SCHWARZ (Leseprobe
Hayley Edwards-Dujardin SCHWARZ - Farben der Kunst – Von der Lascaux-Höhle bis zu Richard Serra 112 Seiten, Hardcover, Euro (D) 22 | Euro (A) 22.70 | CHF 33 ISBN 978-3-03876-327-7 (Midas Collection) Die Farbe Schwarz gehört zu ersten Farbwahrnehmungen des Menschen, denn Schwarz ist die Abwesenheit von Licht und damit jeglicher Farbe. Sie steht für Dunkelheit, Tod und das Ende, aber auch für den Anfang. In vielen Kulturen steht sie für Glück, Stärke und Reichtum. Wie sieht Ihr Schwarz aus? Ja, Ihr Schwarz. Denn es gibt nicht nur ein Schwarz! Es kann asketisch, melancholisch, erschreckend, elegant oder auch morbide sein. Das Schwarz von Henri Matisse zum Beispiel ist alles auf einmal: »Schwarz ist eine Farbe an sich, die alle anderen zusammenfasst und verzehrt.« In dieser faszinierenden Sammlung lernen Sie 40 Werke kennen, die zeigen wie überraschend abwechslungsreich die Farbe Schwarz sein kann. Die Kunsthistorikerin Hayley Edwards-Dujardin präsentiert eine präzise Auswahl an unverzichtbaren aber auch an unerwarteten Werken.
Hayley Edwards-Dujardin
SCHWARZ - Farben der Kunst – Von der Lascaux-Höhle bis zu Richard Serra
112 Seiten, Hardcover, Euro (D) 22 | Euro (A) 22.70 | CHF 33
ISBN 978-3-03876-327-7 (Midas Collection)
Die Farbe Schwarz gehört zu ersten Farbwahrnehmungen des Menschen, denn Schwarz ist die Abwesenheit von Licht und damit jeglicher Farbe. Sie steht für Dunkelheit, Tod und das Ende, aber auch für den Anfang. In vielen Kulturen steht sie für Glück, Stärke und Reichtum.
Wie sieht Ihr Schwarz aus? Ja, Ihr Schwarz. Denn es gibt nicht nur ein Schwarz! Es kann asketisch, melancholisch, erschreckend, elegant oder auch morbide sein. Das Schwarz von Henri Matisse zum Beispiel ist alles auf einmal: »Schwarz ist eine Farbe an sich, die alle anderen zusammenfasst und verzehrt.« In dieser faszinierenden Sammlung lernen Sie
40 Werke kennen, die zeigen wie überraschend abwechslungsreich die Farbe Schwarz sein kann. Die Kunsthistorikerin Hayley Edwards-Dujardin präsentiert eine präzise Auswahl an unverzichtbaren aber auch an unerwarteten Werken.
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SCHWARZ
VON DER LASCAUX-HÖHLE
BIS ZU RICHARD SERRA
Hayley Edwards-Dujardin
MIDAS
SCHWARZ
Hayley Edwards-Dujardin
MIDAS
»Schwarz ist die Königin
der Farben.«
Auguste Renoir
Schwarz in der Kunst
6
Geheime Rezeptur
Plinius der Ältere verrät
uns in seiner Naturgeschichte,
worauf es bei der
Herstellung von Schwarz
ankommt: »Schwarz stellt
man auf unterschiedliche
Weise her, durch
den Rauch, der bei der
Verbrennung von Harz
oder Pech entsteht; zu
diesem Zweck hat man
Laboratorien erbaut, aus
denen der Rauch nicht
abziehen kann. Auf diese
Weise wird auch das
am meisten geschätzte
Schwarz aus der Weihrauch-Kiefer
hergestellt;
man imitiert es mit dem
Ruß aus Öfen oder Bädern,
das sonst zum Schreiben
von Büchern dient.«
Der große
Verzicht
1930 verkündet der
Psychoanalytiker John
Carl Flügel seine Theorie
des »großen männlichen
Verzichts«. Er ist der
Ansicht, dass die Herrenbekleidung
durch die
Ereignisse des späten
18. und des 19. Jahrhunderts
deutlich schlichter
wurde. Jene Zeit war der
Ausgangspunkt für eine
nüchterne, einfarbige
Männermode.
Schwarz ist nicht gleich Schwarz. Es gibt ganz unterschiedliche
Nuancen. Schwarz kann wahlweise asketisch,
melancholisch, unheimlich, elegant oder morbid
sein. Das Schwarz von Henri Matisse ist alles in einem:
»Schwarz ist eine eigenständige Farbe, die alle anderen
[Farben] vereint und verschlingt.«
Die Anfänge
Seit Urzeiten ist die Farbe Schwarz eine ständige Begleiterin
des Menschen, zunächst in Form einer primitiven
und poetischen Felsmalerei. Außerdem ist es die Farbe
unseres Universums, das wir beobachten, ohne es wirklich
zu verstehen. Wozu auch? Dieses tiefe, von funkelnden
Sternen übersäte Schwarz steht ohnehin für sich selbst.
Allmählich entwickelt der Mensch Rituale und Überzeugungen,
und so dient dieser unverkennbare Farbton zwangsläufig
dazu, das Unfassbare zu bezeichnen: die Nacht, das
Unglück, den Tod. Das Unbewusste, die Unterwelt, das
Unsichtbare – all das ist schwarz. Die Griechen weisen den
Weg. Nyx, die Göttin der Nacht, ist in Schwarz gehüllt, und
ihr Wagen wird von schwarzen Pferden oder von Eulen
gezogen. Und sie lebt in der Unterwelt, wo sie über den
Schlaf und den Tod herrscht.
Verbannung
Soll das geheimnisumwobene Schwarz in der Farbenlehre
berücksichtigt werden? Aristoteles ist der Ansicht,
dass Farbe durch eine Mischung aus Schwarz und Weiß
entsteht. Seine Philosophie rettet unseren Farbton, doch
dann kommt Isaac Newton ins Spiel: Im Jahr 1672 zerlegt
er reines Licht und präsentiert eine neue Farbordnung, in
der Schwarz und Weiß fehlen. Wenn Farbe gleich Licht ist,
wie kann dann Schwarz, das die Abwesenheit von Licht
bedeutet, eine Farbe sein?
Newton bestätigt, was seit dem Mittelalter viele Menschen
denken, so auch Leonardo da Vinci, der schlichtweg
verkündet, dass Schwarz keine Farbe ist. Allerdings verrät
uns der Künstler nicht, dass das entsprechende Pigment
äußerst kostspielig und unbeständig ist… was vermutlich
seine Abneigung erklärt.
Verwendung von
Beinschwarz oder
Holzkohle
Steinzeit
Unterschiedliche Verwendung
von Schwarzpigmenten
aus Pech,
Weinreben, Wolle …
Erfindung der
chinesischen Tinte
Antike
Goldenes Zeitalter
der aus Galläpfeln
hergestellten Tinte
12. Jahrhundert
v. Chr.
Nicolas Jacques
Conté erfindet den
Bleistift
12. Jahrhundert Zerlegung des
Lichtspektrums
durch Isaac Newton
1795
William Payne entwickelt
den Farbton
Payne’s Grey
1670–1675
Kasimir Malewitsch malt
sein Schwarzes Quadrat
Ende des
18. Jahrhunderts
Carl Alexander von
Martius entwickelt den
Farbton Anilinschwarz
1915
Pierre Soulages
experimentiert mit
dem »Outrenoir«
Entwicklung des
Farbtons Vantablack
1863
1979
2012
7
»Man sucht eifrig, man nimmt ganz wenig Elfenbeinschwarz;
ach, ist das schön!«
Auguste Renoir
Jedem seine
Theorie
1810 stellt Johann Wolfgang
von Goethe Schwarz und
Weiß einander gegenüber.
Er widerspricht Isaac
Newtons Erkenntnissen
über das Lichtspektrum.
20 Jahre lang entwickelt
er, unter Spott, seine
eigene Theorie: Farbe
trübt das Licht und erhellt
die Dunkelheit. Wissenschaftlich
betrachtet,
sind seine Überlegungen
fehlerhaft, dafür legen sie
das Augenmerk auf die
Farbwahrnehmung.
