Baumeister 7-8/2025
Hüllen
Hüllen
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B7/8
BAU
Juli/August 2025
122. JAHRGANG
Das Architektur-
Magazin
MEISTER
Hüllen
ZIRKULARITÄT: II
4 194673 018502
07
D 18,50 €
A,L 20,95 €
CH 2 4 , 9 0 S F R
Mehr als
bloß
Fassade
COVERFOTO: UÉLVIS SANTANA/PEXELS
TITELBILD Rätselhafte Schönheit:
mit einer Plane abgedeckte
Skulptur in einer Nische der Pinacoteca
do Estado in São Paulo.
Der mächtige Ziegelbau aus dem
19. Jahrhundert dient als Kunstmuseum
und ist immer wieder
umgebaut und erweitert worden.
Die Hülle. Ein Wort, das
mehr verheißt, als es
zunächst preisgibt. In der
Biologie schützt sie das
Leben. In der Mode verbirgt sie und enthüllt zugleich. Und
in der Architektur? Da ist sie beides – Schutzschild
und Schauseite, Wärmepuffer und Weltanschauung.
In dieser Doppelausgabe B7/8 widmen wir uns der Frage,
was Hüllen heute leisten können – und was sie leisten
sollten. Denn sie sind längst nicht mehr bloß Fassaden. Sie
sind performative Systeme, regulierende Klimazonen,
kommunikative Oberflächen. Sie können Energie sparen,
Atmosphäre schaffen, ein Gebäude atmen lassen. Und
dennoch bleibt die große Frage: Sind intelligente Hüllen der
nächste große Schritt in Richtung nachhaltiger Architektur
– oder bloß teure Spielereien mit gutem PR-Wert?
Die Projekte in diesem Heft zeigen, wie unterschiedlich
Architekturschaffende auf diese Frage antworten.
Manche entwerfen adaptive Fassaden, die auf Sonnenstand,
Wetter oder Innenraumklima reagieren, andere setzen
auf radikale Einfachheit, auf Materialien, die altern dürfen
und sich nicht dem Kreislaufgedanken entziehen.
Eines ist klar: Die Hülle der Zukunft muss nicht nur energieeffizient,
sondern auch zirkulär gedacht sein. Doch
genau hier zeigt sich das Dilemma: Was heute Hightech ist,
ist morgen vielleicht Sondermüll. Wie also bauen wir
eine zweite Haut, die nicht nur unsere Gegenwart schützt,
sondern auch die Zukunft heilt? Vielleicht müssen wir
Hüllen wieder als Übergangszonen verstehen – nicht als
starre Grenzen, sondern als lebendige Membranen
zwischen innen und außen, zwischen Mensch und Umwelt.
Orte des Austauschs, nicht der Abgrenzung.
Diese Ausgabe ist ein Plädoyer für die Hülle als Denkraum.
Für ein neues architektonisches Selbstverständnis, das
Technologie nicht nur als Selbstzweck begreift, sondern als
Mittel zur Haltung. Denn so sehr die Fassade schützt, sie
verrät auch, was wir denken. Über Energie, über Ästhetik,
über die Zukunft.
Blättern Sie also hinein in diese Ausgabe, die nicht nur
zeigt, was Hüllen heute können, sondern auch was sie
erzählen. Über Räume sowie über Menschen und den Mut,
Architektur neu zu denken – von außen nach innen und
wieder zurück. Und wie immer gilt: Schreiben Sie mir gern,
wenn Sie Widerspruch verspüren, neue Perspektiven
teilen möchten oder einfach nur sagen wollen, welcher Beitrag
Sie persönlich besonders berührt hat.
Viel Freude beim Lesen – und beim Nachdenken über
das, was wir zeigen, wenn wir „nur“ die Hülle sehen.
