und einer empirischen Analyse zugänglich zu

machen. Hierzu wird ein ethnografisches Vorgehen als ein vielversprechender

und in der praktisch-theologischen Gottesdienstforschung bislang wenig

erprobter Forschungsansatz gewählt, den es mit dieser Studie weiter zu etablieren

gilt.

In material-inhaltlicher Hinsicht sind für die vorliegende Studie eine Reihe

von Fragestellungen und Themenkomplexe leitend, die sich im Hinblick auf die

61

Zur Frage, ob sich aus der vorliegenden Untersuchung Schlüsse für andere kirchliche

bzw. gottesdienstliche Praxiskontexte ziehen lassen, vgl. Kap. IV.


3. Forschungsinteressen und Aufbau der Arbeit 27

spätmoderne Gottesdienstpraxis insgesamt und für die citykirchliche Gottesdienstpraxis

in besonderer Weise stellen. 62 Im Folgenden sollen vier Themenkomplexe

in aller Kürze skizziert werden, die für die nachfolgende empirische

Untersuchung als ›sensibilisierende Konzepte‹ im Sinne von Heuristiken fungieren,

die dieWahrnehmung spezifischer Phänomene im Feld leiten, dabei aber

vage und offen genug sind, um ausgehend vom empirischen Material präzisiert

und inhaltlich gefüllt werden zu können. 63

Erstens ergeben sich mehrere Fragestellungen aus der Beobachtung, dass

die Partizipation an gottesdienstlichen Feiern in der pluralen spätmodernen

Gesellschaft eine mögliche Option unter anderen geworden ist und sich gottesdienstliche

Formate gegenüber anderen Sinnstiftungs- und Erlebnisangeboten

›behaupten‹ müssen. Im Bereich der Citykirchenarbeit wird diese grundlegende

Ausgangsbedingung gegenwärtiger kirchlicher Praxis häufig unter dem Begriff

der Konkurrenz zwischen kirchlichen Angeboten und einer Vielzahl anderer

Angeboten, gerade im innerstädtischen Bereich als Freizeit-, Erlebnis- und

Konsumraum, verhandelt. 64 Ausgehend von dieser Beobachtung gilt das Interesse

der nachfolgenden Studie in und mit den jeweiligen Formaten zum

Ausdruck kommenden Strategien und Umgangsweisen mit dieser Situation der

Konkurrenz, Verhältnisbestimmungen zu gegenwärtigen Konsum- und Erlebnisgewohnheiten

sowie Profilierungen der jeweiligen Formate, gerade auch im Gegenüber

zu anderen (innerstädtischen) Angeboten und Erlebnisräumen. 65

Zweitens sensibilisiert die Citykirchenarbeit in besonderer Weise dafür,

dass gegenwärtige gottesdienstliche Praxis stets im Kontext einer weltanschaulich

pluralen und von Entkirchlichungs- und religiösen Detraditionalisierungsprozessen

geprägten Gesellschaftverortet ist. So zeigen sich bekanntermaßen die für

die Spätmoderne insgesamt charakteristischen Veränderungs- und Pluralisierungsprozesse

des religiösen Feldesinbesonderer Weiseinurbanen Kontexten. 66

In Großstädten finden sich nicht nur auf engem Raum unterschiedlichste Religionsgemeinschaften,

sondern die urbane Kultur trägt auch in einem weit höheren

Maße als andere Lebensräume eine säkulare Signatur und weist deutlich

geringere Zugehörigkeitszahlen zur römisch-katholischen und evangelischen

62

63

64

65

66

Die nachfolgenden Forschungsinteressen gründen darin, dass diese Studie ursprünglich

in einem Forschungskontext angesiedelt war, der nach gottesdienstlicher Praxis als Ort

der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher und weltanschaulicher Pluralität fragt,

vgl. URL-Link: ›RelPos‹ Teilprojekt Praktische Theologie.

Vgl. Kelle/Kluge, Einzelfall, 28–40.

Vgl. Wichmann, Stadterkundung, 82–84.

Vgl. a. a. O., 82 f. sowie Sellmann, Stadtaffe.