Schwarz ist eine Farbe
Am 6. Dezember 1946
wird in der Pariser
Galerie Maeght die
Ausstellung »Schwarz ist
eine Farbe« eröffnet – ein
sehr provokanter Titel
angesichts dessen, was
seit geraumer Zeit in
akademischen Kreisen
verlautbart wird. Zu sehen
sind Gemälde von Bonnard,
Matisse und Braque sowie
deren kunstvoller Einsatz
von Schwarz.
Die Erfindung des Buchdrucks, aber auch die strenge
Kleidung der protestantischen Reformation und
der katholischen Gegenreformation fördern diese
Denkweise. Die Tinte der Gelehrten steht im Kontrast
zu der Belanglosigkeit von Farbe, und die Kleidermode
der treuen Christen widerspricht einer selbstgefälligen
Polychromie.
Revival
Doch paradoxerweise wird Schwarz durch diese moralische
Haltung zum Trend. Fürsten tragen es zur Schau, und
Künstlerinnen und Künstler verwenden es in Porträts. Es
folgt das 19. Jahrhundert mit der industriellen Revolution
und der Romantik – zwei grundverschiedene Geisteshaltungen,
die aber beide der Farbe Schwarz zu erneutem
Ansehen verhelfen. Schwarz wird die Farbe der Arbeiterschicht,
aber auch des modernen, städtischen Bürgertums.
Malerinnen und Maler nutzen es für düstere und geheimnisvolle
Werke mit einem teils schonungslosen Realismus,
die das Übernatürliche heraufbeschwören; symbolische
Darstellungen von Traumwelten, Mythen und dem Unterbewussten,
ebenso wie Gemälde, in denen Schwarz die
weibliche Sinnlichkeit betont.
Alles und das Gegenteil davon
Was also ist Schwarz? Ein Farbton, der alle Farben des
Lichtspektrums absorbiert. Und genau das ist so beunruhigend
… die Vorstellung einer absoluten Farbe, die uns völlig
verschlingt. Schwarz spricht unsere primitiven und widersprüchlichen
Gefühle an. Es bringt uns dazu, uns in unserem
dunklen Kinderzimmer zu fürchten, es steht für Trauer und
für das Unbekannte, aber auch für die Geborgenheit im
Mutterleib. Und dann wäre da noch dieses schwarze Kleid –
zeitlos, schlicht, verführerisch. Ein Klassiker.
Ein Klassiker nicht nur in der Mode, sondern auch in der
modernen und zeitgenössischen Kunst. Mit der Geometrie
dieser Kunst harmoniert die grafische Qualität von Schwarz
ebenso wie dessen symbolischer Wert. Ein Schwarz, das
nichtssagend und zugleich voller Bedeutungen ist. Intim und
universal.
8
Geografische Vorkommen
Ein wenig Mythologie:
Gottheiten in Schwarz
Anubis (Ägypten)
Gott der Mumifizierung
und Herr der Grabstätten
Apaosha (Persien)
Dämon der Dürre
Daikokuten (Japan)
Gott des Reichtums, des
Handels und des Warenaustauschs
Kali (Indien)
Göttin der Zeit, des Todes
und der Erlösung, zerstörerische
und schöpferische
Mutter
Nótt (Skandinavien)
Göttin der Nacht
Nyx (Griechenland)
Göttin der Nacht
Tezcatlipoca (Mexiko)
Gott der Vorsehung, der
Nacht, der Zwietracht, der
Zeit, der Zauberer …
Tschernobog (Baltikum)
Gott der Finsternis und
der Nacht
Widersprüchliche
Symbole …
Schwarz symbolisiert in
erster Linie die Dunkelheit
und somit die Nacht. Diese
Finsternis ist eng verknüpft
mit der Vorstellung von
Angst oder Tod. Das ist
nicht weiter überraschend.
Doch interessanterweise
wird Schwarz auch mit
Fruchtbarkeit assoziiert –
und zwar in Gestalt des
fruchtbaren Nilschlamms.
… im Wandel
Über die Jahrhunderte
wird seine symbolische
Bedeutung immer komplexer:
Während Schwarz einst
die Farbe von Trauer oder
Geistlichkeit war, entwickelt
es sich zum Attribut des
Adels, der luxuriöse Stoffe
zur Schau trägt, oder der
Machthabenden und deren
Prunkleidung. So avanciert
Schwarz schließlich zum
Symbol von Autorität, aber
auch von Eleganz.
Schwarz aus Sicht der Wissenschaft
In der Praxis ist Schwarz eine
Farbe, doch aus physikalischer
Sicht ist Schwarz die Abwesenheit
von Farbe. Was? Wie bitte?
Dazu eine kurze Erklärung: Licht besteht aus mehreren
Farben – der Regenbogen ist der beste Beweis dafür!
Wenn Sonnenstrahlen auf die Oberfläche eines Objektes
treffen, verhalten sich nicht alle Strahlen gleich:
Manche von ihnen werden absorbiert und erreichen nie
unser Auge; andere werden reflektiert und lassen uns
Farben wahrnehmen.
Schwarz vs. Weiß
Wenn ein Objekt von
der Sonne angestrahlt
wird und uns weiß
erscheint, liegt das daran,
dass alle einfallenden
Sonnenstrahlen reflektiert
werden. Wenn das Objekt
hingegen alle Strahlen
absorbiert, dann erscheint
es uns schwarz. Das ist
auch der Grund, warum
man in schwarzer Kleidung
schneller ins Schwitzen
kommt als in weißer!
?
12
Die verzweifelte Suche nach Schwarz
Ein reines Schwarz, das 100 Prozent
des Lichts absorbiert, gibt es nicht …
aber fast.
In der Natur kommt reines Schwarz selten vor, aber
die Wissenschaft hat sich der Sache angenommen:
Seit Jahrzehnten wetteifern geniale Forscherinnen
und Forscher darum, ein tiefes, reines Schwarz zu entwickeln
– ein absolutes Nichts, in das man
versinken kann.
Pfauenspinnen
Noch vor der Forschung
hat die Natur ein
Superschwarz
hervorgebracht. Die
Männchen von Maratus
(besser bekannt
als Pfauenspinnen),
insbesondere von Maratus
speciosus und Maratus
karrie, weisen schwarze
Flecken auf, die 99,5 %
des sichtbaren Lichts
absorbieren.
NPL Super Black
Entwickelt von dem National
Physical Laboratory (Großbritannien);
absorbiert 99,6 %
des sichtbaren Lichts.
2003
2012
Vantablack
Entwickelt von Surrey Nanosystems
(Großbritannien);
absorbiert 99,965 % des
sichtbaren Lichts.
Black 3.0
Neuartige Acrylfarbe, eingeführt
durch den britischen
Künstler Stuart Semple;
absorbiert 98 bis 99 % des
sichtbaren Lichts.
2019
2019
»Blackest black«
Das MIT (Massachusetts
Institute of Technology) gibt
die Entwicklung des »schwärzesten«
Materials der Welt
bekannt: Es soll 99,995 % des
sichtbaren Lichts absorbieren.
13
IM RAMPENLICHT
Höhle von Lascaux
Porträt Philipps des Guten von Burgund
Der Garten der Lüste
Narziss
Porträt einer jungen Frau
Das Neugeborene
Die Nachthexe
Die Erschießung der Aufständischen
Das Floß der Medusa
Porträt der Mutter des Künstlers
Berthe Morisot mit Veilchenstrauß
Madame X (Madame Pierre Gautreau)
Schwarzes Kreuz
Guernica
Number 26 A, Black and White
Ohne Titel
J’attends la guerre
Descent Into Limbo
IM RAMPENLICHT
Höhle von Lascaux
18.000 v. Chr. – 15.000 v. Chr.
Die Rezeptur von
Schwarz
Die schwarze Farbe von
Höhlenmalereien besteht
meist aus Holzkohle.
Nicht jedoch in Lascaux.