Herzlichst,
Tobias Hager
Chefredakteur
t.hager@georg-media.de
03
II
Ideen
Positionen
12 Perforierte
Hülle des
„Kunstraums
Kassel“
20 Terrassenhaus
in Zürich
30 Photovoltaikfassade
in Basel
42 Sanierung
„Sophie-
Scholl-Haus“
in München
52 Lehmbau-
Fassade
bei Paris
Seite 36
Die Baumfassade
Seite 60
Hitzestress auf
der Architekturbiennale
Inspiration
ab
Seite 93
66 Temporäre
Schule
in Zürich
76 Farbige Holzfassade
in Mühlhausen
84 Sanierung
„Space
House“
in London
11
STANDORT
Binzstrasse 29,
Zürich
ARCHITEKTUR
EM2N, Zürich
Mathias Müller, Daniel Niggli,
Gerry Schwyter (Assoziierter)
PROJEKTLEITUNG
Kristina Strecker, Hugo Torre
PROJEKTTEAM
Carlos Maria Azpiroz Franch,
Lorents-Kristian Blomseth,
Mariantonietta Irene Gadaleta,
Kevin Hinz, Damir Karakaš,
Sebastian Lenders, Martina
Melegari, Kseniia Ponomar,
Julia Przybyszewska, Maria
Remma, Theodoros Sandros,
Lukas Schädler, Sandra ten Dam,
Kenneth Woods; Joey Frei und
Jonas Rindlisbacher (Modellbau)
SIGNALETIK
Caroline Vogel
BAUHERR
Swiss Life AG
LANDSCHAFTSARCHITEKTUR
Balliana Schubert Landschaftsarchitekten
AG, Zürich
PROJEKTENTWICKLUNG
Fischer Immobilien AG,
Zürich
BAULEITUNG/BAUREALISATION
WSP Suisse AG, Zürich
BAUINGENIEUR
WaltGalmarini AG,
Zürich
HLKS
Aicher, De Martin,
Zweng AG, Zürich
ELEKTRO
Inelplan AG, Rapperswil
BAUPHYSIK, AKUSTIK
Kopitsis Bauphysik AG,
Wohlen
BRANDSCHUTZ
Conti Swiss AG,
Zürich
NACHHALTIGKEIT
Transsolar
Energietechnik GmbH,
Stuttgart
FERTIGSTELLUNG
2023
Grüne
Kaskaden
A R C H I T E K T U R
EM2N
TEXT
Susanne Mayer
FOTOS
Kuster Frey
Wie möchten wir morgen arbeiten?, fragten sich
die Architekten des Züricher Büros EM2N.
Denn schließlich wollten sie auch selbst in den neuen
Gewerbebau im Zürcher Binz-Quartier einziehen.
Ihr Wunsch: mitten in der Stadt ins Grüne blicken.
21
22 B7/8 / 25 – HÜLLEN IMPULS IDEEN INSPIRATION
LINKS Die Typologie des Terrassenhauses
entstand hauptsächlich
durch vorgeschriebene Grenzabstände
und Höhenbegrenzungen.
Heute weist das Gebäude
vielfältige Nutzungen auf: von
Ateliers, Besprechungsräumen,
Büros, Gewerbeflächen, Restaurant,
Showrooms bis zur Tiefgarage.
OBEN Auch Werkstätten gehören
dazu. Dabei ist baulich Raum
für spätere Technikzentralen und
Steigzonen vorgesehen, so
dass Anpassungen an andere
gewünschte Nutzungen vonseiten
der Mieter möglich sind.
Schon vor Projektstart war klar ist, dass EM2N selbst einen
Teil der Mietflächen beziehen würden. Doch neben ihren
Wünschen, wie ihre neue Arbeitswelt aussehen sollte, prägten
dann vor allem die Grenzabstände und zulässigen
Gebäudehöhen das Projekt maßgeblich. Die Architekten
ließen sich aber von den volumetrischen Einschränkungen
nicht beirren, und so gelang es ihnen sogar, daraus einen
produktiven Katalysator für die Konzeption eines innovativen
Gewerbebaus zu machen.
Ziel war etwa eine maximale Flexibilität der Flächen: So
ermöglichen vorgefertigte Pi-Platten hohe Lasten von
5kN/m2 bei Spannweiten von bis zu 8,25 Metern. Diagonale
Stützen folgen der Gebäudesilhouette und tragen die
Lasten nach unten in die immer breiteren Geschosse und ins
Fundament ab. An manchen Stellen entfallen die Deckenfelder,
und so sind je nach Lage im Haus verschieden große
Räume mit variierenden Raumhöhen entstanden, die in
dieser Art auf dem Mietmarkt kaum zu finden sind.
WEITER
23
Bemerkenswert ist, dass die Architekten bereits in der Vorprojektphase
eine Alternative erwogen haben: einen
Mischbau, teilweise mit Holztragwerk, der aber aufgrund
der fehlenden thermischen Masse, der weniger guten
Trageigenschaften von Holz und nicht zuletzt der Baukosten
wieder verworfen wurde. Nachdem der Betonbau fertiggestellt
war, ermittelten sie seine CO2-Emissionen im
Vergleich mit der Alternative in Holz. Die Resultate überraschten
sie, da das Delta nur bei ungefähr 15 Prozent
liegt. Sie erklären sich diese Tatsache so, dass bei beiden
Varianten ein guter Teil der Emissionen in den Fensterfronten,
im Innenausbau und in der Haustechnik liegt.
