Menschenbild und Medizin.qxd - Dialogforum Pluralismus in der ...
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M.Girke /J.-D. Hoppe / P. F. Matthiessen / S. N. Willich (Hrsg.)<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong>
M. Girke / J.-D. Hoppe /<br />
P.F. Matthiessen / S.N. Willich (Hrsg.)<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Menschenbild</strong><br />
Das Verständnis des Menschen <strong>in</strong><br />
Schul- <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
Dargestellt vom<br />
<strong>Dialogforum</strong> <strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Mit 7 Abbildungen <strong>und</strong> 2 Tabellen<br />
Deutscher Ärzte-Verlag Köln
ISBN 3-7691-0514-1<br />
aerzteverlag.de<br />
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation<br />
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<strong>und</strong> im Zweifelsfall e<strong>in</strong>en Spezialisten zu konsultieren.<br />
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Deutscher Ärzte-Verlag GmbH<br />
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Umschlagkonzeption: Hans Peter Willberg <strong>und</strong> Ursula<br />
Ste<strong>in</strong>hoff<br />
Titelgrafik: Bett<strong>in</strong>a Kulbe<br />
Satz: RPS Satzstudio GmbH, 40489 Düsseldorf<br />
Druck/B<strong>in</strong>dung: Warlich Druck, 53340 Meckenheim<br />
5 4 3 2 1 0 / 614
Inhaltsverzeichnis<br />
E<strong>in</strong>führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong> . . . . . . 9<br />
Wolfgang Wieland<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />
Wolfgang Schad<br />
Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />
Klaus Dörner<br />
Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong>: se<strong>in</strong>e Bedeutung für das ärztliche<br />
Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />
Hermann Heimpel<br />
Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e komplementärmediz<strong>in</strong>ische Therapie –<br />
Naturheilk<strong>und</strong>e? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />
Jörg Melzer, Re<strong>in</strong>hard Saller<br />
Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e komplementärmediz<strong>in</strong>ische Therapie –<br />
Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />
Matthias Girke<br />
Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e komplementärmediz<strong>in</strong>ische Therapie –<br />
Homöopathie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />
Roland Baur<br />
Welches <strong>Menschenbild</strong> bestimmt das ärztliche Handeln im Āyurveda? . . . . . . . . . . . 99<br />
Ananda Samir Chopra<br />
Welches <strong>Menschenbild</strong> bestimmt das ärztliche Handeln <strong>in</strong> <strong>der</strong> Traditionellen<br />
Ch<strong>in</strong>esischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />
Stefan Kirchhoff<br />
Herausgeber- <strong>und</strong> Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />
V
E<strong>in</strong>führung<br />
Matthias Girke, Jörg-Dietrich Hoppe, Peter F. Matthiessen, Stefan N. Willich<br />
Hab Achtung vor dem <strong>Menschenbild</strong>,<br />
Und denke, daß, wie auch verborgen,<br />
Dar<strong>in</strong> für irgende<strong>in</strong>en Morgen<br />
Der Keim zu allem Höchsten schwillt!<br />
Hab Achtung vor dem <strong>Menschenbild</strong>,<br />
Und denke, daß, wie tief er stecke,<br />
E<strong>in</strong> Hauch des Lebens, <strong>der</strong> ihn wecke,<br />
Vielleicht aus de<strong>in</strong>er Seele quillt!<br />
Hab Achtung vor dem <strong>Menschenbild</strong>!<br />
Die Ewigkeit hat e<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>e,<br />
Wo jegliches dir e<strong>in</strong>e W<strong>und</strong>e<br />
Und, wenn nicht die, e<strong>in</strong> Sehnen stillt!<br />
(Christian Friedrich Hebbel, 1813–1863)<br />
Nach Umfragen des Instituts für Demoskopie<br />
Allensbach nehmen fast 70% <strong>der</strong><br />
Bevölkerung im Krankheitsfall komplementärmediz<strong>in</strong>ische<br />
bzw. naturheilk<strong>und</strong>liche<br />
Behandlungsverfahren <strong>in</strong> Anspruch<br />
[Häußermann 1997]. In e<strong>in</strong>er repräsentativen<br />
Bevölkerungsstudie gaben 57% aller<br />
Befragten an, <strong>in</strong> den letzten zwölf Monaten<br />
Naturheilverfahren <strong>in</strong> Anspruch genommen<br />
zu haben, auch Homöopathie<br />
<strong>und</strong> Akupunktur waren mit 10–20% Inanspruchnahme<br />
häufig vertreten [Härtel,<br />
Volger 2004]. Der im Sozialgesetzbuch V<br />
verankerte <strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
[SGB V 2005] bildet somit e<strong>in</strong> mehrheitliches<br />
Interesse <strong>der</strong> Bevölkerung ab.<br />
So unkompliziert sich die komb<strong>in</strong>ierte<br />
Inanspruchnahme sowohl schulmediz<strong>in</strong>i-<br />
scher als auch komplementärmediz<strong>in</strong>ischer<br />
Versorgungsangebote von Seiten<br />
<strong>der</strong> Patientenschaft offensichtlich erweist<br />
