Baustelle Transformation
ISBN 978-3-98612-237-9
ISBN 978-3-98612-237-9
- Keine Tags gefunden...
Verwandeln Sie Ihre PDFs in ePaper und steigern Sie Ihre Umsätze!
Nutzen Sie SEO-optimierte ePaper, starke Backlinks und multimediale Inhalte, um Ihre Produkte professionell zu präsentieren und Ihre Reichweite signifikant zu maximieren.
Baustelle
Transformation
Zehn Strategien für
Stadt und Land
Herausgegeben für den
Bund Deutscher Architektinnen
und Architekten BDA
von Olaf Bahner und Laura Holzberg
(inhalt)
(kontext)
(strategien)
7
10
12
18
28
Baustelle Transformation
Susanne Wartzeck
Vorwort
Verena Hubertz
Architektur als Diplomatie
Olaf Bahner, Laura Holzberg
Die Kraft des Lokalen
Christopher Kaufmann
Gesundheitskioske,
Dorfregion Seltenrain
Fotodokumentation
In der Klimakrise –
individuelle Freiheit,
soziales und ökologisches
Gemeinwohl
Frank Adloff
55
67
79
91
103
(eins) Zusammenkraft
ermöglichen
Anna Holzinger, Nelli Fritzler
(zwei) In Gebrauch
transformieren
Sascha Bauer
(drei) Temporäre Räume –
zusammenkommen
und testen
Thomas Knüvener
(vier) Neustart Partizipation
Julian Petrin
(fünf) Da.Sein
Marieke Behne, Dominique
Peck, Marius Töpfer, Renée
Tribble, Lisa Marie Zander
34
38
42
Vom engagierten Land zu
transformativen Regionen
Andreas Willisch,
Elonore Harmel
Zusammenarbeit und
Gemeinwohl in der
Transformation gestalten
und sichern
Leona Lynen
Gemeinwohl bauen
Johanna M. Debik,
Robert Ambrée
BOB CAMPUS, Wuppertal
Fotodokumentation
115
127
139
151
(sechs) Eine produktive
Nachbarschaft
Janna Hohn, Josh Yates
(sieben) Gemeinwohl
braucht Freiraum
Julia Köpper, Philip Stapel
(acht) Schritt für
Schritt für Schritt
Marika Schmidt
(neun) Retroaktive
Resilienz
Thorsten Pofahl, Tim Panzer,
Matthias Hoffmann
175
196
200
(projekte und viten)
(anhang)
(impressum)
163
(zehn) Was brauche
ich wirklich?
Alexander Poetzsch,
Liam Floyd
(kontext kontext)
Baustelle
Transformation
Susanne Wartzeck
Ist uns als Gesellschaft das Zutrauen abhandengekommen?
Das Zutrauen in unsere kollektive
Fähigkeit, gesellschaftliche Herausforderungen
zu erkennen, zu analysieren — und mit produktiver
Vorstellungskraft zu lösen? Die tiefgreifende
Transformation, vor der wir stehen — ökologisch,
sozial und ökonomisch —, lastet erdenschwer auf
uns, sie überschattet den persönlichen wie den
politischen Diskurs. Argumente werden zu Glaubensfragen
erhoben, die eine Sachdebatte oft
verhindern. In dieser Atmosphäre geht die Offenheit
für andere Perspektiven verloren. Die
österreichische Autorin Eva Menasse vergleicht
unseren Zustand als Gesellschaft mit einer Windschutzscheibe
nach einem Crash — ein Netz aus
Rissen, jeder Bruch ein Zeichen der Fragmentierung,
jeder Splitter eine isolierte Insel, auf der
jemand hockt. Noch hält der gemeinschaftliche
Verbund — aber wie lange noch?
Kipppunkte
für die
Gesellschaft
Die Klimaforschung spricht von Kipppunkten,
denen wir uns annähern und deren Überschreiten
zu unumkehrbaren klimatischen Veränderungen
führt. Kipppunkte werden auch in unserer
Gesellschaft spürbar, in der sich ein immer
größeres Ungleichgewicht einstellt. Menschen in
besonders prekären Wohnvierteln leiden häufiger
unter sommerlicher Überhitzung, zudem
sind sie aufgrund der Wohnlage an befahrenen
Straßen oft von Lärm, Luftverschmutzung und
höheren Gesundheitsbelastungen betroffen.
