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G+L 7/2025

ÖPNV

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20|07

25

MAGAZIN FÜR LANDSCHAFTSARCHITEKTUR

UND STADTPLANUNG

ÖPNV


EDITORIAL

Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) steht am Scheideweg.

Inmitten steigender Energiepreise, einem massiven

Personalmangel, ausgedünnter Taktungen und maroder Infrastrukturen

zeigen sich Defizite in einem System, das als Rückgrat

einer klimagerechten Mobilitätswende fungieren sollte – und

doch in vielen Städten und Gemeinden zum Problemfall

geworden ist. Angesichts der Dringlichkeit des Klimaschutzes

drängt sich die Frage auf, wie ein zukunftsfähiger ÖPNV

aussehen kann, der Mobilität für alle Menschen sicherstellt und

zugleich die Umwelt schont. Unsere Juliausgabe widmet sich der

Suche nach Antworten, wie der öffentliche Raum und der ÖPNV

zu einem neuen Mobilitätsverständnis beitragen können.

Coverfoto: BVG, Oliver Lang; Illustrationen: Georg Media

Kleine und große Personen, mit Rollstuhl

oder Blindenstock, allein oder als Pärchen:

80 verschiedene bunte Silhouetten bilden

das „Muster der Vielfalt“. Damit bringen

die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) die

urbane Diversität Berlins auf die Sitze ihre

Busse und Bahnen. Während die

Fahrgäste und der Stadtraum hier als

Inspiration für die Fahrzeuggestaltung

dienen, fragen wir in dieser G+L

umgekehrt, wie sich der ÖPNV und seine

Infrastrukturen auf den öffentlichen Raum

auswirken – und wie diese den Freiraum

mitgestalten können.

ANNA MARTIN

REDAKTION

a.martin@georg-media.de

THERESA RAMISCH

CHEFREDAKTION

t.ramisch@georg-media.de

Lösungsansätze existieren, und es ist unsere Aufgabe als

Planer*innen, diese Wege auszuloten. Für eine Transformation

des ÖPNV brauchen wir mehr als nur neue Strecken oder

zusätzliche Fahrzeuge: Die Gestaltung der Haltestellen, Umsteigepunkte

und neuer Verbindungsstücke verdient besondere

Beachtung – im kleinen und größeren Maßstab. Wir werfen

anhand ausgewählter Best Practices in diesem Heft einen Blick

auf innovative Mobilität, die den ÖPNV mit Freiraum- und

Stadtgestaltung verbinden und so nicht nur die Funktionalität

verbessern, sondern neue Aufenthaltsqualität schaffen.

Buro Happold und A24 konfrontierten wir in diesem Heft mit

der Frage, welche Verantwortung Landschaftsarchitektur und

Stadtplanung in der Mobilitätswende tragen. Zudem wollen wir

wissen, wie der ÖPNV gestaltet werden muss, um eine echte

Alternative zum motorisierten Individualverkehr zu sein, welche

Rolle grundsätzlich innovative Technologien bei der Umgestaltung

spielen und inwiefern ÖPNV-Infrastrukturen zur Aufwertung

des öffentlichen Raums beitragen können. Dafür haben wir den

baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Hermann

zum ÖPNV-Ausbau in seinem Bundesland interviewt, mit

Andreas Knie vom WZB über Autos, die Rolle des ÖPNVs in der

Verkehrswende und Robotaxen gesprochen sowie Carlos

Moreno zur 15-Minuten-Stadt befragt. Wir werfen einen Blick

auf aktuelle Entwicklungen im Bereich autonom fahrender

ÖPNV, fragen nach Status quo des öffentlichen Verkehrs im

ländlichen Raum und untersuchen die Relevanz des Fußverkehrs.

Sechs Projekte zeigen in unserer Bilderstrecke, welche ÖPNV-

Projekte bereits umgesetzt sind – und was in den kommenden

Jahren als Nächstes ansteht.

Was wir bei dieser Ausgabe gelernt haben: Noch ist

der ÖPNV nicht stark genug, um tatsächlich das Rückgrat

der Verkehrswende zu sein. Es tut sich aber

bereits etwas, wie beispielsweise die Entwicklungen

in Baden-Württemberg und zahlreiche Pilotprojekte

bundesweit demonstrieren. Und auch wenn noch

viel zu tun ist, sind zahlreiche Akteur*innen mit

einer Mischung aus Ausbau bestehender Strukturen,

disziplinenübergreifenden Planungsansätzen sowie

innovativen Strategien und Technologien bereits daran,

die Mobilität von morgen zu gestalten.

G+L 3


INHALT

AKTUELLES

06 SNAPSHOTS

08 MOVE TO IMPROVE

Die Kampagne von G+L und topos

09 MOMENTAUFNAHME

Turmdruck

10 SPEZIAL

Gartenschauen 2025

ÖPNV

14 NÄCHSTER HALT: DIE STADT VON MORGEN

Welche Chancen und Herausforderungen der ÖPNV für Städte bereithält

18 NEUER MARKT LEINFELDEN-ECHTERDINGEN

Teil 1 der Bilderstrecke: Wie die verlängerte U5 ein neues Quartier anbindet

20 „EIN AUSGEBAUTER ÖPNV FÖRDERT KLIMAFREUNDLICHE

MOBILITÄT“

Ein Interview mit Winfried Hermann, Verkehrsminister in Baden-Württemberg

24 PLUSHALTESTELLE LAUENBURG/ELBE

Teil 2 der Bilderstrecke: Wenn die Bushaltestelle mehr kann als Wartehäuschen

26 VON MOBILITÄTSARMUT UND INNOVATION

Wie sich der ÖPNV im ländlichen Raum entwickelt

28 STRASSENRÄUME NEU DENKEN – FÜR DIE ZEITGEMÄSSE EURO-

PÄISCHE STADT

Ein Kommentar von Steffan Robel, A24 Landschaft

30 ROMANPLATZ MÜNCHEN

Teil 3 der Bilderstrecke: Von Platanen, Tramlinien und der Westtangente

32 „DEUTSCHLAND SETZT BIS HEUTE AUFS AUTO“

Andreas Knie vom WZB im Interview

36 AUSBAU U2 UND U5 WIEN

Teil 4 der Bilderstrecke: Wie Wien sein Öffi-Netz unterirdisch weiterentwickelt

38 AUTONOMIE IM BUS

Ein technischer Deep Dive in den autonomen ÖPNV

42 S21 BERLIN

Teil 5 der Bilderstrecke: Eine neue Nord-Süd-Achse am Hauptbahnhof entsteht

44 BRINGT EURE VISIONEN EIN

Ein Kommentar von Niklas Hoffmann, Buro Happold

46 EIN UNTERSCHÄTZTER WEG ZU NACHHALTIGER MOBILITÄT

Welches Potenzial der Fußverkehr als Fortbewegungsmodus hat

50 SEILBAHN HEILBRONN

Teil 6 der Bilderstrecke: Hoch über den Dächern der Stadt

52 “MORE SUSTAINABLE, RESILIENT AND PEOPLE-CENTERED URBAN

ENVIRONMENTS”

