Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Weg mit dem Korsett l Lili<br />
Grüns Rom<strong>an</strong> „Alles ist Jazz”<br />
gleicht einem Zeitdokument aus<br />
den 1920ern: Protagonistin Elli<br />
ist eine moderne, selbstbewusste<br />
Frau, die die traditionelle<br />
Rolle als Hausfrau und Mutter<br />
zurückweist und ihre Heimatstadt Wien verlässt,<br />
um in Berlin Karriere als Schauspielerin zu<br />
machen. Sie repräsentiert damit den Typus der<br />
„neuen Frau” und übt sich – stellvertretend für<br />
viele <strong>an</strong>dere junge Frauen dieser Zeit (wie auch<br />
für ihre Schöpferin Lili Grün selbst) – in Sachen<br />
Em<strong>an</strong>zipation: Beruflich möchte sie aufgrund<br />
ihrer Leistungen beurteilt und in Liebesbeziehungen<br />
als gleichgestellte Partnerin gesehen<br />
werden. Leider lassen sich beide Wünsche nicht<br />
so leicht erfüllen. In ihrem Beruf entspricht sie,<br />
obschon sehr talentiert, „leider” nicht dem gängigen<br />
Schönheitsideal – gesucht werden nämlich<br />
blonde, große Frauen mit Sex-Appeal und nicht<br />
der „H<strong>an</strong>nerle-Typ aus den Elendsvierteln”.<br />
Auch in Sachen „Liebe” sieht es nicht viel besser<br />
aus, etwa bei Robert, der lediglich ein treuherziges<br />
Schäflein sucht, das er beschützend <strong>an</strong> seine<br />
starke Brust ziehen k<strong>an</strong>n, um „sich so richtig als<br />
M<strong>an</strong>n zu fühlen”.<br />
Der Rom<strong>an</strong> ist eingebettet in authentisches<br />
Lokalkolorit: Durch Elli wird der Blick sowohl<br />
auf die tristen Seiten der Weimarer Republik<br />
in der Wirtschaftskrise als auch auf das heiter<br />
beschwingte Treiben der Großstadt in den<br />
Kabaretts und Szene-Lokalen gelenkt. Natürlich<br />
untermalt von der populärsten Musik dieser Tage<br />
– dem Jazz: „Ich finde [...], dass heutzutage<br />
eben alles Jazz ist, was m<strong>an</strong> hört und was m<strong>an</strong><br />
sieht. M<strong>an</strong> demonstriert in diesem Rhythmus,<br />
m<strong>an</strong> malt in diesem Rhythmus … und du gehst<br />
so. Haste das noch nicht kapiert?” Gabriele<br />
Migdalek<br />
Lili Grün: Alles ist Jazz<br />
Aviva 2009, 18,50 Euro<br />
Nicht <strong>an</strong>kommen l Lo hat es<br />
geschafft. Sie hat als Siegerin<br />
eines Fernsehquiz’ die große<br />
Kohle abgeräumt. Was tun mit<br />
dem Gewinn? Der Entschluss<br />
ist schnell gefasst: Einfach nur<br />
weg! Lo kündigt ihren ertragreichen,<br />
aber l<strong>an</strong>gweiligen Job<br />
in der Computerbr<strong>an</strong>che und lässt Fr<strong>an</strong>k, ihre<br />
Affäre hinter sich. Sie steigt nur mit einem roten<br />
Rucksack bepackt in den Zug nach Rom und<br />
nimmt ihre LeserInnen mit auf eine turbulente<br />
Reise quer durch Europa. Mit ICE, ICN, TGV<br />
und Co. fährt sie nach Hamburg, Irun und Warschau,<br />
wo sie nicht einmal Halt macht, sondern<br />
immer nur weiter umsteigt und dabei Menschen<br />
trifft und wieder aus den Augen verliert. „Lo<br />
fühlt sich wie eine Roulettekugel. Sol<strong>an</strong>ge sie<br />
in Bewegung ist, ist noch alles möglich.” Die<br />
unstete Reise wird zu einer Metapher für Los<br />
Leben. Sie k<strong>an</strong>n und will noch nicht <strong>an</strong>kommen,<br />
will sich nicht festlegen, will sich alle Möglichkeiten<br />
offen halten und dabei auch einfach nur<br />
mal alleine sein. Als sie sich in Wien außerfahrpl<strong>an</strong>mäßig<br />
in David verliebt, zögert sie zwar<br />
kurz, d<strong>an</strong>n packt sie aber wieder ihren roten<br />
Rucksack.<br />
Ulrike Ulrich erzählt mit ihrem Debütrom<strong>an</strong><br />
„fern bleiben” die sehr sympathische, wenn<br />