Die Klimakrise manifestiert sich zunehmend in
einer sozialen Ungleichheit mit weitreichenden
Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Lange haben wir die Klimakrise aus der
sicheren Distanz eines privilegierten Beobachtungspostens
betrachtet — als Problem, das vor
allem andere Weltregionen destabilisiert. Doch
diese Perspektive ist nicht länger haltbar. Wir
müssen uns eingestehen, dass die mit dem Klimaschutz
verbundenen Verteilungskonflikte und
die hitzig — teilweise mit populistischen Argumenten
— geführten Debatten auch in Deutschland
zu einer Vertrauenskrise in die Demokratie
führen können.
Damit ergibt sich ein doppelter Handlungsdruck:
Die ökologische Krise verlangt entschlossenes
und schnelles Handeln, die gesellschaftliche
Fragmentierung das Schaffen von
Zusammenhalt und Gerechtigkeit. Diese beiden
Probleme lassen sich nicht getrennt voneinander
lösen. Es braucht ein integriertes Verständnis
der Transformation, das ökologische Verantwortung
mit sozialer Gerechtigkeit verknüpft.
Wie kommen wir aus dieser Sackgasse,
aus der Phase des Zweifelns heraus? Wie gelingt
der vielbeschworene Aufbruch, wie kann das
optimistisch stimmende Gefühl, etwas zum Positiven
verändern zu können, breiteren Raum
einnehmen? Um den Mut aufzubringen, eine Welt
im Wandel zu denken, sich individuell wie gemeinschaftlich
auf die Veränderung einzulassen
und sich produktiv an deren Gestaltung zu
beteiligen, ist ein Nachdenken darüber erforderlich,
wie die Transformation als Prozess zu gestalten
ist.
Gerade für die sozial-ökologische Transformation
ist die Frage entscheidend, wie in
den Veränderungsprozessen ein produktiver
7
Diskurs mit der Gemeinschaft entstehen kann,
sodass sich ein kollektives Erlebnis der Machbarkeit
von Veränderungen einstellt und uns eine
Imagination künftiger Ergebnisse gelingt. Zu
spüren, dass das eigene Handeln zählt, dass Mitsprache
gewünscht ist, ist ein Motor für Motivation,
Engagement und damit Akzeptanz.
Architektur ist der gebaute Raum, in dem
wir zusammenleben, und zugleich ein wesentlicher
Ansatzpunkt der Transformation. Wie wir
künftig leben werden, gestalten wir jetzt. Mit
welchen Ideen, mit welchen gesellschaftlichen
Perspektiven und ökologischen Verpflichtungen
der Umbau von Städten, von Wohnhäusern
und Bürogebäuden, von Quartieren und Dörfern
erfolgt, entscheidet darüber, ob Menschen ihr
Leben besser in Einklang mit der Umwelt bringen
können. Formate und Prozesse zu gestalten,
die Denkräume über die kulturellen Facetten
des Klimawandels eröffnen, die Perspektiven
und Stimmen über ihre Differenzen hinweg
zusammenbringen und in denen Menschen ihre
Erfahrungen, ihre Erwartungen und Sorgen einbringen,
wird zu einem Teil des Architekturschaffens.
Architektur ist nicht zuletzt deshalb
politisch: Sie macht Vorschläge für ein zukünftiges
Zusammenleben.
Die beiden Aspekte der Architektur —
Prozess und gebautes Ergebnis — verbinden Menschen
und machen sie handlungsfähig. So können
neue Anfänge gelingen, die aus einer gemein
schaftlichen Kraft heraus den Zweifeln und Bedenken
eine positiv besetzte Vorstellung von
Transformation entgegensetzen. In einem solchen
gemeinschaftlichen Raum ist eine Freiheit
und Kreativität zu erleben, die es im Privaten
nicht geben wird.
Und je inklusiver diese Vorschläge entstehen,
desto größer ist ihre Chance auf Akzeptanz
und Wirksamkeit. Architektur, die diesen
Raum bietet, wird zu einer Praxis des Zuhörens,
die es ermöglicht, unsere Gesellschaft nicht als
zerbrochene Windschutzscheibe zu sehen, sondern
als komplexes Gefüge mit verbindenden
Linien, über alle Unterschiede hinweg. Architektur
kann helfen, diese Linien sichtbar und begehbar
zu machen. Dafür braucht es die Bereitschaft
zum Dialog — offen, respektvoll und
gemeinschaftsbildend. So kann Planung zu einem
Prozess der Verständigung werden — und aus
der Transformation eine gemeinsame Aufgabe,
die nicht spaltet, sondern verbindet.