– systematische Informationen zu diesem<br />
Thema s<strong>in</strong>d lei<strong>der</strong> nur spärlich verfügbar<br />
–, so glaubenskriegartig präsentieren sich<br />
die diesbezüglichen Diskussionen noch<br />
immer <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> ärztlichen Zunft. Im<br />
Arzt-Patienten-Verhältnis führt dies oftmals<br />
zu Gesprächstabus mit <strong>der</strong> Folge,<br />
dass <strong>der</strong> Patient die von ihm an<strong>der</strong>norts<br />
<strong>in</strong> Anspruch genommenen komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />
Leistungsangebote dem<br />
schulmediz<strong>in</strong>isch arbeitenden Arzt nicht<br />
nennt. Im Interesse e<strong>in</strong>es transparenten<br />
Dialogs <strong>und</strong> e<strong>in</strong>es den Bedürfnissen des<br />
Patienten angemessenen Informationswesens<br />
ist hier die konstruktive Diskussion<br />
zwischen Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
gefor<strong>der</strong>t. Dies auch vor<br />
dem mediz<strong>in</strong>geschichtlichen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>,<br />
dass wesentliche Entdeckungen <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wie etwa <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz von<br />
Digitalis bei Herz<strong>in</strong>suffizienz o<strong>der</strong> die<br />
Leistungen Semmelweis‘ h<strong>in</strong>sichtlich des<br />
K<strong>in</strong>dbettfiebers zunächst Außenseiterpositionen<br />
gewesen s<strong>in</strong>d.<br />
Der kritischen, ergebnisoffenen <strong>und</strong><br />
unvore<strong>in</strong>genommenen Begegnung unterschiedlicher<br />
mediz<strong>in</strong>ischer Denkansätze,<br />
Ausrichtungen <strong>und</strong> Systeme widmet sich<br />
seit dem Jahr 2000 das auf e<strong>in</strong>e Anregung<br />
von Prof. Dr. med. Dr. h. c. Jörg-Dietrich<br />
1
2<br />
Hoppe, Präsident <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esärztekammer,<br />
begründete „<strong>Dialogforum</strong> <strong>Pluralismus</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ [Willich et al. 2004].<br />
Zu dessen ersten Arbeitsschritten gehörte<br />
die an konkreten Patientenbeispielen vorgetragene<br />
<strong>und</strong> zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> Komparation<br />
gestellte Darstellung diagnostischer<br />
<strong>und</strong> therapeutischer Vorgehensweisen<br />
schulmediz<strong>in</strong>ischer <strong>und</strong> komplementärmediz<strong>in</strong>ischer<br />
Ansätze. E<strong>in</strong> nächster<br />
Schritt galt <strong>der</strong> Frage, anhand welcher Kriterien<br />
seriöse <strong>und</strong> verfolgenswerte komplementärmediz<strong>in</strong>ische<br />
Ansätze von fragwürdigen,<br />
unseriösen abzugrenzen s<strong>in</strong>d.<br />
Zur Beurteilung, ob e<strong>in</strong> Diskurs zwischen<br />
Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />
Methode möglich <strong>und</strong><br />
s<strong>in</strong>nvoll ist, wurden im <strong>Dialogforum</strong> drei<br />
Hauptkriterien zugr<strong>und</strong>e gelegt:<br />
1. Die komplementärmediz<strong>in</strong>ische Richtung<br />
muss <strong>in</strong> ihrem theoretischen<br />
Ansatz <strong>in</strong>tersubjektiv vermittelbar<br />
se<strong>in</strong> h<strong>in</strong>sichtlich des ihr zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />
<strong>Menschenbild</strong>es sowie <strong>der</strong><br />
Rolle ihres Krankheitsverständnisses<br />
für die therapierichtungsimmanente<br />
therapeutische Zielsetzung.<br />
2. Die komplementärmediz<strong>in</strong>ische Richtung<br />
erweist sich als diskursbereit <strong>und</strong><br />
diskursfähig, kann daher <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Verhältnis<br />
zu an<strong>der</strong>en mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Systemen gesetzt werden <strong>und</strong> bef<strong>in</strong>det<br />
sich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlich isolierten<br />
Position.<br />
3. Die komplementärmediz<strong>in</strong>ische Richtung<br />
stellt sich <strong>der</strong> Frage e<strong>in</strong>er Nutzendokumentation<br />
<strong>und</strong> Wirksamkeitsbeurteilung.<br />
E<strong>in</strong>führung<br />
Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> wurde im April<br />
2003 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong> erstes Symposium veranstaltet,<br />
das <strong>der</strong> Darstellung unterschiedlicher<br />
Richtungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
diente. Im Mai 2004 ist <strong>der</strong> Initiativkreis<br />
durch e<strong>in</strong>en Artikel im Deutschen Ärzteblatt<br />
mit dem Titel „Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />
Komplementärmediz<strong>in</strong> – Verständnis <strong>und</strong><br />
Zusammenarbeit müssen vertieft werden“<br />
erstmals <strong>in</strong> die Öffentlichkeit getreten<br />