Vgl. Eufinger, Stadt, 11 sowie Fechtner, Späte Zeit, 101.


28 Einleitung

Kirche auf als ländliche Räume. 67 Hieraus ergeben sich wiederum Fragen nach

der Profilierung der jeweiligen gottesdienstlichen Formate, gerade auch im Verhältnis

zu anderen Akteur:innen und Deutungskulturen, seien sie religiöser Art

oder nicht, 68 nach im Vollzug des Gottesdienstes zu verzeichnenden Vermittlungsund

Plausibilisierungsmodi christlich-religiöser Symbolbestände 69 sowie Aushandlungsprozessenvon

Zugehörigkeiten, von ›Innen‹ und ›Außen‹ und Bestimmungen

des Eigenen und des Fremden. 70

Als einen dritten zu reflektierenden Komplex lassen sich Fragestellungen um

die Gottesdienstpraxis im Kontext einer von umfassenden Individualisierungsprozessen

gekennzeichneten Gesellschaft ausmachen. Wird gerade im Hinblick

auf die Citykirchenarbeit in kirchlichen wie praktisch-theologischen Diskursen

die Frage kontrovers diskutiert, ob kirchliche Praxis stärker am einzelnen

Individuum orientiert oder ihr eine gemeinschaftliche Ausrichtung zugrunde

liegen soll, 71 so möchte die vorliegende Studie einen Beitrag zu einer Verhältnisbestimmung

von individualisierter und gemeinschaftsorientierter Gottesdienstpraxis

leisten. Dafür wird zunächst zu fragen sein, wie sich die insbesondere

im Kontext der Kasualpraxis und Begehung jahreszyklischer Festgottesdienste

häufig verwendete, dabei jedoch teilweise abstrakt anmutende Rede von einer

›individualisierten‹ Gottesdienstpraxis mit Blick auf die beiden Untersuchungsfelder

konkretisieren lässt. Für die Frage nach Formen gottesdienstlicher Vergemeinschaftungen

erscheint insbesondere relevant, dass in der (Spät )Moderne

auf Langfristigkeit und dauerhafte Bindungen angelegte Teilnahmeformen an

Gottesdiensten brüchig geworden sind und die gegenwärtige Gottesdienstpraxis

häufig, etwa im Zusammenhang mit jahreszyklischen Festgottesdiensten und

Kasualien, von punktuellen Partizipationsformen gekennzeichnet ist. 72 Diese

Beobachtung gilt für Gottesdienste im Kontext der Citykirchenarbeit angesichts

von Personengruppen wie Tourist:innen und Flaneur:innen, die an gottesdienstlichen

Angeboten im Zuge von Aufenthalten im innerstädtischen Bereich

(einmalig) partizipieren,und einer hieraus resultierenden hohen Fluktuation der

Besucher:innenschaft inbesonderer Weise. Ausgehend von dieser Beobachtung

und Aspekten wie der Größe der Kirchengebäude und ggf. vergleichsweise hohen

Teilnehmer:innenzahlen zeichnet sich citykirchliche gottesdienstliche Praxis

zudem als ein von einer vergleichsweise hohen Anonymität zwischen den Teil-

67

68

69

70

71

72

Vgl. Hero/Krech, Pluralisierung, 32 f. sowie Löwe, Citykirchen, 49f., 57–60. Dabei

handelt es sich keineswegs um ein neues Phänomen, sondern um einen Prozess, der

bereits im 19. Jahrhundert einsetzte, vgl. Fechtner, Liturgik, 139.

Vgl. Eufinger, Stadt, 9sowie Eufinger/Sellmann, Der verlorene Raum, 132.

Vgl. Wabel, Kirche, 12 f.

Vgl. a. a. O., 2.

Zur Diskussion vgl. etwa Ebertz, Citypastoral sowie Hennecke, Kirche.

Vgl. Fechnter, Liturgik, 139f.