Dass der Gebäudesektor neben dem Verkehr
weiterhin einer der großen CO₂-Treiber
ist, kommt nicht von ungefähr. Gerade hier zeigt
sich, wie schwer sich Verhalten ändern lässt,
wenn es tief mit Routinen, finanziellen Zwängen
oder fehlenden Alternativen verknüpft ist. Diese
Lebensrealitäten sind ernst zu nehmen — nicht,
um notwendige Veränderungen aufzuschieben,
sondern um Prozesse und Konzepte so zu
gestalten, dass sie kollektiv machbar werden.
Zivilisierung
unserer
Ansprüche
Ein Weg dahin ist eine Architektur, die wirksam
ist in der Unterstützung vielschichtiger Lernund
Erkenntnisprozesse; eine Architektur, die
den Anspruch an die räumliche Gestaltung sozialer
Erwartungen und ökologischer Erfordernisse
erfüllt; und eine Architektur, die das Ergebnis
offener, integrativer Prozesse ist und so
die Akzeptanz für Veränderungen unterstützt.
Entstehen können dabei Bauten, die Inhalte
stärker gewichten als Bilder und Selbstdarstellungen,
die zeigen, wie mit Programm und Form
die Zivilisierung unserer Ansprüche gelingen
kann. Entwerfen schöpft nicht länger aus einer
opulenten und schier unbegrenzten Fülle an
Neuem, sondern das Vorhandene, vom Gebäude
bis zum Material, wird zum Ausgangspunkt
für Programm und Form jeglicher baulichen
Intervention.
Eine Architektur, die das Beste aus dem
macht, was da ist, muss ebenso von Schönheit
geprägt sein. Gestaltungsqualität ist der Faktor,
der zeigt, dass Reduktion und damit Bescheidenheit
nicht Ausdruck eines Mangels sind. Also
eine gut gestaltete und funktionale Architektur,
die den Menschen ein Zuhause gibt — ästhetisch,
sozial und ökologisch.
Der Weg zu einer solchen Architektur ist
angesichts der alltäglichen Zwänge keineswegs
leicht: Zwänge aus Vorschriften, Finanzierungsmodellen,
engen Zeitplänen und zeitraubenden
Verfahren und viel zu oft einer angestrebten
individuellen Rentabilität, die ökologische Kosten
vergemeinschaftlicht. Am Ende steht dann
der kleinste gemeinsame Nenner, der nur ein
demotivierender Kompromiss sein kann. Doch
als Gesellschaft können und sollten wir uns
nicht mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner
zufriedengeben, sondern sollten den Rahmen
des Machbaren erweitern. Dafür sind Vorstellungskraft
und Mut gefragt, um Veränderungen
zu denken, auszuprobieren und zuzulassen.
Mit diesem Selbstverständnis fordert der
BDA im Klimamanifest »Das Haus der Erde«
die Vorstellungskraft und den Mut zu Verän de
(kontext) 8
rungen ein, von unserem Berufsstand wie auch
von allen am Bauen Beteiligten. Das kreative
Weiternutzen des Bestehenden, ein ressourcensparendes
Bauen mit nachwachsenden und
wiederverwendeten Materialien, der sparsame
Umgang mit Flächen — das sind zentrale Aspekte
des Klimamanifests. Ein Kanon, der nicht
abschließend ist, sondern sich als aktivierender
Impuls für Veränderungen und neues Denken
versteht. Daneben betont »Das Haus der Erde«
die Relevanz von Architektur, um gesellschaftliche
Veränderungen anzustoßen. Mit Bildern,
Erzählungen, Vorstellungen und Visionen soll
das abstrakte Ziel des Klima- und Ressourcenschutzes
emotional erfahrbar gestaltet werden
und Menschen dazu motivieren, sich für dieses
gesellschaftliche Ziel zu engagieren.
An Relevanz gewinnt, das Diskursgelände
für Veränderungen vorzubereiten sowie Prozesse
anzustoßen, die sich dem Aufbruch und
einer optimistischen Perspektive widmen und in
denen nicht nur Fachleute gehört werden, sondern
auch Bürgerinnen und Bürger mit ihrem
Wissen und ihren Erwartungen. Architektinnen
und Architekten sind künftig neben der Gestaltung
des Raums viel stärker für die Gestaltung
der Prozesse gefordert. Das ist kein Rückzug
aus der Architektur, sondern eine Ausdifferenzierung.