An interview with Carlos Moreno on the 15-minute city

Herausgeber:

Deutsche Gesellschaft

für Gartenkunst und

Landschaftskultur e.V.

(DGGL)

Pariser Platz 6

Allianz Forum

10117 Berlin-Mitte

www.dggl.org

PRODUKTE

56 LÖSUNGEN

Mobilität

RUBRIKEN

62 Impressum

62 Lieferquellen

64 DGGL

66 Sichtachse

66 Vorschau

G+L 5


SPEZIAL

GARTEN-

SCHAUEN

2025

Drei Mal Blüten, Events und Stadtentwicklung: 2025 laden

die Städte Furth im Wald, Schärding sowie Baiersbronn und

Freudenstadt gemeinsam zur jeweiligen Gartenschau ein. Wir

stellen vor, was im Bayerischen Wald, in Oberösterreich und

im Schwarzwald dieses Jahr geboten wird, was die jeweilige

Gartenschau ausmacht und welche langfristigen Projekte im

Zuge dieser umgesetzt wurden.

ANNA MARTIN

AUTORIN

Anna Martin

studierte Kunstgeschichte

in München.

Sie ist seit 2022 im

Team von Georg

Media, zunächst

Editorial Trainee und

nun als Redakteurin.

Acht Kilometer Gartenschau – am Verlauf des Forbachs entlang schlängelt sich die

diesjährige baden-württembergische Gartenschau durch dessen Tal. Unter dem Motto

„Vielfalt im Tal“ richten die zwei Schwarzwaldkommunen Freudenstadt und Baiersbronn

die Schau gemeinsam aus. Die Städte bilden die jeweiligen Start- und Endpunkte des

Gartenschaugeländes, je nachdem wo man den Besuch beginnt. Am 23. Mai eröffnet,

bietet das Tal X den Besuchenden bis zum 12. Oktober über 1 000 Programmpunkte;

mehr als 1 000 ehrenamtliche Helfer*innen tragen zur Gartenschau bei. Bei der Anreise

setzt die Gartenschau auf den ÖPNV: Züge fahren die Bahnhöfe in beiden Städten

im erhöhten Takt an, und entlang des Geländes verkehren Busse. Das acht Kilometer

lange Gelände ist auch darauf angelegt, mit dem Fahrrad erkundet zu werden; vor Ort

können Räder gemietet werden. Während die Gartenschau im Herbst enden wird, bleiben

viele der Maßnahmen den Bürger*innen vor Ort dauerhaft erhalten.

GESCHICHTE UND LANDSCHAFT IM FORBACHTAL VERKNÜPFT

Für die Planung und Umsetzung der Daueranlagen zeichnet das Büro Planstatt Senner

verantwortlich. Sie entwickelten zahlreiche Bereiche in den Städten und entlang des

Tals. Die neu gestalteten Areale greifen Natur, Kultur und Geschichte der Region auf.

So winden sich südlich von Freudenstadt, nahe dem Bärenschlössle, zwei Röhrenrutschen

den steilen Hang hinunter. Statt wie früher an einer Schanze Ski gesprungen

wird hier nun durch zwei jeweils über 30 Meter lange Röhren gerutscht. Im Gehege

daneben lässt sich Wild beobachten, am Waldtierlehrpfad Neues lernen und auf dem

Abenteuerspielplatz toben.

Auf halber Strecke zwischen Freudenstadt und Baiersbronn liegt am Lauf des Forbachs

die Ortschaft Friedrichstal. Erhöht am Ortsrand steht das kleine, rote Gebäude der

Michaelskirche. In dessen Umfeld wurden Sitzstufen und Podeste errichtet, Wege rund

10 G+L


SPEZIAL

GARTENSCHAUEN 2025

Für die baden-württembergische

Gartenschau

„Tal X“, in Freudenstadt

und Baiersbronn

sowie im zwischen den

Städten liegenden

um Teiche angelegt, Sicht achsen geöffnet.

Mit dem „Xentrum“ liegt in Friedrichstal

das Zentrum der Gartenschau. Den

dortigen Gruben spielplatz lehnten die

Planer*innen in seiner Gestaltung an die

nicht weit entfernt gelegene, ehemalige

Grube Sophia an: Ein Tor mit Rundbogen

öffnet sich in die künstlich angelegte

Spiel- Grube; darüber erhebt sich der

bekletterbare Förderturm.

In Baiersbronn wurde der ehemalige

Kurpark zum Märchenpark, der die

Erzählung „Das kalte Herz“ von Wilhelm

Hauff in die Parklandschaft übersetzt. Mit

der Freudenstädter Straße gestalteten die

Planer*innen eine Bundesstraße zur

Flaniermeile mit verbreiterten Gehwegen, Aufenthaltsbereichen und begrüntem Mittelstreifen,

der die Umgebung kühlen soll, um. Und auf der ebenfalls in Baiersbronn

liegenden Schelklewiese wurde ein Weiher neu angelegt, daran grenzt ein weiterer

Spielbereich. Zahlreiche weitere Bereiche wurden neu und umgestaltet, die entlang

des Forbachs eine Verbindung zwischen Freudenstadt und Baiersbronn, der lokalen

Geschichte sowie der Landschaft des Schwarzwalds knüpfen.

Forbachtal, gestaltete

das Büro Planstatt

BLUTROTE BRÜCKEN FÜR DIE DRACHENSTADT

oben: Foto: © Ulrike Klumpp; unten: Foto: Heidi Wolf, Landesgartenschau Furth im Wald 2025

Senner unter anderem

die Bereiche um die

Michaelskirche in

Friedrichstal neu.