[Willich et al. 2004]. Dieser Artikel hat<br />
vielfältige positive, allerd<strong>in</strong>gs auch wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />
Reaktionen <strong>und</strong> Resonanzen<br />
hervorgerufen. Der damalige B<strong>und</strong>espräsident<br />
Dr. h.c. Johannes Rau hat bei se<strong>in</strong>er<br />
Begrüßung auf dem 107. Deutschen Ärztetag<br />
2004 <strong>in</strong> Bremen die Existenz dieses<br />
Forums ausdrücklich positiv erwähnt.<br />
Insgesamt s<strong>in</strong>d wir vielfach ermutigt worden,<br />
mit unserer Initiative fortzufahren.<br />
Im September 2004 schloss sich dann<br />
<strong>in</strong> Düsseldorf e<strong>in</strong> weiteres Symposium an,<br />
das sich <strong>der</strong> Frage nach dem „<strong>Menschenbild</strong>“<br />
<strong>in</strong> verschiedenen Richtungen <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> widmete. Anthropologische<br />
Gr<strong>und</strong>überzeugungen liegen – wenn auch<br />
meist nur wenig reflektiert – unseren ärztlichen<br />
Entscheidungen bis h<strong>in</strong> zu ethischen<br />
E<strong>in</strong>schätzungen zugr<strong>und</strong>e. E<strong>in</strong> Ergebnis<br />
dieses Symposiums ist <strong>der</strong> vorliegende<br />
Band mit Beiträgen des Symposiums<br />
„<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“.<br />
Durch die im ausgehenden 19. <strong>und</strong><br />
vor allem im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert etablierte<br />
Schulmediz<strong>in</strong> wurde <strong>der</strong> kausalanalytische,<br />
auf das naturwissenschaftlich Beschreibbare<br />
konzentrierte Zugang zum<br />
Menschen <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen diagnostischen<br />
<strong>und</strong> therapeutischen Maßnahmen<br />
überaus erfolgreich vorangetrieben. Die
E<strong>in</strong>führung<br />
sonographische Diagnose e<strong>in</strong>es Gallenblasenste<strong>in</strong>leidens<br />
orientiert sich vor diesem<br />
H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> genau wie ihre ggf.<br />
anschließend durchzuführende chirurgische<br />
Therapie am materiellen Bef<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
reflektiert <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel ke<strong>in</strong>en Zusammenhang<br />
mit <strong>der</strong> seelischen Seite <strong>und</strong> <strong>der</strong> Persönlichkeit<br />
des Patienten. Für dieses Vorgehen<br />
ist selbst die Geschlechtszugehörigkeit<br />
von allenfalls sek<strong>und</strong>ärer Bedeutung.<br />
Sicher gibt es viele Erkrankungen, die e<strong>in</strong>e<br />
<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne reduzierte Betrachtungs<strong>und</strong><br />
Vorgehensweise berechtigt ersche<strong>in</strong>en<br />
lassen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite fragt die<br />
junge, schlanke, vor wenigen Monaten<br />
erst Mutter gewordene Patient<strong>in</strong>, was diese<br />
Erkrankung „mit ihr selbst“ als ganzer<br />
Person zu tun habe. Sie for<strong>der</strong>t von uns<br />
behandelnden Ärzten e<strong>in</strong>e erweiterte<br />
Betrachtungsart, e<strong>in</strong> erweitertes, nicht<br />
nur naturwissenschaftliches <strong>Menschenbild</strong><br />
<strong>und</strong> damit e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es „fram<strong>in</strong>g“ e<strong>in</strong>,<br />
das die kausalanalytisch beschreibbare<br />
Pathophysiologie <strong>der</strong> Erkrankung nicht<br />
ausschließt, sie allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> den Kontext<br />
e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en bzw. erweiterten Menschenverständnisses<br />
stellt.<br />
Anliegen des jetzt <strong>in</strong> Düsseldorf veranstalteten<br />
Symposiums „<strong>Menschenbild</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ des „<strong>Dialogforum</strong>s <strong>Pluralismus</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ war es, nach <strong>der</strong><br />
Wortbedeutung „<strong>Menschenbild</strong>“ im<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlichen, aber auch im H<strong>in</strong>blick<br />
auf dessen praktische Relevanz <strong>in</strong> <strong>der</strong> alltäglichen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zu fragen. E<strong>in</strong>geladen<br />
waren neben Referenten zu gr<strong>und</strong>legenden<br />
Themen Vertreter <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />
<strong>und</strong> mehrerer komplementärmediz<strong>in</strong>ischer<br />
Richtungen: Naturheilk<strong>und</strong>e, Homöopathie,<br />
Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>,<br />
Ayurveda <strong>und</strong> Traditionelle Ch<strong>in</strong>esische<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Die Teilnehmer erlebten Vorträge<br />
wie auch Diskussionsbeiträge als e<strong>in</strong>en<br />
positiven Dialog, <strong>der</strong> Gelegenheit gab,<br />
