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Restauro 6/2025

Frauen in der Kunst

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MAGAZIN ZUR ERHALTUNG DES KULTURERBES

06/2025 FRAUEN IM BERUF


AZ_ET092025_Restauro_NanoRestore.indd 1 12.08.25 13:0

EDITORIAL

3

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Geschichte der Restaurierung und Kunstgeschichte ist auch eine Geschichte

starker Frauen – nur wurde sie lange nicht so erzählt. Frauen arbeiteten

leider lange im Schatten, leiten heute jedoch ganze Abteilungen.

So sind Frauen längst tragende Säulen in Denkmalpflege, Restaurierung

und musealer Praxis. In unserer sechsten Ausgabe der Restauro widmen

wir uns dem Thema „Frauen im Beruf“ – nicht als PR-Kampagne, sondern

als ernsthafte, längst überfällige Auseinandersetzung mit den Realitäten

weiblicher Berufskarrieren in unserem Fach.

Diese Ausgabe beschäftigen wir uns mit einer Berufsrealität, die auf den

ersten Blick selbstverständlich scheint – und bei näherem Hinsehen voller

Brüche ist. Warum arbeiten so viele Frauen in diesem Beruf – und warum

sind so wenige von ihnen in leitender Funktion sichtbar? Warum ist in Stellenausschreibungen

von „Belastbarkeit“ und „Führungskompetenz“ die

Rede, als seien diese Tugenden immer noch männlich konnotiert?

Die Restaurierungs- und Kunstwissenschaften gelten als hochqualifiziertes,

akademisch geprägtes Feld – und dennoch ist die soziale Realität oft

geprägt von Projektverträgen, Mehrfachbelastung und struktureller Unsicherheit.

Man könnte sagen: Der Pinsel ist fein, die Rahmenbedingungen

sind es nicht immer. Die Frage, wie strukturelle Ungleichheit in unserem

Feld wirkt, zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Heft. Sei es beim

Zugang zu Führungspositionen, in der Außendarstellung von Institutionen

oder bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Gleichzeitig zeigen die

porträtierten Frauen: Es geht voran – langsam, aber wirksam.

Wir werfen außerdem einen Blick auf die Anfänge: Wie sah der Berufseinstieg

für Restauratorinnen in den 1950er- bis 1970er-Jahren aus? Und was hat sich

seither verändert? Die Antworten sind ermutigend – und machen deutlich,

wie wertvoll biografisches Wissen für die kollektive Erinnerungskultur ist.

Diese Ausgabe ist Frauen gewidmet, aber nicht nur für sie gedacht. Sie

richtet sich an alle, die sich für Gerechtigkeit, Sichtbarkeit und Qualität in

der Restaurierung und Kunst einsetzen.

Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung zu dieser und all unseren Ausgaben

und wünsche viel Freude beim Lesen.

Herzlichst, Tobias Hager & Team

t.hager@georg-media.de

instagram: @restauro_zeitschrift

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4 INHALT

6

Zwischen Berufung und Alltag –

Frauen im Kunstbetrieb

10

„Verbündet euch!“

14

News

16

Fell, Latex, Lumpen

22

Quo vadis

Restaurierung?

S. 26

26

Eine Frau, ein Pinsel,

ein Schwert

32

„Lernen, miteinader

einzustehen“

38

News

40

Because you can‘t spell ‚museum‘

without ‚u‘ and ‚me‘

S. 16


6 FRAUEN IM BERUF

Zwischen Berufung, Herausforderung und Engagement: Frauen im Kunstbetrieb stehen

oft zwischen Idealismus und Realität, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Leidenschaft

und finanziellen Einschränkungen. Dieser Spannungsbogen prägt ihren Alltag in Restaurierung,

Museen und Kulturbetrieb – und fordert zugleich neue Rahmenbedingungen

für mehr Gleichstellung und Wertschätzung.

1

Zwischen Berufung und Alltag –

Frauen im Kunstbetrieb

TEXT: JULIA MARIA KORN


FRAUEN IM BERUF

„Viele bringen beeindruckende Qualifikationen mit, angefangen vom Hochschulabschluss

bis hin zur Promotion, und trotzdem spiegeln sich diese Qualifikationen nicht unbedingt

in angemessenen Gehältern oder in einer sicheren Arbeitsplatzsituation wider.“

7

1

Zwischen Kind und

Restaurierung: Frauen

jonglieren oft mit Projektfristen,

Ausstellungsumbauten

und privaten

Terminen – und müssen

dabei trotz langer

Arbeitstage immer

wieder ganz genau

rechnen.

„Ich arbeite eigentlich ganz gern in der Restaurierung“ – so

oder so ähnlich klingt es oft, wenn Restauratorinnen von ihrem

Beruf erzählen. Es ist ein Satz, der irgendwo zwischen echter

Begeisterung und einem leichten Achselzucken schwebt. Viele

fühlen sich diesem besonderen Arbeitsfeld, das sich irgendwo

zwischen Handwerk, Kunst und Wissenschaft bewegt, zutiefst

verbunden. Es geht um das Bewahren und Zugänglichmachen

von wertvollem Kulturgut, und das ist für viele weit mehr als

nur eine Erwerbstätigkeit. Dabei handelt es sich bei den Objekten,

mit denen im Kunst- und Kulturbetrieb gearbeitet wird,

nicht nur um finanziell wertvolle Gegenstände, sondern häufig

auch um Kulturgüter von großer gesellschaftlicher Bedeutung.

Diese doppelte Wertigkeit macht die Arbeit besonders verantwortungsvoll

und prägt das Selbstverständnis vieler Restauratorinnen.

Gleichzeitig lässt sich aber nicht leugnen, dass es ein

Bereich ist, in dem die Rahmenbedingungen nicht immer so

gestaltet sind, wie man es sich eigentlich wünschen würde.