Bei der bayerischen Landesgartenschau in Furth im Wald darf einer nicht fehlen: der

Drache. Seit fas 500 Jahren besteht in der Kleinstadt im Bayerischen Wald die Tradition

des Further Drachenstichs. Die UNESCO führt das Volksschauspiel inzwischen auf ihrer

Liste des immateriellen Kulturerbes. Jedes Jahr im August versetzt das Open-Air-Festspiel

die Zuschauer*innen ins Mittelalter, in ein Schauspiel mit ritterlichen Kriegen, Liebesgeschichte

und dem Kampf gegen den Drachen – dargestellt durch den größten Schreitroboter

der Welt. Dieses Jahr können die Zuschauer*innen des Drachenstichs ihren

Besuch in Furth im Wald mit der Landesgartenschau verknüpfen, die am 22. Mai ihre

Tore öffnete und bis zum 5. Oktober läuft. Das Motto lässt die Relevanz der Drachen-

Tradition auch bei der Gartenschau erahnen: „Sagenhaft viel erleben.“

Im Rahmen der Landesgartenschau gestaltete das Berliner Büro Planorama zwei

Areale in Furth im Wald um: zum einen nahe der Innenstadt, zum anderen die Chamb-

Aue im Südosten der Stadt. Letztere bildet den eintrittspflichtigen Bereich der Landesgartenschau.

Das langgestreckte Gelände der Chamb-Aue folgt dem Verlauf des

Flusses. Hier verbanden und gestalteten die Planer*innen vorhandene Grünflächen zu

einer durchgängigen Parkanlage mit neuem Wegenetz. Das zentrale Element ist der

Drachensteg, der sich durch die ganze Parkanlage zieht. Dieser greift die lokale Tradition

des Drachenstichs und dessen Legende des Drachens auf. So sind die Betonplatten

sowie das Geländer des Stegs in Rot tönen gehalten – in Anlehnung an das

Blut des Drachens. Das geschwungene

Geländer aus Stahllamellen variiert

entlang des Stegs in seiner Höhe und

bildet eine skulpturale Form aus. Am

Zusammenfluss von Kalter Pastritz und

Chamb auf dem Gelände bildet der

Drachensteg mit drei Brücken einen Loop

aus. An mehreren Stellen in der Parklandschaft

erlauben Treppenstufen den

Besucher*innen den Zugang zum Fluss.

Auf der Dracheninsel nahe dem Loop

entstand am früheren Standort der alten

Festhalle eine nun offen gestaltete

Parkarena mit Kuppeldach in Holzbauweise.

Unweit davon können Kinder auf

dem Drachenspielplatz toben.

Zentrales Element

der bayerischen

Landes gartenschau in

Furth im Wald ist der

Drachensteg mit

leuchtend rotem

Geländer. Er greift die

lokale Tradition

des Drachenstichs auf.

Die Planung der Areale

lag beim Berliner Büro

Planorama.

G+L 11


JULIA TREICHEL

NÄCHSTER HALT

DIE STADT

VON

MORGEN

Jahrzehntelang prägte der Autoverkehr die Stadtentwicklung:

Breite Straßen, Parkhäuser und Umgehungsstraßen galten

als Symbole von Mobilität und Fortschritt. Die Verkehrswende

zugunsten des ÖPNV kann andere Qualitäten ins Zentrum

rücken. Was ein Umstieg für die Städte bedeutet und welche

Chancen und Herausforderungen das für die Gestaltung

bereithält.

14 G+L


ÖPNV

NÄCHSTER HALT: DIE STADT VON MORGEN

AUTORIN

Julia Treichel

absolvierte an der

TU München den

Bachelor und Master

in Landschaftsarchitektur

und arbeitete

danach in diversen

Büros im Raum

München und in

Mailand. Derzeit ist

sie bei michellerundschalk

in München

tätig. Daneben

engagiert sie sich

auch freiberuflich in

Theorie und Praxis

zu sozialen und

gestalterischen

Fragen der Umwelt.

Das Auto dominiert weiterhin den Personenverkehr

in Europa: Laut EU-Kommission

entfielen 2022 rund 82 Prozent des motorisierten

Verkehrs auf den Pkw, in Deutschland

sogar 85 Prozent. Zwar stieg die Zahl

der Fahrgäste im Linienverkehr 2024 um

fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr (Statistisches

Bundesamt), doch strukturelle

Probleme bleiben. Laut Mobilitätsbarometer

2024, einer repräsentativen Umfrage

im Auftrag von Allianz pro Schiene, Bund

für Umwelt und Naturschutz Deutschland

(BUND) und Deutschem Verkehrssicherheitsrat,

ist jede*r Dritte mit dem ÖPNV-

Angebot am eigenen Wohnort unzufrieden.

Hauptkritikpunkt: zu geringe Taktung

– nicht die Entfernung zur Haltestelle.

Mehr als 80 Prozent sehen keine Verbesserungen

bei Bus und Bahn. Zudem empfinden

44 Prozent Radwege als unsicher;

23 Prozent fühlen sich beim Zufußgehen

weniger sicher als früher.

„Die Menschen wollen mehr Öffentlichen

Personennahverkehr, sie wollen sichere

Radwege, und sie wollen bedenkenlos zu

Fuß unterwegs sein. Bei Bussen und

Bahnen und der Sicherheit im Straßenverkehr

gibt es deutlichen Nachholbedarf“,

ordnet Tina Löffelsend, Abteilungsleiterin

Klimaschutz beim BUND, die Erkenntnisse

in einem Artikel des Deutschen Verkehrssicherheitsrates

ein. Damit sich am Status

quo etwas verändert, braucht es mehr als

nur kosmetische Korrekturen – es braucht

einen Perspektivwechsel. Dabei hilft es,

mit einem positiven Blick auf die Potenziale

des ÖPNV zu blicken.

