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Wie ich »zwei Herren diente«<br />
Mein Verhältnis zur Neustadt, wie die Gemeinde kurz genannt<br />
wurde, sollte noch viel enger werden. Die Theologische Schule in<br />
Bethel wurde des »Hilfsdienstgesetzes« wegen geschlossen. Ich<br />
arbeitete daher fortan in den Bodelschwinghschen Anstalten »mit<br />
der blauen Schürze«, d. h. in der Krankenpflege. Gleichzeitig leitete<br />
ich aber einen Schülerbibelkreis an der Neustadt. Im Jahre 1916 fiel<br />
der vierte Advent auf den 24. Dezember, an dem abends in der<br />
Kirche die gutbesuchte Christvesper stattfand. Michaelis rechnete<br />
wohl damit, daß der Morgengottesdienst daher kaum so viele Besucher<br />
haben würde, wie es sonst in der Neustädter Kirche Brauch<br />
war, und er fragte mich, den jungen Studenten der Theologie, ob ich<br />
nicht bereit wäre, die Frühpredigt zu übernehmen. Obwohl ich<br />
noch nie auf der Kanzel gestanden hatte, sagte ich mit der Bedenkenlosigkeit<br />
der Jugend fröhlich zu - wenn auch nicht ganz ohne<br />
Herzklopfen. Im Jahre vorher hatte ich mir in der Berliner Stadtmission<br />
schon »meine Sporen« verdient.<br />
Mit Eifer schrieb ich nun in meinen freien Stunden an der Predigt<br />
über die herrliche Epistel des vierten Advents: Phil. 4, 4-7: »Freuet<br />
euch in dem Herrn allewege . . .« Ich lernte meine Niederschrift<br />
mit viel Mühe wortwörtlich auswendig, sagte sie meinem jungen<br />
Mitpfleger auf und wiederholte sie in schlaflosen Stunden der<br />
Nacht. Als ich auf der Kanzel meine Aufregung einigermaßen<br />
überwunden hatte und ohne Stocken meine Predigt hielt, entdeckte<br />
ich plötzlich Pastor Michaelis, der sich hinter eine Säule gesetzt<br />
hatte, um mich nicht befangen zu machen. Unvergeßlich ist es mir,<br />
wie er nach dem Gottesdienst in die Sakristei kam und mit fröhlichem<br />
Lächeln sagte: »Ach, wie sehr wird man an die erste Predigt<br />
erinnert, die man selber hielt!« Kein Lob und kein Tadel, aber ein<br />
Stückchen Ermutigung klang mir doch entgegen - und ich hatte sie<br />
nötig.<br />
Bald nach Neujahr wurde ich telefonisch zu Pastor Kuhlo gerufen,<br />
der damals der Vorsitzende des Bielefelder CVJM war. Dieser hatte<br />
sein Heim in der sogenannten »Volkshalle«, dem Gemeindehaus<br />
der Neustadt. Die »Volkshalle« war einst ein übelbeleumdetes Lokal<br />
gewesen, wo es sogar am Sonntagmorgen Szenen der Trunkenheit<br />
und Raufereien zu sehen gab, wenn andere Leute zur Kirche<br />
gingen. Michaelis hatte es dann erreicht, daß sich ein Kreis von<br />
Kaufleuten mit ihm zusammenschloß, die das Haus kauften und<br />
kirchlichen Zwecken zuführten. Hier kam auch mein Schüler-Bibelkreis<br />
(BK) zusammen.<br />
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