Idealismus trifft auf Realität

Die Restaurierung ist inzwischen deutlich weiblich geprägt –

nach Angaben des Verbands der Restauratoren sind etwa drei

Viertel der Fachkräfte Frauen, bei den Berufseinsteigerinnen

ist der Anteil sogar noch höher. Viele bringen beeindruckende

Qualifikationen mit, angefangen vom Hochschulabschluss bis

hin zur Promotion, und trotzdem spiegeln sich diese Qualifikationen

nicht unbedingt in angemessenen Gehältern oder in einer

sicheren Arbeitsplatzsituation wider. Studien, wie etwa die

VDR-Mitgliederumfrage von 2017, zeigen, dass ein erheblicher

Teil der Befragten Schwierigkeiten hat, allein von der restauratorischen

Arbeit leben zu können. Für Selbstständige ist die

Situation besonders herausfordernd, da Honorare häufig nicht

nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben, sondern vielmehr

nach der allgemeinen Marktlage festgelegt werden, und diese

ist für Frauen nicht immer günstig. Das führt zu einer Realität,

in der viele länger arbeiten, als vertraglich eigentlich vereinbart

ist, und dennoch immer wieder ganz genau rechnen müssen.

Wer zusätzlich Familie oder andere Verpflichtungen hat, jongliert

nicht selten zwischen Projektfristen, Ausstellungsumbauten

und privaten Terminen.

Es ist dabei wichtig anzumerken, dass die schlechte Bezahlung

im Kulturbetrieb natürlich keineswegs nur Frauen betrifft.

Auch viele Männer, die in diesem Bereich tätig sind, sehen

sich mit vergleichbaren wirtschaftlichen Herausforderungen

konfrontiert. Allerdings sind es gerade die Bereiche, in denen

traditionell überwiegend Frauen arbeiten, die besonders von

niedrigen Honoraren und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen

geprägt sind. Hinzu kommen für viele Frauen zusätzliche

Ausfallzeiten, etwa wegen der Betreuung von Kindern oder

der Pflege von Angehörigen. All diese Faktoren zusammengenommen

stellen eine komplexe Realität dar, die keineswegs

als Vorwurf verstanden werden soll, sondern vielmehr als ein

Denkanstoß, um die Rahmenbedingungen im Kulturbetrieb

weiter zu verbessern.

Frauen in Museen – präsent, aber nicht

immer gleichgestellt

Auch im Museumsbereich begegnet man einer ähnlichen Mischung

aus Sichtbarkeit und doch nur teilweiser Gleichstellung.

Auf den ersten Blick wirken die Zahlen erfreulich: Das Institut

für Museumsforschung meldete 2023, dass Frauen inzwischen

einen großen Teil der Leitungspositionen besetzen. Doch wie

die Untersuchung von Prof. Dr. Andrea Hausmann und Antonia


14 NEWS

„Wissensdurst und Aufklärung.

Das Physikalische Kabinett der

Universität Würzburg“

von: Dr. Gloria Ehret

„Wissensdurst und Aufklärung“ waren zwei existentielle Triebfedern

vieler Herrscher und Landesfürsten. Dazu trugen auch

die Würzburger Fürstbischöfe 1749 mit der Gründung des

Physikalischen Kabinetts der Würzburger Universität bei. Denn

damals berief Carl Philipp von Greifenclau den Jesuiten Blasius

Henner zum Professor für Experimentalphysik, womit dessen

ausstrahlende Blütezeit begann. Der bedeutende Bestand des

Kabinetts wurde 1877 vom Bayerischen Nationalmuseum angekauft.

Das Highlight der Sammlung, das Tischplanetarium, das

George Adams um 1755 in London geschaffen hat, ist immer in

der Dauerausstellung zu bewundern. Die 49 Exponate, die nun

das Depot für die Studienausstellung vorübergehend verlassen

haben, wurden in den Werkstätten der Abteilung Konservierung-Restaurierung

unter Leitung von Konstanze Schwadorf-

Becker beziehungsweise Dr. Kristina Mösl in unterschiedlichem

Umfang bearbeitet. Nach konservatorischen Maßnahmen und

umfangreichen Restaurierungen führen die meist von namhaften

Instrumentenbauern geschaffenen wissenschaftlichen

Instrumente dem Ausstellungsbesucher nun die Bereiche Mechanik,

Thermodynamik, Pneumatik, Akustik, Hydraulik, Optik,

Gnomonik, Meteorologie, Magnetismus und Elektrizität dieser

fortschrittlichen Epoche anschaulich vor Augen.