Dort kommt der dunkle
Farbton durch Manganoxid
zustande. Dadurch ist es
unmöglich, das Alter der
Höhle mithilfe der Radiocarbonmethode
zu bestimmen.
Meisterwerk
in Gefahr
1963 lässt André
Malraux die Höhle für
den Publikumsverkehr
schließen, denn die
Anwesenheit von
Menschen schadet den
Malereien – das ist die
Kehrseite ihres Erfolgs.
Seit 1979 zählt die Höhle
zum Weltkulturerbe der
UNESCO. 1983 wird
die erste Reproduktion
angefertigt und 2016
öffnet das Zentrum für
Höhlenkunst, Lascaux IV,
seine Türen. Zudem gibt es
mit Lascaux III eine mobile
Nachbildung, die seit 2012
durch die Welt tourt.
Höhle von Lascaux
Saal der Stiere (Detail)
18.000 v. Chr. – 15.000 v. Chr.
Höhlenmalereien
Dordogne
Eine Sixtinische Kapelle unter der
Erde
Am 8. September 1940 gehen vier junge Männer aus
dem Périgord durch den Wald von Lascaux, als ihr Hund
plötzlich in einem Loch verschwindet. Einer der Männer,
Marcel Ravidat, folgt dem Hund und erblickt eine Höhle.
Er glaubt, einen Geheimgang gefunden zu haben. Noch
ahnt er nicht, dass er gerade eine der kunstvollsten Höhlenmalereien
der Geschichte entdeckt hat.
Vier Tage später kehrt er mit weiteren Freunden zurück,
um die Höhle zu erkunden. Man stelle sich diese Jugendlichen
vor, wie sie aufgeregt, mit Taschenlampen in der
Hand, zahlreiche Tierfiguren an den Wänden der Höhle entdecken.
Sie können Stiere, Hirsche, Pferde und sogar einen
Bären ausmachen. Der Priester Henri Breuil wird verständigt.
Er betritt als erster Prähistoriker die Höhe und stellt
deren Echtheit fest. Lascaux wird daraufhin weltberühmt.
1948 wird ein Kurator ernannt und der Fundort wird für die
Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Jedermann bestaunt
die herausragenden Zeichnungen und kann sich ausmalen,
wie Männer und Frauen der Altsteinzeit hier mit Sorgfalt
Bilder von ihrer Welt, von ihrem Leben schufen. Die Kunst
unserer Vorfahren hat eine reduzierte Farbpalette: gelber
Ocker, roter Ocker und Schwarz. Diese Pigmente werden
zu Pulver zermahlen und dann mit Wasser – mitunter auch
mit Speichel oder Urin – angerührt. Anschließend werden
sie mit den Fingern oder mit Lederstücken aufgetragen,
oder aber trocken auf die Wand geblasen, um eine leichte,
dunstige Wirkung zu erzielen.
Die Kunstschaffenden von damals arbeiten mit Bedacht an
ihren Bildern. Schließlich stellen sie Tiere dar, denen sie bei
der Jagd begegnen und die sie an diesem ehrwürdigen Ort
verherrlichen oder gar verklären. Die Höhle von Lascaux,
alias »Sixtinische Kapelle der Urgeschichte«, zeigt, dass der
Mensch seit jeher den Drang hat, etwas zu erzählen und zu
erschaffen.
16
17
IM RAMPENLICHT
Porträt Philipps des Guten von Burgund
1445
Das Goldene Vlies
Dieser Ritterorden
wird 1430 von Philipp
dem Guten gegründet.
Ziel der Bruderschaft
ist es, Gott zu ehren
und das Christentum
zu verteidigen. Ihre
24 Mitglieder, allesamt
hochrangige burgundische
Ritter, sind verpflichtet,
zu jeder Zeit die
Ordenskette zu tragen.
Figuren in Schwarz
Rogier van der Weyden
malt zahlreiche Porträts
von Männern und Frauen in
Schwarz.
1450: Diptychon mit der
Jungfrau Maria mit dem
Kind und dem Stifter Jean
Gros
1455: Porträt einer Dame
1460: Porträt von Anton
von Burgund
1460: Karl der Kühne
1460: Porträt von
Francesco d’Este
1461: Philippe de Croy
Porträt Philipps des Guten
von Burgund (Kopie von der
Werkstatt des Künstlers)
Rogier van der Weyden
1445
Öl auf Holz
Musée des Beaux-Arts, Dijon
Elegant und mächtig
Im Mittelalter ist Schwarz ein unbeliebter Farbton.
Man verbindet es mit der Finsternis, während man das
göttliche Licht verehrt und Auftraggeber hohe Summen
zahlen, damit ihre Werke in den schönsten Farben
erstrahlen. Doch unter dem Einfluss der flämischen
Meister wird das Ansehen von Schwarz wiederhergestellt.
Philipp der Gute erscheint auf Porträts stets in schwarzer
Kleidung – eine Farbe, die Historikerinnen und Historiker
häufig mit dem Herzogtum von Burgund assoziieren. Doch
weshalb entschied sich der Herzog für diesen Farbton?
Die Legende besagt, dass ihn der Mord an seinem Vater,
Johann Ohnefurcht, dazu bewogen hat, ab 1419 zum Zeichen
seiner Trauer Schwarz zu tragen.
Allerdings ist dies nur eine Vermutung, denn schwarze
Kleidung war zu jener Zeit zwar selten, aber nicht ungewöhnlich.
An den Höfen Italiens und Spaniens ist Schwarz
überaus gefragt, weil es eine elegante und strenge
Silhouette erzeugt. Und natürlich bringt Schwarz auch
Stickereien und Schmuck besonders gut zur Geltung. Was
könnte edler wirken als eine üppige Goldkette auf dunklem
Stoff? Philipp der Gute hat dies erkannt: Durch sein
dunkles Gewand erscheint seine Kette vom Orden vom
Goldenen Vlies umso kostbarer.
Manch einer hat das äußere Auftreten Philipps des Guten
als spirituellen Verzicht oder gar als Askese gedeutet.
Doch dieser Mann ist ein bedeutender Mäzen mit einem
luxuriösen Lebensstil. Sollte man nicht einfach anerkennen,
dass Philipp der Gute sich schon damals der Kraft des
Bildes bewusst war? Indem er sich derart markant kleidet,
stärkt er seine politische Macht. Und wie so oft spielt bei
dieser Kommunikationsstrategie die Mode eine wesentliche
Rolle.
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19
IM RAMPENLICHT
Der Garten der Lüste
1490–1500
Wichtige Lektion
Philipp II. von Spanien
erwarb das Triptychon.
Es heißt, auf seinem
Totenbett habe der
Monarch seinen Kindern
geraten, sich dieses Werk
genau anzuschauen, weil
es angeblich »eine gewisse
Weisheit« in sich birgt.
Ein klarer Fall
Das Werk ist zwar nicht
signiert, doch seine Zuschreibung
an Hieronymus
Bosch gilt als sicher.
Fashion Victim
Für die Werbekampagne
zur Frühjahrs-/
Sommerkollektion 2018
arbeitete das italienische
Modehaus Gucci mit dem
Künstler Ignasi Monreal
zusammen. Dieser ließ
sich für seine utopischen
Werke sowohl von Jan van
Eycks Arnolfini-Hochzeit
als auch vom Garten der
Lüste inspirieren.
Der Garten der Lüste
Hieronymus Bosch
1490–1500
(Rechter Flügel)
Grisaille und Öl auf Holz
Prado, Madrid
Zeit der Bestrafungen
Die geheimnisvollen, verstörenden Werke von Hieronymus
Bosch sind Vorboten des Surrealismus und faszinieren
bis heute das Publikum. Wer in die Bildwelten
des niederländischen Meisters eintaucht, muss, wie bei
einer Schnitzeljagd, verschiedene skurrile Zeichen und
Symbole entschlüsseln.
Wenn man die drei Tafeln des Garten der Lüste betrachtet,
dann sucht man nach … ja, wonach eigentlich? Dieses
Werk ist so überladen, dass man die Orientierung verliert.
