Christian Wolfgang Senkel: Glaube – Religion – Christentum (Leseprobe)
Glaube, Religion und Christentum sind elementare Begriffe der Theologie. Sie erscheinen in (fast) jedem theologischen Entwurf als unvermeidliche Bezugsgrößen. Doch sie stehen auch für Denkweisen, die sich hauptsächlich auf einen der drei Begriffe stützen: als klassische Dogmatik des Glaubens, als liberale Theologie der Religion oder als moderne Theorie des Christentums. Schließlich kennzeichnen Glaube, Religion und Christentum auch Epochen, in denen der jeweilige Elementarbegriff umgebildet oder neugebildet wird. Der sprachlich ausgezeichnete und theologisch sehr hilfreiche Band von Christian Senkel stellt zu jeder der drei Sinndimensionen brauchbares Wissen bereit, er geht aber über ein Kompendium hinaus. Eigene Pointen finden sich im Aufbau, in der Darstellung und an Wegmarken der Interpretation. Die drei elementaren Begriffe machen gemeinsame Sache, ohne ineinander aufzugehen. Es ergeben sich drei mal vier Überlegungen, einer Vorlesung gemäß unterteilt: Glaube von Luther bis zum modernen Freiheitsverständnis – Religion vor und nach Schleiermachers romantischem Entwurf bis zur Lebensweltdeutung – die Theorie des konfessionell und kulturell höchst diversifizierten Christentums.
Glaube, Religion und Christentum sind elementare Begriffe der Theologie. Sie erscheinen in (fast) jedem theologischen Entwurf als unvermeidliche Bezugsgrößen. Doch sie stehen auch für Denkweisen, die sich hauptsächlich auf einen der drei Begriffe stützen: als klassische Dogmatik des Glaubens, als liberale Theologie der Religion oder als moderne Theorie des Christentums. Schließlich kennzeichnen Glaube, Religion und Christentum auch Epochen, in denen der jeweilige Elementarbegriff umgebildet oder neugebildet wird.
Der sprachlich ausgezeichnete und theologisch sehr hilfreiche Band von Christian Senkel stellt zu jeder der drei Sinndimensionen brauchbares Wissen bereit, er geht aber über ein Kompendium hinaus. Eigene Pointen finden sich im Aufbau, in der Darstellung und an Wegmarken der Interpretation. Die drei elementaren Begriffe machen gemeinsame Sache, ohne ineinander aufzugehen. Es ergeben sich drei mal vier Überlegungen, einer Vorlesung gemäß unterteilt: Glaube von Luther bis zum modernen Freiheitsverständnis – Religion vor und nach Schleiermachers romantischem Entwurf bis zur Lebensweltdeutung – die Theorie des konfessionell und kulturell höchst diversifizierten Christentums.
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Christian W. Senkel
Glaube – Religion –
Christentum
Elementare Begriffe evangelischer Theologie
Vorwort
Das vorliegende Buch hat als Vorlesung an der Theologischen Fakultät der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angefangen. Dort hat sie imSommer
2023 noch einmal vor einem kleinen, äußerst wachen und sensiblen Auditorium
stattgefunden. Zwischendurch gab es sieinähnlicher, aber eben auch
abgewandelter Form, an verschiedenen Orten, für (erstaunlich) unterschiedliche
Auditorien, und mit jeweils verlagerten Schwerpunkten. Genius loci eben!
In Bielefeld sind soziologische Elemente hinzugekommen, in Gießen habe ich
Poetik und Hermeneutik von Neuem verstärkt. Überall ist dasselbe Anliegen
wirksam geblieben, von der Lehrsituation bis zur Niederschrift: Ich erschließe
die Systematische Theologie von Denkweisen und Schreibweisen her – nicht
aus einem einzelnen Systemgedanken mit metaphysischem Objektbezug. Die
Weite deschristlichen Gottesbegriffs fordert denkerische Diversität,soauch der
bildliche Inbegriff des Göttlichen, das leuchtende Christuskind im Helldunkel
der Krippe.
Denkweisen und Schreibarten der Theologie berühren einander und überschneideneinander,
sie reiben sich aneinander und sie folgen sogar geschichtlich
aufeinander. Völlig austauschbar oder eine durch die andere ersetzbar sind sie
nicht. Daher verzichte ich auf eineweitere Art der Vereinheitlichung: Ich schreibe
keine Prolegomena, sondern über einige Prolegomena, aber auch über anderes.
Ich behandle fundamentaltheologische Fragen, aber bei weitem nicht alle. Sollte
ich je eine Dogmatik versuchen, so wäre sie knapper als dieses Buch und nur im
Verborgenen seine Fortsetzung. Sie würde hauptsächlich Ressourcen für ein
gebildetes Gespräch vom Göttlichen bereitstellen, ein Gespräch aus jener Liebe
heraus, die nach Dantes Komödie Erde und Sterne bewegt. Ob mein Herz dafür
verständig genug ist, wer weiß?
Beherzt war die Ermutigung anderer, aus dem Text ein Buch werden zu
lassen: Für solidarische Kritik und einfallsreiche Hinweise danke ich meinen
Freunden und Kollegen Prof. Dr. Constantin Plaul und Dr. Karl Tetzlaff. In
gleichem Sinn, nur zu anderen Themen, bin ich Prof. Dr. Manfred Lang verbunden.
Ich bin nicht jedem Kritikpunkt gefolgt, was womöglich ein Fehler war,
und, klar, was an Ungereimtem stehen geblieben ist, geht auf meine Kappe. Statt
aber weiter zu relativieren, danke ich lieber noch jemand. Er erzeugt mit theologischer
Neugier, dialektischer Finesse und liberalem Sinn in Halle ein Milieu
Systematischer Theologie, in dem ich gern mitdenke: Prof. Dr. Jörg Dierken.
Frau Dipl.-Theol. Christiane Lober danke ich herzlich für die Übernahme des
Lektorats. Herrn stud. theol. Jonas Stephan gilt mein herzlicher Dank für die
Arbeit am Umbruch. Ihre Treue zur Grammatik ist meinen Formulierungen
8 Vorwort
zugutegekommen. Frau Dr. Annette Weidhas und der EVA dankeich sehr für die
verlässliche, schon an mehreren Publikationen bewährte Betreuung.
Halle an der Saale, Invocavit 2024
Christian W.Senkel
Inhalt
1 Systematische Reflexion elementarer Begriffe .................. 15
1.1 Annäherungen ..................................... 15
1.1.1 Elementare Begriffe ........................... 15
1.1.2 Systematische Reflexion, einheitlich und lückenlos .... 17
1.1.3 Wirklichkeit als Differenzerfahrung und der Glanz der
Begriffe ..................................... 19
1.1.4 Formen des Überlieferns sind Optionen auf Erfahrung 21
1.2 Elementarbegriffe theologischen Denkens in der Gegenwart ... 23
1.2.1 Enzyklopädische Aufgabe und elementarbegriffliche
Reflexion .................................... 24
1.2.2 Die christliche Kulturgeschichte risikofreudig
übersetzen ................................... 26
1.2.3 Wissenschaftlich gebildet in gegenwärtigen
Wirklichkeiten ................................ 28
Erster Teil: Glaube
2 Glaube als Entdeckung in der Reformation .................... 37
2.1 Glaube heute, Glaube früher ........................... 37
2.1.1 Glaube als Wort heutiger Sprache ................. 37
2.1.2 Glaube – vor der Reformation .................... 39
2.2 Glaubenstheologie I. Entstehung im Kontext kirchlichen
Handelns ......................................... 41
2.2.1 Kirche als Versicherungsgesellschaft und eine Reform
des Vergebens ................................ 41
2.2.2 Ausweitung des Protests im Zeichen des Gottesbildes .. 44
2.2.3 Diesseits von Monumentalisierung und Luther-Bashing 45
2.3 Glaubenstheologie II. Luthers Zuspitzung und ihr ethischer
Kontext ........................................... 47
2.3.1 Glaube. Nicht bloß eine gute Tat, aber was sonst? ..... 47
2.3.2 Poiesis des Glaubens ........................... 49
2.4 Kanzel, Katheder und Lebenswelt ....................... 53
2.4.1 Gott und Mensch in theologischen Asymmetrien ...... 54
2.4.2 Symmetrien im Glaubensleben und reformatorische
Selbstverständnisse ............................ 55
10 Inhalt
3 Heilige Schrift. Autorität, Kritik, Poetik ....................... 59
3.1 Schriftautorität und lebendige Stimme ................... 60
3.1.1 Glaube aus dem Hören ......................... 60
3.1.2 Offenbarungsurkunde, redend .................... 61
3.1.3 Glaubensquelle, sprudelnd ...................... 63
3.2 Schriftverzicht als Krisentherapie? ...................... 64
3.2.1 Krise des Schriftprinzips ........................ 64
3.2.2 Abschied vom Autoritarismus .................... 66
3.2.3 Kritische Gegen-Schrift ......................... 68
3.3 Fröhlich uneindeutig. Alte und neue Schriftaufwertung ...... 70
3.3.1 Luther und die Schriftzeichen .................... 70