Schon bei den Funktionsmodellen eines Kranes mit Tretrad

oder einer Ramme mit vertikaler Haspel aus Holz oder einer

Seilwinde aus Eisen und Messing muss man sich in die zu

vollziehende Mechanik einsehen. Vor dem kunsthandwerklich

prächtigen Pyrometer, das Louis-Charles Gallonde Mitte des

18. Jahrhunderts in Paris aus Messing, Holz und Glas gestaltet

hat, begreift man die ausgetüftelte Funktion erst nach mehrmaliger

Lektüre der Katalogbeschreibung. Was seinerzeit bescheiden

als „Luftpumpe“ benannt wurde, so der historische

Begriff einer Vakuumpumpe, die von Georg Friedrich Brander

aus Augsburg stammt. Über einem vierfüßigen eleganten Holzgestell

erhebt sich eine Glaskuppel, Rezipient genannt, unter

der man Gegenstände oder auch kleine Lebewesen im luftleeren

Raum beobachten konnte. Ebenfalls wohl aus Augsburg

stammt ein mit geschnitzten und gedrechselten Ornamenten

verzierter „Wegmesser“ oder „Hodometer“ – ein Rad mit Gabel

und Handgriff sowie einem Gehäuse mit Schrittzähler unter

Glasabdeckung. Wobei man mithilfe mehrerer Zifferblätter die

Umdrehungen des Rades zählen kann. Als Laie kommt man

aus dem Staunen nicht heraus: Das Modell eines menschlichen

Auges, unterschiedliche Mikroskope, ein Periskop, verschiedene

Zerrbilder von Anamorphosen, tragbare Sonnenuhren

in unterschiedlichstem Gewand, ein Hygrometer, zwei

Thermometer, ein Magnetstein, eine magnetische Uhr, zwei

Leidener Flaschen zur Speicherung elektrischer Ladung. Bei

einer eher einfachen erscheinenden Glasglocke, die an einem

Haken hängt und in deren Innerem zwei kleine Korkstückchen

an Fäden hängen, handelt es sich um ein Elektroskop; denn

der obere Abschluss der Glocke und der Haken sind aus einer

Kupferlegierung gefertigt. Berührt man mit einem geladenen

Gegenstad den Haken, so stoßen sich die in gleicher Weise geladenen

Korkkügelchen ab. Statt mit Kork experimentierte man

auch mit Pflanzenmark, später mit Goldblättern oder Strohhalmen

als einander abstoßende Elemente, wie im Katalog nachzulesen

ist.

Wie vielgestaltig beispielsweise tragbare Sonnenuhren im

18. Jahrhundert sowohl im Aussehen wie vom Material her beschaffen

waren, zeigen allein die sechs ganz unterschiedlichen

Exponate. Zu den Prachtstücken gehören die in einen kunstvollen

vergoldeten Rokoko-Rahmen integrierten Barometer-Thermometer,

die zusammen mit einer Wanduhr als stilistisches

Pendant ein Ensemble zauberhafter Rokoko-Wandpaneele

bilden. Es sind technische Glanzleistungen einer Epoche, die

wir oberflächlich meist nur mit den zierlich-verspielten Schöpfungen

des Rokokos verbinden. Eine unbedingt sehenswerte

ebenso lehrreiche wie verblüffende Schau.

AUSSTELLUNG

Bayerisches Nationalmuseum, München

bis 11. Januar 2026

Begleitkatalog 15 Euro


NEWS

15

1

1

In der Ausstellung zeigt

dieses Augenmodell anschaulich:

Wie bei einer

Lochkamera erscheint

das Bild zunächst auf

dem Kopf und spiegelverkehrt

– erst das

Gehirn dreht es

richtig herum.


18 FRAUEN IM BERUF

2

Leinenstoffe und Lumpen

nutzte Eva Hesse

in den 1960er-Jahren,

um fragile, provisorische

Formen zu schaffen. Sie

verwandelte alltägliche

Materialien in vielschichtige

skulpturale

Arbeiten, die Vergänglichkeit

und Prozesshaftigkeit

thematisieren.


FRAUEN IM BERUF

Künstlerinnen der Avantgarde begaben sich auf die Suche nach individuellen Ausdrucksformen

jenseits des vorherrschenden Kanons. Dabei experimentierten sie mit

neuen und ungewöhnlichen Materialien. So schuf Eva Hesse im New York der 1960er-

Jahre Skulpturen aus Latex und setzte damit einen Kontrapunkt zu Minimal Art, in

der Stahl, Aluminium, Glas, Stein und andere Stoffe dominierten. Die hochbetagte

Louise Bourgeois verarbeitete die Traumata ihrer Kindheit in Textilarbeiten, und Meret

Oppenheim machte Furore, indem sie eine Tasse mit Pelz auskleidete. Aber lassen sich

diese Materialien mit dem Attribut „weiblich“ versehen? Und wäre diese Kategorisierung

überhaupt im Sinne der Künstlerinnen?

19

„Man kann kaum an Eva Hesses Werk denken, ohne die Psychologie

außer Acht zu lassen“, betont die Kunsthistorikerin Lucy

Lippard. Tatsächlich ist die Biografie der in Hamburg geborenen

jüdischen Künstlerin von früh auf geprägt von Verlust und

dem Gefühl der Verlassenheit. Als Zweijährige wurden Hesse

und ihre Schwester von ihren Eltern mit einem Kindertransport

nach Holland geschickt. Die Eltern überlebten den Holocaust

und emigrierten 1939 mit den Kindern nach New York. Dort beging

die Mutter Suizid, als sie erfuhr, dass ihre Eltern in einem

Konzentrationslager ums Leben gekommen waren. Eva war damals

neun Jahre alt.

Künstlerisch stand Hesse im Schatten ihres Mannes, des Bildhauers

Tom Doyle. Im Jahr 1964 reiste das Paar zu einem Arbeitsaufenthalt

nach Deutschland. Der Abstand zu den USA

bewirkte, dass Hesse sich künstlerisch öffnete. Das erste Relief

– Ringaround Arosie – entstand: Es war ihrer hochschwangeren

Freundin Rosie Goldmann gewidmet. Bereits in dieser

Arbeit klingt jene Ironie und Ambivalenz an, die Hesses ganzes

Werk durchzieht.

Das Jahr 1966 sollte zu einem besonderen Schicksalsjahr für

Hesse werden. Zurück in New York verließ Doyle sie; dann

starb unerwartet der Vater. Wenn Hesse mit dem Leben und

der Kunst haderte, war es der Konzeptkünstler Sol LeWitt, der

die junge Frau aufbaute. Er ermunterte sie, sich eine „Fuck

You“-Haltung anzueignen: „Hör auf zu denken, Dich zu sorgen,

verwundert über Deine Schulter zu gucken, zu zweifeln, fürchten,

verletzen, auf einen einfachen Ausweg zu hoffen, zu kämpfen…

Dich selbst zu zermalmen, zermalmen, zermalmen.“ Sie

solle damit aufhören, fordert er: „Just DO!“

Eva Hesse: Latexmasse auf Gaze

Und sie tat es. Die Künstlerin experimentierte noch intensiver

als zuvor mit neuen Materialien, widmete sich hauptsächlich

der Skulptur, erforschte die verstärkende Wirkung serieller Formen.