Auf der hier gezeigten, rechten Tafel schildert Hieronymus
Bosch das unglückselige Schicksal der zum Laster neigenden
Menschheit. Den Anfang machten in dieser Hinsicht
Adam und Eva, die auf dem linken Flügel des Triptychons zu
sehen sind. Von dem Paradies, aus dem sie vertrieben wurden,
wandert der Blick zu so etwas wie einem trügerischen,
sinnlichen Garten Eden mit nackten Männern und Frauen.
Sie sind den verrufenen irdischen Verlockungen erlegen,
und ihr scheinbares Glück ist gewiss nur von kurzer Dauer.
Und schließlich folgt das, was uns hier am meisten interessiert
– nicht aus Sadismus, sondern weil diese Tafel optisch
zu unserem Thema passt: Die Hölle. Denn ein lasterhaftes
Leben hat eine Bestrafung zur Folge. Und Hieronymus
Bosch ist diesbezüglich nicht zimperlich. In einer bedrohlich-düsteren
Atmosphäre, die deutlich mit den anderen,
in Grün gehaltenen Tafeln kontrastiert, zeigt der Maler
groteske Kreaturen, erschreckende Szenen und monströse
Mischwesen. Vom Geiz bis zur Völlerei sind hier alle
Todsünden bildlich dargestellt. Ein apokalyptisches Werk,
in dessen Hintergrund brennende Gebäude erscheinen,
aber auch einige Lichter – ein Hoffnungsschimmer in der
Dunkelheit.
Denn genau darum geht es dem Künstler: In der Finsternis
lässt sich immer auch Licht finden, und umgekehrt wird
der helllichte Tag manchmal ganz plötzlich zur Nacht. Das
ist das Leben mit seinen Höhen und Tiefen, und was wir
daraus machen.
20
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IM RAMPENLICHT
Narziss
1569
Nachfolger
Caravaggios berühmtes
Chiaroscuro und die
Dramaturgie seiner
Bilder prägen eine ganze
Malschule. Eine düstere
Atmosphäre und ausdrucksvolle
Gesten
sind die Markenzeichen
dieses Stils, der sich in
Italien, Frankreich und in
der flämischen Schule
verbreitet. Außerdem zählt
dazu eine luministische
Malweise, mit einer betont
ruhigen und warmen
Bildwirkung im Stile von
Georges de La Tour.
Historische Debatte
Die Urheberschaft dieses
Caravaggio ist innerhalb
der Kunsthistorie stark
umstritten. Aufgrund seiner
Farbpalette wurde das
Gemälde zunächst Orazio
Gentileschi zugeschrieben.
1914 identifizierte Roberto
Longhi es als Erster als ein
Werk Caravaggios.
Narziss
Caravaggio
1569
Öl auf Leinwand
Gallerie Nazionali di Arte Antica,
Rom
Liebesdrama
Nach der Jagd stillt ein Jüngling namens Narziss seinen
Durst an einer Quelle mit klarem Wasser und verliebt
sich dabei unsterblich in sein Spiegelbild. Außerstande,
sich von seinem Anblick zu lösen, versucht er, sein eigenes
Spiegelbild zu erhaschen. So erzählt es uns Ovid in
seinen Metamorphosen.
Die Legende des Narziss fasziniert Künstlerinnen und Künstler,
doch Caravaggio setzt den Stoff auf meisterhafte Weise
um. Er bettet seinen Narziss nicht, wie die meisten, in eine
Erzählung ein, sondern hüllt ihn in zeitgenössische Kleider
und löst ihn so aus dem mythologischen Kontext.
Caravaggio zeigt, wie der Jüngling in völliger Dunkelheit
am Ufer kniet und soeben sein Spiegelbild erblickt. Narziss
verliebt sich in sich selbst, aber vor allem in eine Illusion, in
ein unerreichbares Trugbild. Das Gemälde stellt ein Doppelporträt
dar: Auf der einen Seite das helle Bildnis des
schmachtenden Jünglings, auf der andere Seite ein etwas
verschwommenes, düsteres Bildnis. Dazwischen verläuft
eine Linie, die Erde und Himmel voneinander trennt.
Obgleich es nur einen Narziss gibt, erblicken wir hier zwei
Gestalten. Zwei Gegensätze, die sich gegenseitig anziehen,
oder unsere inneren Widersprüche, die einander ergänzen,
das Greifbare und das Unsichtbare. Der Jüngling weiß nicht,
dass die andere Person, die er da bewundert, er selbst ist.
Caravaggio idealisiert die Figur des Narziss. Er zeigt ihn als
Epheben mit schlanken Muskeln und sinnlichem Hals; seine
Augen sind geschlossenen und seine Lippen leicht geöffnet,
so als wollte er dem geliebten Wesen einen Kuss geben.
Doch die schemenhafte Gestalt entzieht sich seinen Zärtlichkeiten.
Sie ist unerreichbar.
Das vorherrschende Schwarz deutet einerseits auf das
verhängnisvolle Schicksal von Narziss hin, der schließlich
an seiner Verzweiflung stirbt; andererseits steht es für den
inneren Kampf eines ungestillten Verlangens. Es ist das
Drama einer unerwiderten Liebe.
22
23
IM RAMPENLICHT
Die Erschießung der Aufständischen
1814
Wandmalerei
Zwischen 1819 und 1823
bemalt Goya die Wände in
seinem Landhaus mit den
sogenannten »Schwarzen
Gemälden«. Die Werke
veranschaulichen seine
innersten Ängste und seine
pessimistische Sicht auf
das Alter und den Tod.
Verlust des Gehörs
Als Francisco de Goya
taub wird, beginnt er,
äußerst düstere Bilder zu
malen. Es scheint, als ob
sein Gebrechen ihn von
der Außenwelt abschottet
und er in seiner eigenen
melancholischen und
bedrückenden Welt lebt.
(Gegenüberliegende Seite
und Detail auf der nächsten
Doppelseite)
Die Erschießung der
Aufständischen
Francisco de Goya
1814
Öl auf Leinwand
Prado, Madrid
Bild des Krieges
Unter der absolutistischen Herrschaft des spanischen
Königs Ferdinand VII. steht Francisco de Goya keineswegs
gut dar. Er hat liberale, ja sogar revolutionäre
Ansichten, und 1824, nach der Abschaffung der Konstitution,
geht er schließlich ins Exil nach Frankreich.
In der Zwischenzeit versucht der Künstler, sein Ansehen
am Hofe wiederherzustellen – was nicht ganz einfach ist
für jemanden, der Joseph Bonaparte, den Bruder Napoleons
und früheren König Spaniens, porträtiert hat. Doch
die Lösung ist bald gefunden: Goya wird den Machtmissbrauch
der französischen Armee offenlegen.
Das Gemälde Die Erschießung der Aufständischen
schildert einen Fall von Unterdrückung: In der Nacht
vom 2. auf den 3. Mai 1808 weigerten sich viele Madrilenen,
den Bruder des französischen Kaisers als König von
Spanien anzuerkennen. Der Oberkommandierende Murat
gab daraufhin den Befehl, die Aufständischen niederzuschießen.
Zwar muss die Szene zwangsläufig im Dunkeln angesiedelt
sein, aber die düstere Stimmung ist auch ein Mittel,
um das Massaker sichtbar zu machen. Schwarz, Grau und
Braun sind die dominierenden Farbtöne. Einzig die Hauptfigur
hebt sich im Schein einer Laterne von der Dunkelheit
ab, mit weit geöffneten Armen wie ein gekreuzigter
Christus: Sie steht symbolisch für den Märtyrer, das Opfer
dieses Blutbads.
Die gesichtslosen Soldaten bilden eine gleichförmige,
anonyme Masse ohne menschliche Züge – ein Ausdruck
blinder Gewalt. Und im Hintergrund scheint ein unheimliches
Dunkel die Stadt Madrid einzuhüllen wie schleichendes,
leises Unheil.
Goyas Schilderung hat nichts Heroisches oder Pathetisches
an sich. Vielmehr berichtet er in der Rolle eines
Reporters von der Ungerechtigkeit des Lebens.