Diese partizipative Phase, oft als technischer
oder administrativer Schritt unterschätzt,
birgt enormes Potenzial für gesellschaftliche
Verständigung. Sie ist der Moment, in dem noch
nichts entschieden, aber vieles möglich ist — wenn
man den Mut aufbringt, den Raum zu öffnen.
In dieser Phase lassen sich soziale Erwartungen,
ökologische Erfordernisse und kulturelle Besonderheiten
aufnehmen und miteinander in Beziehung
setzen. Sie kann ein Forum sein für
geteilte Erkenntnis, für Aushandlung und für
gemeinsames Lernen. Und die partizipative
Phase wird so zur Grundlage einer Architektur,
die mit fachlicher Expertise und Gestaltungswillen
in sozialer und ökologischer Verantwortung
den gebauten Raum schafft, der den
Menschen in Zeiten der Transformation Beständigkeit
und Zugehörigkeit vermittelt.
Baustelle Transformation. Zehn Stra tegien
für Stadt und Land ist ein Plädoyer für den
produktiven Diskurs mit der Gemeinschaft,
um zusammen die Transformation als Prozess
anzustoßen, um die Zivilgesellschaft zur Initiierung
von Veränderungen zu ermutigen und
zu befähigen und mit einer kollektiven Vorstellungskraft
Ideen und Konzepte für Künftiges
zu imaginieren. Mit dieser Publikation und der
begleitenden Ausstellung setzt der BDA mit dem
Bundesbauministerium eine Reihe fort, die die
gemeinschaftsbildende Funktion von Architektur
mit ihrem Potenzial für soziale und öko logische
Veränderungen thematisiert. Nach Neue
Standards. Zehn Thesen zum Wohnen und Sorge
um den Bestand. Zehn Strategien für die Architektur
widmet sich der vorliegende Band den Prozessen,
die nachhaltige und gemeinwohlorientierte
Architektur entstehen lassen. Doch eine
gelingende Transformation benötigt mehr als
die Kreativität, den Idealismus und den Wagemut
der beteiligten Akteurinnen und Akteure.
Es bedarf einer gesellschaftlichen Debatte, die
durch eine flankierende Gesetzgebung und eine
verantwortungsvolle Politik unterstützt wird.
Susanne Wartzeck ist Architektin BDA und
Präsidentin des Bundes Deutscher Architektinnen
und Architekten BDA. Nach einer Tischlerlehre
und einem Innenarchitektur- und Möbeldesignstudium
an der AdBK in Nürnberg gründete sie zusammen
mit Jörg Sturm das Büro Sturm und Wartzeck in
Dipperz. Es folgte ein Architekturstudium an der
Gesamthochschule Kassel. Seit 2019 ist sie Präsidentin
des BDA.
9
Die
Kraft
des
Lokalen
Gesundheitskioske,
Dorfregion Seltenrain
(Gesundheitskiosk, Kirchenheiligen)
18
(Gesundheitskiosk, Blankenburg)
20
Christopher
Kaufmann
Die Dörfer hier ringsum sind meine Heimat, ich
bin in Sundhausen groß geworden. Die Stiftung
Landleben wurde 2011 gegründet, als ein Gemeinschaftsprojekt
der Kommunen Kirchheilingen,
Tottleben, Sundhausen und Blankenburg, um
herauszufinden, was aus den Dörfern in Zukunft
werden soll. Nach der Wende war die Arbeitslosigkeit
enorm hoch, und die Landwirtschaft
hatte Schwierigkeiten zu überleben. Für soziale
Belange war kaum noch etwas übrig. Auf diese
extrem schwierigen Umstände sollte unsere Stiftung
Landleben eine Antwort sein.
Die Gesundheitskioske sind dabei ein
wichtiger Baustein. Zusammen mit dem Landengel
e. V. und der Gesundes Landleben GmbH
wollen wir damit die Versorgungssicherheit
gewährleisten und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt
in unseren Dörfern fördern. Bisher
wurden vier Kioske in der Region realisiert,
die ihren Service seit dem Sommer 2023 anbieten.
Uns treibt dabei ein ganzheitlicher Ansatz:
Im Mittelpunkt steht der Mensch, der aktiv in
seine Behandlung einbezogen wird. In den Gesundheitskiosken
können die Leute bei ausgebildeten
Krankenpflegerinnen und -pflegern um
Rat fragen, nicht nur medizinisch, sondern in
allen sozialen Belangen. Es gibt feste Sprechstunden,
damit jeder weiß: Da hört mir jemand
zu. In gewisser Weise ist das eine Wiederkehr
der Gemeindeschwestern, die es bis 1990 gab —
ein Service, den ich im ländlichen Raum für unersetzbar
halte und der sich mit Sicherheit wieder
durchsetzen wird. Wir fangen in Thüringen
damit einfach schon mal an.