3.3.2 Neue Trends zur Aufwertung der Schrift ............ 71
3.4 Göttlicher Schriftverkehr. Versuche, die Krise zu überwinden 73
3.4.1 An Gott als Autor glauben ....................... 73
3.4.2 Der Glaube kommt aus dem – Lesen! .............. 75
3.4.3 Poetik des Anfangs. Kleines Evangeliar der
Schriftlichkeit ................................ 77
4 Offenbaren. Gefälle und Kontexte ........................... 81
4.1 Offenbarung. Das Gefälle von Gott her ................... 81
4.1.1 Das gewisse Etwas der Offenbarung ............... 81
4.1.2 Offenbarwerden in der Bibel ..................... 83
4.2 Kritik der Offenbarung ............................... 85
4.2.1 Offenbarung in der kirchlichen Autoritätskultur ...... 85
4.2.2 Partikulare Wahrheit? .......................... 88
4.3 Prägnanzen des Offenbarens ........................... 90
4.3.1 Offenbarung als Religionsgeschichte ............... 90
4.3.2 Selbstoffenbarung ............................. 92
4.3.3 Theologie als Medium von Offenbarung? ............ 94
4.4 Phänomenologie des Offenbarens ....................... 96
4.4.1 Gotteserkenntnis in der Offenheit des Offenbarens .... 97
4.4.2 Das Göttliche als das »Nichtandere« in seinen Medien .. 99
5 Freisein aus Glauben – ein evangelischer Elementarsatz ......... 103
5.1 Anlauf zum Übersetzen – Glaubenssprache heute .......... 104
5.2 Gottvertrauen und befreites Selbstgefühl ................. 106
5.2.1 Gottvertrauen und Intersubjektivität ............... 107
5.2.2 Selbstgefühl und Weltberuf ....................... 108
5.2.3 Passionierte Tätigkeit und schließlich: Liebe ......... 109
5.3 Politischer Freiheitsgebrauch und vertrauensbildendes
Handeln .......................................... 110
5.3.1 Handelnder Glaube. Eine reformatorische
Gedankenreihe ............................... 110
5.3.2 Ethische Unschärfen und die Macht des Vertrauens ... 112
5.3.3 Versprechen und Verzeihen stiften Vertrauen ........ 113
5.4 Weltvertrauen. Impulse zur Befreiung von Wissenschaft und
Kunst ............................................ 115
5.4.1 Mundanität. Gelöst inder Welt ................... 115
5.4.2 Weltwissen .................................. 116
5.4.3 Kunst als Spiel vor Gott ......................... 118
II. Religion
Inhalt 11
6 Religion als vernünftige(re)r Glaube? ........................ 127
6.1 Annäherung und Sammlung ........................... 127
6.1.1 Religion als Wort heutiger Sprache ................ 127
6.1.2 Der Religionsbegriff und die Aura des Wissens ....... 128
6.1.3 Uneindeutigkeit in den Wissenschaften des Religiösen 130
6.2 Religionsbegriffe, Religionsgeschichten. Antike bis Aufklärung 132
6.2.1 Römische Religion. Numina, rituelle Präzision, Pietät .. 132
6.2.2 Neue Selbstverständlichkeiten. Christliche Aneignung
der religio ................................... 135
6.2.3 Gravierende Umdeutung und reformatorische
Exklusivität .................................. 138
6.2.4 Allmähliche Neudeutung und Kritik positiver Religion 139
6.3 Religion, vernünftiger (als) Glaube. Rationale Trends ........ 141
6.3.1 Universal statt partikular ....................... 142
6.3.2 Religion als Gattung. Das Christentum und »die
Anderen« .................................... 143
6.3.3 Autonom, nicht autoritär ........................ 144
6.3.4 Private Religion und öffentliches Christentum ........ 146
7 Religion als Entdeckung in der Romantik ..................... 149
7.1 Schleiermacher. Gegensätze und Anknüpfungen ........... 150
7.1.1 Orthodoxes Gotteswissen und aufgeklärte
Tugendreligion ................................ 150
7.1.2 Gefühl, Ästhetik, Liebe. Religion nimmt das Universum
wahr ....................................... 151
7.1.3 Der fast vergessene Impuls ...................... 153
7.2 Umarmtes Universum. Religion zwischen Intuition und
Explikation ........................................ 155
7.2.1 Virtuose Bildung zur Religion .................... 155
7.2.2 Tätiges Universum und religiöse Positivität .......... 156
7.2.3 Göttlich im Augenblick. Poiesis der Religion ......... 158
7.3 Religion und Religionen. Christentum als Mittlerin ......... 160
7.3.1 Anschauungen, elementar und zentral ............. 161
7.3.2 Zentral im Christentum. Bildung zu religiösem Sinn ... 162
12 Inhalt
7.4 Romantische Religion und Wissenschaft der Religionen ...... 164
7.4.1 Durchbrechen begriffslogischer Sprache ............ 164
7.4.2 Unverzichtbare Performanz und der Blick in die Weite 166
7.4.3 Funktionalität und Substanzialität. Eine bleibende
Herausforderung .............................. 167
8 Moderne Trends. VomProjektionsverdacht zum Postkolonialismus 169
8.1 Alles hat seine Zeit. Zeit für Religionskritik ............... 170
8.1.1 Religion als Gipfel der Humanität ................. 170
8.1.2 Projektion I. Gott als humaner Selbstentwurf ........ 171
8.1.3 Projektion II. Reich Gottes als Protest gegen Elend .... 172
8.1.4 Projektion III. Erlösung aus Mangel an Lebenskraft ... 173
8.1.5 Projektion IV. Der Vatergott als infantile Illusion ...... 174
8.2 Religion als unableitbares Phänomen. Rudolf Otto und das
Heilige ........................................... 176
8.2.1 Numinoses zwischen Erfahrung und Deutung ........ 176
8.2.2 Die Ideogrammatik und eine Kultur des Heiligen ..... 178
8.3 Unter Projektionsverdacht. Offenbarungstheologische
Rezeption Ottos .................................... 181
8.3.1 Religion als menschliche Tätigkeit im Unterschied zur
Offenbarung ................................. 181
8.3.2 Religion als Sünde im Unterschied zum Glauben ...... 182
8.3.3 Kirche als Differenzkultur der Gottheit ............. 183
8.4 Religionssoziologie am Rand des Funktionalismus .......... 184
8.4.1 Funktionierende Projektion als offenes Argument ..... 184
8.4.2 Unabweisbare Kontingenz und die Sinnfrage ........ 187
8.5 Postkolonialer Begriffsabbau ........................... 188
8.5.1 Wissen, Diskurs, Herrschaft ..................... 189
8.5.2 Der Religionsbegriff als Herrschaftsinstrument ....... 190
8.5.3 Aufgeklärte Diversität an den Fakultäten der Religion .. 192
8.5.4 Religionswissen und Kultur ...................... 193
9 »Kontingenzwaltung« im Alltag – elementare Religion ........... 195
9.1 Theoretisch neu justiert. Wir machen uns einen Begriff von
Religion .......................................... 195
9.1.1 Rückblick mit Zuversicht ........................ 195
9.1.2 Kontingenten Sinn fantasieren ................... 196
9.1.3 »Kontingenzwaltung« in Miniaturen ............... 198
9.2 Hermann Timms »Zwischenfälle«. Eine Theologie alltäglicher
Sinnressourcen ..................................... 199
9.2.1 Aufgang ..................................... 199
9.2.2 Aufbruch und Selbstbegegnung ................... 200
9.2.3 Einander gegenüber ........................... 202
9.2.4 Liebesversprechen ............................. 203
9.2.5 Tafelrunde ................................... 205
9.2.6 Nachtgedanken ............................... 206
9.3 Theologie der Religion, gegenwärtig ..................... 208
9.3.1 Reflexion und Verklärung ....................... 208
9.3.2 Die »Zwischenfälle« als offenes System ............. 209
9.3.3 Kultur divinatorischen Aufmerkens ................ 210
III. Christentum
Inhalt 13
10 Herkunft und Funktionen einer Theorie des Christentums ........ 217
10.1 Christentum – ein schillernder Begriff? .................. 217
10.1.1 Christentum als Wort heutiger Sprache ............. 217
10.1.2 Wesensfrage ................................. 218
10.1.3 Gretchenfrage ................................ 219
10.2 Die Frage nach dem Christentum und einige ihrer
Entstehungsherde ................................... 221
10.2.1 Das zerbrochene Corpus Christianum .............. 222
10.2.2 Arndt oder Das wahre Christentum im Leben ........ 223
10.2.3 1650 oder Die Revolution der protestantischen
Peripherie ................................... 224
10.2.4 Lessing oder Das Neue im Christentum ............. 226
10.2.5 Troeltsch oder Wie Protestantismus und moderne
Religion zueinanderpassen ...................... 227
10.3 Trutz Rendtorffs Theorie des Christentums ................ 229
10.3.1 Reflexion christlicher Überlieferung ............... 230