32
»In der Natur gibt es nur Schwarz und Weiß.«
Francisco de Goya
33
34
IM RAMPENLICHT
35
IM RAMPENLICHT
Das Floß der Medusa
1819
Kontroverse
Beim Salon von 1819 sorgt
Géricault für Aufsehen
und spaltet die Kunstkritik
in zwei Lager. Dieses
Gemälde ist doch keine
Kunst, oder? Ein abscheuliches
Ereignis, das ja!
Soll nicht die Kunst dem
Schönen dienen? Andere
wiederum erkennen die
künstlerische und soziale
Tragweite des Bildes. So
erklärt Michelet: »[…] es ist
unsere ganze Gesellschaft,
die auf dem Floß der
Medusa in See sticht.«
ZEITACHSE
Ein viel zitiertes
Werk
1877
Émile Zola,
Der Totschläger
Schiffsunglück
1816 läuft eine Fregatte der königlichen Marine,
La Méduse, auf einer Sandbank vor Senegal auf Grund.
Es gibt nicht genügend Beiboote, um die rund 400 Passagiere
sicher an Land zu bringen. Man baut ein behelfsmäßiges
Floß, auf dem 150 Soldaten Platz finden müssen. Nur
zehn von ihnen überleben, nachdem sie, ihrem Schicksal
überlassen, 13 Tage lang auf dem Meer getrieben sind.
Théodore Géricault ist von diesem grausamen Unglück
fasziniert. Und grausam ist es allemal, wenn man den Schilderungen
der wenigen Überlebenden Glauben schenkt. Auf
dem Floß entledigen sich die Offiziere der überzähligen Passagiere,
angeblich weil diese eine Meuterei vorbereiteten;
allein in den ersten Tagen sterben rund einhundert Soldaten.
Doch vor allem zögert man nicht, die Verwundeten ins Meer
zu werfen, und es ist auch die Rede von Kannibalismus.
Der Künstler will sein Werk beim Salon von 1819 der Öffentlichkeit
präsentieren, also stürzt er sich in die Arbeit,
sammelt Zeitungsberichte und befragt die Überlebenden.
Um die leblosen Körper korrekt wiedergeben zu können,
studiert er im Beaujon-Krankenhaus Leichen und amputierte
Gliedmaßen.
Georges
Brassens, Les
Copains d’abord
(Freundschaft
kommt zuerst)
1967
Beyoncé und
Jay Z, Apeshit
1964
René Goscinny
und Albert
Uderzo, Asterix
als Legionär
2018
Géricault zeigt, was geschieht, wenn der Mensch sich selbst
und seinen dunkelsten Trieben überlassen wird. Manchmal
ist der Überlebensinstinkt stärker als unsere Menschlichkeit.
Düstere Farbtöne beherrschen das Bild. Sie lassen die
leichenblassen und verängstigten Figuren hervortreten. Der
Tod ist unübersehbar: Er hat den Sohn eines Mannes dahingerafft,
der den reglosen Körper nun resigniert im Arm hält;
und er hat auch Besitz von jenen ergriffen, die nicht mehr
um ihr Leben kämpfen. Der Künstler betont hier das furchtbare
Leiden der Menschen.
Das Floß der Medusa
Théodore Géricault
1819
Öl auf Leinwand
Louvre, Paris
Doch es gibt auch Hoffnung, nämlich in Gestalt der emporstrebenden
Pyramide, die von den noch lebenden Männern
geformt wird. Am hellen Horizont erscheint ein Schiff. Der
Alptraum hat bald ein Ende. Géricault schuf hiermit ein
programmatisches Bild der Romantik.
36
»Géricault hatte mir einen Blick [auf das Bild] gewährt.
Der Eindruck war so lebhaft, dass ich nach dem Verlassen
des Ateliers wie ein Verrückter durch die Straßen lief, bis
ich zuhause war.«
Eugène Delacroix
37
IM RAMPENLICHT
Porträt der Mutter des Künstlers
1871
Über den Atlantik
Mit diesem Gemälde,
das sich heute im Pariser
Musée d’Orsay befindet,
erwirbt der französische
Staat 1891 erstmals ein
Kunstwerk aus Amerika.
Klüngelei
In Hommage à Delacroix,
einem Gemälde von Fantin-Latour
aus dem Jahr
1864, sieht man Whistler
an der Seite von Manet
und Baudelaire.
Künstler mit Kultstatus
Whistler und seine Kunst
sind zeitlos und haben
bis heute Kultcharakter.
Proust besitzt ein Paar
Handschuhe, die dem Maler
gehörten, und Cole Porter
zitiert 1935 dieses Porträt
in seinem Hit You’re the
Top. Im selben Jahr ziert es,
anlässlich des Muttertags,
eine amerikanische
Briefmarke. Und sogar in
der Serie Die Simpsons
hat das Gemälde einen
Gastauftritt.
Dekorative Mutter
Es gibt Porträts, die sich ins kollektive Bildgedächtnis
einprägen und zu Ikonen werden. Das Porträt der Mutter
des Künstlers gehört ebenso zu dieser Kategorie wie die
Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Allerdings ehrt dieses
Gemälde nicht nur eine Person, sondern postuliert darüber
hinaus einen neuen, modernen Malstil.
Whistlers Bild hat zwei Titel, und das nicht ohne Grund.
Dieses Porträt der Mutter des Künstlers ist ebenfalls als
Arrangement in Grau und Schwarz Nr. 1 bekannt. Dieser
zweite Titel verweist insbesondere auf das ästhetische
Empfinden des Künstlers, sein Bemühen um eine harmonische
Farbgebung und eine stilisierte Komposition, die
gelegentlich zur Abstraktion neigt.
Whistlers Ziel war es nicht, ein Porträt seiner Mutter zu
malen. Das mag seltsam klingen, aber sie erfüllt hier lediglich
einen dekorativen Zweck. Die künstlerische Herausforderung
bestand in der harmonischen Abstufung der Grau- und
Weißtöne. Auch seine Mutter ist Teil dieses Zusammenspiels.
Man beachte, wie sie ein Pendant zu der Grafik an
der Wand (eine Ansicht der Themse von ihrem Sohn) bildet.
Die gleiche Linienführung, die gleiche Farbigkeit. Whistlers
Mutter wird in diesem Werk zu einem Kunstobjekt. Böse
Zungen würden es ein Stillleben nennen.
Dennoch entfaltet das Gemälde eine starke psychologische
Wirkung. Das nüchterne schwarze Kleid der Frau steht im
Zeichen des amerikanischen Puritanismus und im Kontrast
zum Geschmack ihres Sohnes: Dieser dekoriert seine
Wohnung mit Vorhängen à la chinoise, mit einem japanischen
Fußhocker und einem Stuhl mit klaren Linien, die bei
den Avantgardisten damals hoch im Kurs stehen. Hier trifft
Alt auf Neu.
Der gebürtige Amerikaner Whistler ist zugleich Lebemann
und Bohemien, wohnt teils in London, teils in Paris.
Als seine Mutter bei ihm einzieht, vertraut er Fantin-Latour
an, er müsse »sein Haus ausräumen und vom Keller bis zum
Speicher reinigen«.
38
»Was das Gemälde darstellen soll?
Das kommt ganz darauf an, wer es betrachtet.«
James Abbott McNeill Whistler
Porträt der Mutter des Künstlers
oder Arrangement in Grau und
Schwarz Nr. 1
James Abbott McNeill Whistler
1871
Öl auf Leinwand
Musée d’Orsay, Paris
39
IM RAMPENLICHT
Berthe Morisot mit Veilchenstrauß
1872
Großes Lob
der Familie
Der Schriftsteller Paul
Valéry, der mit der Nichte
von Berthe Morisot
verheiratet ist, verkündet:
»Im Gesamtwerk ist nichts
höher als ein bestimmtes
Porträt, das Berthe
Morisot darstellt und 1872
datiert ist.«
ZEITACHSE
Berthe als Modell
von Manet
1869 Der Balkon
Die Ruhepause 1870
1872
Berthe Morisot
liegend
1874
Berthe Morisot
mit Trauerkleidung
Berthe Morisot
mit rosa
Schuhen
1873
Berthe Morisot mit
Veilchenstrauß
Édouard Manet
1872
Öl auf Leinwand
Musée d’Orsay, Paris
Berthe Morisot
mit Fächer
1874
Die Dame in Schwarz
Berthe Morisot ist Malerin – sie zählt zu den wenigen
Frauen in der impressionistischen Kunst. Doch hier
begegnet uns die spätere Ehefrau von Eugène Manet,
dem Bruder Édouard Manets, in der Rolle des Künstlermodells.