Sie strich flüssige, transparente Latexmasse auf Gazestoff,

den sie nach der Aushärtung von der Decke hängen ließ.

Mit mehreren solcher Elemente strukturierte sie den Raum.

„Wenn ich mit einer Sache beginne, arbeite ich zunächst mit

abstrakten Qualitäten, also dem Material, der Form, die sie haben

soll, der Größe, der Position, die sie auf dem Boden oder

von der Decke hängend einnehmen soll“, beschrieb Hesse ihre

Herangehensweise. Sie glaube nicht an eine Kunst, die auf einer

Kompositionsidee basiert oder einer Form: „Im Grunde ist

es meine Idee, allem entgegenzuwirken, was ich je gelernt habe

oder was man mir beibrachte, um etwas anderes zu finden.“

„Die Kunst ist endlich“

Noch 1966 wurden ihre ersten freistehenden Skulpturen in der

Ausstellung „Eccentric Abstraction“ in New York gezeigt. Es

war der Beginn einer steilen und außergewöhnlichen Karriere.

In ihrem Werk stellte sie das Zerbrechliche, Leibliche und

Prozesshafte in den Mittelpunkt und distanzierte sich dadurch

vom in New York dominierenden Minimalismus, zu dessen Vertretern

etwa Donald Judd oder Carl Andre zählten.

Eva Hesse starb 1970 mit 34 Jahren an einem Gehirntumor. Obwohl

sie den nahenden Tod ahnte, setzte sie all ihre Energie in

die Kunst und schuf unglaubliche Gebilde aus vergänglichen

Materialien. „Darüber sollen sich die Museen Gedanken machen“,

lachte sie die Bedenken der Zeitgenossen weg. „Das Leben

ist endlich. Die Kunst ist endlich. Das ist egal.“

Louise Bourgeois: Zurück zu den textilen Wurzeln

Auch das Werk der 1911 in Frankreich geborenen US-amerikanischen

Künstlerin Louise Bourgeois ist stark von der Biografie

geprägt. Vor allem das Verhältnis zum gewaltsamen Vater, der

die Mutter jahrelang betrog, arbeitete sie in ihrer Kunst auf.

Ihre ersten Skulpturen seien aus Brot gewesen, berichtete sie

2005. Da ihr Vater die Tochter am Esstisch oft erniedrigt habe,

schuf sie kleine Figuren, die sie unter dem Tisch zerstörte: Sie

stellten den Vater dar.

Bourgeois‘ gesamtes Werk ist geprägt durch die Erinnerungen

und traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend.

Während Louise im Laufe ihrer späten Karriere – internationalen

Erfolg erzielte sie erst in den 1980er-Jahren – mit Bronze, Marmor,

Glas, Latex und anderen Materialien experimentierte, kehrte

sie mit 80 Jahren zu den kreativen Ursprüngen zurück. Noch

knapp zwanzig Jahre lang arbeitete sie mit Nadel und Faden.

Der Umgang mit Textilien war der Künstlerin aus dem elterlichen

Restauratoren-Handwerk vertraut. Ihre Mutter, zu der sie

ein inniges Verhältnis hatte, galt als international anerkannte

Spezialistin im Ausbessern alter Tapisserien. Bereits als Kind


26 FRAUEN IM BERUF

1

Artemisia Gentileschi:

Selbstporträt als Allegorie

der Malerei (La

Pittura), um 1638–1639.

Die Künstlerin stellt sich

selbst als personifizierte

Malerei dar – ein selbstbewusstes

Statement

künstlerischer Identität

in einem Rollenkontext,

der Frauen sonst

ausschloss.

1

Eine Frau, ein Pinsel, ein Schwert

TEXT: TABEA-ISABELL FLAMM


FRAUEN IM BERUF

„Eine Frau, ein Pinsel, ein Schwert“ – dieses krafvolle Leitmotiv könnte über dem Schaffen

von Artemisa Gentileschi stehen. Das Pariser Musée Jacquemart-André zeigte vom

19. März bis 3. August 2025 die Retrospektive „Artemisia: Héroïne de l’Art“. Der Titel ist

mehr als ein Zitat aus der Bildsprache der Künstlerin: Er markiert eine bewusste Setzung

– eine Würdigung ihres Wirkens als Pionierin weiblicher Autonomie und künstlerischer

Eigenständigkeit. Artemisia Gentileschi war Malerin, Unternehmerin, eine Frau, die sexualisierte

Gewalt überlebte, und eine der eindrucksvollsten Stimmen weiblicher Selbstbehauptung

in der Kunstgeschichte.

27

Gentileschis Werke verhandeln eindrucksvoll Themen wie

Macht, Verletzlichkeit und Widerstand – sowohl auf narrativer

als auch auf formaler Ebene. Im 17. Jahrhundert behauptete

sie sich in einem System, das Frauen systematisch ausschloss,

und wurde zur gefragten Künstlerin an den Höfen Europas.

Heute wird sie zunehmend als Symbol weiblicher Resilienz

und künstlerischer Souveränität betrachtet – nicht zuletzt, weil

ihre Gemälde eine Sprache sprechen, die bis in unsere Gegenwart

reicht. In Zeiten von #MeToo, Genderdiskursen und einer

Neuverhandlung der kunsthistorischen Kanonbildung steht Artemisia

Gentileschi für mehr als nur eine historische Ausnahmeerscheinung.

Sie steht für Empowerment – und für die entschlossene

Aneignung einer künstlerischen Perspektive, die

lange Zeit marginalisiert und erst spät wieder entdeckt wurde.