Dafür haben wir ein Netzwerk im Medizin-
und Sozialbereich aufgebaut mit Ärzten,
Therapeutinnen, Apothekern sowie mit Vereinen,
Schulen, Unternehmen, Kommunen und Privatpersonen,
die alle in der Region tätig sind.
Weiter hin werden wir gemeinsam mit den lokalen
Akteurinnen und Akteuren ein umfassendes,
digital unterstütztes Versorgungsangebot für
ländliche, strukturschwache Regionen entwickeln,
um die wohnortnahe gesundheitliche Versorgung
nachhaltig sicherzustellen. Hier sollen telemedizinische
Verfahren etabliert werden, die
neben Video-Sprechstunden auch erweiterte Prozesse
zur Erfassung der Vitalparameter und
weitere diagnostische Tools ermöglichen. Damit
soll der Zugang zur medizinischen Versorgung
durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien
vereinfacht werden.
Vertraute Orte
Um die Leute zu erreichen, muss man
ihnen wiedererkennbare Orte bieten. Das schafft
Vertrauen, was mit einer mobilen Beratung, also
mit einem Bus, nicht so einfach ist. Die Bushaltestelle
ist in den Dörfern ein vertrauter Ort.
Diese Idee haben wir aufgegriffen und mit den
Gesundheitskiosken ein Angebot geschaffen, das
für alle offen ist, von allen Generationen genutzt
wird. Der Bus hält hier weiterhin, der Treffpunkt
erhält durch unser Beratungsangebot
eine zusätzliche Funktion. Man kann sich dorthin
zurückziehen, zudem gibt es stabilen Zugang
zum Internet.
Das alles führt zu einem gewissen Bauaufwand.
Ein Beratungsraum, ein kleines Wartezimmer,
ein Rückzugsraum für das Personal,
auch ein WC, alles mit Solarstrom betrieben. Die
Gebäude müssen kostenmäßig überschaubar
bleiben. Aber keinesfalls sollen sie bloß eine
transportable Hütte sein, wir wollen Bauten auf
einem ordentlichen Fundament. Und für jeden
Kiosk sponsort der Energieversorger eine Ladesäule
für E-Bikes und Elektroautos.
Im Auftrag der IBA Thüringen erarbeitete
PASEL-K Architects ein Design-Manual, das
die maximal 25 Quadratmeter großen Kioske als
architektonische Familie begreift, die trotz unterschiedlicher
Standorte ein zusammenhängendes
Ganzes bilden. Sie dienen als Beratungsraum
und als Wartebereich für den Bus. Die Bauweise
wurde je nach Standort und Gemeinde individuell
angepasst. 4
Die vier bislang realisierten Gesundheitskioske
werden in den beteiligten Gemeinden als
zentrale Anlaufstellen für Begegnung, Beratung
und Unterstützung geschätzt. Sie verdeutlichen
das Potenzial lokaler Initiativen, neue Strukturen
der Daseinsvorsorge aufzubauen und damit
einen nachhaltigen Beitrag zur Stärkung und
Sicherung der Dorfgemeinschaften zu leisten.
Christopher Kaufmann lernte zunächst Krankenpflege,
arbeitete dann einige Zeit in der Hauspflege
und holte parallel sein Abitur nach. Nach dem
Studium der Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt
Pflege-Management an der Hochschule Fulda ist
er seit 2016 für die Stiftung Landleben tätig, zudem
Geschäftsführer von Gesundes Landleben GmbH
und Vorsitzender des Landengel e. V.
Träger Stiftung Landleben, Landengel e. V.
Partner Gemeinden Sundhausen, Blankenburg,
Bruchstedt, Kirchheilingen, Tottleben, Urleben
sowie Partner des Landengel e. V.