Der Titel verweist auf einen Strauß Veilchen; nur springt
uns dieser nicht unbedingt ins Auge. Viel auffälliger ist das
schwarze Kleid von Berthe Morisot. Das tiefe Schwarz
mindert keineswegs die Leuchtkraft dieses Porträts.
Durch den strahlend hellen Hintergrund, aber vor allem
durch die betont blasse Haut seines Modells kreiert Manet
einen effektvollen Schwarz-Weiß-Kontrast, eine Verbindung,
oder, besser gesagt, eine Gegenüberstellung zweier
Farbtöne, die der Maler besonders schätzt.
Wussten Sie, dass Berthe Morisot eigentlich grüne Augen
hatte? Doch um die dunklen Töne in ihrem Gesicht hervorzuheben,
weicht Manet von der Wirklichkeit ab. Sein
Schwarz ist weder nüchtern noch streng. Trotz ihrer
düsteren Erscheinung wirkt die Porträtierte nicht sonderlich
ernst: Ein paar widerspenstige Haarsträhnen fallen ihr
ins Gesicht, und ihre großen Augen blicken uns neugierig
oder sogar leicht spöttisch an. Das ist nicht unbedingt
verwunderlich, denn Berthe Morisot hat ihren eigenen
Kopf. Und mit ihrem schwarzen Kleid folgt sie lediglich der
damaligen städtischen Mode.
Es heißt, Berthe Morisot und der Maler hätten ein
undurchschaubares Liebesverhältnis, das auf Freundschaft
und einem steten Austausch über ihre Kunst basiert. Tatsächlich
pflegt Manet eine Vorliebe für die Farbe Schwarz,
während Berthe Morisot Weiß bevorzugt – ein klarer Meinungsunterschied.
Doch Gegensätze ziehen sich bekanntermaßen
an, nicht wahr?
Und die Veilchen? Noch im selben Jahr holt Manet sein
Versäumnis nach und fügt Berthes Porträt einen hübschen,
kleinen Strauß hinzu.
40
41
IM RAMPENLICHT
Guernica
1937
Schritt für Schritt
Zwischen dem 1. Mai und
dem 4. Juni 1937 hält Dora
Maar, Picassos damalige
Lebensgefährtin, die
einzelnen Etappen der
Entstehung von Guernica
fotografisch fest. Insgesamt
fertigt der Künstler für
dieses Werk 45 Vorzeichnungen
an. Christian
Zervos, Herausgeber der
Zeitschrift Cahiers d’art,
widmet Guernica eine
Sonderausgabe.
Ein Gemälde mit
gewissen Bedingungen
Spanien erhebt Anspruch
auf das Werk, doch
Picasso widersetzt sich:
nicht, solange Franco am
Leben ist. Sein Wunsch
wird respektiert. Erst
1981 wird Guernica nach
Spanien überführt. Seit
1992 befindet es sich
im Museo Reina Sofia in
Madrid.
Krieg und Frieden
Für die Internationale Ausstellung der Kunst und Technik im
modernen Leben, die 1937 in Paris stattfindet, gibt die Republik
Spanien bei Picasso ein monumentales Werk in Auftrag:
Es misst 3,50 m in der Höhe und 7,80 m in der Breite.
Am 26. April 1937 wird Guernica, eine Stadt im spanischen
Baskenland, von Truppen des nationalsozialistischen
Deutschlands und des faschistischen Italiens bombardiert,
die beide auf Seiten Francos kämpfen. Fotografien
und Presseartikel schildern die Gräueltaten – als Picasso
davon erfährt, ist er erschüttert. In Rekordzeit stellt er das
Gemälde fertig: Das Grauen inspiriert ihn.
Auf der Leinwand herrscht Chaos: Man sieht eine weinende
Frau mit ihrem toten Kind im Arm, ein Pferd mit aufgeschlitztem
Bauch, eine Figur vor einem brennenden Haus und,
am unteren Bildrand, einen am Boden liegenden Krieger, in
seiner Hand ein zerbrochenes Schwert als Symbol für die
hilflosen, angegriffenen Menschen. Die Verwüstung stellt der
Künstler in Form einer Collage dar, einem Durcheinander
aus Gegenständen, Menschen und Tieren in einem beengten,
geschlossenen Raum. Ein kräftiger Stier beobachtet das
Geschehen wie ein Voyeur, jedoch ohne es zu begreifen.
Um das Unaussprechliche zu schildern, nutzt Picasso
simple Bildmotive. Das Feuer der abgeworfenen Bomben?
Eine Glühbirne an der Zimmerdecke mit zackigen Lichtstrahlen.
Eine unverblümte Darstellung ohne Emphase. Der
Einsatz von Schwarz und Weiß macht das furchtbare Leid
umso deutlicher. Doch vor allem rückt die kontrastreiche
Grisaille-Malerei das Werk in die Nähe der Fotografie.
Picasso schlüpft in die Rolle eines Reporters. Seine Kunst
dient der Geschichtsschreibung.
Guernica wird zum Symbol von Krieg und Verwüstung. Als
Propagandamittel reist das Werk um die Welt und prangert
die Diktatur an, bevor es während des 2. Weltkriegs in den
Besitz des MoMA in New York übergeht. Es ist ironisch, dass
Guernica gerade wegen seiner krassen Darstellung des Krieges
zu einem Denkmal für den Frieden wird.
46
»Ich will nicht, dass Guernica nach Spanien gelangt, solange
Franco am Leben ist. Es ist das Werk meines Lebens. Es
bedeutet mir mehr als alles andere.«
Pablo Picasso, zitiert nach Roland Dumas (Dans l’œil du Minotaure, 2013)
(Oben und Detail auf der nächsten Doppelseite)
Guernica
Pablo Picasso
1937
Öl auf Leinwand
Museo Nacional Centro de Arte Reina
Sofia, Madrid
47
48
IM RAMPENLICHT
49
UNGEAHNTE
SCHÄTZE
Rotfigurige Trinkschale
Schwarzes Zimmer
Rhinocerus
Die Eitelkeit der Welt
Der Berg Jingting im Herbst
Nelken
Porträt von Victor Hugo
Courbevoie: Fabriken im Mondlicht
Die Einsamkeit
Einsamkeit
Mexikanische Maske
Frau mit blauen Augen
Schwarz und Weiß
Rhythmisches
Les Boucliers (Die Schilde)
Pietà
Circuit
Detail Drawing
UNGEAHNTE SCHÄTZE
Rhinocerus
1515
Pädagoge
Dürer versieht seinen
Holzschnitt mit präzisen
Beschreibungen. Hier ein
Auszug: »Das ist hier mit
seiner ganzen Gestalt
abkonterfeit. Es hat eine
Farbe wie eine gesprenkelte
Schildkröte. Und
ist mit dicken Schalen
belegt, sehr fest. Und
ist in der Größe wie der
Elefant, aber niedriger
von den Beinen und sehr
wehrhaftig. Es hat ein
scharfes starkes Horn vorn
auf der Nase. Das beginnt
es immer zu wetzen, wenn
es bei Steinen ist.«
ZEITACHSE
Ein inspirierendes
Geschöpf
1474
Henri-Alfred
Jacquemart,
Rhinocéros
1880
Salvador Dalí,
Rhinocéros
habillé en
dentelle
1987
Xavier Veilhan,
Le Rhinocéros
Jean-Baptiste
Oudry, Clara
1604
François-
Xavier Lalanne,
Rhinocéros II
1954
Niki de
Saint Phalle,
Rhinocéros
2000
Wilde Bestie
Am 20. Mai 1515 wird ein Rhinozeros per Schiff nach Lissabon
gebracht; es ist ein diplomatisches Geschenk des
Sultans Muzafar Shah II. an den portugiesischen König
Manuel I. Seit der Antike hat man in Europa kein Nashorn
mehr gesichtet, und so ist die Begeisterung groß,
als das Tier im königlichen Zoo zur Schau gestellt wird.