Artemisia Gentileschi wurde 1593 in Rom geboren – als Tochter

des Malers Orazio Gentileschi, einem geschätzten Vertreter

des römischen Caravaggismus. Die väterliche Werkstatt war ihr

Atelier, ihre Schule, ihre Bühne – und zugleich ein Raum der

Auseinandersetzung. In einer Zeit, in der Frauen der Zutritt zu

den Kunstakademien verwehrt blieb und ihre Bildung auf das

Nötigste beschränkt war, erlernte Artemisia das Handwerk

von Kindesbeinen an – zunächst in stiller Beobachtung, dann

mit wachsender Eigenständigkeit. Orazio förderte sie, ließ sie

zeichnen, malen, experimentieren. Ihre erste signierte Arbeit,

„Susanna und die Alten“, malte sie mit nur 17 Jahren – ein frühes

Zeugnis nicht nur technischer Brillanz, sondern auch eines

feinen Gespürs für Macht, eines scharfen Blickes für die Geschlechterverhältnisse

ihrer Zeit und nicht zuletzt ein Beweis

des existenziellen Druckes, dem Frauen in patriarchalen Strukturen

ausgesetzt waren.

dem Vorwand, ihr Unterricht zu geben. Es folgte ein aufsehenerregender

Prozess, der bis heute in Justizarchiven dokumentiert

ist: Artemisia musste sich rechtfertigen, wurde öffentlich befragt,

psychologisch seziert. Trotz alldem widerrief sie ihre Aussage

nicht.

Dieser Prozess machte sie verletzlich – und zugleich stärker. Er

stigmatisierte sie sozial, aber nicht künstlerisch. Im Gegenteil:

Aus der Ohnmacht wird eine Stimme

Bereits um 1609, also im Alter von etwa 15 oder 16 Jahren, soll

sie auf professionellem Niveau gearbeitet haben. Das heute in

Schloss Pommersfelden befindliche Gemälde wurde 1610 datiert

und von Artemisia signiert. Aufgrund der malerischen Reife

des Werks wurde die alleinige Urheberschaft in der kunsthistorischen

Forschung immer wieder hinterfragt – gerade, weil es

ungewöhnlich war, dass eine so junge Frau über ein derart ausgeprägtes

kompositorisches und technisches Können verfügte.

Doch je weiter sich ihr Talent entfaltete, desto deutlicher zeigte

sich: Artemisia war nicht gewillt, im Schatten ihres Vaters zu bleiben

– weder stilistisch noch als Figur im Hintergrund. Sie hatte

den Wunsch, ihre eigene Sprache zu finden, ihr eigenes Licht.

Der tiefste Einschnitt in ihrem Leben – und zugleich der Beginn

eines anderen öffentlichen Selbst – war das Jahr 1611. Der Maler

Agostino Tassi, ein Kollege ihres Vaters, vergewaltigte sie unter

2

Artemisia Gentileschi:

Selbstporträt als

Märtyrerin, um 1615. In

diesem Werk inszeniert

sich die Künstlerin mit

religiösem Symbolgehalt.

Der Ausdruck

von Leiden und Demut

verweist auf zentrale

Themen ihres Schaffens

– auch biografisch

motiviert.


INTERVIEW

„Die Werke von Frauen sind oft nicht nur geringer in der

Anzahl, sondern tatsächlich auch kleiner in der Größe.

Das hat mit Werkstatt- und Ausbildungsbedingungen sowie

mit Zugängen zu den Kunstakademien zu tun.“

35

JW: Sophie Taeuber-Arp und Hans Arp haben als gleichberechtigtes

Künstlerpaar gearbeitet – das berührt mich bis

heute. Es ist selten, so etwas zu sehen. Oft waren die Männer

deutlich sichtbarer und einflussreicher. Bei den beiden kann

man das aus heutiger Perspektive eigentlich nicht so sagen

– auch wenn es Phasen gab, etwa nach dem Krieg, in denen

Sophie Taeuber-Arps Werk weniger wahrgenommen wurde,

gerade weil es als „textil“ oder „kunsthandwerklich“ galt. Heute

ist das anders. Sie hatte eine große Retrospektive am Museum

of Modern Art, sie wird weltweit gezeigt – zuletzt auch in

Japan, wo wir Leihgaben hingeschickt haben. Sie ist weltweit

anerkannt für das, was sie ist, was sie tat, was sie entwickelt

hat und was sie an Ideen eingebracht hat. Und ich finde: Daran

kann man gar nicht genug arbeiten.

RESTAURO: Nichtsdestotrotz sind ja auch Werke von Künstlerinnen

heute in vielen Museen noch unterrepräsentiert. Was

glauben Sie, warum tun sich die Institutionen so schwer mit der

Gleichstellung?

JW: Mein großes Ziel mit der ersten Sammlungspräsentation

„Kosmos Arp“ war natürlich, die beiden – Sophie Taeuber-

Arp und Hans Arp – wirklich gleichzeitig, gleichwertig und

gleich „füllig“ zu zeigen. Das ist gar nicht so einfach, denn wir

haben 74 Werke von Sophie Taeuber-Arp und über 400 von

Hans Arp. Das liegt unter anderem daran, dass Sophie Taeuber-Arp

früh verstarb und ihr Werk dadurch schmaler ausfällt.

Das gilt übrigens für viele Künstlerinnen – es hängt auch mit

anderen Biografien zusammen. Eine weitere Schwierigkeit ist:

Die Werke von Frauen sind oft nicht nur geringer in der Anzahl,

sondern tatsächlich auch kleiner in der Größe. Das hat

mit Werkstatt- und Ausbildungsbedingungen sowie mit Zugängen

zu den Kunstakademien zu tun. Den hatten Frauen

in Deutschland erst ab 1918 – in manchen Ländern etwas

früher, in anderen noch viel später. Und wir wissen: Die Anerkennung

von Kunst, die von Frauen stammt, kam in unserem

Jahrhundert sehr spät – und wurde durch den Nationalsozialismus

zusätzlich unterbrochen. Auch nach dem Krieg hat es

lange gedauert, bis sie wieder Anerkennung fanden. Das lag

sicher an gesellschaftlichen und soziologischen Gründen. In

den Avantgardegruppen der 1910er- und 1920er-Jahre waren

noch viele Frauen aktiv, in allen Disziplinen.