Gewohntes <strong>und</strong> Ungewohntes kennen zu<br />
lernen. Mit den <strong>in</strong> <strong>der</strong> vorliegenden Monographie<br />
herausgegebenen Vorträgen<br />
möchten wir e<strong>in</strong>er größeren Leserschaft<br />
das Selbstverständnis <strong>der</strong> verschiedenen<br />
mediz<strong>in</strong>ischen Richtungen <strong>und</strong> die Ergebnisse<br />
dieses <strong>in</strong>terparadigmatischen Dialogs<br />
zugänglich machen.<br />
Der e<strong>in</strong>leitende Beitrag von Wolfgang<br />
Wieland beleuchtet aus philosophischer<br />
<strong>und</strong> mediz<strong>in</strong>theoretischer Sicht die Rolle<br />
<strong>und</strong> die Tragweite von <strong>Menschenbild</strong>ern<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> für die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Es gilt<br />
im Auge zu behalten, dass nicht nur <strong>der</strong><br />
Arzt, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Patient sich – bewusst<br />
o<strong>der</strong> unbewusst – e<strong>in</strong>em, nämlich<br />
se<strong>in</strong>em <strong>Menschenbild</strong> verpflichtet weiß.<br />
Deutlich wird, dass sich <strong>der</strong> Arzt <strong>in</strong> Ausübung<br />
se<strong>in</strong>es Berufs nicht auf so etwas<br />
wie e<strong>in</strong> „naturwissenschaftliches <strong>Menschenbild</strong>“<br />
berufen kann, da <strong>Menschenbild</strong>er<br />
über die wertneutrale Feststellung<br />
faktischer Sachverhalte, wie sie den<br />
Naturwissenschaften zu eigen ist, immer<br />
auch e<strong>in</strong>e normative <strong>und</strong> praktische<br />
Dimension abdecken. Im Gegensatz zu<br />
den theoretischen Wissenschaften, bei<br />
denen die Idee <strong>der</strong> Wertfreiheit <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
zweckfreien Erkenntnis leitend ist,<br />
kommt <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>der</strong> Status e<strong>in</strong>er praktischen<br />
Wissenschaft zu, <strong>der</strong>en Aufgabe<br />
nicht Erkenntnis um ihrer selbst Willen<br />
ist, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> vom Patienten her veranlasstes<br />
zweckgerichtetes Handeln. Begriffe<br />
wie etwa <strong>der</strong> <strong>der</strong> Diagnose o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Krankheit<br />
erweisen sich demzufolge nicht pri-<br />
3
4<br />
mär als Erkenntnis-, son<strong>der</strong>n als normative<br />
Handlungsbegriffe. Angesichts <strong>der</strong><br />
ethischen Herausfor<strong>der</strong>ungen durch das<br />
<strong>in</strong>zwischen biotechnologisch Machbare<br />
hebt Wieland hervor, dass nicht nur die<br />
Unterschiede <strong>und</strong> das Trennende zwischen<br />
den <strong>Menschenbild</strong>ern <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>,<br />
son<strong>der</strong>n vor allem auch die Herausarbeitung<br />
ihrer Geme<strong>in</strong>samkeiten sich als<br />
Aufgabe stellt.<br />
An verschiedenen Beispielen zeigt<br />
auch Wolfgang Schad, dass die Begriffe<br />
Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit sich e<strong>in</strong>er nur<br />
naturwissenschaftlichen Betrachtung entziehen<br />
<strong>und</strong> nur auf dem Boden e<strong>in</strong>er gesamtanthropologischen<br />
Betrachtung wissenschaftliche<br />
Tragfähigkeit <strong>und</strong> lebenspraktische<br />
Fruchtbarkeit entfalten. In<br />
methodologischer H<strong>in</strong>sicht erfor<strong>der</strong>t dies<br />
e<strong>in</strong>e bewusste <strong>und</strong> sorgfältig gehandhabte<br />
Pluralisierung von Gesichtspunkten <strong>und</strong><br />
Herangehensweisen, e<strong>in</strong>schließlich e<strong>in</strong>er<br />
Berücksichtigung aller drei Zeitdimensionen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> kategorial unterschiedlichen<br />
Se<strong>in</strong>sbereiche des Menschen, nämlich<br />
e<strong>in</strong>er physiko-chemischen, e<strong>in</strong>er biologisch-physiologischen,<br />
e<strong>in</strong>er psychologischen<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividuell geistigen Ebene.<br />
Dabei charakterisiert er die „goetheanistische<br />
Erkenntnismethode“ als e<strong>in</strong>en<br />
Ansatz, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>seitige <strong>und</strong> damit dogmatik-<br />
<strong>und</strong> ideologieanfällige Wissenschaftsansätze<br />
zugunsten e<strong>in</strong>er gezielten Perspektivenvielfalt<br />
zu überw<strong>in</strong>den trachtet.<br />
<strong>Menschenbild</strong>er, sollen sie nicht zu Paradigmen<br />
erstarren, s<strong>in</strong>d nach Schad stets<br />
„Durchgangsstadien ohne Endgültigkeitsanspruch“.<br />
Als anthroposophisch orientierter<br />
Biologe betont Schad, dass es <strong>in</strong>sofern<br />
auch ke<strong>in</strong> feststehendes „anthropo-<br />
E<strong>in</strong>führung<br />
sophisches <strong>Menschenbild</strong>“ gibt, son<strong>der</strong>n<br />