Valentin Ferdinand, ein Buchdrucker in Lissabon, schickt
an die Kaufmannsgilde von Nürnberg einen Brief mit einer
genauen Beschreibung des Tieres. Er zitiert darin auch
Plinius den Älteren und Strabon. Albrecht Dürer ist Maler,
Theoretiker und berühmt für seine Holzschnitte. Er hat
das Rhinozeros nie gesehen, sondern stützt sich auf den
genannten Brief, um von dem Tier eine detaillierte Federzeichnung
und später einen Holzschnitt anzufertigen.
Dürers Zeichnung ist von der Realität gar nicht so weit
entfernt. Trotzdem entstammt sie der Fantasie und einer
Zeit des Humanismus, der Entdeckungen und des Wissens.
Dieses Rhinozeros hat einen Elefantenschwanz, eine Art
Schuppenpanzer und auf dem Rücken ein kleines Horn,
sodass es wie ein Fabelwesen wirkt. Doch das Besondere
an Dürers Holzschnitt ist seine minutiöse Genauigkeit.
Durch die wechselnden Muster verstärkt er die wehrhafte
und plastische Wirkung des Rhinozeros.
Dürer erhebt den Holzschnitt zum Kunstwerk, und der
um 1450 von Gutenberg erfundene Buchdruck stellt seine
Verbreitung sicher. Fortan erscheint die Welt in Schwarz-
Weiß. Dürer profitiert davon: Es werden 500 Abzüge verkauft.
Und bis ins 18. Jahrhundert hinein erscheint die Grafik
in naturwissenschaftlichen Büchern.
Und das echte Nashorn? Es soll als Geschenk an Papst
Leo X. gehen, doch bei der Überfahrt kentert das Schiff
und das angekettete Tier ertrinkt. Sein Tod steigert seine
Bekanntheit, während er gleichzeitig die brutale Herrschaft
des Menschen über das Tier vor Augen führt.
64
»Es ist so lang wie ein Elefant; die Beine aber sind weit kürzer,
und die Farbe erinnert an Buchsbaumholz.«
Plinius der Ältere
Rhinocerus
Albrecht Dürer
1515
Holzschnitt
British Museum, London
65
UNGEAHNTE SCHÄTZE
Porträt von Victor Hugo
1879
Bewunderer
Der Schriftsteller
Huysmans beschreibt
das Gemälde von Bonnat
wie folgt: »Es hat etwas
Muffiges, Schmutziges an
sich, wie das Licht durch
die trüben und staubigen
Fenster einfällt. Herr
Bonnat hat sich einen
kleinen Trick erlaubt und in
diesen Lichtverhältnissen
die bläulich-rote Haut aus
dem Dunkel emporgeholt.
Die Pose ist einfach; der
Ellenbogen ruht auf einem
Band von Homer, was
etwas über den Verstand
des Malers verrät.«
ZEITACHSE
Schriftstellerporträts
1753
Louis Michel
van Loo, Denis
Diderot
1836
Auguste
Charpentier,
George Sand
1868
Jacques Émile
Blanche,
Marcel Proust
Maurice Quentin
de La Tour,
Jean-Jacques
Rousseau
1767
Louis Boulanger,
Honoré de
Balzac
1839
Édouard Manet,
Émile Zola
1892
Alter weiser Mann
1870 kehrt Victor Hugo aus einem Exil heim, das ihn
bekannt gemacht hat. Als Gegner von Napoleon Bonaparte
wollte er nicht nach Paris zurückkommen, ehe die
Dritte Republik ausgerufen wurde. Als Léon Bonnat sein
Porträt malt, ist er nicht mehr nur Schriftsteller, sondern
bereits seit drei Jahren Senator.
Dieses Gemälde zählt zu einer Reihe von »Berühmtheiten«,
die der Künstler auf eigene Initiative porträtiert. Neben
dem Schriftsteller verewigt er außerdem Jules Ferry, Léon
Gambetta, Louis Pasteur und Alexandre Dumas den Jüngeren.
Dieses Porträt von Victor Hugo erntet große Anerkennung,
weil der Künstler auf jeglichen Firlefanz verzichtet, um
Victor Hugo als entschlossenen Politiker, genialen Dichter,
aber auch und vor allem als Menschen zu zeigen. Léon
Bonnat entwirft ein psychologisches Porträt. Die schiere
Präsenz des Porträtierten reicht aus, um ihn zu glorifizieren.
Es braucht weder eine Muse noch eine prunkvolle Kulisse.
Und hier kommt das Schwarz ins Spiel. Es überflutet die
Leinwand. Doch die Finsternis ist keineswegs beunruhigend
oder morbide. Vielmehr steht Schwarz hier für Eleganz, für
Persönlichkeit und für die Mode des Bürgertums. Außerdem
erinnert es an die Porträts des Realismus, die Bonnat
während seiner Jugend in Spanien kennengelernt hat. Damals
studierte er im Prado die Werke von Tizian und Velázquez.
Und schließlich sorgt das Schwarz für Kontraste, indem es
die weißen Partien besonders hell erscheinen lässt. So wie
die Hände, ein Sinnbild des Schriftstellers, und das Gesicht
mit dem typischen, konzentrierten Ausdruck eines Denkers!
Doch hinter der ruhigen Körperhaltung verbirgt sich eine
Unruhe, ein fieberhafter Eifer. Das Haar ist leicht struppig,
und der erhobene Zeigefinger scheint zu sagen: Ich hab‘s!
Das Genie hat eine Idee.
Obgleich dieses gemalte Porträt beeindruckend realistisch
wirkt, beinahe wie eine Fotografie, gleicht es doch einer abstrakten
Ikone. Es ist Victor Hugo, wie die Leute ihn sehen, ein
unverwechselbares Wunschbild, eine Personifikation.
74
Porträt von Victor Hugo
Léon Bonnat
1879
Öl auf Leinwand
Museum der Geschichte Frankreichs,
Schloss Versailles
75
UNGEAHNTE SCHÄTZE
Frau mit blauen Augen
1918
Furchteinflößend
Modiglianis Porträts
dienen dem Regisseur
Andy Muschietti als
Inspiration für eine Figur in
dem Horrorfilms Es: Judith
ist eine furchterregende
Frauengestalt, die mit ihren
blauen Augen ein Kind
erstarren lässt.
Skandal
Neben geheimnisvollen
Porträts malt Modigliani
auch provokante
Aktbilder. Im Dezember
1917 zeigt die Galerie
Berthe Weill 32 Werke
des Künstlers. Doch die
Polizei unterbricht die
Ausstellungseröffnung und
nimmt die Bilder von den
Wänden. Der Grund? Es
sind darauf Schamhaare zu
sehen.
Frau mit blauen Augen
Amedeo Modigliani
1918
Öl auf Leinwand
Musée d’Art moderne, Paris
Chagrinleder
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Paris ein Zentrum
moderner Kunstströmungen. Man entdeckt eine neue,
abstrakte Malweise, eine Gegenbewegung zur figurativen
Kunst. Modigliani hingegen tut sich durch Porträts hervor,
die der klassischen Malerei huldigen.
Man kennt diese Gesichter; sie sind das Markenzeichen
des italienischen Künstlers. Ihre schmalen, mandelförmigen
Augen sind fast unsichtbar, Gesichtszüge, Kopf und Körper
dehnen sich wie eine langgezogene, mit Schwung aufgetragene
Linie. Die Frau mit blauen Augen bildet da keine
Ausnahme.
Modigliani hat in Florenz studiert und bewundert die Kunst
der Renaissance. Von Botticelli übernimmt er die keusche
Geste. So wie die Venus des toskanischen Meisters ihren
Busen verdeckt, hält diese geheimnisvolle Unbekannte
ihren Mantel zusammen – eine ebenso unschuldige wie
schüchterne Haltung. Der übertrieben lange Hals erinnert
an die Kunst des Manierismus. Doch das ist nicht alles. Der
Maler bezieht sich auch auf die modernen Skulpturen seines
Freundes Brancusi, ebenso wie auf afrikanische Masken,
von denen die Avantgarde damals stark beeinflusst war.