10.3.2 Undogmatische Religionssoziologie ................ 231
10.3.3 Ethische Zuspitzung ........................... 233
10.3.4 Fixpunkt im Unübersichtlichen: Eine Kultur
individueller Freiheit ........................... 234
11 Diversität des Christentums I. Evangelisch-soziologische Grillen .... 237
11.1 Was sind evangelisch-soziologische Grillen? ............... 237
11.2 Konfessionelle Aspekte christlicher Diversität ............. 239
11.2.1 Konfessionen verstehen – das Wesen aus Namen lesen? 239
11.2.2 Kirchentrennendes und anarchische Ökumene ....... 242
11.2.3 Sakrament des fluiden Zugehörens. Eine
transkonfessionelle Andacht ..................... 244
11.2.4 Wie ich als Schuljunge zur Kommunion zugelassen
wurde. Eine andere ............................ 246
11.3 Kulturelle Aspekte konfessioneller Diversität .............. 248
11.3.1 VomSchwitzen der Innerlichkeit zum Fisch am
Autoheck .................................... 249
14 Inhalt
11.3.2 Distanzierte Kirchenmitgliedschaft oder Die
Tatsächlichkeit des Unsichtbaren .................. 251
11.3.3 Digitales Halleluja! Ein Trend zur Sichtbarkeit des
Glaubens .................................... 254
11.3.4 Evangelischer Klerus? Binäre Ekklesiologie und
Authentizitätskult ............................. 255
11.4 Fortsetzbarkeit einer Theorie des Christentums ............ 257
12 Diversität des Christentums II. Poetik einer modernen Komödie .... 259
12.1 Vonder poetologischen Theorie zum poetischen Entwurf ..... 259
12.1.1 Poesie und Poetik in der Theorie des Christentums .... 259
12.1.2 Dantes Komödie – moderne Komödie .............. 260
12.2 Stahlgehäuse. Die Undurchdringlichkeit der Moderne ....... 264
12.2.1 Max Weber als Höllenrichter im modernen Inferno .... 264
12.2.2 Götter der Moderne. Sachzwang, Wachstum, Selektion,
Leibzwang ................................... 267
1.2.3 Penetrantes Nichterscheinen des Christlichen ........ 271
12.3 Bildungsweg. Moderne peregrinatio und christliche
Persönlichkeit ...................................... 273
12.3.1 Durch die Moderne pilgern ...................... 273
12.3.2 Der Wegals Ausweg oder: Bildung und Glaube ....... 275
12.3.3 Gott suchen und Menschen begegnen .............. 279
12.4 Lebenswelt. Paradiesische Aussichten nachmoderner
Christlichkeit ...................................... 281
12.4.1 Dante als moderner Vergil und die Muse am
Bildungsweg ................................. 282
12.4.2 Gottes Moderne. Weisheit, Ausgleich der Kräfte, Kultur
des Maßes, Leibsorge ........................... 285
12.4.3 Die Sinnenwelt als wiedergewonnener Kosmos ....... 289
13 Gottes Advent in der Sprache .............................. 295
13.1 Poetisches Nennen und biblischer Gottesbegriff ............ 296
13.2 Zur Weite des christlichen Gottesdenkens ................. 299
13.2.1 Weite aus der Nähe ............................ 299
13.2.2 Weitungen ins Unähnliche ....................... 302
13.3 Gottes Schwächung als Prägnanz christlichen Gottesdenkens .. 305
13.3.1 Herabströmende Prägnanz ....................... 305
13.3.2 Bilder göttlicher Kondeszendenz .................. 308
13.4 Diversität und Gottesdenken ........................... 312
Literaturverzeichnis ......................................... 317
1 Systematische Reflexion
elementarer Begriffe
1.1 Ann:herungen
1.1.1 Elementare Begriffe
Gott, Mensch und Welt sind zentrale theologische Begriffe, die immer wieder
verwendet worden sind, um das Denken zu systematisieren. An der Oberfläche
meines Textes geht es nicht um Gott, Mensch und Welt, jedenfalls werden sie
nicht nach Art einer Dogmatik oder einer Glaubenslehre verknüpft. Ich versuche
etwas anderes.Esgeht mir um das, was unterhalb des theologischen Systembaus
liegt: um den Erkenntnisbodenund seine Beschaffenheit, die Umgebung und die
Fundierung. Sofern aber das Gebäude selbst Thema ist, frage ich, wie es aussehen
würde, wollte man auf bestimmte Weise weiterbauen. Ich nenne den in Rede
stehenden Wissensbereich lieber elementar als fundamental, wegen der fragwürdig
gewordenen Bedeutung des Fundamentalen, und die Elementarbegriffe
heißen Glaube, Religion und Christentum.
Halten wir beim Wort »Element« inne: Man denkt dabei entweder an die
mythischen vier 1 Elemente – Feuer, Wasser, Luft, Erde – oder ans Periodensystem
der Elemente, an die Chemie. Die Elementarbegriffe theologischen
Denkens sind dem in mehreren Punkten ähnlich: Ein Element lässt sich nicht
reduzieren, es ist eine Größe für sich, und es gehört mit anderen seiner Art
zusammen. In der Evangelischen Theologie sind Glaube, Religion und Christentum
solche Größen für sich. Sie sind irreduzibel und unverzichtbar, und sie
bilden eine Gruppe. Alledrei Begriffe sind jeweils offen undprägnant genug, ein
theologisches Gedankensystem zu tragen.
Im Ähnlichsein sind die Elementarbegriffe jedoch einanderrecht unähnlich.
So charakterisiert den Glaubenseit der Reformation ein Gefälle, eine Asymmetrie
zwischen Göttlichem und Menschlichem. In ihrer Bestimmung ergeben sich
1
In anderen Kulturen sind es fünf. Zählungen und Qualitäten sind verschieden, das
Prinzip ist ähnlich.
16 1Systematische Reflexion elementarer Begriffe
weitere asymmetrische Beschreibungen wie »Gnade« oder »Wort Gottes«. Außerdem
verbinden sich wahlverwandte Konzepte wie Schrift und Offenbarung
mit dem Glauben.
Schaut man weiter zur Religion, erweist sich, wie verschieden Elementarbegriffe
sind; ich beschreibe daher jeden von ihnen »nach dem Gesetz, wonach« er
»angetreten«. 2 Der Begriff Religion erweist sich in vielen verschiedenen Spielarten
und Anwendungsweisen als reich an Isotopen. Es gibt andere Leitunterscheidungen
als beim Glauben; so gelten Innen- und Außenansichten gleichermaßen
als bedeutsam. In der Folge entstehen Religionstheorien in der Theologie
und außerhalb, bis zu den heutigen Religious Studies in aller Welt.
Das Wort Christentum wirkt dagegen einfach. Es ist aber instabil wie etwas
vermeintlich Selbstverständliches, das bei der ersten Berührung zerfällt. Christentum
scheintalles, was der Theologie zu bestimmen aufgetragen ist. Doch tastet
man danach, verpufft das Ganze, und Christentum ist nicht gleich Christentum.
Gerade weil dieser Elementarbegriff auf den zweiten Blick so wenig selbstverständlich
ist, fordert er Theorie und ermöglicht Theorie.
Bereits andieser Stelle bitte ich um Geduld: Am Anfang müssen Richtungen
gezeigt werden, Linien weiteren Nachdenkens. Nicht alles kann ausgesprochen
werden, insbesondere nicht auf fest definierte Art. Sicher ist allerdings, dass
Glaube, Religion und Christentum als Elementarbegriffe der gesamten Theologie
und ihren wissenschaftlichen Disziplinen gehören. Die systematische Reflexion
von Glauben, Religion und Christentumerfolgt alsovertretungsweise.Das möchte
ich auchdeshalb deutlich gesagthaben, da ich die Systematische Theologie – mein
Fach inder Theologie – nicht für die einzige Quelle von Weisheit halte.
Die Elementarbegriffe werden in ihre Anwendungszusammenhänge begleitet,
um sie dort »bei der Arbeit« zu beobachten. So wird für die theologische
Theoriesprache sensibilisiert, für die Weite und Prägnanz bestimmter Begriffsmilieus,
für das, was sie erreichen können oder vielleicht auch nicht erreichen.
Ebenso wird Sinn für historische Abstände und Unterschiede sowie für die
Konstruktionsgeschichte der Theologie geweckt. Es zeigt sich, wie theologisches
Denken im Zeichen des jeweiligen Elementarbegriffs entsteht und, wie in einem
feinen Gespinst, die anderen Elementarbegriffe anrührt.
Wichtig ist allerdings, sich klarzumachen, dass diese Aufgabe nicht automatisch
eine bestimmte Form erzwingt, eine Methode nahelegt oder eine theologische
Schulmeinung bestätigt. Im Einzelnen mag das anders scheinen. Im
Einzelnenverwerfe ich eine Methode und wähleeine andere. Im Einzelnenziehe
ich eine Denkgesittung vor und lehne eine andere ab. Und ich bekenne mich auch
einmal zu theologischen Lehrpersönlichkeiten. Mein Ansatz als Ganzer relati-
2
Aus: Johann Wolfgang von Goethe, Urworte. Orphisch, ΑΙΜΟΝ.Dämon, in: Erich Trunz
(Hrsg.), Goethes Werke. Gedichte und Epen I, Hamburger Ausgabe Band 1, München
131982, 359.