das Bestreben e<strong>in</strong>er durch geisteswissenschaftliche<br />
Gesichtspunkte erweiterten,<br />
dynamischen Erkenntnisbildung vom<br />
Menschen.<br />
Dass die etablierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> sich den<br />
von ihren Kontrahenten gebildeten<br />
Kampfbegriff „Schulmediz<strong>in</strong>“ angezogen<br />
hat, kommt nach Klaus Dörner e<strong>in</strong>em<br />
„sprachlichen Vorab-Selbstmord“ gleich.<br />
E<strong>in</strong> jeweils ganzheitliches <strong>und</strong> eher abgeschlossenes<br />
Lehrgebäude reklamierend,<br />
passt dieser Begriff nach Dörner eher auf<br />
die komplementär genannten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen.<br />
Dörner bevorzugt daher die<br />
Sprachregelung e<strong>in</strong>er „allgeme<strong>in</strong>en o<strong>der</strong><br />
A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ zur Kennzeichnung <strong>der</strong> etablierten<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> diejenige e<strong>in</strong>er<br />
„beson<strong>der</strong>en o<strong>der</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ für die<br />
„beson<strong>der</strong>en Therapierichtungen“. Auch<br />
Dörner verweist auf die Nähe des Begriffes<br />
„<strong>Menschenbild</strong>“ zur Sprache <strong>der</strong> Weltanschauungen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Glaubenssysteme<br />
<strong>und</strong> spricht daher lieber von „anthropologischen<br />
Annahmen“. In <strong>der</strong> Balance<br />
zwischen nomothetischer <strong>und</strong> idiopathischer<br />
Ausrichtung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> hat sich<br />
die „A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ im Wesentlichen naturwissenschaftlich-nomothetischentwickelt,<br />
während sich die „B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />
durch ihre größere Nähe zum biographisch-hermeneutischen<br />
Denken <strong>und</strong> zur<br />
phänomenologischen Erfahrung charakterisiert.<br />
Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> geme<strong>in</strong>samer<br />
Interessen, dass nämlich die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e eigenständige (Human-)<br />
Wissenschaft ist <strong>und</strong> dass sie zum an<strong>der</strong>en<br />
im Kern nicht e<strong>in</strong> vermarktungsfähiges<br />
Gebilde ist, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Hilfesystem,<br />
das se<strong>in</strong>en Auftrag dort erhält, wo das
E<strong>in</strong>führung<br />
Solidaritätshilfesystem <strong>der</strong> Bürger an se<strong>in</strong>e<br />
Grenzen stößt <strong>und</strong> auf Fremdhilfe angewiesen<br />
ist, können beide mediz<strong>in</strong>ische<br />
Kulturen vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> lernen: die A-<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> von den B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ern e<strong>in</strong>e ganzheitliche,<br />
gegenüber e<strong>in</strong>er Fragmentierung<br />
des Patienten <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Fasz<strong>in</strong>ation<br />
durch das technisch Machbare immunisierenden<br />
Betrachtungsweise, die B-<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> von den A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ern e<strong>in</strong>e<br />
Orientierung auch <strong>der</strong> Heilk<strong>und</strong>e am<br />
„Europäischen Vollständigkeitsideal <strong>der</strong><br />
Rationalität“.<br />
Die folgenden Kapitel widmen sich<br />
<strong>der</strong> wissenschaftlich etablierten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>igen wichtigen komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />
Richtungen. Hermann Heimpel<br />
verdeutlicht zunächst den historischen<br />
H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> im H<strong>in</strong>blick auf die<br />
sog. Schulmediz<strong>in</strong>. Er untersucht dann<br />
drei für das Thema beson<strong>der</strong>s relevante<br />
Aspekte: zunächst die Biologie des Menschen<br />
als Ergebnis <strong>der</strong> Evolution <strong>und</strong><br />
daraus abgeleitete ärztliche Konsequenzen,<br />
dann die heutige Schulmediz<strong>in</strong> auf<br />
Basis e<strong>in</strong>es bio-psycho-sozialen Konzeptes<br />
<strong>und</strong> schließlich die Anerkennung <strong>der</strong><br />
Autonomie des Patienten <strong>in</strong> Relation zum<br />
ärztlichen Handeln.<br />
Roland Baur beschreibt die Gr<strong>und</strong>lagen<br />
<strong>der</strong> Homöopathie basierend auf den<br />
Wegbereitern Hahnemann, Kent <strong>und</strong><br />
Whitmont im 18., 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Der homöopathische Arzt nimmt<br />
den Patienten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er lokalen körperlichen<br />
Symptomatik, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en<br />