Laut einer im Mai veröffentlichten Studie

des Beratungsunternehmens MCube im

Auftrag der Deutschen Bahn liegt der

volkswirtschaftliche Nutzen des öffentlichen

Nahverkehrs bei rund 75 Milliarden

Euro pro Jahr – das Dreifache seiner

Kosten. Der ÖPNV ist also nicht nur ein

Kostenfaktor, sondern ein bedeutender

Wirtschaftsmotor. „Der ÖPNV stärkt den

Einzelhandel, den Tourismus, den Arbeitsmarkt

und entlastet Pendlerinnen und

Pendler. Vor allem aber spart er volkswirtschaftliche

Kosten – etwa durch weniger

Verkehrsunfälle, geringeren Flächenverbrauch,

weniger Lärm, Luftverschmutzung

oder CO₂-Emissionen“, erklärt Oliver

May-Beckmann, Geschäftsführer MCube

und Mitautor der Studie, in der Pressemitteilung

der Deutschen Bahn.

Ein Paradigmenwechsel eröffnet auch

neue stadtgestalterische Perspektiven.

Wird Mobilität als Teil des öffentlichen

Raums verstanden, können Haltestellen,

Knotenpunkte und Trassen zu Impulsgebern

werden – durch Rückbau, Mischnutzung

und gestalterische Aufwertung. So

wird der ÖPNV vom Transportmittel zum

Motor städtischer Transformation.

GESTALTUNG VON HALTESTELLEN ALS

URBANE BEGEGNUNGSRÄUME

Haltestellen und Umsteigeknoten bergen

großes Potenzial für die Stadtgestaltung.

Längst sind sie mehr als bloße Funktionseinheiten

– sie können zu Orten der Begegnung,

der Kultur und des Verweilens

werden. Zwei aktuelle Projekte zeigen

exemplarisch, wie aus Verkehrsinfrastruktur

lebendige Stadträume entstehen.

In Paris gestaltete Kengo Kuma die neue

Métro-Station Saint-Denis Pleyel, eröffnet

2024 als Teil des Grand Paris Express. Auf

34 000 Quadratmetern und neun Ebenen

ist sie nicht nur ein Verkehrsknoten für bis

zu 250 000 Fahrgäste täglich, sondern

auch ein Ort kultureller und sozialer Vernetzung.

Die Außenflächen sind weitestgehend

versiegelt, doch bedeutend für die

Freiraumversorgung kann ein öffentlich

zugänglicher Dachpark gewertet werden,

der über Rampen und Treppen mit dem

Straßenniveau verbunden ist. Dieser Freiraum

fungiert nicht nur als Erholungsort,

sondern überbrückt auch die zuvor durch

Bahngleise getrennten Stadtteile Pleyel

und Landy, wodurch eine neue städtische

Verbindung geschaffen wird. Die Station

wurde rechtzeitig vor den Olympischen

Spielen 2024 fertiggestellt und spielt eine

Schlüsselrolle in der nachhaltigen Transformation

des nördlichen Pariser Umlands.

Inwiefern sie diesem Anspruch gerecht

werden kann, wird sich jedoch erst

beweisen müssen.

Auch der neue ZOB am Europaplatz in

Tübingen zeigt, wie Mobilitätsorte urbane

Qualität erzeugen können. Das Büro bhmp

strukturierte den Omnibusbahnhof neu und

band ihn gestalterisch an die barocke

Bahnhofsfassade und den angrenzenden

Anlagenpark an. Während der Bauphase

wurde eine 7 000 Quadratmeter große

Fläche durch ein temporäres Nutzungskonzept

aktiviert. In Zusammenarbeit mit

Studio Umschichten entstanden Spiel- und

Sportflächen, Sitzgelegenheiten, ein

Kletterparcours und eine Outdoor-Galerie,

die den Raum als sozialen und kulturellen

Treffpunkt etablierten. Das Projekt wurde

für den Deutschen Städtebaupreis 2025

nominiert und erhielt Anerkennung für

seine innovative Verbindung von Mobilität,

Aufenthaltsqualität und nachhaltiger

Stadtgestaltung.

G+L 15


„EIN AUSGEBAUTER

ÖPNV FÖRDERT

KLIMAFREUNDLICHE

MOBILITÄT“

Doppelt so viele Fahrgäste in Bus und Bahn bis 2030 – dieses Ziel hat sich

die baden-württembergische Landesregierung gesetzt. Helfen soll dabei

die ÖPNV-Strategie 2030. Winfried Hermann, Verkehrsminister in Baden-

Württemberg, erklärt im Interview, welche Maßnahmen dafür geplant sind,

wie der neu eingeführte „Mobilitätspass“ bei der Finanzierung unterstützen

soll und wo weiterhin Potenziale zur Stärkung des ÖPNV liegen.

FRAGEN: ANNA MARTIN

INTERVIEWEE

Winfried Hermann ist

seit 2011 Verkehrsminister

von Baden-

Württemberg. Zuvor

war er unter anderem

Abgeordneter

des Bundestags.

Herr Hermann, Sie sind seit fast 15

Jahren Verkehrsminister in Baden-Württemberg.

Wenn Sie zurückblicken: In

welchem Bereich der Mobilität beobachten

Sie die stärksten Veränderungen seit

Ihrem Amtsantritt – im positiven wie im

negativen Sinne?

Seit meinem Amtsantritt hat sich vor allem

der Regionalverkehr auf der Schiene

grundlegend gewandelt. Wir haben die

Dominanz der Deutschen Bahn eingeschränkt

und den Wettbewerb eingeführt,

moderne barrierefreie Züge beschafft –

wir sind Eigentümer der Züge – und

haben mit „bwegt“ eine Marke geschaffen

und ein neues Marketingkonzept

umgesetzt. Wir befördern so viele Fahrgäste

wie noch nie, auch dank des

Jugendtickets und des Deutschlandtickets.

Kostenlose Fahrradmitnahme, großzügige

Mehrzweckbereiche und enge Taktungen

haben den SPNV deutlich attraktiver

gemacht. Bei Pünktlichkeit, Sauberkeit

und Baustellenkoordination gibt es aber

noch viel zu tun. Unser Aktionsplan

Qualität packt die größten Probleme an,

doch aufseiten der Infrastruktur, etwa

bei DB InfraGO, sind weitere Anstrengungen

nötig.

Ein zweiter großer Fortschritt ist die

Integration neuer Mobilitätsformen ins

ÖPNV-Netz, besonders On-Demand-

Verkehre für die erste und letzte Meile.