Ich will die Museen damit nicht entschuldigen – ich glaube,

dass im Moment viel Aufarbeitung passiert. Es wird viel gefragt,

auch sehr interessiert: Was ist eigentlich mit dem Mittelalter?

Wissen wir wirklich, dass es da nur die Handvoll Künstlerinnen

gab, von denen wir wissen? Oder gab es vielleicht

mehr, und wir wissen es einfach nicht, weil die Quellenlage es

schwer macht, das zu rekonstruieren?

RESTAURO: Inwiefern beobachten Sie Veränderungen, vielleicht

auch bei sich am Haus?

JW: Wir hatten am Arp Museum im letzten Jahr die große

Ausstellung „Maestras“, in Zusammenarbeit mit dem Museo

Thyssen-Bornemisza. Da konnten wir Kunst von Frauen vom

Mittelalter bis in die Moderne zeigen – und man hat gesehen,

dass die Kunstgeschichte viel reicher ist, als wir denken. Es

gibt viel mehr Namen als die fünf, sechs, die man landläufig

kennt. Ich wette, wenn man heute auf die Straße geht, können

die meisten Menschen vielleicht fünf Künstlerinnen nennen

– oft dieselben: Käthe Kollwitz, Frida Kahlo, vielleicht inzwischen

Sophie Taeuber-Arp, Artemisia Gentileschi, Angelika

Kauffmann. Aber die Kunstgeschichte ist ja viel breiter.

Gleichzeitig wissen wir, dass gesellschaftliche Themen immer

auch in der Kunst verhandelt werden. Und Museen tun

sich oft schwer, rückwirkend ihre Lücken zu füllen. Das klassische

Argument ist dann: „Qualität geht vor.“ Aber da kann

man – aus meiner Sicht – getrost drei Fragezeichen setzen.

Qualität hängt sehr davon ab, wonach man sucht und was

man überhaupt als Qualität definiert. Das verändert sich, genauso

wie Kunstmarktpreise schwanken. Was heute gehypt

wird, kann morgen vergessen sein. Das zeigt sich über die

Geschichte immer wieder. Und manchmal ist das tragisch,

manchmal auch unverständlich. Es gab immer schon nur wenige

Namen, die es „geschafft“ haben – und diese Namen waren

nicht immer dieselben, wie sie zu ihrer Zeit als bedeutend

galten. Man sieht das an den Sezessionen, den Salons: Es gab

die etablierte Kunst – und daneben die Avantgarde, die erst

später erkannt wurde. Deshalb finde ich: Das Qualitätsargument

ist mit Vorsicht zu genießen.

RESTAURO: Sie haben angedeutet, dass Frauen in der Kunstgeschichte

oft mit kleineren Formaten gearbeitet haben. Wie

verändert sich das heute?


36 INTERVIEW

JW: Ein Beispiel aus der Gegenwart ist Katharina Grosse: Sie

arbeitet sehr groß, sehr selbstbewusst, mit Hauswänden,

riesigen Leinwänden – größer als viele Männer. Und sie ersetzt

den Pinsel durch die Spritzpistole. In Interviews sagt sie

selbst, dass das eine bewusste Antwort auf eine patriarchale

Gesellschaft ist – in der wir ja immer noch leben. Aber heute

sind die Machtverhältnisse andere. Auch die Freiheitsverhältnisse

sind andere. Wir können heute anders sprechen,

anders diskutieren, uns anders Gehör verschaffen. Aber man

darf nicht vergessen, wie lang dieser Weg war. Meine Doktormutter

war eine der ersten Frauen an den Universitäten. Davor

gab es nur wenige, vereinzelt ältere Kolleginnen. Ich bin

jetzt 50, also ungefähr in der Mitte meines Berufslebens – und

wenn ich zurückschaue, nehmen wir heute vieles als selbstverständlich

wahr, das über Jahrzehnte eben nicht selbstverständlich

war. Und ich fürchte, angesichts der aktuellen Weltlage

ist manches vielleicht doch nicht so selbstverständlich,

wie wir dachten.

RESTAURO: War die von Ihnen bereits erwähnte Ausstellung

„Maestras“ auch als Statement gedacht?

JW: Absolut. Ich bin überzeugt, dass das Museum ein Ort

ist, an dem sich vieles auf visueller Ebene verhandeln lässt

– oft direkter und zugänglicher als zum Beispiel in kunsthistorischen

Texten. Ein Museum ist ideal, um solche Perspektivenverschiebungen

sichtbar zu machen – es lädt dazu ein,

genau hinzuschauen, eigene Fragen zu stellen und den Mut

zu finden, das scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen.

Das ist auch eine Form von Empowerment. Und zwar nicht

nur für Frauen, sondern für alle, die sich nicht gesehen oder

gehört fühlen.

RESTAURO: Also ist für sie das Museum ganz klar auch ein

gesellschaftlicher Raum, in dem Fragen nach Diversität und

Gleichstellung diskutiert und aktiv mitgestaltet werden?