Symptomatik <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geist- <strong>und</strong><br />
Gemütssymptomatik wahr. Die Therapie<br />
basiert auf dem Ähnlichkeitsbezug: Similia<br />
similibus curentur. Das zugr<strong>und</strong>e lie-<br />
gende <strong>Menschenbild</strong> ist durch die Aufhebung<br />
<strong>der</strong> Trennung von Geist <strong>und</strong> Körper<br />
geprägt <strong>und</strong> beugt nach Baur damit e<strong>in</strong>er<br />
Verd<strong>in</strong>glichung des Menschen vor.<br />
Die Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wird<br />
von Matthias Girke dargestellt. Zugr<strong>und</strong>e<br />
liegt dieser Richtung e<strong>in</strong>e Erweiterung des<br />
Menschenverständnisses durch Rudolf<br />
Ste<strong>in</strong>er <strong>und</strong> Ita Wegman zu Beg<strong>in</strong>n des 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts, das über die somatische<br />
Dimension h<strong>in</strong>aus den seelischen <strong>und</strong><br />
geistigen Se<strong>in</strong>sbereich e<strong>in</strong>schließt. Girke<br />
beschreibt zunächst aus Patientenperspektive<br />
<strong>und</strong> dann aus ärztlicher Sicht die<br />
Implikationen dieses <strong>Menschenbild</strong>es für<br />
das diagnostische Erkennen <strong>und</strong> therapeutische<br />
Handeln.<br />
Auf dem Boden e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>gehenden<br />
<strong>und</strong> differenzierten Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
mit den Begriffen „<strong>Menschenbild</strong>“ <strong>und</strong><br />
„<strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“, die Jörg<br />
Melzer <strong>und</strong> Re<strong>in</strong>hard Saller ihrer weiteren<br />
Darstellung vorausschicken, zeigen die<br />
Autoren auf, dass heute die Existenz e<strong>in</strong>er<br />
Pluralität von <strong>Menschenbild</strong>ern Realität<br />
ist. Dies auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, die durch<br />
e<strong>in</strong>e Integration naturwissenschaftlicher<br />
<strong>und</strong> psychosomatischer Aspekte sowie<br />
solcher des bio-psycho-sozialen Modells<br />
<strong>und</strong> des Arzt-Patient-Angehörigen-Modells<br />
ihr Menschenverständnis entscheidend<br />
erweitern konnte. Diese Aspekte berücksichtigend,<br />
bietet die naturheilk<strong>und</strong>liche<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> ergänzende Sichtweisen<br />
h<strong>in</strong>sichtlich Patientenerwartung, Therapieansätzen<br />
<strong>und</strong> Therapiegestaltung.<br />
Obwohl <strong>in</strong> ihren Wurzeln bis <strong>in</strong> die<br />
vorchristliche Zeit zurückreichend, erweist<br />
sich, wie Ananda Chopra aufzeigt,<br />
die Ayurvedische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> ke<strong>in</strong>eswegs als<br />
5
6<br />
e<strong>in</strong> abgeschlossenes <strong>und</strong> lediglich tradiertes<br />
System, son<strong>der</strong>n bis <strong>in</strong> die Gegenwart<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Weiterentwicklung<br />
begriffene Heilk<strong>und</strong>e. Dies gilt nach<br />
Chopra auch für <strong>der</strong>en Welt- <strong>und</strong> Menschenverständnis,<br />
wobei hier e<strong>in</strong>e Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie<br />
leitend<br />
ist. Dementsprechend kommt sowohl für<br />
die Diagnose als auch die Therapiewahl<br />
<strong>der</strong> Umwelt <strong>und</strong> ihren <strong>in</strong>nermenschlichen<br />
Entsprechungen e<strong>in</strong>e zentrale Bedeutung<br />
zu, wobei konstitutionelle <strong>und</strong><br />
<strong>in</strong>dividuelle Faktoren e<strong>in</strong>e differenzierte<br />
Berücksichtigung f<strong>in</strong>den. Chopra weist<br />
darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>der</strong> <strong>in</strong> Indien praktizierte<br />
Ayurveda ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> westlichen<br />
Län<strong>der</strong>n kopiert werden kann, son<strong>der</strong>n<br />
e<strong>in</strong>er „<strong>in</strong>telligenten Übersetzungsarbeit“<br />
bedarf.<br />
Schließlich zeigt Stefan Kirchhoff,<br />
dass auch die Traditionelle Ch<strong>in</strong>esische<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> (TCM) <strong>und</strong> ebenso die ihr eigenen<br />
Auffassungen von Mensch <strong>und</strong> Natur<br />
bzw. Kosmos trotz ihrer mehrtausendjährigen<br />
Historie nicht e<strong>in</strong> monolithisches<br />
<strong>und</strong> abgeschlossenes Gebilde darstellen.<br />
Der Begriff selbst wurde erst unter Mao<br />
geprägt. Bei den im Westen gebildeten<br />
Vorstellungen über die TCM handelt es<br />
sich nicht nur um e<strong>in</strong> gefiltertes <strong>und</strong> selegiertes<br />
Importwissen, son<strong>der</strong>n auch um<br />
Ergebnisse von Projektionen <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Befriedigung esoterischer Sehnsüchte. Im<br />
Spannungsfeld zwischen Daoismus <strong>und</strong><br />