1.1 AnnCherungen 17
viert, er weist dabei allerdings gedankliche Optionen auf, die man wählen kann
und die, einmal gewählt, auch gewisse Verbindlichkeiten mit sich bringen.
Man kann daher sagen, dass sich die systematischeReflexionhier um jenen
Zwischenraum kümmert, in dem eine begriffliche Sensibilisierung stattfinden
kann. Daher ziele ich nicht auf eine ergebnishafte, in sich abgeschlossene, wie ein
»Produkt« fertiggestellte systematische Theorie. Es werden keine Endgültigkeitsansprüche
erhoben. Das eigentliche Ergebnis besteht in einer Reihe mehr
oder weniger nachdenklicher und hoffentlich zum Nachdenken anregender
Zwischenergebnisse. Wirmerken uns diese Vorläufigkeit als Charakteristikum –
nun stelle ich etwas anderes vor: ein starkes systematisches Denken, das den
Vorgang der Reflexion in den Vordergrund rückt, dabei jedoch Endgültigkeit
beansprucht. Es ist gut, sich zu vergegenwärtigen, wie andere denken,umsich zu
vergewissern, was man nicht will …
1.1.2 Systematische Reflexion, einheitlich und l;ckenlos
Seit den 1960er-Jahren hat sich die systematische Reflexion gegen den sogen.
Offenbarungspositivismus (vgl. §3.3) wieder als eine bewegte gedankliche Tätigkeit
profiliert. Ein herausragender Vertreter dieser Erneuerungsbewegung ist
Wolfhart Pannenberg (1928 2014). Seine Untersuchung Wissenschaftstheorie
und Theologie ist in den 1970er-Jahren eine Art »Urmeter«für wissenschaftliche
Theologie und systematische Reflexion:
Die Frage nach der Wahrheit ist ihrer Natur nach systematisch; denn sie fragt notwendig
nach der Zusammenstimmung der verschiedenen Inhalte der Überlieferung
untereinander und mit der jeweiligen gegenwärtigen Wirklichkeitserfahrung. Das um
Wahrheit bemühte Denken muß systematisch sein, um der Einheit der Wahrheit, der
Übereinstimmung alles Wahren untereinander, zu entsprechen. Theologie muß
systematisch verfahren, sofern sie nach der Wahrheit der religiösen Überlieferung
hinsichtlich ihres religiösen Gehalts fragt. Diese Frage aber muß in allen Disziplinen
der Theologie wirksam sein, sofern sie als theologische Disziplinen betrieben werden
und verstanden werden wollen. In diesem Sinne läßt sich behaupten, daß Theologie
schlechthin gleichbedeutend ist mit systematischer Theologie. 3
Das Fragen nach Wahrheit steht hiernach unter bestimmtenRegeln. Diese Regeln
sind vereinfachte Formen von Wahrheitstheorien: Zusammenhang (Kohärenz),
Einheitlichkeit (Konsistenz) und Übereinstimmung (Adäquanz). Nicht Glaube,
Offenbarung oder andere religiöse Formen machen demnach die Regeln, die
Wahrheit selbst macht sie: Nach ihr zu fragen, bedeutet, nach ihren Regeln zu
3
Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/Main 1973, 350.
18 1Systematische Reflexion elementarer Begriffe
spielen. Die Frage nach der christlichen Wahrheit geht daher systematisch vor
sich, nach übereinstimmenden Gesichtspunkten, mit einheitlichen Gedanken
und bereit zu prüfen, ob Gedachtes und Wirkliches einander entsprechen.
Für den theologischen Wahrheitsbegriff gelten keine Sonderregeln. Das
Nachdenken über Glauben und Offenbarung ist dem allgemeinen Wahrheitsumgang
unterstellt. Esist jedoch Pannenbergs Pointe, den christlichen Offenbarungsanspruch
auf der gleichen Höhe zuhalten wie die universale Wahrheit.
Demnach ist die Offenbarung gar kein separater, eingeschränkter Wahrheitszugang
(§§ 3, 6u.ö.). Vielmehr ist die christliche Form der Wahrheit der Selbsterweis
von Wahrheit schlechthin. Eine doppelte Wahrheit, eine geoffenbarte und
eine vernünftige, mussman erstgar nicht vermuten, da es sie nicht geben kann.
Eine steile These, aber geschickt vorbereitet. Sie wird in handgreifliche
Kontexte gestellt. So ist von Überlieferung die Rede, also von einer ganzen
Textwelt mit ihren individuellen Eigenheiten. So viel Konkretion ist angesichts
der philosophisch geprägten Terminologie Pannenbergs nicht zwingend zu erwarten.
Überdies wird der Wahrheitsumgang von einer ganzheitlichen Wirklichkeitserfahrung
her entworfen. Er ist also kein reines Denken, sondern selber
religionsnah. Aufgrund dieser Vernetzung von Offenbarungsglauben (Glaube),
religiöser Erfahrung (Religion) und christlicher Überlieferungsgeschichte
(Christentum) kann Pannenberg dann behaupten, die Frage nach der Wahrheit
religiöser Überlieferung müsse in allen Disziplinender Theologie wirksam sein,
nur dann ließen sie sich als wirklich theologisches Wissen verstehen. Und aufgrund
des systematischen Zugsjener Frage als solcher lässt sich auch behaupten,
Theologie sei im Grunde Systematische Theologie.
Der Gedanke hat Großes im Sinn. Er drängt auf eine Zusammenkunft
(Konvergenz) aller theologischen Disziplinen im selben Erkennen und in
gleichartigem Vermitteln. Sie schreiten mit verschiedenen Methoden voran,
haben aber dasselbe Ziel im Blick, wenn sie nur auf ihre Weise systematisch
fragen. Sie ermitteln dabei die Kohärenz im Überlieferten und seine Angemessenheit
an die gegenwärtige Wirklichkeitserfahrung. Dieses Prozedere soll den
Bezug auf die Wahrheits- und Gottesfrage in allen theologischen Arbeitsweisen
sichern und die Systematische Theologie als Spitzenkraft imDisziplinengefüge
erweisen. Das ist gleichermaßen bescheiden wie unbescheiden.
Der verallgemeinernde Wahrheitsumgang, seine Identifikation mit christlicher
Gottesverehrung und das glatte Aufgehen solcher Gedankenreligion runden
sich für Pannenbergals eine einzige, stimmige Sache. So ist dieFolgerung nicht
verwunderlich, die Theologie sei ganz und gar systematisch, da sie in einheitlicher
Weise nach der Übereinstimmung der christlichen Wahrheit mit der
Wirklichkeit in all ihren Facetten fragt. Naheliegend ist auch die Folgerung, die
Christentumsgeschichte sei die Geschichte der systematischen Deutungen des
Christentums, da der Kern christlicher Gottesverehrung in systematischer
Wahrheitserkenntnis liege. In alledem tritt ein fast unglaublich vernünftiges
1.1 AnnCherungen 19
Christentum zutage. Mit einigen Gegenfragen ziele ich nun auf ein alternatives
Verständnis des Systematischen.
1.1.3 Wirklichkeit als Differenzerfahrung und der Glanz der Begriffe
Gewisse Auffassungen von Systematik gehen davon aus, der theologische
Wirklichkeitsbezug werde als ein einheitliches, restloses, ja gleichsam randloses
Verstehen mit Begriffen durchgeführt. Gottes Offenbarung erschließt sich demnach
in der logisch zugänglichen Einheit der Wirklichkeit. Mehr noch: Offenbarung
erschließt jenem Denken zufolge die Einheit alles Wirklichen. Folglich
kann das Offenbare als das schlechthin Wahre gelten und das Wahre als das
Offenbare, denn beide verweisen in allem aufeinander. Lückenlos. Und alles ist
auch noch vernünftig. Störfaktoren werden zur Kenntnis genommen, im Ganzen
ist die Dreiecksbeziehung von Wahrheit, Vernunft und Offenbarung aber sehr
harmonisch angelegt.
Hier melde ich Widerspruch an. Schon die christlich-religiöse Überlieferung
entfaltet Wirklichkeitserfahrung nicht nur unter dem Aspekt der Stimmigkeit,
sondern berichtet von Wahrheitsdistanz. So gibt es etwa in der Bibel Wahrheitsdistanz
inForm kognitiver und existenzieller Ungewissheit, persönlicher
und sozialer Zerrissenheit, aber auch in Form von Lüge, Betrug und Bosheit.
Solche Erfahrungen mit dem Wahrheitsumgang sind von Differenz gekennzeichnetund
auch gezeichnet. Wirsammeln diese Erfahrungen auch heute noch
und werden sie vermutlich immer sammeln. Mit ihnen treten mehr als bloß
untergeordnete Probleme inder praktischen Umsetzung von Theoriewahrheit
zutage. Die Differenzerfahrungen verweisen vielmehr auf Brüche in der Wirklichkeit.
Sie zeigen dadurch deren Vieldimensionalität auf. Wirkliches erschließt
sich folglich nie nur einer einzigen Beschreibung. Der Biss in die Frucht des
verbotenen Erkenntnisbaumes hat Perspektive erzeugt.