In Randzeiten und in den ländlichen

Räumen nutzen wir Rufbusse und Taxis

als ÖV-Ergänzung mit digitalen Bestellfunktionen.

Ein Smartphone hilft. Mit

landesseitiger Förderung unterstützen wir

aktuell 16 Projekte in 15 Kreisen. Begleitforschung,

eine Dachmarke „bwegt“ und

20 G+L


ÖPNV

INTERVIEW MIT WINFRIED HERMANN

Um den ÖPNV

systematisch und mit

langem Atem nach

vorne zu bringen,

brauche es eine klare

Analyse, klare Ziele

und einen strategischen

Ansatz, erklärt

Winfried Hermann, Verkehrsminister

von

Baden-Württemberg.

Foto: VM | Sebastian Berger

eine Beratungsstelle bei der NVBW

helfen den Kommunen, diese Angebote

weiter auszubauen.

Bis 2030 möchte die baden-württembergische

Landesregierung die Fahrgastzahlen

im ÖPNV verdoppeln. Was sind die

wichtigsten Maßnahmen hierfür, und wie

weit sind Sie mit der Umsetzung?

Für die ÖPNV-Strategie 2030 haben

Expertinnen und Experten über 130 Maßnahmen

in zehn Handlungsfeldern definiert.

Die Kernpunkte sind: durchgängige

Mobilitätsgarantie im 15-/30-Minuten-

Takt, landesweite Bedienstandards mit

flexiblen Angeboten, Verknüpfung aller

Verkehrsträger und konsequente Digitalisierung,

bessere Preis-Leistungs-Verhältnisse

inklusive verbundüberschreitender

Tarife sowie ein neues Marketingkonzept

für eine positive ÖPNV-Kultur.

Infrastrukturmaßnahmen schaffen die

Basis für Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit,

während günstige Tickets wie das

Deutschlandticket direkt neue Fahrgäste

gewinnen. Ein Monitoring 2024 zeigt:

Seit Mai 2022 sind alle Handlungsfelder

auf Kurs. Besonders im Tarif- und Vertriebsbereich

wurden mit dem Deutschlandticket

und dem Jugendticket bereits

viele Ziele erreicht. Die Nachfrage im

SPNV und bei Regiobussen steigt

deutlich, und wir arbeiten weiter an der

Umsetzung der Mobilitätsgarantie und

des Mobilitätspasses.

Im März dieses Jahres trat in Baden-

Württemberg ein eigenes Mobilitätsgesetz

in Kraft. Mit diesem wird auch ein

neues Finanzierungsinstrument eingeführt:

der Mobilitätspass. Dabei können

Kommunen sich dazu entscheiden, Abgaben

für den ÖPNV zu erheben. Wie

genau funktioniert der Mobilitätspass,

und wie schätzen Sie die Akzeptanz in

der Bevölkerung ein, wenn neue Abgaben

auf sie zukommen?

Der Mobilitätspass ergänzt die bisherigen

ÖPNV-Finanzierungsquellen (Fahrgeldeinnahmen,

Steuermittel) um ein freiwilliges

kommunales Abgabenmodell. Entscheidet

sich eine Kommune dafür, erhebt

sie in einem festgelegten Gebiet einen

jährlichen Beitrag von Einwohnerinnen

und Einwohnern oder von Kfz-Halterinnen

und Kfz-Haltern. Im Gegenzug erhalten

die Zahlenden ein Guthaben für ÖPNV-

Zeitkarten in gleicher Höhe.

G+L 21


VON MOBILITÄTS-

ARMUT UND

INNOVATION

Während Großstädte ein dichtes Netz aus U-Bahnen, Straßenbahnen und

Bussen im Fünf-Minuten-Takt vorweisen können, kämpfen ländliche Gemeinden

mit den Grundlagen der Mobilität. Diese Diskrepanz ist nicht nur ein Komfortproblem,

sondern berührt fundamentale Fragen der Daseinsvorsorge und sozialen

Gerechtigkeit. Wie Deutschland im ländlichen Raum mit ÖPNV – wenn er

besteht – umgeht und warum das Thema mehr kriselt als glänzt.

HELKE KÖLSCHBACH

AUTORIN

Helke Kölschbach

studierte Architektur

an der Universität

Innsbruck. Seit 2024

ist sie Teil des Teams

von Georg Media.

Der öffentliche Personennahverkehr, kurz

ÖPNV, ist ein wesentlicher Bestandteil der

Daseinsvorsorge. Diese bezeichnet staatliche

Aufgaben, Güter und Leistungen, die

für das menschliche Dasein notwendig

sind. Allerdings fehlt es an einigen Orten

an einem ÖPNV-Angebot.

Das Statistische Bundesamt verzeichnete

im April 2025 einen Anstieg der ÖPNV-

Nutzung auf 11,4 Milliarden Fahrgäste

– ein Plus von fünf Prozent gegenüber

dem Vorjahr. Diese positive Entwicklung

ist womöglich auf die Einführung des

Deutschlandtickets zurückzuführen. Doch

die regionalen Unterschiede sind gravierend:

Während in Großstädten 40 Prozent

der Einwohner*innen das Deutschland

ticket nutzen, sind es im ländlichen

Raum lediglich sieben bis acht Prozent,

laut der Befragung „Mobilität in Deutschland

(MiD)“ aus dem Jahr 2023, eine

Studie des Bundesministeriums für Digitales

und Verkehr.

WEN MOBILITÄTSARMUT BESONDERS

TRIFFT

Diese Zahlen aus der Verkehrserhebung

verdeutlichen ein strukturelles Problem:

Das Deutschlandticket kann nur dort seine

Wirkung entfalten, wo funktionsfähige

ÖPNV-Infrastruktur existiert. In vielen

ländlichen Gebieten beschränkt sich das

Angebot auf stündlich verkehrende Busse,

die meist bereits um 18 Uhr, spätestens um

23 Uhr ihren Betrieb einstellen. Nachtverkehr

sowie Sonn- und Feiertagsverkehr ist

meist nicht existent.

Das Stadt-Land-Gefälle beim ÖPNV

resultiert aus unterschiedlichen Siedlungsdichten

und den damit verbundenen

Möglichkeiten der Verkehrsstrombündelung.

Während urbane Räume durch ihre

kompakte Struktur effiziente Linienführungen

ermöglichen, stellen ländliche Gebiete

mit ihrer Siedlungsstruktur besondere

Anforderungen an die Verkehrsplanung.