Zudem sind natürlich auch bei einer Holzbauvariante
Fluchtweg und Untergeschoss aus Beton.
GRÜNER AUSBLICK
Die Mieteinheiten in den Obergeschossen verfügen auf der
Nordseite über direkt zugängliche, halbgedeckte Balkone.
An der Südfassade sind die breiteren Terrassen mit einer
skulpturalen Außentreppe untereinander verbunden und
können direkt vom Hof aus erreicht werden. Dieser Treppenweg
unterstreicht den kollektiven Charakter des Hauses
und fördert auch den Austausch unter der Mieterschaft. Das
Erdgeschoss wird öffentlich gastronomisch genutzt.
Ein wichtiger Bestandteil des Konzepts ist die Begrünung
des Hauses. Die Pflanzen erfüllen zwei Funktionen: Einerseits
bilden sie eine grüne Oase im dicht bebauten, großteils
versiegelten Industriequartier Binz, und andererseits
unterstützen die Pflanzen das Haus klimatisch als Sonnenschutz
und indem sie im Bereich der Balkone und Terrassen
ein Mikroklima erzeugen. Sträucher, Büsche und Hängepf
lanzen sind im Terrassenbereich direkt in bewässerten
Pf lanzbecken eingesetzt worden. Im Süden dienen die
Pflanzen auf den auskragenden Metallgittern als Bewuchshilfen
der Verschattung der unteren Geschosse, während
im Norden das Grün vor allem am Geländer wächst. Auf
Ost- und Westseite werden die Sichtbetonfassaden mit
Kletterpflanzen vom Boden aus begrünt. Das Gewicht der
Pflanztröge wurde von den Bauingenieuren von Anfang
an in die Berechnungen einbezogen.
Die Züricher Landschaftsarchitekten Balliana Schubert
haben für die Nord- und die Südseite eine dem unterschiedlichen
Mikroklima angepasste Pflanzenauswahl
getroffen. Zusätzlich wurden die Gebäudestirnseiten
mit Haftkletterern begrünt. Die Pflanzen werden auch
künstlich bewässert. Und im Übrigen kümmert sich
eine Fachperson um ihre Pflege – dazu gehört ein Rückschnitt
jeweils im Juni und Oktober.
24 B7/8 / 25 – HÜLLEN IMPULS IDEEN INSPIRATION
Die
Baumfassade
POSITION
Lisa Höpfl, Florian Köhl,
Christian Burkhard,
Julian Lienhard, Divya Pilla
und Ferdinand Ludwig
In Bamberg ging ein Projekt an den Start,
das die Entwicklung einer neuen Form grüner
Architektur mit großen klimatischen und
gestalterischen Potenzialen verspricht. Bei dem
sozialen Wohnungsbau wurden große Bäume
so nah an die Fassade gepflanzt, dass sie zur
Verschattung und Kühlung des Gebäudes beitragen,
den Prozess des stetigen Wandels in die
Architektur verankern und neue architektonische
und räumliche Qualitäten erzeugen. Ein interdisziplinäres
Team hat sich mit möglichen
Herangehensweisen, Schnittstellen und der Realisierung
auseinandergesetzt.
36 B7/8 / 25 – HÜLLEN IMPULS IDEEN INSPIRATION
In allen bekannten Klimawandel-Anpassungsstrategien,
die in den vergangenen
Jahren von und für Städte erarbeitet
wurden, wird mehr Vegetation, insbesondere
von Bäumen gefordert 1 . Begründet ist
diese Forderung durch die bekannten
positiven Klimaeffekte aufgrund der hohen
Verschattungsleistung als auch hohen
Transpirationsleistung. Ein interdisziplinäres
Team hat sich im Rahmen eines von
der Deutschen Bundesstiftung Umwelt geförderten,
praxisbasierten Forschungsvorhabens
mit der Frage beschäftigt, ob Bäume
so nah an eine Fassade gepflanzt werden
können, dass sie als eine neue Kategorie der
Bauwerksbegrünung, als „Baumfassaden“
etabliert werden können. In der aktuellen
minimieren und sich zu mehr Raum und Licht
hinzuentwickeln. Wird der Baum direkt
am Gebäude gepflanzt und gleichzeitig das
natürliche Wachstumsverhalten beschleunigt,
indem die zur Fassade gerichteten Äste
beschnitten werden, führt dies zu folgender
Definition: Eine Baumfassade besteht
aus ausladenden, großkronigen Bäumen, die
so nah an ein Gebäude ge pf lanzt werden,
dass die Baumkrone von außen visuell Teil
des Hauses wird. Demnach führt das Pf lanzen
des Baums nah an der Fassade, begleitet
durch pflegerische Schnittmaßnahmen,
zur Ausbildung einer „halben Krone“. Die
Bewohner der Gebäude können den Baum
unmittelbar vor dem Fenster oder vom
Balkon aus erleben, und es entsteht der Ein-
In den Schnittzeichnungen zu den
Bamberger Lagarde-Höfen ist
links der Wuchs nach etwa fünf
Jahren mit sieben Metern Höhe
angenommen und rechts nach
etwa acht Jahren mit zwölf
Metern Höhe, so dass der Baum
das Gebäude dann überragen
wird.