Architektur PASEL-K Architects, Berlin
Projektleiterin für die IBA Thüringen
Kerstin Faber
(Gesundheitskiosk, Urleben)
22
23
(eins)
(zwei)
(drei)
(vier)
(fünf)
(sechs)
(sieben sieben)
(acht)
(neun)
(zehn)
(strategien)
Zusammen-
kraft
ermöglichen
(eins eins)
Anna Holzinger,
Nelli Fritzler
Rurbane Realitäten
Berlin
Wie lassen sich mögliche Zukünfte
vermitteln? Die Antwort ist simpel: indem
sie erlebt werden. Dabei gilt es, gebaute
Räume als Erfahrungsräume zu begreifen,
die von wesentlicher Bedeutung für die Vermittlung
von Transformationspotenzialen
sind — ob durch temporäre, fantastische
oder interak tive Erlebnisse. Sozial-ökologisch
transformieren können wir unsere Art
und Weise, wie wir leben, wirtschaften und
bauen nur, wenn Veränderungsprozesse gemeinsam
verhandelt und gestaltet werden.
Eine solche Zusammenkraft zu ermöglichen
bedeutet, die Lebensrealitäten der Menschen
und ihre Herausforderungen im Alltag
ernst zu nehmen und gemeinsam daran zu
arbeiten, Problematiken in Potenziale zu
übersetzen. Dafür liegt es an uns als Raumexpertinnen
und -experten, Planende und
Gestaltende, Formate zu entwickeln, die
komplexe Themen greifbar werden lassen,
und daraus ganzheitliche Veränderungsprozesse
für rurale und urbane Räume abzuleiten.
(eins)
Zusammenkraft ermöglichen
56
57
Sozial-ökologisch
transformieren – aber wie?
Zukunft ist kollektiv. Räume sind nicht nur das Resultat
der gebauten Umwelt, sondern werden auch durch menschliches
Handeln geprägt. Das Miteinander muss daher nicht nur gesellschaftlich,
sondern auch planerisch im Mittelpunkt stehen, wenn
es darum geht, nachhaltige Räume und Raumpraktiken zu gestalten.
Eine sozial-ökologische Transformation kann nur gelingen,
wenn wir Veränderungsprozesse gemeinsam verhandeln
und gestalten. Dazu braucht es ein rurbanes Raumverständnis, das
Stadt und Land gleichwertig, ganzheitlich und transdisziplinär
in den Blick nimmt. Denn die komplexen Herausforderungen wie
Klimawandel, Ressourcenverbrauch oder soziale Ungleichheiten
machen nicht an administrativen oder geografischen Grenzen halt.
Ein Zusammendenken von urbanen und ländlichen Räumen
eröffnet die Möglichkeit, Synergien zu nutzen, Abhängigkeiten
sichtbar zu machen und gemeinsam resiliente Lebensräume
zu gestalten.
Lebensrealitäten ernst nehmen
Während der gesellschaftliche Transformationsdruck
wächst, nimmt die Vielschichtigkeit und Komplexität der Herausforderungen
scheinbar stetig zu. Das erschwert es, über
Chancen und Probleme, über deren Umfang und Ursprung ins
Gespräch zu kommen. Es braucht deshalb neue Werkzeuge
und Methoden zur Transformation von Räumen, die es ermöglichen,
komplexe Themen abbildbar und somit wieder verhandelbar
zu machen. Das kann mithilfe von Denkbildern, Spielformen
oder Modellen gelingen, die den Abstraktionsgrad der Transformation
reduzieren und in Bezug zu individuellen Lebensrealitäten
bringen. Wir müssen diese Lebensrealitäten ernst nehmen
und insbesondere bei Räumen, die wie leer stehende Gebäude
gesellschaftliche Probleme repräsentieren, gemeinsam an optimistischen
Umdeutungen und Perspektiven arbeiten.
Welche Rolle haben
Planende dabei?
Es ist Aufgabe der Planungsdisziplinen, die Grundlage für
eine lebendige, aktivierende und offene Vermittlungskultur zu
schaffen. Es gilt, gebaute Räume als Erfahrungsräume zu begreifen,
die von wesentlicher Relevanz für die Vermittlung von
Potenzialen im Bestand sind. Raum ist ein bedeutendes Vermittlungsinstrument,
das planerische Möglichkeiten und sinnliche
Erfahrungen vereint. Es geht dabei nicht darum, populäre Versprechungen
zu machen, sondern um das Angebot zum Mitwirken
an einer neuen Erzählung, die Potenziale statt Probleme in den
Mittelpunkt stellt. Solche Raumpotenziale lassen sich jedoch nur
dann aktivieren, wenn sie für die Menschen vor Ort erfahrbar
und verständlich werden. Das gemeinsame Erleben alternativer
Zukunftsperspektiven und das Schaffen kraftvoller Raumerfahrungen,
artikuliert in gemeinsamen Sprachbildern, sind zentrale
Bestandteile einer zukunftsweisenden Praxis für die Transformation
urbaner und ländlicher Strukturen. Was man erlebt hat
— sei es noch so fantastisch —, wird plötzlich denkbar.