Konfuzianismus geformt, ist für das <strong>Menschenbild</strong><br />
<strong>der</strong> TCM e<strong>in</strong> Denken <strong>in</strong> Polaritäten<br />
zwischen diametral entgegengesetzten<br />
Qualitäten leitend, das sich als Pars<br />
pro Toto mit den Begriffen Y<strong>in</strong> <strong>und</strong> Yang<br />
zusammenfassen lässt <strong>und</strong> das bei diag-<br />
E<strong>in</strong>führung<br />
nostischen <strong>und</strong> therapeutischen Überlegungen<br />
e<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielt. Im<br />
Gegensatz zu strukturell-morphologischen<br />
Aspekten <strong>der</strong> restlichen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
dom<strong>in</strong>iert <strong>in</strong> <strong>der</strong> TCM e<strong>in</strong>e funktionelle<br />
<strong>und</strong> energetische Sichtweise.<br />
Wir danken <strong>der</strong> Zukunftsstiftung<br />
Ges<strong>und</strong>heit für die f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung,<br />
die es uns ermöglicht hat, die vorliegende<br />
Monographie zu realisieren. Ferner<br />
danken wir allen Referenten <strong>und</strong> Teilnehmern<br />
des Symposiums für ihre höchst<br />
anregenden Vorträge, Manuskripte <strong>und</strong><br />
Diskussionsbeiträge. Die Diskussionen<br />
waren sehr konstruktiv <strong>und</strong> haben zweifellos<br />
zu e<strong>in</strong>er Verbesserung des gegenseitigen<br />
Verständnisses <strong>und</strong> des gegenseitigen<br />
Respektes beigetragen. Dies ermutigt<br />
uns, den mit <strong>der</strong> Etablierung des <strong>Dialogforum</strong>s<br />
e<strong>in</strong>geschlagenen Weg e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>traprofessionellen<br />
<strong>in</strong>terparadigmatischen<br />
Dialogs mit Elan <strong>und</strong> Zuversicht weiter zu<br />
beschreiten. Für die organisatorische<br />
Gestaltung <strong>der</strong> Veranstaltung danken wir<br />
allen beteiligten Mitarbeitern <strong>der</strong> Ärztekammer<br />
Nordrhe<strong>in</strong> <strong>und</strong> ganz beson<strong>der</strong>s<br />
Frau Dipl.-Ges.Oec. N<strong>in</strong>a Rüttgen, <strong>der</strong>en<br />
Engagement <strong>und</strong> Geduld für die erfolgreiche<br />
Entwicklung des <strong>Dialogforum</strong>s <strong>Pluralismus</strong><br />
höchst wichtig war <strong>und</strong> ist. Mittlerweile<br />
ist vom <strong>Dialogforum</strong> e<strong>in</strong> weiteres<br />
Symposium mit <strong>der</strong> Thematik „<strong>Pluralismus</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – <strong>Pluralismus</strong> <strong>der</strong> Therapieevaluation?“<br />
im November 2004 <strong>in</strong><br />
Berl<strong>in</strong> durchgeführt worden. Auf die<br />
Wi<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong> dort gehaltenen Vorträge<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift für Ärztliche Fortbildung<br />
<strong>und</strong> Qualität im Ges<strong>und</strong>heitswesen [Kiene,<br />
Ollenschläger, Willich 2005] sei <strong>der</strong><br />
Interessierte verwiesen.
Literatur<br />
Der Philosoph Gadamer, <strong>der</strong> über 100<br />
Jahre alt geworden ist, sagte e<strong>in</strong>mal auf<br />
die Frage, was <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em langen philosophischen<br />
Leben se<strong>in</strong>e primäre Lebenserkenntnis<br />
sei, dass er zu <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht<br />
gekommen wäre, dass „<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e recht<br />
haben könne“. Von dieser E<strong>in</strong>schätzung<br />
ausgehend, erhoffen wir uns <strong>in</strong> Zukunft<br />
fruchtbare Erkenntnisse im „<strong>Dialogforum</strong><br />
<strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“. Wir wünschen<br />
Ihnen e<strong>in</strong>en großen Gew<strong>in</strong>n bei<br />
<strong>der</strong> Lektüre dieses Bandes <strong>und</strong> hoffen auf<br />
e<strong>in</strong>e Bereicherung <strong>der</strong> Diskussion, die<br />
auch zum wechselseitigen Verständnis<br />
beitragen <strong>und</strong> damit die Zusammenarbeit<br />
zwischen Ärzt<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Ärzten aller<br />
mediz<strong>in</strong>ischer Richtungen för<strong>der</strong>n kann.<br />
Literatur<br />
Häußermann D, Allensbach-Studie: Wachsendes<br />
Vertrauen <strong>in</strong> Naturheilmittel.<br />
Dtsch Ärzteblatt (1997), 94, A-2466<br />
Härtel U, Volger E, Inanspruchnahme <strong>und</strong><br />
Akzeptanz klassischer Naturheilverfahren<br />
<strong>und</strong> alternativer Heilmethoden<br />
<strong>in</strong> Deutschland – Ergebnisse e<strong>in</strong>er<br />
repräsentativen Bevölkerungsstudie.<br />
Forsch Komplementärmed Klass<br />
Naturheilkd (2004), 11, 327–334<br />
SGB V (2005), 13. Aufl., 11, 39, 158. Deutscher<br />
Taschenbuch Verlag, München<br />
Willich SN, Girke M, Hoppe JD, Kiene H,<br />