1 Kögl, L.: Bundesumweltamt
fordert mehr Bäume und Schatten
in den Städten, in ZEIT ONLINE,
veröffentlicht am 03.07.2022.
Verfügbar unter
https://www.zeit.de/wissen/
umwelt/2022-07/umweltbundesamt-hitze-staedte-schattenbaeume;
abgerufen am:
13.07.2022
ALLE ABBILDUNGEN: FATKOEHL ARCHITEKTEN
Stadtplanung werden Bäume derzeit nur
mit einem gewissen Abstand zum Gebäude
gepflanzt, damit sich Krone und Wurzeln
adäquat entwickeln können, aber auch um
möglichen Sturmschäden an der Fassade
vorzubeugen. Bedenken hinsichtlich Beschädigungen
des Gebäudefundaments oder
der unterirdischen Infrastruktur durch
Wurzeln sind weit verbreitet 2 , weshalb es un -
gewöhnlich erscheint, Bäume und Gebäude
bewusst zusammen zu planen. Dokumentationen
aus verschiedenen Städten zeigen
jedoch, dass es bereits zahlreiche Bei -
spiele für fassadennahe Bäume gibt. Wenn
ein Baum derart nah an einer Fassade wächst,
ist seine normale Reaktion, die Ast- und
Kronenentwicklung zur Fassade hin zu
druck, sich direkt in der Baumkrone zu
befinden, im Baum zu leben.
AUSGANGSPUNKT DES PROJEKTS
In einem europaweiten Wettbewerb wurde
für eine Konversionsfläche (etwa drei
Hektar) der US-Streitkräfte in Bamberg ein
Konzept für ein nachhaltiges und gemeinwohlorientiertes
Stadtquartier, die zukünftigen
„Lagarde-Höfe“, gesucht. Den Zuschlag
erhielt der Vorschlag der Volksbau Bamberg:
Neben Wohnungen und Gewerbe wird
ein nach der DGNB zertifizierter Stadtteil
entstehen. Unterschiedliche Architekturbüros,
darunter fatkoehl architekten, planen
die einzelnen Gebäude, so auch das Kopf-
2 ARD-Bericht: Millionen-
Schäden durch Baumwurzeln,
in: Plusminus, das ARD-
Wirtschaftsmagazin, 2015,
veröffentlicht am
24.06.15, 21:45 – 22:15
WEITER
37
Vom Blauen Haus zum Sophie-
Scholl-Haus mit blauer
Fassade. Das Gebäude in der
Münchner Studentenstadt
Freimann wurde von bogevischs
buero umfangfassend
saniert.