Der Farbton Schwarz präsentiert sich hier in Gestalt eines
Mantels, der die Porträtierte völlig einhüllt. Es wirkt fast,
als wollte sie sich darin verstecken oder ihr Gesicht darin
verbergen. Dabei strahlt der eigentlich elegante Mantel
eine gewisse Traurigkeit aus. Diese wird verstärkt durch
den melancholischen und zugleich feierlichen Blick des
Modells. Ihre blauen, beinahe durchsichtigen Augen sind
leer, und auch der Mantel erscheint wie ein Abgrund, ein
schwarzes Loch: Ein Bild der Hoffnungslosigkeit?
Heute könnte man in diesem Porträt Jeanne, die Lebensgefährtin
Modiglianis, erkennen. Ihr Mantel wäre dann eine
Art Trauergewand. Denn im Jahr 1920 stirbt der Maler an
tuberkulöser Meningitis, und die mit dem zweiten Kind des
Paars schwangere Jeanne stürzt sich aus dem Fenster.
86
UNGEAHNTE SCHÄTZE
Schwarz und Weiß
1926
Haute Culture
Der Modedesigner und
Kunstsammler Jacques
Doucet erwirbt das
Original dieser Fotografie.
In seinem Besitz sind schon
Brancusis Schlafende
Muse und Les Demoiselles
d’Avignon von Picasso.
Die Fotografie wird 2017
für 2,6 Millionen Euro bei
Christie’s versteigert und
ist damit das teuerste Foto,
das jemals in Frankreich
verkauft wurde.
Tragische Muse
1917 arbeitet Alice Prin als
Künstlermodell in Paris.
Sie posiert für Soutine,
Foujita und Modigliani
und avanciert unter
dem Namen Kiki de
Montparnasse zur Muse
der Pariser Bohème. Ab
1921 lebt sie mit Man Ray
zusammen, verkehrt im
Kreis der Surrealisten
und tritt als Tänzerin auf.
Kiki führt ein freizügiges,
inspirierendes und
modernes Leben, doch als
sie stirbt, ist sie allein und
verarmt.
Dialog in Schwarz-Weiß
Die französische Vogue veröffentlicht am 1. Mai 1926 die
inzwischen legendäre Fotografie Schwarz und Weiß von
Man Ray. Sie wird den Stil des Fotografen, aber auch
den einer ganzen Epoche prägen.
In den 1920er-Jahren herrscht in modernen Kreisen ein
großes Interesse an Kunst aus Afrika, und zwar schon seit
Beginn des Jahrhunderts. André Derain ist ein Sammler
afrikanischer Kunst, und die kubistischen Werke von
Picasso und Braque sind von ihr beeinflusst. Außerdem ist
da noch das populäre Pariser Jazzlokal Bal Nègre, in dem
Joséphine Baker auftritt. Mit Schwarz und Weiß trifft Man
Ray den Geschmack seiner Zeit und begründet zugleich
seinen unverwechselbaren Stil.
Der Künstler entwirft ein Bild der Gegensätze: Er stellt
das Gesicht seiner Muse Kiki de Montparnasse einer
Maske des ivorischen Stammes der Baule gegenüber.
Durch die geschlossenen Augen erinnert das »perfekte
Oval ihres Gesichts« an die Schlafende Muse von Brancusi.
In der Linken hält Kiki eine schwarze Maske, die
sowohl ihr Abbild als auch ihr Gegenpart ist. Man erkennt
Parallelen zwischen den beiden, etwa die ebenmäßigen,
eleganten Gesichtszüge oder die mandelförmigen Augen.
Vor allem aber stellt Man Ray Kiki als stillen Archetypus,
quasi als zweite Skulptur dar.
Man Ray ist ein Vertreter des Surrealismus, eine Bewegung,
die sich mit dem Bereich der Träume und des Unbewussten
beschäftigt. Ist das schlafende Modell in einen
Traum vertieft? Wer stellt die reale Welt dar – die Maske
oder Kiki?
Darüber hinaus schafft Man Ray in diesem Werk einen
Dialog zwischen Europa und Afrika – denn das eine entspricht
dem anderen. Vielleicht will er die Moderne mit
dem Urzustand vergleichen. Doch was ist was?
88
»Sie hat die Ära des Montparnasse eindeutig dominiert,
mehr als Königin Victoria ihre Ära je dominiert hat.«
Ernest Hemingway
Schwarz und Weiß
Man Ray
1926
Fotografie
Privatsammlung
89
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87.
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3, 45.
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106–107.
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patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais
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2020 / Foto: Bridgeman: 53.
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/ Musée d’Orsay, Paris: 2, 5, 39, 41 /
Musée des Beaux-Arts, Rennes: 29
/ Louvre, Paris : 37 / Prado, Madrid:
33–35 / Metropolitan Museum of
Art, New York: 25–27, 77–79.
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2020 / Foto: AgeFotostock /
Zoonar / Barbara Boens: 97–99.
© RMN-Grand Palais (Château de
Versailles) / Gérard Blot: 75.
© RMN-Grand Palais (MNAAG,
Paris) / Daniel Arnaudet: 71.
© RMN-Grand Palais (Musée
d’Orsay) / Hervé Lewandowski: 4,
83 / Michel Urtado: 73.
© RMN-Grand Palais (Musée du
Louvre) / Stéphane Maréchalle: 61.
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Paris 2020 / Photo: RMN-Grand
Palais (Musée du Quai Branly) / Jean-
Gilles Berizzi: 103.
© Succession Picasso 2020 / Foto:
Bridgeman: 47–49.
© The Keith Haring Foundation /
Foto: Sotheby’s: 101
© The Metropolitan Museum of
Art, Dist. RMN-Grand Palais / Foto:
MMA: 31, 63.
© Ville de Marseille, Dist. RMN-
Grand Palais / Claude Almodovar /
Michel Vialle: 85.
Schwarz
© 2025
Midas Collection
Ein Imprint der Midas Verlag AG
ISBN 978-3-03876-327-2
1. Auflage 2025
Übersetzung: Dr. Nina Goldt
Lektorat: Kathrin Lichtenberg
Layout: Ulrich Borstelmann
Midas Verlag AG, Dunantstrasse 3,
CH 8044 Zürich
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Midas Büro Berlin,
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E-Mail: berlin@midasverlag.com
(GPSR)
Französische Originalausgabe:
»Noir«
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Text: Hayley Edwards-Dujardin
Printed in China
Die deutsche Nationalbibliothek
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der Deutschen Nationalbibliografie;
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SCHWARZ IST DIE KÖNIGIN
DER FARBEN
SCHWARZ gehört zu den wichtigsten Farbwahrnehmungen
des Menschen – SCHWARZ bedeutet die Abwesenheit
von Licht und damit von Farbe. Es steht für Dunkelheit,
Tod und das Ende, aber auch für den Anfang. In vielen
Kulturen symbolisiert es Glück, Stärke und Reichtum.
Wie sieht Ihr SCHWARZ aus? Ja, Ihr SCHWARZ. Es gibt
schließlich nicht nur ein SCHWARZ! SCHWARZ kann
asketisch, melancholisch, erschreckend, elegant oder auch
morbide sein. Das SCHWARZ von Henri Matisse zum Beispiel
ist sogar alles auf einmal: »Schwarz ist eine Farbe an
sich, die alle anderen zusammenfasst und verzehrt.«
In dieser faszinierenden Sammlung lernen Sie 40 Werke
kennen, die zeigen, wie überraschend abwechslungsreich
die Farbe SCHWARZ ist. Die Kunsthistorikerin Hayley
Edwards-Dujardin stellt eine erstaunliche Auswahl an
Werken vor, in denen SCHWARZ in all seiner Pracht die
entscheidende Rolle spielt.
ISBN 978-3-03876-327-7
www.midas.ch