Die Greenpeace-Studie „Abgehängt:

ÖPNV-Qualität in Deutschland“, erstellt in

Kooperation mit Plan4Better und veröffentlicht

im März 2025, identifiziert

Niedersachsen als Schlusslicht beim

ländlichen ÖPNV. Landkreise wie Leer,

Rotenberg und Aurich weisen kaum messbaren

öffentlichen Personennahverkehr

auf. In Leer müssen Bewohner*innen

zunächst in Nachbarorte fahren, um einen

Anschluss an das ÖPNV-Netz zu finden

– ein Planungsdilemma, das innovative

Lösungsansätze erfordert.

26 G+L


ÖPNV

ÖPNV IM LÄNDLICHEN RAUM

Im Umland von

Hannover ist der

On-Demand-Service

„sprinti“ unterwegs

und ergänzt den

klassischen Linienverkehr.

Foto: Arp/ÜSTRA

Der Begriff der Mobilitätsarmut gewinnt

in diesem Kontext an Bedeutung. Wenn

Bundesländer und Landkreise aufgrund

fehlender Finanzierung ÖPNV-Streichungen

androhen, entstehen soziale Härten.

Besonders betroffen sind Menschen ohne

Auto, Personen ohne Führerschein, körperlich

eingeschränkte Menschen und finanziell

schwächere Bevölkerungsgruppen.

Für die Verkehrsplanung bedeutet dies,

Mobilitätskonzepte zu entwickeln, die

soziale Teilhabe ermöglichen und räumliche

Ausgrenzung verhindern.

ERGÄNZUNG ODER ERSATZ?

Als Reaktion auf diese Herausforderungen

entstehen innovative Mobilitätslösungen.

On-Demand-Services, bei denen Fahrzeuge

per App oder Telefon gerufen

werden können, etablieren sich als wichtige

Ergänzung zum klassischen Linienverkehr.

Das Projekt „sprinti“ im Umland von

Hannover demonstriert erfolgreich diese

Herangehensweise.

Seit dem Start als Pilotprojekt im Juni

2021 in drei Kommunen der Region

Hannover expandierte sprinti mittlerweile

auf zwölf Gemeinden. Mit 2,6 Millionen

Nutzer*innen seit Einführung und

allein 100 000 Fahrgästen im Januar

2025 zeigt das Projekt die Akzeptanz

flexibler Mobilitätslösungen. Entscheidend

ist dabei die Definition als Ergänzung,

nicht als Ersatz für konventionelle

ÖPNV-Strukturen. Sprinti kommt zum

Einsatz, wenn der klassische Linienverkehr

nicht fährt.

Das neueste Pilotprojekt KIRA, eine

Kooperation zwischen Deutscher Bahn

und Rhein-Main-Verkehrsverbund, testet

Level-4-autonome Fahrzeuge in den

Landkreisen Offenbach und der Stadt

Darmstadt. Level-4 bedeutet ein fahrerloses,

fernüberwachtes Auto. Fernüberwacht

durch eine technische Aufsicht

und das Auto fährt in einem definierten

Betriebsgebiet. Zum jetzigen Zeitpunkt

sind solche Fahrzeuge ausschließlich in

Kalifornien und China im Einsatz.

KIRA wird das erste deutsche Level-

4-Fahrzeug mit Fahrgasttransport sein.

Diese voll autonomen, fernüberwachten

Fahrzeuge sollen Versorgungslücken

schließen, die durch schlechte Verkehrsnetze

oder Fahrermangel entstehen.

Das Angebot von KIRA soll nach Vollendung

der ersten Testphase buchbar

sein; diese ist bis voraussichtlich Ende

2025 angesetzt.

Die verschiedenen Ansätze zeigen, dass

die Zukunft des ländlichen ÖPNV noch

viele Baustellen hat, aber die Lösung nicht

in einem einheitlichen System liegt,

sondern in der Kombination verschiedener

Mobilitätsformen. Während klassische

Buslinien weiterhin wichtige Hauptverbindungen

bedienen, können flexible Dienste

und autonome Fahrzeuge die Feinerschließung

übernehmen. Die Herausforderung

liegt in einer sinnvollen Verknüpfung

dieser unterschiedlichen Systeme zu

einem funktionierenden Gesamtnetz.

G+L 27


AUTONOMIE

IM BUS

Der Bus kommt – und zwar ganz ohne Fahrer*in. Kein Scherz, sondern Alltag

in Teilen Deutschlands, wo autonome Shuttles längst Realität sind. Die Versprechen:

weniger Emissionen, mehr Takt und eine Antwort auf den chronischen

Fahrer*innenmangel. Doch was steckt hinter dem Hype? Wie funktionieren diese

Hightech-Fahrzeuge, die sich ganz ohne menschliches Zutun durch enge Stadtviertel

und kurvige Landstraßen bewegen? Und was bedeutet das für Planung,

Infrastruktur und Stadtgestaltung? Machen Sie sich bereit für einen technischen

Deep Dive in den autonomen ÖPNV.

TOBIAS HAGER

AUTOR

Tobias Hager ist

Journalist und

Digitalisierungsexperte.

Seit 2020 leitet

er als Chief Content

Officer die Medienmarken

von Georg

Media und ist in dem

Medienhaus ebenfalls

für alle digitalen

Themen zuständig.

Zusätzlich ist er

Chefredakteur des

Architekturmagazins

Baumeister.

Es klingt wie Zukunftsmusik, doch sie läuft

längst: Ein Bus fährt durch die Innenstadt

von Langen, passiert Ampeln, bremst vor

Fußgänger*innen, nimmt Kurven – alles

ganz ohne menschliches Zutun. Kein*e

Fahrer*in, kein Lenkrad, keine Notbremse

am Armaturenbrett. Stattdessen: Kameras,

LiDAR, Radar, neuronale Netzwerke und

eine algorithmische Gelassenheit, die so

manche*n Berufsfahrer*in erblassen

lässt. Willkommen im Projekt KIRA – dem

ersten hochautomatisierten Level-4-ÖPNV

in Deutschland, das seit 2025 in Teilen

von Hessen im Regelbetrieb unterwegs

ist. Wer hier denkt, autonomer ÖPNV sei

Spielerei für smarte Innenstädte, irrt: Er

ist ein ernstzunehmender Baustein für

die Verkehrswende, die Taktverdichtung

und den Umgang mit dem allseits beklagten

Fahrer*innenmangel im öffentlichen

Nahverkehr.