Die rationale Harmonisierung von religiöser Erfahrung und Wirklichkeitsbezug
irritiert jedoch auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Wissenschaftliche
Rationalität, die mehr sein will als eine gut begründete Perspektive, legt gegenüber
der Wirklichkeit etwas Gewaltsames an den Tag. Pannenberg zum
Beispiel unterstützt seinen konsistent angelegten Wirklichkeitszugang mit der
Auffassung, der Triumph des Christentums in der allgemeinen Religionsgeschichte,
also letztlich der äußere missionarische Erfolg, beweise die Macht des
christlichen Gottes. Hier scheinen mir rationale Einheitlichkeit und logische
Konsistenz mit einer Macht gleichgesetzt, die die Wahrheit sozusagen ohne
Rücksicht auf Verluste durchsetzt. Sollte Gott festgesetzt haben, dass er in dieser
fast ausschließlichen Weise an Macht kenntlich sei? Das äußere Machtnarrativ
wirkt auf Konzepte wie Einheit, Zusammenhang und Übereinstimmung zurück.
20 1Systematische Reflexion elementarer Begriffe
Sie werden mit dunklen Tinten gefärbt, ihre Schlüssigkeit erscheint mit einem
Mal unter den Vorzeichen von Nötigung und Zwang.
Unsere Wirklichkeitserfahrung steht auf Differenz. Wirkliches wird von uns
allen subjektiv, in Jeweiligkeit erfahren. Dabei kommt es zur Ähnlichkeit von
Sichtweisen, aber eben nicht zu Identität glattweg. Dies gilt im Kleinen wie im
Großen. So beinhaltet auch die Verschiedenheit derSprachen Differenzen, die sich
bis in die Logik erstrecken. Deren vermeintlich Allgemeines kommt nur inÜbersetzungsvorgängen
zwischen Kulturen zum Vorschein. Die Brechungen des
Wirklichen in der gelebten Kultur reichen so ans Allgemeine und formen seinen
Ausdruck mit. All das soll in keiner Weise bedeuten, dass rationale Wirklichkeitszugänge
als solche erledigt wären. Doch weist die Erfahrung des Übersetzens
zwischen den Wirklichkeitsperspektiven von Sprachen und Kulturen auf eine andere
Art Rationalität als diejenige der glatten Kohärenz und der machtvollen
Konsistenz.
Der Komplex des Übersetzens gilt sehr weitgehend. Erbetrifft auch jene
Wirklichkeitserfahrung,die im Christentumals Heiliger Geistbezeichnetwird. Der
HeiligeGeist verbürgt etwas, wasdurchausmit Einheit, Konsistenz undKohärenz
zu tunhat.Der Geistmacht denAusdruck desGlaubensprägnantund kohärent,er
stellt auf allen Ebenen Einheit unter Christen her, und ereint mit der göttlichen
Wirklichkeit. Doch auch der göttliche Geist ist ein Übersetzer. Das heißt, seine
Wahrheit undseine Wirkungenkommenineiner Sprachezum Zug, dieankommen
will und die sich nicht ins Terminologische verfliegt. Schon Paulus würdigt gegenüber
der Gabe der Zungenrede, die (damals) eine Art Gottunmittelbarkeit
verkörpert, die Gabe des Dolmetschens, wie Luther übersetzt, also: des Übersetzens.Nehmenwir
dieglänzenden Begriffe alseineArt Zungenrede desVerstandes,
so isteinzuräumen, dass siealleKriterien desGeistes,auchdes Heiligen,erfüllen
können,dasssie dies aber nichtinjedem Fall tunund dass sieesvor allemselten
allein tun. Sie können, für sich genommen, weit von der Prägnanz des göttlichen
Geistes entfernt bleiben, sofern nicht ein Sprachumgang vermittelnd dazwischentritt,
der Ahnung an die Stelle von Identität setzt und die logische Klarheit
durch bildliche Deutlichkeit ergänzt. Entscheidend für die Sprache des Heiligen
Geistesist darüberhinaus, dass er überhauptnicht nurinWortenspricht,sondern
auch mittels anderer Medien. Gerade sie verweisen auf Brüche der Wirklichkeit.
Mandenke nurandie diakonischePraxis oder an dieTaten derLiebe,wie sieetwa
in den als Muster überaus einflussreichen Werken der Barmherzigkeit umrissen
sind.Sie beweisen denGeist derWahrheit, indemsie aufdie Vergenzendes Lebens
mit Heilung und Verständnis antworten.
Trotzdem – die Arbeit an Begriffen ist nicht zu unterschätzen, wenn man
angemessen vorgeht. Ziel systematischer Reflexion sollte sein, die Begriffe von
Wirklichkeiten und die Wirklichkeiten von Begriffen zu unterscheiden. Der Glanz
der Begriffe ist manchmal zu groß für die schäbige und entsetzlicheWirklichkeit,
für Armut, Krankheit, Elend und für das Leiden daran,für ein Leiden wie das des
1.1 AnnCherungen 21
biblischen Hiob. Umgekehrt reicht jener Glanz nicht immer an die Fülle des
Wirklichen heran, an seine Herrlichkeit, Freundlichkeit und Großzügigkeit.
Beiderlei Wirklichkeitserfahrungen verweisen auf eine Differenz, die durch
systematische Reflexion nie völlig eingeholt wird,sie verweisen auf eine in sich
unterschiedene, zerklüftete Wirklichkeit, deren Beschreibung stets zu scheitern
droht. Das Systematische der Theologie liegt eben nicht nur ineinem einheitlichen,
zusammenhängenden Zugriff auf die Einheit der Wirklichkeit. Eine der
wichtigsten Aufgaben systematischerReflexion ist vielmehr, nicht dem Glanz der
Begriffe zu verfallen und der Suggestion einer bruchlos glatten Wirklichkeit zu
erliegen. Dazu bedarf die systematische Reflexion einer Art Verhinderungshilfe,
die sie in Gestalt einer vielfältigen Überlieferung vor sich hat.
1.1.4 Formen des 7berlieferns sind Optionen auf Erfahrung
Präzision und Kraft, Weite und Elastizität theologischer Theoriesprache sind
Bedingungen allen Sprechens und Schreibens von Gott, Welt und Mensch. In der
Theologie geht es ums Universum und darum, was es zusammenhält, also um
übereinstimmend Einheitliches und Zusammenhängendes. Gerade deshalb darf
sich die theologische Theoriesprache jedoch nicht verklemmen. Sie darf sich
nicht ihrem eigenen Homogenisierungsdruck beugen. Sie sollte offen für Überraschungen
sein, für Abweichungen der Wirklichkeit von den Erwartungen der
Tradition oder für Abweichungen der Überlieferung von der begrifflichen Homogenität.
Die erforderliche Offenheit schließt außerdem Impulse außerwissenschaftlicher
Perspektivenauf die Wirklichkeit ein und gibtauch Alternativen
zur Wortwahl und Begriffsfügung, welche die Theologie als ihre ureigensten
betrachtet. Nur so vermag die theologische Theoriesprache Bedingungen zu
schaffen, unter denen sie dann, aber erst in zweiter Linie, auch die Einheit von
Gott, Mensch und Welt bedenken mag.
Die Offenheitsforderung verträgt sich nicht ohne Weiteres mit den Wahrheitsregelnbegrifflicher
Sprache. Man kann es sich an einem einfachen Beispiel
klarmachen. Europäische Philosophie und Theologie haben über weite Strecken
den Satz vom Widerspruch hochgehalten. Wenn eine Sache wahr ist, so heißt es
da, kann sie nicht zugleich unwahr sein. Dieser Satz mag formell stimmen,
existenziell liegt der Fall jedoch anders: Weninteressiert es, ob jemand oder ein
Text oder ein ganzes Überlieferungssystem sich widersprechen, solange siemein
Denken lebendig halten? 4 Ohne innere Gegensätze und ohne Widersprüche an
der Sprachoberfläche gäbe es gar keine Theologie. Denn was für im Wortsinn
unmögliche Themen hat die Theologie! Schöpfungswelt, Sündenerkenntnis, Inkarnation,
Gottestod, Unterweltsfahrt, Auferstehung, Himmelfahrt, Geistmittei-
4
Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt/Main 71992, hier 8, aber auch 23, 53 u.ö.
22 1Systematische Reflexion elementarer Begriffe
lung, Vergebung u. v. m. Kann man das überhaupt denken, oder soll man es nicht
gleich dichten? Widersprüche erzeugen Lust zur Poesie und damit auch Lust an
der Vielfalt der Überlieferung.
So lande ich, aus den Wolken eines Gesprächsversuchs zwischen Begriff und
Wirklichkeit fallend, bei einem zweiten Bereich. Auch hier ist jeder rigide Systematisierungsanspruch
unheimlich. Es ist der Bereich der religiösen Überlieferung,
von Pannenberg und Zeitgenossen in verschiedenen theologischen Disziplinen
wiederentdeckt, mit Offenbarungs- und Wahrheitsanspruch versehen,
aber auch auf Zusammenhang und Einheitlichkeit getrimmt.