Resonanz erzeugen
Das Gelingen der gesellschaftlichen Transformationsaufgaben
hängt maßgeblich von der Bereitschaft jeder und jedes
Einzelnen ab, sich daran zu beteiligen. Wir brauchen Zukunftserzählungen,
die uns mit Mut und Offenheit ins gemeinsame
Handeln bringen. Wir brauchen geteilte Raumerlebnisse, die zum
Initialimpuls einer von vielen Menschen getragenen Veränderung
werden. Getragen von einer aktiven Zivilgesellschaft, einer
engagierten Lokalpolitik, einem lebendigen Ehrenamtsnetzwerk
oder einer visionären Nachbarschaft. Jede noch so gute Idee
braucht einen Resonanzraum, um wirksam zu werden. Das Resonanzpotenzial
für die einzelnen Mitwirkenden wird dann besonders
groß, wenn wir in adaptiven Prozessen statt in starren
Lösungen agieren und so Teilhabe und Selbstwirksamkeit
fördern. Kurzum: Zusammenkraft ermöglichen!
(eins)
Zusammenkraft ermöglichen
58
Vertiefung
Zusammenkraft erleben
und praktizieren
Lasst uns eine räumliche Praxis prägen, die gesellschaftliche
Veränderung gestaltbar und verhandelbar macht! Als Planerinnen
und Planer ist es unsere Aufgabe, Transformation zu einer gemeinsamen
Handlung werden zu lassen, an der viele mitwirken
können. Das bedeutet auch, dass wir lernen müssen, die eigenen
Methoden und Prozesse um Tätigkeiten zu erweitern, die den
aktuellen Herausforderungen gerecht werden. In unseren Projekten
erproben und entwickeln wir Methoden für individuelle
Situationen, denen wir zwischen Stadt und Land begegnen. Für
sich betrachtet ist der Zusammenhang zwischen dem einzelnen
Werkzeug und den großen gesellschaftlichen Fragen nicht immer
offenkundig, jedoch werden sie in ihrem Zusammenwirken Teil
einer sich entwickelnden Planungs- und Raumpraxis, die das Gemeinsame
in den Mittelpunkt stellt. Der Illustrator Chester
Holme hat die Polyphonie unserer Methoden grafisch übersetzt.
59
(eins)
Zusammenkraft ermöglichen
60
61
Phase Null für das
Stadtbad Luckenwalde
Das Stadtbad in Luckenwalde wurde 1928 vom Architekten
Hans Hertlein entworfen. Obwohl es über Jahrzehnte hinweg ein
wichtiger Teil des sozialen Miteinanders war und fast alle Bewohnenden
Luckenwaldes dort schwimmen gelernt haben, steht
es seit 1990 leer. Künftig soll hier ein Ort für Bildung, Kultur und
Begegnung entstehen. Aber wie? Insbesondere in ländlichen Regionen
leben solche Räume vom Engagement und der Beteiligung
der Menschen vor Ort. Wie gelingt es, das Stadtbad gemeinschaftlich
zu reaktivieren? Und wie kann ein Gebäude, das nicht nur
positiv konnotiert ist, wieder Teil des Alltags der Stadtgesellschaft
werden?
Anrufbeantworter, Rikscha, Postkarten Um die Bedeutung des
Stadtbads für die Menschen in Luckenwalde aus unterschiedlichen
Sichtweisen zu erfahren, wählten wir verschiedene Formate zur
Ansprache. Eine goldene Rikscha auf dem Marktplatz erzeugte
bewusst Irritationen im Alltag und regte so Gespräche an, auch
über Eindrücke, die die Menschen mit dem Stadtbad verbinden.
Zusätzlich sammelten wir Erinnerungen und Erwartungen mit
einer Tombola. Dafür konnten Anekdoten zum Stadtbad entweder
auf einem Anrufbeantworter hinterlassen oder auf Postkarten
erzählt werden, die zuvor in Hausbriefkästen, an Schulklassen und
in der Bibliothek verteilt worden waren. Auf diesem Weg erreichten
uns zahlreiche Stimmen, die vermittelten, was das Stadtbad
den Menschen bedeutet — ein Wissen, das erst durch den direkten
Kontakt vor Ort zugänglich wurde. Deshalb ist das Zuhören
für die Planenden wichtig, um sich auf die Lebensrealitäten der
Menschen einzulassen und das lokale Wissen als wertvolle Ressource
zur Konzeption transformativer Projekte zu nutzen. Aber
wie gelingt eine glaubhafte Weiterentwicklung des Stadtbads,
die an dieses Wissen anschließt und gleichzeitig Raum für Neues
lässt?