auch teilweise etwas vorhersehbare Geschichte<br />
einer Selbstbefreiung aus einem beengenden<br />
Alltag und von Menschen, die einer das Leben<br />
schwerer machen, als es sein muss. Silke Pixner<br />
Ulrike Ulrich: fern bleiben<br />
luftschacht <strong>2010</strong>, 19,90 Euro<br />
Von der Liebe zuvor l<br />
Harriet, Astrophysikerin<br />
und Protagonistin in Ulrike<br />
Draesners neuem Rom<strong>an</strong>,<br />
hat zwei Vorlieben: eine für<br />
Zahlen, und d<strong>an</strong>n noch eine<br />
für eine Liebe, die vor der<br />
<strong>an</strong>deren war. Sie heißt Peter<br />
und ist eine Fünf. Der Plot ist schnell erzählt:<br />
<strong>an</strong>.lesen<br />
Harriets Partner Ash fährt bei einem Autounfall<br />
Peters Ehefrau nieder. Harriet und Peter<br />
begegnen sich wieder, eine Affäre beginnt.<br />
Doch so sehr das Gefühl der beiden EhebrecherInnen<br />
zuein<strong>an</strong>der immer wieder spürbar wird,<br />
so bleibt die Leserin am Schluss des Buches<br />
doch mit einer seltsamen Kälte zurück. Es<br />
scheint, als würden sich die vier Hauptfiguren<br />
mit ihrer jeweiligen betrogenen oder betrügenden<br />
Situation abfinden, ohne große Worte<br />
darüber zu verlieren. Die emotionalen Dramen,<br />
die m<strong>an</strong> erwarten würde, bleiben aus. Einzig<br />
Draesners Sprache führt in ein Gefühl, das von<br />
den ProtagonistInnen so nicht ausgesprochen<br />
wird: „D<strong>an</strong>ach lagen sie jeder auf seiner Seite<br />
des vertrauten Bettes, Rücken <strong>an</strong> Rücken.<br />
Harriet atmete schlechte Ged<strong>an</strong>ken aus und<br />
neue Luft für hoffentlich bessere Ged<strong>an</strong>ken<br />
ein. Ash schnarchte bereits.” Eine Meisterin ist<br />
Ulrike Draesner in ihrer Art, eine Geschichte<br />
zu erzählen: Erinnerungen und Gegenwart<br />
wechseln un<strong>an</strong>gekündigt, in welcher Zeit m<strong>an</strong><br />
sich befindet, wird erst durch weitere Absätze<br />
klar. Und auch innerhalb eines Absatzes lässt<br />
Draesner oft bis zum Schluss offen, wovon sie<br />
gerade konkret erzählt, es geht vom kleinen<br />
Detail in ein größeres Bild, das m<strong>an</strong> erst im<br />
Nachhinein erkennen k<strong>an</strong>n. Letztlich eine <strong>an</strong>genehme<br />
Herausforderung. Bettina Enzenhofer<br />
Ulrike Draesner: Vorliebe<br />
Luchterh<strong>an</strong>d <strong>2010</strong>, 20,60 Euro<br />
Satirische Süße l Die Zeit ist<br />
schon längst reif – für eine<br />
satirische, politisch nicht g<strong>an</strong>z<br />
korrekte Literatur zum Thema<br />
Migration, die Ambivalenzen<br />
aufdeckt und eine Art<br />
Dialektik zwischen selbst und<br />
fremd erzeugten Vorurteilen<br />
und Zwerchfellerschütterungen einleitet. Die<br />
mit scharfem Blick und Sinn für Wortspiele u.a.<br />
Rassismus zwischen verschiedenen Migr<strong>an</strong>tInnengruppen<br />
beleuchtet. Moralinsüß sozusagen.<br />
Das Leben übertrifft sowieso jede Literatur mit<br />
seinen überraschenden Wendungen, unvermuteten<br />
Details und dem Sinn vieler Menschen<br />
für Drama und Humor im Alltag. Doch Michèle<br />
Thomas Buch ist eine gute Art, diesem Leben<br />
beizukommen: mit pointierten Sätzen, vielen<br />
Details und einer Ich-Figur, die cool bleibt<br />
und immer etwas zu bemerken und auch zu<br />
sagen hat. Die ständige Suche nach Neuem<br />
und Interess<strong>an</strong>tem in der näheren Umgebung<br />
macht Hoffnung, die Annäherung <strong>an</strong> Menschen<br />
aus <strong>an</strong>deren Ländern – auch ohne Exotismus<br />
und Erotisierung – freudig auf vielerlei Arten<br />
<strong>Juni</strong> <strong>2010</strong> <strong>an</strong>.<strong>schläge</strong> l 39