Wenn die christlich-religiöse Überlieferung etwas nicht ist, dann einheitlich.
Vielmehr istdie Überlieferungseitder frühchristlichen LiteratureineDispersion –
ein Ausstreuen und Verstreuen von Überlieferungsgut. Die landwirtschaftlichen
Gleichnisseder Evangelien illustrieren dasgut:Die Streuung göttlicher Wortesetzt
aufeineVielfaltund Vielartigkeitdes Zusammenwachsens vonGott, Mensch und
Welt (Mk 4). Wird dieseVielgestalt göttlicher Präsenz inWorten logisch genormt,
büßt sie Präzision und Kraft, Weite und Elastizität ein. Die theologische Theoriesprachewirddann,
wassie nichtseinsoll: ungenauund schlaff, oder engund starr,
und sie gefährdet amEnde die systematische Reflexion.
DieFrage nach derreligiösen Überlieferungdarfnicht aufeinenvermeintlichen
»Gehalt« beschränkt werden. Es geht immer um – der Plural ist wichtig – Formen
der Überlieferung. Dierationalistische Rede vomGehalt nimmt an, es wäre dieselbe
Sache, bloß unterschiedlich eingehüllt. Die Verschiedenheit der Formen kommt
dabei nicht als Sachaspekt zum Zug. Egal ob man von Religion oder von Offenbarung
ausgeht, Ausdruck und Darstellung sind bedeutsam. Ein rational-harmonistischesVerständnis
läuftdagegen Gefahr, ästhetische Dimensionen am Überliefern
zu verfehlen. Prüft man Überlieferung nur auf Stimmigkeit und Kohärenz, lernt
man zu wenig ausihr. Interessant ist, was abweicht, das Unstimmige, Inkohärente,
Uneinheitliche. Dieses ist prägnant und prägt sich ein. Das gilt im Kleinen von
sprachlichen Wendungen und im Großen von Redegattungen, Denkformen, Textgenres
und literarischen Mustern. Sie alle erfrischen durch Irritation.
Im Blick auf die mit dem Glanz der Begriffe verbundenen Gefahren habe ich
beschrieben, dass die Systematische Theologie permanenterImpulse bedarf, um
ihre Theoriesprache frisch zu halten. In Ergänzung sage ich nun: Systematische
Reflexion fährt ambesten, indem sie die vielerlei Formen christlich-religiöser
Überlieferung durch geeignete textbezogene Verfahren respektiert und interpretiert.
Dies kann angesichts der überlieferten Vielgestaltigkeit nur ergebnisoffen
geschehen. Sowerden rationale Harmonisierungen der Wirklichkeit verhindert,
und so wird die Theologie darüber hinaus befähigt, sich der
Wirklichkeitserfahrung ihrer Zeit zu nähern. Davon im Folgenden.
1.2 Elementarbegriffe theologischen Denkens in der Gegenwart 23
1.2 Elementarbegriffe theologischen Denkens in der
Gegenwart
Die Wirklichkeit einer rational harmonisierenden Systematik ist nicht die
Wirklichkeit in ihrer Ganzheit und nicht inihrer Widersprüchlichkeit. Schäbigkeit
und Schrecken des Wirklichen unterbieten den Glanz der Begriffe,
während Fülle und Herrlichkeit des Wirklichen weit über den begrifflichen
Hochglanz hinausleuchten. Um aber überhaupt reflexionsfähig zu sein, braucht
die Theologie Kraftfutter aus Überliefertem, Spannung aus der Gegenwart und
eine ebenso präzise wie elastische Sprache.
Weiter ist deutlich geworden, dass die systematische Reflexion unter gewissen
Bedingungen die Überlieferungsvielfalt nutzen kann. Prüft man Überliefertes
jedoch nur auf Stimmigkeit und Kohärenz mit Doktrinen, lernt man
nichts daraus. Interessant ist, was abweicht und warum es das tut, das Unstimmige,
Inkohärente, Uneinheitliche. Abweichendes ist wie ein Merkzeichen.
Das gilt im Kleinen sprachlicher Wendungen, und es gilt im Großen von Redegattungen
und Denkformen, von religiöser Literatur oder von Klassikern, die
keineswegs immer mit der reinen Lehre einssein müssen. Überlieferte Differenz
in Begriffen und Erfahrungen hält die Theologie für gegenwärtige Wirklichkeitserfahrung
offen.
Die systematische Reflexion bezieht sich in wechselseitiger Öffnung auf
gegenwärtige Wirklichkeitserfahrungen und auf religiöse Überlieferungen. Angesichts
der bisherigen Beobachtungen an dieser Offenheit, an ihren Bedingungen
und ihrem Sinn für die systematische Reflexion ist deren höchste Norm
leicht zu bestimmen. Sie liegt im Offenhalten von Fragen – im besten Fall: im
Offenhalten für überraschende Antworten. Damit ist der systematischen Reflexion
im Blick auf die Begegnung von Wirklichkeitserfahrungen und Überlieferungen
eine klare, deutliche Aufgabe gestellt: Sie muss Hindernisse der Wirklichkeitserfahrung
und des Überlieferns wegräumen. Wenn das gelingt – nur
wenn es gelingt –, kann sich die systematische Reflexion überhaupt im Ganzen
der Theologie nützlich machen. Um einen Selbstkommentar hinzuzufügen: Ich
glaube, es gibt viele Wege, auf denen die systematische Reflexion ihre Aufräumungsarbeiten
durchführen kann, um sowohl der Überlieferung wie auch der
Wirklichkeitserfahrung zu dienen. Im vorliegenden Buch führt der Wegindie
Anwendungszonen der drei Elementarbegriffe Glaube, Religion und Christentum,
da an ihnen und mit ihnen das Offenhalten von Fragen und die Kennzeichnung
möglicher Antworten gut eingeübt werden können.
24 1Systematische Reflexion elementarer Begriffe
1.2.1 Enzyklop:dische Aufgabe und elementarbegriffliche Reflexion
Um die Aufgaben systematischer Reflexion im Zusammenhang darzulegen, blicken
wir zunächst aufs theologische Fächergefüge. Hier zeigen sich zwei Ursachen
für Einbußen an der systematischen Sprachfähigkeit. Zum einen kommen
der Systematischen Theologie dieGegenstände mit hohem öffentlichen Streitwert
abhanden, sofern sie sich nicht ausdrücklich von der Ethik her versteht – doch
das tut nur eine starke Minderheit. Die historischen Fächer werden wahrgenommen,
indem sie sich ankulturwissenschaftlichen Debatten beteiligen. So
greiftdas Alte Testament in die vom ÄgyptologenJan Assmann seit den 1990er-
Jahren wieder aufgeworfene Frage ein, obder Monotheismus biblisch-altorientalischer
Herkunft strukturell gewalttätig sei. Die Kirchengeschichte hat Publicity
durch öffentlichkeitswirksame Jubiläen wie etwa den Reformationsgeburtstag
von 2017. Und die Religionswissenschaft erprobt in postkolonialer
Kritik bisheriger Religionsbeschreibungen, welche Elemente der Überlieferung
die Wirklichkeitserfahrung öffnen und welche dies eher verhindern. Überall
lassen sich hier spezifische, Aufmerksamkeit erregende Konflikte von Wirklichkeitserfahrung
und Überlieferung beobachten.
Die andere Ursache für die gehemmte Sprachfähigkeit ist stillerer Art. So
haben viele Varianten der Systematischen Theologie nicht hinreichend zur
Kenntnis genommen, dass in puncto Sprachfähigkeit und Wirklichkeitserfahrung
längst eine andere theologische Disziplin hervorsticht, und zwar die
Praktische Theologie. Auf ihren Teilgebieten sensibilisiert sie mit feinen Antennen
für Sprachmöglichkeiten und rekonstruiert Wirklichkeitserfahrung in
ihrer Vielgestalt. Im weitesten Sinne brilliert die praktisch-theologische Gegenwartswahrnehmung
durch ästhetische Erkenntnisse. Auch dies gibt es in der
Systematischen Theologie, auch in diesem Fall aber nur ausnahmsweise.
Kurz: Der Eindruck drängt sich auf, dass die anderen Disziplinen die systematische
Problematisierungskapazität und Lösungskompetenz nicht bräuchten. 5
Wassoll, waskanndie SystematischeTheologie tun, außerinder Ecke zu stehen?
Erst einmal feststellen, dass sie sich zum Teil selbst dort hineinmanövriert hat.
Darüberhinaussolltesichdie SystematischeTheologie wieder in Bewegung setzen.
Dies vermag sie durch die Reflexion von Glauben, Religion und Christentum.
Hiermitwirdauch anderentheologischen Disziplinenzugearbeitet. DerAnspruch,
im Namen aller zu sprechen, darf getrost fallen gelassen werden. Besser ist, anderen
Angebote zumachen, als patronisierend inihrem Namen zusprechen.
Da schon vom theologischen Fächergefüge die Rede ist, grenze ich die elementarbegriffliche
Reflexion noch in anderer Richtung ab. Ich ziele mit ihr
ausdrücklich nichtauf eineEnzyklopädie. Enzyklopädie ist die Erläuterungeines
5
Dies spiegelt sich auch darin, dass die Systematische Theologie bei den Abonnements
von Fachzeitschriften eine schlechte Figur macht.