3. Forschungsinteressen und Aufbau der Arbeit 29

nehmer:innen geprägtes Geschehen aus. Eine Analyse gottesdienstlicher Formate

im Bereich der Citykirchenarbeit verspricht daher aufschlussreiche Einsichten

in Formen spätmoderner gottesdienstlicher Vergemeinschaftungen, die

nicht (mehr) bzw. nicht ausschließlich einer an Dauerhaftigkeit, langfristigen

Bindung und persönlicher Bekanntschaft orientierten Logik folgen.

Ein viertes Forschungsinteresse gilt der Einbettung einzelner kirchlicher

Praxisvollzüge in den übergeordneten Zusammenhang kirchlicher Praxis insgesamt.

Dieser Aspekt ist zweifellos auch für andere kirchliche Praxiskontexte relevant,

wird jedoch selten so explizit zum Gegenstand der Reflexion wie im Falle

der Citykirchenarbeit. Grundlegend fällt auf, dass innerhalb der theologischwissenschaftlichen

Reflexion wie auch citykirchlichen Praxis die Frage nach

dem Verhältnisder Citykirchenarbeit zu anderen kirchlichen Erscheinungs- und

Ausdrucksformen permanent mitschwingt und immer wieder zum Gegenstand

der Diskussion wird. 73 Aufstruktureller Ebene ist etwa an die kontroversgeführte

Debatte zu denken, ob die Citykirchenarbeit mit anderen kirchlichen Erscheinungsformen,

etwa den Ortsgemeinden, in einem Verhältnis der Konkurrenz

steht oder eher als Ergänzung zu diesen anzusehen ist und was hieraus für

die Verteilung finanzieller und personeller Ressourcen folgt. 74 Das Interesse

der vorliegenden Studie gilt nun nicht solchen strukturellen Aspekten, sondern

im Kontext der untersuchten gottesdienstlichen Vollzüge auszumachenden Verhältnisbestimmungen

zwischen diesen und anderen kirchlichen Erscheinungsformen

und Praxiskontexten. Konkret ist nach sprachlichen Bezugnahmen auf andere

kirchliche Erscheinungsformen innerhalbder Untersuchungsfelder zu fragen,

nach darin zum Ausdruck kommenden Vorstellungen von ›Kirche‹ sowie danach,

was hieraus kirchentheoretisch folgt.

Der Aufbau dieser Arbeitgliedertsich in drei Hauptteile. Ein erster Hauptteil

ist der Darstellung grundlegender methodologischer Überlegungen und des gewählten

methodischen Vorgehens gewidmet. In den methodologischen Grundlegungen

dieser Arbeit (I.1.) werden in einem ersten Schritt performanz- und

praxistheoretische Perspektivenhinsichtlich ihrer Potenziale für die empirische

Gottesdienstforschung wie auch Anforderungen an die Konzeption eines empirischen

Forschungsdesigns erschlossen (I.1.1). Resultierend aus diesen Überlegungen

wird im Rahmen dieser Studie ein ethnografisches Forschungsvorgehen

gewählt, das sodann hinsichtlich seiner zentralen Charakteristika vorgestellt

werden soll (I.1.2.). Daran schließen eine Reihe erkenntnistheoretischer und

wissenssoziologischer Überlegungen aus dem Kontext der ethnografischen und

73

74

Wichmann spricht in diesem Zusammenhang von einer »doppelten Pluralität«, die die

Citykirchenarbeit prägt, der »urbanen, mentalen Pluralität der Stadt, in der sie sich

platziert, und der spirituellen wie organisationalen Pluralität einer Kirche« (Ders.,

Stadterkundung, 83).

Vgl. Grünberg/Reitz-Dinse, Kirche, 355 f. sowie Karle, Reformstress, 124–130.


30 Einleitung

sozialwissenschaftlichen Forschung der vergangenen Jahrzehnte an (I.1.3.).

Diese Darstellung verfolgt einerseits das Ziel, zu einigen grundlegenden epistemologischen

Klärungen beizutragen, die in dem vorangehenden Forschungsüberblick

als Desiderate der bisherigen empirischen Gottesdienstforschung

ausgemacht wurden. Andererseits dienen die hier angestellten Überlegungen wie

die methodologischen Ausführungen insgesamt der Begründung und Plausibilisierung

von Entscheidungen hinsichtlich des methodischen Vorgehens der

vorliegenden Studie.