STANDORT
Sophie-Scholl-Haus, Studentenstadt
Freimann, München
BAUHERR
Studierendenwerk München und
Oberbayern AdÖR
ARCHITEKTUR
bogevischs buero architektur &
stadtplanung gmbh, München
H.P. Ritz Ritzer BDA
(Projektkoordination),
Martin Wißmann (Projektleiter),
Ann-Kristin Schneider
(Projektleiterin),
Giulia Deon und Susanna
Liedgens (Projektmitarbeit)
BAULEITUNG FÜR BOGEVISCHS BUERO
Christoph Maas Architekturbüro
GmbH, München
TRAGWERKSPLANUNG
HOCH Baustatik – Ingenieurbüro
für Bauwesen, München
HEIZUNG /SANITÄR
Ingenieurbüro Konrad Huber
GmbH, München
ELEKTRO
GT Geisler-Tannhoff
GmbH & Co. KG,
Unterhaching
BAUPHYSIK UND AKUSTIK
Müller-BBM Building
Solutions GmbH,
Planegg
BRANDSCHUTZ
K33 Riedner Wagner
Gerhardinger Architekten
Part GmbB,
München
LANDSCHAFTSARCHITEKTUR
Veronika Richter –
Landschaftsarchitekten,
München
FERTIGSTELLUNG
2023
Blauer
Lichtblick
ARCHITEKTUR
bogevischs buero architektur & stadtplanung
TEXT
Helke Kölschbach
FOTOS
Rainer Taepper Architekturfotografie
Das „Sophie-Scholl-Haus“, früher als „Blaues Haus“
bekannt, liegt in der Studentenstadt Freimann
im Münchner Stadtteil Schwabing. Ursprünglich 1973
von Sepp Pogadl entworfen, wurde das Gebäude
von bogevischs buero umfassend saniert und
im Mai 2023 wiedereröffnet. Als aktuell einzig vollständig
bewohnbares Gebäude im Studentenstadt-
Hochhaus-Ensemble der Neustadt bietet es Studierenden
dringend benötigten Wohnraum.
43
OBEN Die neu ergänzten Stahlgitter
als Austrittsfläche bieten
mehrere Vorteile: Sie dienen als
Fluchtweg, Sonnenschutz und
Begegnungsort.
UNTEN Vor der Sanierung sah das
Blaue Haus wie die Nachbarwohngebäude
aus. Während die
Längsseiten als blaue Fassaden
umgestaltet wurden, sind die
Stirnseiten heute mit weißen
Faserzementtafeln verkleidet. In
diesen finden auch Fledermäuse
einen Nistplatz.
46 B7/8 / 25 – HÜLLEN IMPULS IDEEN INSPIRATION
Die Studentenstadt Freimann wurde zwischen 1961 und
1975 nach Plänen von Ernst Maria Lang errichtet. Der Komplex
umfasst 14 Häuser auf einer Grundfläche von etwa
88.000 Quadratmetern und stellt theoretisch Wohnraum
für 2.400 Studierende zur Verfügung. Allerdings stehen
seit einem Brand im „Roten Haus“ (Haus 13) im Jahr
2021 und den darauffolgenden Brandschutzprüfungen
mehrere Gebäude leer. Die Häuser 9 und 12 befinden
sich derzeit in der Sanierung und sollen 2027 und 2028 wieder
bezugsfertig sein.
2016 erhielt das Architekturbüro bogevischs buero im
Rahmen eines VgV-Verfahrens den Auftrag, das Blaue Haus
zu sanieren. Das Projektteam, bestehend aus H.P. Ritz
Ritzer, Martin Wißmann, Ann-Kristin Schneider, Susanna
Liedgens und Giulia Deon verwandelten das Gebäude
in das heutige Sophie-Scholl-Haus. Benannt wurde es nach
der Widerstandskämpferin der Weißen Rose, Sophie Scholl,
entsprechend den bereits nach Mitgliedern der Weißen
Rose benannten Straßen in der Umgebung.
Die siebenstöckige Wohnscheibe hat sich im Zuge der
Sanierung baulich bedeutend verändert: Eine der Hauptaufgaben
bestand in der Entfernung der ursprünglichen
Betonbrüstungen an den Längsseiten im Osten und
Westen des Gebäudes. Die Betonkonsolen befinden sich
nun im Inneren als Teil der Wandscheiben, was eine
praktische Lösung gegen das Eindringen von Wasser darstellte
und gleichzeitig wertvollen Platz gewann. Nachdem
die Brüstungen entfernt waren, hat man neue Betonplatten
als Fußbodenerweiterung eingefügt und davor
Stahlgitter als Austrittsflächen installiert.
Auch die Stirnseiten nach Norden und Süden sind komplett
erneuert, da die ursprüngliche, etwa vier Zentimeter
dicke Außendämmung nicht mehr den Anforderungen entsprach.
Sie wurde durch eine zeitgemäße Lösung mit
einer vorgehängten, hinterlüfteten Fassade ersetzt. In die
neue Hülle mit weiß beschichteten Faserzementtafeln
wurden vier schmale Schlitze eingearbeitet, die als Zugang
zu verdeckt liegenden Ersatz-Nistkästen für Fledermäuse
dienen.