Doch was steckt eigentlich hinter dem

Phänomen „autonom fahrender ÖPNV“?

Es geht nicht nur um fahrerlose Minibusse

mit putzigem Zukunftsdesign. Autonom

bedeutet, dass das Fahrzeug im Rahmen

definierter Betriebsbereiche (Operational

Design Domains, kurz ODD) sämtliche

Fahrentscheidungen selbst trifft – ganz

ohne menschliches Eingreifen. Technologisch

sprechen wir hier vom SAE-Level 4,

dem Übergang vom automatisierten zum

tatsächlich autonomen Fahren. Die Basis

dafür bilden komplexe Systeme aus

Sensorik, hochpräziser Kartografie,

Echtzeit-Datenverarbeitung und maschinellem

Lernen. Bei KIRA etwa wird mit

Sensorfusion gearbeitet: Acht HD-Kameras,

vier Kurzdistanzradare, ein Long-

Range-Radar sowie LiDAR-Systeme und

ein zentraler Steuerrechner sorgen für

eine 360-Grad-Perzeption des Verkehrsraums.

Kombiniert mit präzisem GPS,

redundanter CAN-Bus-Kommunikation

und durchgehender V2X-Vernetzung

entsteht ein digitales Abbild der Umwelt,

das im Millisekundentakt analysiert und

bewertet wird – inklusive Verhaltensprognose

für bewegliche Objekte. So wird ein

rennendes Kind beispielsweise anders

behandelt als ein parkendes Auto.

SENSORIK, KI UND NETZE: DAS RÜCK-

GRAT DER AUTONOMEN MOBILITÄT

Dass diese Technologie nicht nur theoretisch

funktioniert, zeigen weitere Pilotprojekte:

In der Modellregion Oberfranken

wurden zwischen 2021 und 2024

mehrere autonome Kleinbusse in Städten

wie Rehau, Hof und Bad Steben eingesetzt.

Die elektrisch betriebenen Fahrzeuge

waren appgesteuert, barrierefrei und

mit umfassender Sensorik ausgestattet.

38 G+L


ÖPNV

AUTONOM FAHRENDER ÖPNV

CAN-Bus

(Controller Area Network)

Fahrzeuginternes Netzwerk

zur Kommunikation zwischen

Steuergeräten – sorgt für sichere

Koordination von Sensorik und

Antrieb.

CNN

(Convolutional Neural Network)

KI-Algorithmus zur Bilderkennung

– ermöglicht Fahrzeugen, z. B.

Fußgänger*innen und Verkehrszeichen

zu identifizieren.

Deep Reinforcement Learning

Lernmethode für KI, bei der durch

Versuch und Irrtum optimale

Fahrentscheidungen getroffen

werden.

Edge-Computing

Datenverarbeitung direkt im

Fahrzeug oder an der Strecke

– spart Zeit und erhöht die

Ausfallsicherheit.

Explainable AI

Künstliche Intelligenz, deren

Entscheidungen nachvollziehbar

sind – wichtig für Vertrauen und

Sicherheit.

Fleet Learning

Lernen auf Basis der Erfahrungen

vieler Fahrzeuge – macht die KI

im ÖPNV kontinuierlich besser.

LiDAR

(Light Detection and Ranging)

Laserbasiertes 3D-Scansystem –

liefert präzise Umgebungsdaten

für sichere Navigation.

WER

WEISS WAS?

Model Predictive Control (MPC)

Mathematisches Verfahren zur

Berechnung der optimalen Fahrzeugbewegung

in Echtzeit.

Motion Planning

Entscheidung darüber, wie ein

Fahrzeug sich als Nächstes

bewegt – etwa wann es bremst

oder abbiegt.

Operational Design Domain

(ODD)

Definierter Einsatzbereich, in dem

ein Fahrzeug sicher autonom

fahren darf.

Perzeption

Die digitale Wahrnehmung der

Umwelt durch das Fahrzeug –

Grundlage jeder automatisierten

Entscheidung.

Predictive Maintenance

Vorausschauende Wartung auf

Basis von Sensor- und Nutzungsdaten

– vermeidet Ausfälle.

Sensorfusion

Verschmelzung mehrerer Sensorinformationen

zu einem Gesamtbild

– erhöht die Genauigkeit.

Teleoperation

Fernsteuerung eines Fahrzeugs

durch Menschen –

etwa bei technischen Problemen

oder in Sonderlagen.

V2X (Vehicle-to-Everything)

Kommunikation zwischen Fahrzeugen

und Infrastruktur – macht

Verkehr effizienter und sicherer.

Kein*e Fahrer*in, kein

Lenkrad, keine Notbremse

am Armaturenbrett.

Stattdessen: Kameras,

LiDAR, Radar, neuronale

Netzwerke.

Neben der Fahrzeugtechnik wurden

auch die flankierenden Infrastrukturen

getestet – von Teleoperation über digitale

Leitstellen bis zur Integration in bestehende

Verkehrsnetze. Die Herausforderungen

lagen hier weniger in der KI-

Logik, sondern im Digitalisierungsgrad

des Umlands: Fehlende 5G-Abdeckung,

schwache Echtzeitvernetzung und juristische

Grauzonen machten klar, dass der

ländliche Raum andere Ansprüche an

autonome Systeme stellt als die vermeintlich

smarte Innenstadt.

Deutlich robuster operieren geschlossene

Systeme wie die U-Bahn in Nürnberg.

Diese fährt bereits seit 2008 vollautomatisiert

– eine Erfolgsgeschichte, die zeigt,

wie effizient und sicher autonomer Betrieb

in einer kontrollierten Infrastruktur funktioniert.

Doch der nächste Schritt ist bereits in

Arbeit: Das Projekt „safe.trAIn“ des Fraunhofer

IIS entwickelt derzeit Methoden zur

KI-basierten Umfeldwahrnehmung für

Regionalzüge, inklusive „explainable AI“,

also erklärbarer künstlicher Intelligenz, die

sicherheitsrelevant nachvollziehbar agieren

kann. Ziel ist ein KI-System, das nicht

nur sieht und reagiert, sondern seine

Entscheidungen auch auditierbar dokumentiert

– ein Muss im sicherheitskritischen

Bahnverkehr.