Die Nebelmaschine Die gesammelten Anekdoten, Eindrücke und
Erinnerungen wurden mit dem Dramaturgen Paul Marwitz
für die Konzeption eines gemeinsamen Erfahrungsraums aufgearbeitet.
Dafür öffnete das Stadtbad nach 30 Jahren erstmals
wieder seine Türen, mit einem überwältigenden Zuspruch der
Öffentlichkeit. Um der Geschichte des Ortes nachspüren zu
können, lag der Geruch von Chlor in der Luft und Musikstücke
waren zu hören, die früher zu Wettbewerben gespielt wurden.
Die Emporen des Stadtbads füllten sich mit Besucherinnen und
Besuchern, und gemeinsam lauschten wir den Geschichten der
(eins)
Zusammenkraft ermöglichen
62
63
Impressum
Baustelle Transformation.
Zehn Strategien für Stadt und Land.
Herausgegeben für den Bund Deutscher
Architektinnen und Architekten BDA
von Olaf Bahner und Laura Holzberg
Fachbeirat Annemarie Bosch (Bosch
Schmidt freie Architekten BDA
und Stadtplaner, Er langen), Prof. Katja
Knaus (Yonder — Architektur und
Design, Stuttgart), Susanne Wartzeck
(Sturm und Wartzeck Architekten BDA
/ Innenarchitekten, Dipperz), Falk
Zeitler (zett 2 Zeitler Architekten BDA,
Halle)
Dank für inhaltliche Anregungen
und Gespräche Anne Keßler und
Stephan Mayer (Bundesministerium für
Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen),
Christian Düllberg, Dr. Alexander
Fichte und Christoph Vennemann
(Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und
Raumforschung, Bonn), Prof. Dr. Bernd
Sommer (Lehrstuhl für Umweltsoziologie,
TU Dortmund), Leona Lynen
(stadtstattstrand, Berlin) sowie Tarek
Megahed, Alesa Mustar, Alissia Hoffmann,
Daniel Quast, Dr. Thomas Welter
und mit einem besonderen Dank an
Kristina Eschler (alle BDA-Bundesgeschäftsstelle)
und Prof. Matthias Böttger
(Institutsleiter Experimental Design
and Media Cultures, Fachhochschule
Nordwestschweiz FHNW).
Förderung Publikation und Ausstellung
»Baustelle Transformation. Zehn Strategien
für Stadt und Land« sind Teil des
Forschungsprogramms »Maßnahmen
auf dem Gebiet der Baukultur« des
BMWSB/BBSR und werden durch das
Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung
und Bauwesen gefördert.
Die Publikation begleitet die
gleichnamige Wanderausstellung.
Ausstellungskonzeption
BDA/DAZ zusammen mit
lfm2 — laufende quadratmeter, Leipzig
Ausstellungsgestaltung
lfm2 — laufende quadratmeter, Leipzig
zusammen mit Bureau Est, Leipzig (Grafik)
© 2025 by ȷovis Verlag
Ein Verlag der Walter de Gruyter GmbH,
Berlin/Boston
Das Copyright für die Texte liegt bei den
Autorinnen und Autoren. Das Copyright für
die Abbildungen liegt bei den Fotografinnen
und Fotografen / Inhaberinnen und Inhabern
der Bildrechte. Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat und Korrektorat
Sandra Leitte , Valley City, USA
Gestaltung und Satz
Lisa Petersen, Bureau Est , Leipzig
Lithografie
Robert Strack, Europrint Medien, Berlin
Druck und Bindung
Graspo , Zlín, Tschechien
Projektmanagement Verlag
Theresa Hartherz, Charlotte Blumenthal,
ȷovis, Berlin
Produktion Verlag
Susanne Rösler, ȷovis, Berlin
Bei Fragen zur allgemeinen
Produkt sicherheit kontaktieren Sie bitte
productsafety@degruyterbrill.com.
Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek
verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ȷovis Verlag
Genthiner Straße 13
10785 Berlin
www.jovis.de
ȷovis-Bücher sind weltweit im ausgewählten
Buchhandel erhältlich. Informationen zu unserem
internationalen Vertrieb erhalten Sie in
Ihrer Buchhandlung oder unter www.jovis.de.
ISBN 978-3-98612-237-9
200