IM INNEREN
Ebenso hat sich die Organisation im Erdgeschoss leicht
verändert. So wurde der Hauptzugang verlegt, der ehemalige
Eingangsbereich hat nun Platz für die Briefkästen
und dient als Begegnungsort für die Bewohnerinnen
und Bewohner. Im Gegensatz zur ursprünglichen Situation,
bei der die Briefkästen auf den jeweiligen Stockwerken
verteilt waren, sind sie nun zentral im neuen Eingangsbereich
zusammengefasst.
Die Grundstruktur der 246 Einzimmerwohnungen blieb
weitgehend erhalten, jedoch ermöglichte die gewonnene
Fläche durch die Fassadenerweiterung eine Neuordnung
der Räume. Jedes Einzelapartment erhielt etwa einen Meter
mehr Platz, was zu einer Wohnfläche von rund 18 Quadratmetern
führt. Die Nasszellen wurden von der Eingangs -
zone in die erste Hälfte des Raums verschoben und in einer
abgerundeten Form gestaltet. Beim Betreten eines Apartments
findet man also zunächst die Küchenzeile vor, gefolgt
von der Nasszelle mit Dusche und Toilette. Dahinter befinden
sich Bett und Arbeitsbereich.
Die bodentiefen Fenster führen auf die als Stahlgitter ausgeführten
Balkone, die in einem charakteristischen Blauton
gehalten sind – eine Anspielung auf den ursprünglichen
Namen „Blaues Haus“ und zudem auf die dreigeschossigen
„Stufenbauten“ im Olympischen Dorf von 2014 bis 2019
beziehungsweise 2022, die ebenfalls von bogevischs buero
stammen. Im Erdgeschoss sind drei barrierefrei nutz -
bare Sonderapartments eingerichtet – genauer gesagt, sind
es zwei barrierefreie Zweizimmerwohnungen und eine
Dreizimmerwohnung, die als Eltern-Kind-Apartment ausgewiesen
ist. Letztere kann jedoch auch als zusätzliche
barrierefreie Wohnung mit einem weiteren Zimmer für eine
Betreuungsperson genutzt werden.
RECYCE LBARE
FASSADE NBE STANDTE ILE
Die Stahlgitteraustritte erfüllen mehrere Funktionen:
Im Brandfall dienen sie als Fluchtwege, in den Sommermonaten
bieten sie effektiven Sonnenschutz. Durch
die Entfernung der massiven Betonbrüstungen erhielten
die Wohnräume deutlich mehr Tageslicht. Die verwen -
deten Alu-Holz-Fenster wurden so konzipiert, dass
die Aluminiumkomponenten demontiert und zusammen
mit den Stahlgittern recycelt werden können, was dem
Konzept der Kreislaufwirtschaft entspricht. Im Kellergeschoss
gibt es nun einen Fahrradabstellraum als Teil der
Tiefgarage, um die nachhaltige Mobilität der Bewohner
zu unterstützen.
Die Bauarbeiten begannen 2020, verzögerten sich jedoch
aufgrund der Covid-Pandemie und konnten schließlich im
Mai 2023 abgeschlossen werden. Für die Realisierung
arbeitete das Architekturbüro eng mit dem Bauherrn, dem
Studierendenwerk München und Oberbayern, zusammen.
Und auch noch heute nimmt das Sophie-Scholl-Haus in
mehrfacher Hinsicht eine besondere Stellung ein, denn es
ist aktuell das einzige vollständig bewohnbare Gebäude in
der Studentenstadt, während andere Häuser noch saniert
werden. Durch die Namensgebung nach der Widerstandskämpferin
Sophie Scholl wird zudem ein wichtiger Bei -
trag zur Erinnerungskultur geleistet. Architektonisch verbindet
das Projekt auf gelungene Weise den Erhalt der
charakteristischen Struktur des Originalgebäudes mit den
zeitgemäßen Ansprüchen an Nachhaltigkeit, Funktionalität
und Wohnkomfort.
WEITER
47
STANDORT
17, rue des Quatre Cheminées,
Boulogne-Billancourt
bei Paris
ARCHITEKTUR
Déchelette
Architecture,
Paris
TRAGWERKSPLANUNG
Axoé
LEHMBAUSTEINE
Terrio, Lyon
BAULEITUNG
David Billard, Arpège Ingénierie
WETTBEWERB
Januar 2021, 1. Preis
BAUHERR
Seine Ouest Habitat
et Patrimoine
TEAM
Emmanuelle Déchelette,
Philibert Déchelette
FASSADENBAU
STM-LBTP, angelernt von Terrio
FERTIGSTELLUNG
2024
Lehm, Holz,
Stein
A R C H I T E K T U R
Déchelette Architecture
TEXT
Leonardo Lella
FOTOS
Salem Mostefaoui
Ziel der Architekten war eine Konstruktion
mit möglichst rohen, unbehandelten Materialien.