Entscheidend für alle Projekte ist die

digitale Infrastruktur. 5G spielt hier eine

zentrale Rolle, nicht wegen YouTube im

Bus, sondern wegen seiner extrem geringen

Latenzen unter zehn Millisekunden.

Nur so funktioniert Vehicle-to-Everything-

Kommunikation (V2X), bei der Fahrzeuge

sich untereinander und mit Ampeln, Leitsystemen

oder Kontrollzen tralen synchronisieren.

Kombiniert mit Edge-Computing

entstehen so verteilte Intelligenzen entlang

der Strecke, die nicht erst auf einen

Cloud-Server warten müssen, um Entscheidungen

zu treffen. Dies ermöglicht

ein hochgradig resilientes System – vorausgesetzt,

die Netzabdeckung ist da.

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EIN UNTER-

SCHÄTZTER WEG

ZU NACHHALTI-

GER MOBILITÄT

Geht es um urbane Mobilität, wird ein Fortbewegungsmittel gerne einmal

vergessen – das Zufußgehen. Während für andere Verkehrsarten etablierte

Planwerke, Technologien und Netze existieren, berücksichtigt man den Fußverkehr

in Städten bislang oft nur am Rande. Dabei ist er die ursprünglichste

Form der Mobilität. Welches Potenzial der Fußverkehr als Fortbewegungsmodus

hat und wie er in einer zukunftsgerichteten Verkehrs- und Freiraumplanung

Beachtung findet.

ANNE HEINKELMANN

AUTORIN

Anne Heinkelmann

studierte Landschaftsarchitektur

an der

TU München und der

Sveriges lantbruksuniversitet

in Alnarp,

Schweden. Sie

arbeitete mitunter für

Skorka Stadtplanung

und ist seit 2020 bei

adlerolesch München

GmbH angestellt.

Über 80 Prozent der Deutschen bewegen

sich laut Bundesministerium für Verkehr

und Digitales gerne zu Fuß. Immerhin ist

Zufußgehen eine kostenlose und gleichberechtigte

Mobilitätsform, die fast jede*r

bei ähnlicher Geschwindigkeit nutzen

kann. Aber der Fußverkehr ist nicht nur

eine eigenständige, alltägliche Verkehrsart,

sondern auch ein Bindeglied aller

Mobilitätsformen. Seine Zubringerfunktion

zeigt sich besonders beim öffentlichen

Nahverkehr (ÖPNV): Gemäß dem Deutschen

Institut für Urbanistik und Umweltbundesamt

erreichen über 90 Prozent der

Fahrgäste Haltestellen zu Fuß. Die

Nutzung des ÖPNV hängt also auch von

attraktiven Fußwegen ab. Der demografische

Wandel verstärkt die Thematik um

Infrastruktur. Gehfreundliche Stadträume

fördern daher nicht nur die soziale Teilhabe,

sondern auch den Wandel hin zu

nachhaltiger Mobilität.

Die Bundesregierung fördert seit 2022

direkt den Fußverkehr, etwa durch die

„nationale Fußverkehrsstrategie“ und die

Förderinitiative Fußverkehr. Die ministerienübergreifenden

Ziele sollen den Anteil

des Fußverkehrs erhöhen und gleichzeitig

die Sicherheit, Barrierefreiheit und Aufenthaltsqualität

verbessern. Doch trotz

positiver Entwicklungen ist der Fußverkehr

weiterhin strukturell unterpriorisiert und

könnte in der noch recht autoorientierten

Planung und Finanzierung stärker

gewichtet werden. Zudem denken viele

beim Fußverkehr an individuelle Mobilität.

Dabei spielt Zufußgehen auch im Wirtschaftsverkehr

eine wichtige Rolle. Es

unterstützt die Logistik auf der letzten

Meile und stärkt den lokalen Einzelhandel

und die Gastronomie. Auch steigern

fußgängerfreundliche Räume die touristische

sowie alltägliche Attraktivität,

gerade von Innenstädten. Zudem verursachen

Fußwege geringere Infrastrukturund

Unterhaltskosten als Straßen und

entlasten auf lange Sicht das Gesundheits-

und Umweltsystem.

46 G+L


ÖPNV

FUSSVERKEHR

Zufußgehen ist ein

wichtiges Bindeglied

zwischen verschiedenen

Mobilitätsformen,

etwa für den Weg zur

Haltestelle. Berlin

möchte den Fußverkehr

künftig durch einen

eigenen Fußverkehrsplan

stärken.

Foto: Wyron A auf Unsplash

EINHEITLICHE VERKEHRS- UND FREI-

RAUMPLANUNG

Fußverkehr ist der umweltfreundlichste

Verkehrsträger, mit positiven Effekten für

unsere Gesundheit und die Umwelt: Wer

zu Fuß geht, stößt keine Emissionen aus,

verursacht keinen Lärm und braucht

deutlich weniger Versiegelung und Fläche

als motorisierter oder öffentlicher Verkehr.

Zufußgehen hätte also eine große Bedeutung

für die Verkehrswende. Tatsächlich

findet der Fußverkehr in der heutigen

Verkehrs- und Freiraumplanung zunehmend

Beachtung. Sichtbar wird dies an

Konzepten, wie der 15-Minuten-Stadt,

Shared Spaces oder Superblocks. Hier

priorisiert man den Fußverkehr als verbindendes

Element zwischen Wohnen, Arbeiten

und Versorgung und setzt auf autofreie

Zonen, Umnutzungen und verkehrsberuhigte

Bereiche. Die geschaffenen Räume

zeigen eine effizientere und multifunktionale

Nutzung von Stadträumen auf. Denn

fußgängerfreundliche Räume bieten

neben Gehen Platz für Sitzen, Spielen und

Sport. Eine klimabewusste Stadtgestaltung

schöpft den Vorteil von Fußwegen weiter

aus: Wasserflächen, Grünstrukturen,

nachhaltige Materialien und energieeffiziente

Beleuchtung.

Man kann also sagen, dass eine Verkehrs-

und Freiraumplanung, die auf

langsamere Geschwindigkeiten, klare

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