1.2 Elementarbegriffe theologischen Denkens in der Gegenwart 25
wissensmäßigen Ganzen durch Abschreiten seiner Teile in einem vollständigen
Umkreis (Zyklus). In der Theologie gilt in der Regel das Schema der theologischen
Disziplinen als Zyklus von Wissen.
Die enzyklopädische Anstrengung ist wichtig – ich möchte hier aber nur
Hinweise geben, Hinblicke anbieten, Skizzen anfertigen. Ein enzyklopädischer
Anspruch wäre für mein Vorhaben zu hoch, auch wenn es bisweilen enzyklopädische
Fragen berührt. Es setzt zur Steigerung systematisch-theologischer
Sprachfähigkeit aber überhaupt woanders an: Der Lebenssaft der Elementarbegriffe
rührt aus dem Wurzelwerk theologischen Begriffsgebrauchs, das unter die
Erkenntnisziele und Methoden der Disziplinen hinabreicht, tiefer in die Geschichte
hinab, aber auch in die Sprache des Wissens, tiefer ins Elementare, wo
das Wissen lebendig ist und woraus alle schöpfen, die theologisch arbeiten. 6
Zielt meine elementare Reflexion nicht auf eine enzyklopädische Wissensvermittlung,
sozielt sie gleichwohl auf Bildung. Die Themen Sprachfähigkeit und
Umgang mit Überliefertem deuten dies ja bereits an. Auf Bildung zielt meine Reflexion
aber aufgrund von Erfahrungen mit der akademischen Lehre. In der
Theologiezeigtsichein Bildungsnotstand.Ich meine damitnicht denallseits viel zu
larmoyant beklagten, oft auch nur vermeintlichen Bildungsmangel von Abiturientinnen
und Abiturienten. Esgeht nicht um etwas von Studierenden Mitgebrachtes,
sondern umeinen Zustand der wissenschaftlichen Theologie, der zur
Notlage für Studierende wird. Herauskristallisiert hat sich diese Lage durch die
kleinteilige und auf knappe Lernfristen setzende Strukturierung des Studiums
seitens der Bologna-Reform; die Umstrukturierung infolge der Reform hat dann
ungewohnt konzentrierte Beobachtungen am Studieneingangsbereich möglich gemacht.
Bewirkt ist das Unglück der innertheologischen Bildung durch mehrere
Trends. Zunennen sind erstens die Drift theologischer Disziplinen in immer
differenziertere Spezialsphären, was dem öffentlichen Streitwert bestimmter
Fragen keinen Abbruch tut, aber die innertheologische Bildung erschwert. Sodann
ist auf die hochgradige terminologische Formalisierung hinzuweisen, die
ihren Entstehungsherd in der gesellschaftlich-technologischen Wissensverwertung
hat. Drittens setzen sich die Anforderungskataloge des reformierten Studiums
über echte Bildungsvorgänge hinweg. Die Drift der Disziplinen macht
mehr als je einen gebildeten Umgang mit der theologischen Wissensform nötig –
jenem fehlen aber Vermittlungsort und -art. Die Penetranz formalisierter Sprachen
lässt die Fähigkeit verkümmern, das Wissen aus verschiedenen Erkenntniszonen
zu übersetzen und es lebendig zu kontextualisieren. Mit Lerninhalten,
Lernzielen und Methoden überausgestattete Studienprogramme pressen dage-
6
Vgl. schon Friedrich Schleiermacher in seiner Enzyklopädie, bekannt unter dem Titel:
Kurze Darstellung des theologischen Studiums, zum Behuf einleitender Vorlesungen.
Zuerst gelesen Winter 1804/1805 in Halle.
26 1Systematische Reflexion elementarer Begriffe
gen Bildungsprozesse zusammen, die vor allem eines bedürfen – der Zeit, um
stattfinden zu können, mit allem Sichsetzen, Nachfassen und Ergänzen. Der
Notstand ist von den Institutionen des Wissens gemacht, er wird aber bei Studierenden
abgeladen. Abhilfe muss aus der Wissenschaftselbst kommen undauf
geeignete Weise. Damit komme ich zu den Mitteln meiner Darstellung – zu ihren
Medien, wenn man so will.
1.2.2 Die christliche Kulturgeschichte risikofreudig ;bersetzen
Gegenüber den genannten Trends der Fächerdrift, der Überformalisierung und
des bildungsfernenInformationismus nutze ich einfache Mittel. Das erste Mittel
besteht nicht in einem »Gehalt«, wie Pannenberg sagen würde, sondern in einer
Schreibweise. Es ist das Stilideal der Kürze (lat. brevitas). Wassich systematisch
überhauptsagen lässt und zugleich dringend gesagt werden sollte, das lässt sich
auch kurz sagen. Falls die kommenden Darlegungen also knapp erscheinen,
rechtfertige ich mich mit dem Ziel, Überproblematisierung zumeiden. Didaktik
ist aber nicht der einzige Zweck der Kürze, vielmehr entformalisiertsie auch die
heutige Wissenssprache, ohne an Unterscheidungskraft zuverlieren.
Zweitens dient die elementare Konstellation von Glauben, Religion und
Christentum einer Modellierung theologischer Denkweisen. Eine solche modellhafte
Erschließung der Theologie richtet sich gegen Weltformeln, Disziplinenhochmut
und Methodenzwang. Sie wendet sich gegen dasvorschnelle Ausschließen
vonPositionenund trittzugunsten der potenziellenWahrheit vonPerspektiven ein.
KonsistentesModellieren undhistorisches Kontextualisierenvon Theorie üben bei
Lernenden wie auch Lehrenden die Fähigkeit zu moderieren, Nutzen wie Nachteil
verschiedener Sichtweisen abzuwägen und Methoden besonnen zu gebrauchen
(z. B. mittels des Durchbrechens methodologischer Monokultur).
Drittens will der vorliegende Ansatz bilden. Das titelgebende Stichwort
»christliche Kulturgeschichte« verweist auf die Gegenwartsbedeutung von
Überliefertem. Ich setze den Trends zu Spezialistentum und Formalisierung
(auch: Historisierung) plastisch-knappe Resümees entgegen; man nannte das
einst »Lernen am Muster«. Wenn wiederum prominente Sichtweisen auf Gott,
Menschen und Welt ungenannt bleiben, verdanken sich diese Lücken ebenfalls
dem Bildungsinteresse. Irgendwo muss man anfangen und daher auch weglassen.
Mein kleiner Kanon an Mustern hat indes kein besseres Kriterium als das,
dem Verfasser einzuleuchten.Bei allen Mängeln scheint mir dieser Ansatzpunkt
zweckmäßiger, als theologisch Bildungswilligen im ideengeschichtlichen Langstreckenlauf
jede Initiative zu nehmen oder ihnen durch Dekonstruktion alles
Überlieferten den Erkenntnisboden wegzuziehen.
Das Anliegen, Bildungsprozesse aufzunehmen, zu begleiten und auszulösen,
hat aber auch einen pragmatischen Grund: Der Theologie droht die Mittelschicht
1.2 Elementarbegriffe theologischen Denkens in der Gegenwart 27
akademischer Bildung wegzubrechen. Zwischen jenen, die kaum mitkommen,
und jenen anderen, die nach zwei Semestern wissen, dass sie promovieren
wollen, bewegt sich eine große Gruppe, die Aufmerksamkeit verdient. Nichts
wäre fataler für Theologie, Kirche und Öffentlichkeit, als wenn die Mehrheit der
Studierenden dem Bildungsprojekt Theologie verloren ginge. Die Folgen in der
Berufspraxis sind bereits zu spüren: Beträchtliche Überforderungsgefühle und
kompensierende Authentizitätsansprüche. Gegen beides hilft elementare Bildung,
also Bildung zur selbstständigen Ergänzung von Wissen und Persönlichkeit.
Dies scheint mir für das evangelische Christentum im deutschsprachigen
Kontext eine Forderung des Tages.
Zum Umgang mit der christlichenKulturgeschichte als einer Bildungsquelle
ist eine letzte Unterscheidung angebracht. Im Unterschied zu historischen Arbeitsweisen
geht die systematische Reflexion überlieferungsschöpferisch vor –
sie muss es sogar. Damit ist selbstverständlich keine Erfindung von Fakten oder
gar »alternativen Wahrheiten« gemeint. Behauptungen über die Vergangenheit
müssen kontrolliert erfolgen, im historischen Faktencheck. Worauf die systematische
Reflexion dagegen bestehen muss, ist ein beherztes und passioniertes
Zugreifen auf Überlieferung, um sie sich anzueignen und um sie anderen zuzueignen.
7 Schöpferisches Anverwandeln macht Überliefertes in neuen Kontexten
lebendig. So kommt Überlieferung in der Gegenwart an und hat Zukunft.