Sie wählten Holz für die Hoffassade und Bausteine
aus Stampflehm für die Straßenfassade mit einem
Sockel aus Naturstein. Im Haus in Boulogne-Billancourt
finden auf den vier Geschossen acht Sozialwohnungen
Platz sowie ein Laden im Erdgeschoss.
53
Obwohl die vorgefertigten Blöcke
nicht wirklich lokal sind – sie
stammen von einem Lehmbau-
Unternehmen aus Lyon –, haben
sie den Bauprozess rationalisiert
und eine Bauzeit von nur
drei Wochen ermöglicht.
1 Das SRU-Gesetz (Loi Solidarité
et Renouvellement Urbain)
war eine Reaktion auf die zunehmende
Segregation und
Armutskonzentration in französischen
Städten. Es wurde im
Dezember 2000 verabschiedet
und verpflichtete ausgewählte
Gemeinden, 25 Prozent ihres
Wohnbaubestands für Sozialwohnungen
bereitzustellen.
Seit der Verabschiedung
des SRU-Gesetzes im Jahr
2000 1 müssen alle französischen
Gemeinden, die zu
städtischen Ballungsgebieten
gehören, mindestens
25 Prozent ihres Wohnbestands
mit Sozialwohnungen
belegen. Während Paris
und andere Großstädte
in den letzten Jahren erhebliche
Anstrengungen unternommen
haben, um dieses
Ziel zu erreichen – die
Hauptstadt hat diese
Schwelle bereits 2023 überschritten –, zeigen sich andere
Gemeinden widerspenstiger, wenn es darum geht, sich an
dieser „nationalen Solidaritätsanstrengung“ zu beteiligen.
Dies ist etwa der Fall in Boulogne-Billancourt, einem Vorort
im Westen von Paris, der früher von Arbeitern bewohnt
wurde und heute eher zu den gehobenen Vororten der
Hauptstadt zählt. Mit einem Anteil von 15 Prozent an Sozialwohnungen
ist die Gemeinde weit vom Ziel entfernt.
Und doch zeichnen sich die wenigen, vom sozialen Wohnbauträger
OPH Seine-Ouest Habitat übergebenen Projekte
durch ihre Qualität und vor allem durch architektonische
Experimente aus, die sie ihren Planern ermöglichen.
So hatte das junge Büro Déchelette Architecture kürzlich
Gelegenheit, in einer Straße mitten in der Gemeinde
ein Gebäude mit acht Sozialwohnungen, einer Pförtnerloge
und einem Geschäft im Erdgeschoss zu errichten. Die
Besonderheit des Projekts: Das Gebäude konnte aus biobasierten
Materialien errichtet werden, wobei die Verwendung
von Beton auf die Erdgeschossdecke und den Kern
beschränkt ist. Obwohl im Wettbewerb nur eine Holzkonstruktion
vorgesehen war, entschieden sich die Architekten,
den CO2-Fußabdruck des Gebäudes noch weiter zu
senken: So besteht die Straßenfassade aus vorgefertigten
Lehmblöcken mit einem Sockel aus massivem Naturstein und
die Konstruktion wie auch die Hofseite aus Brettsperrholz.
LEHMBAU-ERFAHRUNGEN
Die Ausführung mit Lehmbausteinen ist eine in der französischen
Architektur noch wenig verbreitete Bautechnik
und stellte eine echte Herausforderung vor allem für das
ambitionierte Architekturbüro Déchelette dar. Die Unternehmen,
die in Frankreich mit Stampflehm arbeiten können,
lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen, was
eine lokale Versorgung verhinderte. Während der Stein in
einem Steinbruch in 50 Kilometer Entfernung zur Baustelle
54 B7/8 / 25 – HÜLLEN IMPULS IDEEN INSPIRATION
STANDORT
Warmenweg 2,
Mühlhausen im Täle
ARCHITEKTUR
Yonder – Architektur und Design,
Stuttgart
GEBÄUDETECHNIK
IWP Ingenieurbüro für
Systemplanung GmbH, Stuttgart
PLANUNGSBEGINN
Mai 2020
BAUHERR
Land Baden-Württemberg, Vermögen
und Bau Baden Württemberg,
Amt Schwäbisch Gmünd
LANDSCHAFTSARCHITEKTUR
Peyker Landschaftsarchitektur,
Schönaich
ELEKTROPLANUNG
Ingenieurbüro Schork GmbH &
Co. KG, Stuttgart
BAUBEGINN
Februar 2022
FERTIGSTELLUNG
November 2023
NUTZER
Polizei Baden-Württemberg
TRAGWERKSPLANUNG
Furche, Geiger, Mayer
Tragwerksplaner GmbH, Köngen
BAUPHYSIK
Brüssau Bauphysik GmbH,
Fellbach
Sanftes
Signal
A R C H I T E K T U R
Yonder
FOTOS
Brigida González
Den Architekten schwebte ein freundliches Erscheinungsbild
für die Autobahnpolizei in Mühlhausen vor.