Dieses soll sodann in einem zweiten Teil dieses Hauptkapitels dargestellt

werden (I.2.). Darin werden zuerst leitende Überlegungen hinsichtlich des

Samplings skizziert, bevor sodann beide Formate vorgestellt werden (I.2.1.).

Daran schließt eine Darlegung des Feldzugangs und der Datenerhebung an

(I.2.2.) sowie der Auswertung des Datenmaterials und dessen Darstellung in

den Auswertungskapiteln (I.2.3.). Dabei wird in einer engen Verzahnung von

Methodologie und Methodik immer wieder darzulegen sein, was aus den vorangegangenen

methodologischen Überlegungen für das konkrete methodische

Vorgehen dieser Studie folgt.

Den zweiten Hauptteil dieser Arbeit bildet die Rekonstruktion der untersuchten

gottesdienstlichen Formate anhand von je drei zentralen Deutungsperspektiven,

die im Verlauf des Forschungsprozesses für beide Formate ausgemacht

werden konnten. Im Falle des ersten Formates, der ›ViertelSternStunde‹

in der St. Reinoldikirche Dortmund (II.1.), handelt es sich hierbei um Perspektivierungen

des Andachtsformates als ein ›Dienstleistungsangebot‹ (II.1.1.), als

eine kirchlich verantwortete Praxis des ›Weihnachtschristentums‹ (II.1.2.) sowie

als besinnlicher ›Anders-Ort‹ und besinnliche ›Anders-Zeit‹ (II.1.3.). Für das

zweite Format, den ›Sonntags:proviele-Gottesdienst‹ an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Berlin, werden zentrale Erkenntnisse des Feldforschungsprozesses

unter der Perspektive einer ›praktizierenden Gemeinschaft‹ (II.2.1.), einer

›diversitätssensiblenkirchlichenPraxis‹ (II.2.2.) sowie einer ›Unterbrechung des

Alltags‹ (II.2.3.) dargestellt.

In einem dritten Hauptteil erfolgen sodann unter einem stärker abstrahierenden

Zugriff auf das Datenmaterial fallübergreifende gottesdienst- und kirchentheoretische

Rekonstruktionen der untersuchten Formate. Dazu werden die

vorangehend dargelegten Forschungsinteressen nochmals explizit aufgegriffen,

die im gesamten Forschungsprozess die Wahrnehmung imFeld leiteten

und hierdurch auch bereits in den Analysen in den Einzelfallrekonstruktionen

ihren Niederschlag gefunden haben. In einem ersten Schritt erfolgt vor dem

Hintergrund der vorangehenden pluralisierungs- und säkularisierungstheoretischen

Überlegungen eine Bündelung spezifischer Phänomene als ›gottesdienstlicheGrenzarbeiten‹

(III.1.). Den vor dem Hintergrund individualisierungsund

gemeinschaftstheoretischer Überlegungen ausgemachten Problemfeldern

und Fragestellungen soll in einem zweiten Kapitel ausführlich nachgegangen


3. Forschungsinteressen und Aufbau der Arbeit 31

werden (III.2.). In einem abschließenden Kapitelgilt es sodann, die sprachlichen

Einbettungen der untersuchten Gottesdienstformate in den Kontext gesamtkirchlicher

Praxis nachzuzeichnen und aufzuzeigen, was hieraus für die praktisch-theologische

Kirchentheorie folgt (III.3.).

Im Fazit sollen die Erträge dieser Arbeit nochmals gebündelt sowie einige

Überlegungen zurAussagekraftund -gehaltder Ergebnisse angestellt werden (IV.).


Anne Gilly, Dr. theol, Jahrgang 1988, studierte Evangelische

Theologie in Berlin, Melbourne, München und Frankfurt am

Main. Sie ist Vikarin der Evangelischen Kirche in Hessen und

Nassau. 2023 wurde sie am Fachbereich Evangelische Theologie

der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main

mit der vorliegenden Arbeit promoviert.

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Satz: 3w+p, Rimpar

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

ISBN 978-3-374-07680-2 // eISBN (PDF) 978-3-374-07681-9

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