JW: Auf jeden Fall, denn je länger ich drüber nachdenke und

je länger ich auch in dem Beruf arbeite, umso klarer wird mir,

dass es von dieser Art der gesellschaftlichen Räume nicht

mehr so viele gibt. Das liegt natürlich auch an einer gewissen

Vereinzelung, wir verbringen viel mehr Zeit am Computer

oder am Smartphone – das schränkt den persönlichen Kontakt

schon ein. Auch die Beteiligung, zum Beispiel in Vereinen oder

auch in ehrenamtlichen Gruppen, nimmt ab – die Orte, an denen

man sich trifft, werden weniger. Ein Museum ist ein Ort, an

den zunächst einmal jeder kommen, wo man sich treffen und

an dem man auch mit fremden Menschen ins Gespräch kommen

kann. Vorausgesetzt, man hat keine Berührungsängste

der Kunst gegenüber und akzeptiert ihre offnen Systeme. Aber

wenn man sich auf dieses Abenteuer einlassen kann, dann

bietet das Museum eine ganze Reihe von ganz feinen und tiefgängigen,

aber auch leichten und niedrigschwelligen Angeboten.

Das ist etwas, das ich in dieser Form in der Gesellschaft

nur an wenig anderen Orten sehe.

RESTAURO: Wie war Ihre Beobachtung bei der „Maestras“-Ausstellung,

wer kam ins Museum – die ganze Bandbreite der Gesellschaft?

JW: Das Thema der „Maestras“ kommt ja nicht unbedingt aus

der Kunst, sondern aus der Gesellschaft. Unser Publikum

war schon ein anderes – zum Teil waren es aktivistische und

queere Gruppen. Auffällig war außerdem, dass unser Publikum

sehr viel durchmischter war als sonst. Aber es ist natürlich

auch kein Geheimnis, dass ins Museum in der Regel mehr

als 60 Prozent Frauen kommen – egal, was wir veranstalten.

Die Frauen- oder besser: die Besucherinnenquote ist im Museum

unheimlich hoch. Und dann fragt man sich natürlich

erst recht: Warum finden Frauenthemen eigentlich erst seit so

kurzer Zeit im Museum statt? Denn es war ja schon immer

so, und trotzdem ist es natürlich auch so, dass sich Frauen

nicht nur für Frauen interessieren – und Männer nicht nur für

Männer. Ich glaube, es wäre auch borniert, diese Trennung so

scharf zu verhandeln.

RESTAURO: Viele Besuchende im Museum sind weiblich. Auch

das Fach Kunstgeschichte ist mittlerweile sehr weiblich geprägt,

dennoch arbeiten dann viele Frauen nicht an den Schaltstellen.

Was tun Sie, um das an Ihrem Haus zu verhindern?

JW: Bei uns am Haus arbeiten inzwischen sehr viele Frauen,

und ich würde sagen, dass wir ein besonders familienfreundlicher

Ort sind. Ich glaube allerdings, dass das für beide Geschlechter

gelten sollte. Ich erwarte eigentlich in unserer Zeit,

dass auch Männer sich in diese Themen einbringen. Und ich

glaube, das hat tatsächlich etwas mit modernem Museumsmanagement

zu tun – dass wir solche Dinge im Blick haben.

Zum Beispiel auch durch Homeoffice-Regelungen. Wir haben

einen sehr großen Einzugsbereich bei unseren Mitarbeiter:innen.

Und da ist es natürlich wichtig, die Herausforderungen

bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu reduzieren.

RESTAURO: Und ganz persönlich zum Schluss: Was wünschen

Sie sich für die Zukunft der Kunstwelt – als Kuratorin, als Frau,

als Kunstliebhaberin?

JW: Ich wünsche mir, dass sich diese Entwicklung weiter fortsetzt.

Wir sehen das inzwischen an vielen Museen – aber

längst noch nicht an allen. Wir beobachten, dass sich Diskussionen

verschieben, dass sie sich öffnen. Aber wir sehen

zugleich auch, dass wir in ganz Europa und weltweit wieder

mit restriktiven, autoritären und sehr heteronormativen Gesellschaftsmodellen

zu kämpfen haben. Ich glaube, es ist

enorm wichtig, sich in solchen Zeiten eine innere Freiheit zu

„Ein Museum ist ideal, um Perspektivenverschiebungen

sichtbar zu machen – es lädt dazu ein, genau hinzuschauen,

eigene Fragen zu stellen und den Mut zu finden, das

scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen.“


54 FORSCHUNG

2

2

Archivoltenkrabbe mit

sichtbaren Struktur- und

Salzschäden sowie

desolaten Gipskrusten

– ein Beispiel für die

Herausforderungen der

Steinrestaurierung am

Halberstädter Dom.


FORSCHUNG

Stein für Stein, Fuge für Fuge, Geschichte für die Zukunft: Der Halberstädter Dom

erhält nach intensiver Steinrestaurierung sein ursprüngliches Gesicht zurück. Jede

reparierte Fassade, jeder behutsam konservierte Reliefstein erzählt von Jahrhunderten

Handwerkskunst und der unermüdlichen Arbeit der Restauratoren, die das mittelalterliche

Bauwerk für kommende Generationen bewahren.

55

In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde in Halberstadt

mit dem Bau des gotischen Domes St. Stephanus und St. Sixtus

begonnen. Im Jahre 1486 waren die Bauarbeiten an der im

Stil der französischen Gotik errichteten kreuzförmigen Basilika

beendet. 1491 erfolgte die Weihe der über 100 Meter langen,

dreischiffigen Basilika mit ihrer, den Domplatz prägenden

Doppelturmfassade. Dabei errichtete man bis 1401 den langgestreckten

Chor des Mittelschiffes. „… es folgten die Ostteile

der Seitenschiffe, der Bau des Querhauses schloss sich wohl

bis Ende der 1460er oder Anfang der 1470er Jahre an, und

schließlich konnte das 27 Meter hohe Mittelschiff vollendet

werden.“ 2 Für die Kathedrale wurden zwischen dem 13. und

16. Jahrhundert vor allem Kalksteine, aber auch Sandsteine

aus der näheren Umgebung von Halberstadt, mit Gips- und

Kalkmörteln verbaut. 3 Dieser Dom „(…) beeindruckt mit seiner

architektonischen Pracht und der Vielfalt der originalen Ausstattung.