Die gegenwärtige Systematische Theologie tut sich damit schwer. Sie
schwankt zwischen absolutem Glaubenswissen und Historisierung, zwischen
unhistorischer Absolutheit und religionstheoretischer Selbstrelativierung. So
wird nichts aus der Aufgabe, Elemente der christlichen Kulturgeschichte als
gegenwärtige Sprachoption anzubieten. Die absoluten Wahrheitsansprüche fußen
auf Einheitsdenken, das das Lebendige der Überlieferung verfehlt. Sie verhalten
sich unduldsam gegenüber Abweichungen vom Mainstream und damit
auch gegenüber heilsamen Irritationen aus der Überlieferung.
Es kann ein Ausweg sein, mit Elementarbegriffen immer auch christliche
Kulturgeschichte für die Gegenwart zu übersetzen. Denn sofern Glaube, Religion
und Christentum Elementarbegriffe theologischer Denkformen sind, sind sie
zugleich typisch für Epochen theologischer Systematisierung. Mit der Reformation
wird Luthers Glaubensbezug theologisch systembildend, nach Pietismus
und Aufklärung wird Schleiermachers Religionsverständnis zu einer grenzsensiblen
Übersetzungsformel für den Glauben. In der Moderne entstehen neue
Entwürfe, Theorien des Christentums, die dogmenkritisch und religionssoziologisch
die Wirklichkeit des Christlichen in dessen diversen Erscheinungsformen
aufsuchen. ImDurchlaufen dieser Denkweisen kommen exemplarische Kultur-
7
Solche An- und Zueignungsvorgänge haben heute nicht mehr überall Kredit, sie sind
aber unvermeidlich. Werkulturelle Aneignung kritisiert, hat sich zuvor ein Theorem
angeeignet, das diese Kritik ermöglicht.
28 1Systematische Reflexion elementarer Begriffe
formen des Christentums, Ausdrucksweisen des Glaubens, Medien der Religion,
Sozialformen des Christentums u. v. m. zum Zug. So wird, wie ich hoffe, systematischeReflexion
zur überlieferungsgeschichtlichen Kommunikationsagentur.
Die Übersetzungsaufgabe ist jedenfalls im Aufbau des elementarbegrifflichen
Kurses im jeweils vierten Kapitel berücksichtigt.
1.2.3 Wissenschaftlich gebildet in gegenw:rtigen Wirklichkeiten
Ich komme zum letzten Sachverhalt. Es handelt sich um die Wirklichkeitserfahrung,
auf die sich die systematische Reflexionbeziehtund für die sie offen sein
muss. Hierbei geht es, gemäß meiner differenzempfindlichen Gegenposition zu
metaphysischem Harmonisierungsstreben, umBrüche inder Wirklichkeitserfahrung,
die überhaupt erst zeigen, was um uns und mit uns geschieht. Die
Bereitschaft, so etwas wahrzunehmen und zu beschreiben, findet sich besonders
in ethischen und ästhetischen Reflexionskulturen der Systematik. 8
Die Verselbstständigung des Ethischen in derSystematischenTheologie istein
Indiz unserer Zeit. Eine ethische Kompetenz der Theologie wird auffallend stark
angefragt. Das ist aber doppeldeutig. Einerseits werden gegenwärtig öffentliche
Äußerungen ziemlichverschiedener Qualitätals »ethisch«bezeichnet. Daher muss
sich gediegenes ethisches Wissen hüten, in einem – sei es hypermoralisch, sei es
unethisch zu nennenden – Gequassel unterzugehen. Andererseits ist die zeitgenössische
Wirklichkeitserfahrung tatsächlich von ethischen Forderungen geprägt.
Vor allem wissenschaftlich-technologische Prozesse erzeugen diesen Orientierungsbedarf.
Daran darf die Theologie nicht vorbeigehen. Esist ihre Pflicht, über
Pflicht und Verantwortung vor Gott und Welt nachzudenken.
Die Massivität der ethischen Forderung stellt eine Chance für die Systematische
Theologie dar, auf die Wirklichkeitserfahrung des Zeitalters zuzugehen.
Ethik ist eine Form, die christliche Überlieferung zu übersetzen und auf die
Wirklichkeiten heutigen Lebens zu beziehen. Dabei erweisen sich oftmals eine
zurückhaltende Konfliktbeschreibung und eine umsichtige Beratung als die
Hauptaufgaben, manchmal ist aber auch Widerspruch nötig. Gerade eine Ethik
aus theologischem Kontext dürfte in der Lage sein, Brüche heutiger Wirklichkeiten
zu erkennen und auszuhalten, statt sie zu überspielen, und sie auch zu
kritisieren, statt typisches Konfliktgeschehen des modernen Lebens achselzuckend
hinzunehmen. Das Glaubensdenken weiß etwas anderes von Menschen
und Welt als die herkömmlicheMoral oder als arrogante Professionalität. Es weiß
8
Beide Trends werden in allen Teilen der Begriffsschulung aufgenommen. So finden sich
sprachästhetische Aspekte in Luthers Schreibweise und Schleiermachers Religionstheorie.
Die vergegenwärtigenden »Übersetzungen« am Ende jedes Teils reflektieren
derlei auch eigenständig. Der dritte Teil geht etwas anders vor.
1.2 Elementarbegriffe theologischen Denkens in der Gegenwart 29
um Differenzerfahrung, die unsere Verantwortung beschreibt, die sie aber auch
überschreitet. So öffnet diese Erfahrung die ethische Verantwortung auf eine
Tiefe der religiösen Wirklichkeitserfahrung hin, die im wissenschaftlich-technologischen
Konfliktmanagement häufig übersehen wird.
Die Verselbstständigung des Ästhetischen zum theologischen Feld ist dem
ethischenFaktorähnlich, doch der Akzent istanders. Während öffentliche Debatten
von der ethischen Forderung geprägt sind, sind es individuelle Lebensentwürfe oft
gerade nicht.Oder, richtigergesagt:Sie zielen auf eine Lebenskunst,inder die Ethik
wederdas letzte Wort hatnochdas einzige Wort führt.Ein Beispiel dafürist die seit
den 2000er-Jahren diskutierte Frage nach der Vereinbarkeit von Glück und Glauben;
siehat eine ästhetische Neufassungreligiöser Überzeugungen bewirkt. 9 Glück
oder eben Seligkeit alshöchstes Lebensziel zu verstehen, hat Anhaltspunkte in allen
elementaren theologischen Theorietraditionen, vielleicht hatman sich nur den Blick
darauf zu sehr abgewöhnt. Esist jedenfalls sinnvoll, ästhetische Perspektiven in
eine systematischeReflexion einzubeziehen,die denUmgangmit zerklüfteten und
vielstelligen Wirklichkeiten thematisiert. Ästhetik verspricht, immer mindestens
eine zusätzliche Perspektive auf die Wirklichkeit zu gewinnen.
Ein ästhetisches Selbstverhältnis von Religion und Christentum ist ein
Phänomen insbesondere der nachaufklärerischen westlichen Zivilisation, aber
nicht ausschließlich (es ist auch interreligiös beobachtbar). Auch im ästhetischen
Umgang mit religiöser Überlieferung undineiner ästhetischen Existenzinmitten
vieldeutiger Wirklichkeiten zeigt sich zeitgenössische Erfahrung. Die systematische
Reflexion muss auf solche ästhetischen Anmutungen von Sinn oder auch
der Abwesenheit von Sinn eingehen.
Ganz besonders die ethisch-ästhetischen Trends zeigen, dass der göttliche
Sprachumgang in der Menschenwelt stattfindet. Wir leben nicht zwischen den
Zeiten, sondern ganz in der Zeit, und daher auch »nicht […]unter anderen Sprachund
Verstehensbedingungen, jedenfalls sofern« man »sich nicht […] öffentlicher
Verantwortung entzieht und in eine Kirchensprache einspinnt. Deren interne
Vertrautheit ist […] ein trügerisches Symptom der heutigen Situation des
christlichen Wortes.« 10
Kein gutes Zeichen, dass Gerhard Ebelings jahrzehntealte Warnung noch
immer passt.
9
10
Jörg Lauster, Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentum,
Darmstadt 2004; Jan Hinrich Claussen, Glück und Gegenglück. Philosophische und
theologische Variationen über einen alltäglichen Begriff, Tübingen 2005.
Gerhard Ebeling, Hermeneutische Theologie?, in: Ders., Wort und Glaube II, Tübingen
1965, 99 120, hier 100. – Ich zitiere im Folgenden immer wieder Literatur, die nur in
Bibliotheken eingesehen werden kann.
Christian Wolfgang Senkel, Dr. theol., Jahrgang 1965, wurde von
der Ludwig-Maximilians-Universität München (bei Hermann Timm)
promoviert. Er war an verschiedenen Universitäten tätig. Senkel
lehrt als apl. Prof. für Systematische Theologie an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg.
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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.
Cover: Zacharias Bähring, Leipzig
Coverbild: Die Heilige Nacht, Antonio da Correggio, zwischen 1522 und 1530, Pappelholz,
256,5×188 cm, Gemäldegalerie Alte Meister
Satz: 3w+p, Rimpar
Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-374-07555-3 // eISBN (PDF) 978-3-374-07556-0
www.eva-leipzig.de