So realisierten sie nicht nur Holzbauten für die Erweiterung
des Bestands, sondern auch ein zart anmutendes
Gestaltungs- und Farbkonzept, das die Künstlerin Florina
Leinß für die Fassaden entwarf und das für ein
positives Image der Polizei im 21. Jahrhundert stehen soll.
Wir befragten die Architekten zu ihrem Konzept.
77
Die Stuttgarter Künstlerin
Florina Leinß ist eine ausgesprochene
Farbspezialistin. Hier
in Mühlhausen im Täle wählte sie
subtile Töne, die nur in den farbigen
Fugen zwischen den weißlasierten
Brettern der Deckelschalung
aufscheinen.
BAUMEISTER Worin bestand
Ihre Aufgabe?
YONDER Wir konnten ein
Bewerbungsverfahren über
die Planungsleistungen
für einen Verwaltungsanbau
und den Neubau von
vier Garagen für die Autobahnpolizei in Mühlhausen im
Täle für uns entscheiden. Sukzessive folgten ergänzende
Aufträge zu Carports und dem Umbau des Bestandsgebäudes.
Alle Bauabschnitte wurden beziehungsweise
werden von uns von der Planung bis zur Objektüberwachung
begleitet.
BAUMEISTER Was waren Ihre Gründe für die Wahl der Holzkonstruktionen?
YONDER Das Land Baden-Württemberg war mit der Aufforderung
an uns herangetreten, hier in Form eines Holzbaus
Pionierarbeit für ein öffentliches Bauvorhaben zu
leisten. Das heißt, es war der ausdrückliche Wunsch
des Landesbetriebs Vermögen und Bau Baden-Württemberg,
mit einer Holzkonstruktion zu arbeiten. Diesem
Wunsch sind wir gerne gefolgt. Der Neubau für Werkstätten
und Garagen wurde in Holzrahmenbauweise errichtet.
Im Inneren des Anbaus für die Verwaltung ist die angenehme,
warme und freundlich anmutende Atmosphäre
nicht zuletzt auf die sichtbare Holzkonstruktion in Massivholzbauweise
im Zusammenspiel mit bewusst gesetzten
Farbakzenten zurückzuführen.
BAUMEISTER Für unsere Freunde und Helfer haben Sie ein sehr
schönes, zartes Fassadenbild gewählt. Wie kam es dazu?
YONDER Für uns war die Vorgabe, möglichst einen Holzbau zu
realisieren, ein willkommener Anlass in Zusammenarbeit
mit der Künstlerin Florina Leinß die traditionelle Fassadenschalung
mit einer innovativen Farbgestaltung zu verbinden
und die vertrauten Pfade bekannter Gestaltung von
Verwaltungsbauten für die öffentliche Hand zu verlassen.
Mit einem sensiblen Gestaltungs- und Farbkonzept wird ein
frisch und jung anmutendes Image für die Polizei im
21. Jahrhundert entworfen. Sowohl der Werkstatt- und
Garagenneubau als auch der Verwaltungsanbau wurden in
ein hölzernes Fassadenkleid mit Boden-Deckel-Schalung
gehüllt. Die breiten weiß lasierten Hölzer der Deckelschalung
wurden durch feine farbige Fugen in der Ebene
der Bodenschalung ergänzt. Die Farbigkeit der Fugen,
die Florina Leinß in bewusster Harmonie und Rhythmus zu
Bestand und Umgebung gewählt hat, ermöglichen ein
zuverlässiges Zusammenwachsen von Alt und Neu und eine
solide Grundlage für ein harmonisches Gesamtensemble.
80 B7/8 / 25 – HÜLLEN IMPULS IDEEN INSPIRATION