Die Bilder der 290 farbigen Fenster, der Altargemälde

sowie die umfangreichen Figurengruppen vermitteln einen

lebhaften Eindruck von der Glaubenswelt und Kunstfertigkeit

des Mittelalters.“ … „Die Architektur des Domes bildet gemeinsam

mit dem Domschatz und seinen materiellen Zeugnissen

der mittelalterlichen Frömmigkeit ein wahrhaft einzigartiges

Ensemble, das Geschichte und Glauben vergangener Zeiten

noch heute lebendig werden lässt.“ 4

Skulpturen im Hohen Chor und deren Konservierung

Im einst heiligsten Bereich, dem Hohen Chor, stehen vor den

Pfeilern zwölf Apostel und die beiden Patrone, der Hl. Stephanus

und Hl. Sixtus. Die Skulpturen aus der Erbauungszeit des

Chores bestehen aus Kreidesandstein und Kalkstein. 5 Mit ihrer

erhaltenen mittelalterlicher Polychromie stellen diese eine

Ausnahme im Halberstädter Dom dar. Die wertvollen Farbfassungen

dieser Skulpturen waren geschädigt und damit stark

gefährdet. In einer Notsicherungsmaßnahme startete 2017 die

Kulturstiftung Sachsen-Anhalt mit finanzieller Unterstützung

der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ein interdisziplinäres

Forschungsvorhaben unter Leitung von Frau Dr. Grimm-Remus,

um die fragilen Farbauflagen zu erhalten. Dabei kamen innovative

Technologien zur Anwendung, die an den Chorskulpturen

modellhaft erprobt, weiterentwickelt und abschließend

ausgeführt wurden. Die Ergebnisse wurden 2022 in einem wissenschaftlichen

Kolloquium der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

unter dem Titel „Mit Störleim und Seide“ vorgestellt.

Restaurierungsmaßnahmen an Westportal

und Nordfassade

Von 1999 bis 2008 ist das Westportal bereits umfassend restauratorisch

bearbeitet worden. Luftverschmutzungen hatten dem

Portal, wie den gesamten Fassaden, stark zugesetzt. Die Schadstoffe

in den Schmutzablagerungen drangen, im Wasser gelöst,

,in die Natursteinoberfläche ein. In der Folge fanden verschiedene

chemische Reaktionen statt, die schädigend auf die Substanz

wirkten. Seit der letzten umfassenden Sanierung dieser Bereiche

sind bereits über 100 Jahre vergangen. Im Sommer 2023

wurde eine Musterachse zur Sanierung an einem Strebepfeiler

der Nordfassade erstellt. „Wenn es zum Erhalt historischer Bausubstanz

notwendig ist, nehmen die Steinrestauratoren Festigungen

der Oberflächen vor. Fehlstellen werden je nach Befundlage

mittels Antragungen oder Natursteinrekonstruktionen

ergänzt. … Bei den exemplarischen Arbeiten an der Musterachse

handelt es sich nicht nur um oberflächliche Schönheintsreparaturen.

Auch die statische Ertüchtigung der Bauteile – etwa

durch in das Mauerwerk integrierte Metallanker und individuell

angepasste und in den Fugen liegende Zugbänder – gehören

dazu. Steinabstürze gilt es künftig zu verhindern. Alle Arbeiten

werden intensiv begleitet und dokumentiert: Hierzu gehören

Schadens- und Zustandskartierungen im Vorfeld, begleitende

Kartierungen und naturwissenschaftliche Untersuchungen sowie

Vermessungsarbeiten und statische Untersuchungen.“ 6

Das mittelalterliche Nordportal

Das spitzbogige Kalksteinportal mit Archivoltenrahmung aus

der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts, das heute als Hauptzugang

von Dom und Domschatzmuseum dient, wird durch eine Säule

mit zwei rudimentären Engeln geteilt. Im darüber befindlichen

reliefgeschmückten Tympanonfeld ist im unteren Teil Maria auf

dem Totenbett, umstanden von sechs Aposteln, mit dem betenden

Stifter und einem Einhorn dargestellt. Über einer von

Engeln getragenen Baldachinarchitektur empfängt Christus im

oberen Spitzbogen, umgeben von musizierenden Engeln sowie

den Patriarchen Enoch und Elias, Marias personifizierte Seele.

Ein wenig tiefer stehen auf beiden Seiten jeweils drei Apostel.

In den beiden Bogenläufen zeigen sich Reste von Figuren, die

vermutlich Könige, Patriarchen und Propheten des Alten Testamentes

darstellen, mit Spruchbändern, von denen nur die

beiden untersten der rechten äußeren Seite noch vollständig

erhalten sind. Sie wurden vermutlich im Dreißigjährigen Krieg

teils ihrer Köpfe beraubt. Die Portalgewände werden von zwei

mit Kreuzblumen besetzten, schlanken Fialen flankiert. Aus der

Portalspitze wächst ein blumengeschmücktes Kreuz, als Baum

des Lebens zu verstehen, empor. Dessen Enden zeigen in Vierpäßen

die Evangelistensymbole, oben das für Johannes, links

für Markus, rechts für Lukas und unten das für Matthäus. Fialen

und Kreuz verlängern die Portalgestaltung in die, durch Rippen,

vertikal gegliederte aufgehende Wandfläche. Sicherlich waren

diese ursprünglich, entsprechend dem Südquerhaus, als großes

Fenster gedacht, aber bereits bauzeitlich zugesetzt. Zu

beiden Seiten des Portals befinden sich durch Profile bogenartig

gerahmte, stark beschädigte Reliefs, die die Martyrien der

Dompatrone Stephanus und Sixtus zeigen. 7

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