Klitzsch W, Matthiesen PF, Meister P,<br />
Ollenschläger G, Heimpel H, Schulmediz<strong>in</strong><br />
<strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong>:<br />
Verständnis <strong>und</strong> Zusammenarbeit<br />
müssen vertieft werden. Dtsch Ärzteblatt<br />
(2004), 101, A1314–1319<br />
Kiene H, Ollenschläger G, Willich SN<br />
(Hrsg), <strong>Pluralismus</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – <strong>Pluralismus</strong><br />
<strong>der</strong> Therapieevaluation? Z<br />
Ärztl Fortbild Qual (2005), 99,<br />
261–323<br />
7
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft –<br />
Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
Wolfgang Wieland<br />
Das <strong>Dialogforum</strong> „<strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ hat zu e<strong>in</strong>em Symposium unter<br />
dem Leittitel „<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />
e<strong>in</strong>geladen. Es verb<strong>in</strong>det damit die<br />
Hoffnung, dass sich das, was die Schulmediz<strong>in</strong><br />
<strong>und</strong> die verschiedenen Richtungen<br />
<strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong> vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
trennt, ebenso aber auch das, was sie mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
verb<strong>in</strong>det, leichter auf den<br />
Begriff br<strong>in</strong>gen lässt, wenn man die <strong>Menschenbild</strong>er<br />
<strong>in</strong>s Visier nimmt, die h<strong>in</strong>ter<br />
den jeweiligen Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Diagnostik<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Therapie stehen, wie sie <strong>in</strong><br />
den unterschiedlichen Richtungen <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> praktiziert werden. Es ist e<strong>in</strong>e<br />
Hoffnung, die sich zugleich darauf richtet,<br />
dass sich Vertreter <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>er<br />
Ebene begegnen, auf <strong>der</strong> sich allfällige<br />
Berührungsängste neutralisieren lassen<br />
<strong>und</strong> auf <strong>der</strong> die Möglichkeiten e<strong>in</strong>er<br />
Kooperation ebenso wie <strong>der</strong>en Grenzen<br />
abgesteckt werden können. Fast überflüssig<br />
ist es, darauf aufmerksam zu machen,<br />
dass gerade hier Nüchternheit <strong>und</strong> Achtsamkeit<br />
angesagt ist. Denn <strong>der</strong> Begriff des<br />
<strong>Menschenbild</strong>es ist nun e<strong>in</strong>mal auch <strong>in</strong><br />
beson<strong>der</strong>er Weise festredenträchtig. Gewiss<br />
kann die Orientierung an ihm von<br />
Nutzen se<strong>in</strong>, wenn es darum geht, Verständnisbarrieren<br />
zu beseitigen <strong>und</strong> polemische<br />
Verhärtungen vom Typus „Wissenschaft<br />
contra Aberglauben“ aufzulö-<br />
sen. Dabei darf man aber nicht bl<strong>in</strong>d se<strong>in</strong><br />
für die Gefahr, dass man die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> die<br />
Sphäre friedlicher <strong>und</strong> kollegialer Unverb<strong>in</strong>dlichkeit<br />
abschiebt <strong>und</strong> sich auf bloße<br />
Formelkompromisse e<strong>in</strong>igt, mit denen die<br />
Probleme nicht gelöst, son<strong>der</strong>n ihre Erörterung<br />
allenfalls vertagt wird.<br />
Ich b<strong>in</strong> gebeten worden, zu den Fragen,<br />
mit denen sich das <strong>Dialogforum</strong><br />
befasst, e<strong>in</strong> Votum nicht aus <strong>der</strong> Sicht des<br />
praktizierenden Arztes, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong><br />
Warte des <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>theoretikers <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>philosophen<br />
aus abzugeben. Hier<br />
braucht man freilich ke<strong>in</strong>e metaphysischen<br />
Höhenflüge auf unkontrollierbar<br />
hochstehendem Niveau zu befürchten.<br />
Die Kompetenz <strong>und</strong> die Aufgaben des<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>theoretikers s<strong>in</strong>d bescheidener:<br />
Von ihm kann man <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie verlangen,<br />
dass er für Ordnung im Haushalt <strong>der</strong><br />
Begriffe sorgt. Manch e<strong>in</strong>em mag e<strong>in</strong>e solche<br />
Aufgabe trivial ersche<strong>in</strong>en, zumal da<br />
Begriffe eigentlich nur mentale Werkzeuge<br />
s<strong>in</strong>d, die wie auch alle an<strong>der</strong>en Werkzeuge<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand des K<strong>und</strong>igen ihre Aufgabe<br />
umso besser erfüllen, je weniger man<br />
sie selbst zum Ziel se<strong>in</strong>es Interesses<br />
macht. Wir pflegen uns mit Hilfe von<br />
Begriffen zu verständigen, <strong>der</strong>en S<strong>in</strong>n sich<br />
von selbst zu verstehen sche<strong>in</strong>t. Nur <strong>in</strong><br />
Ausnahmefällen machen wir sie selbst<br />
zum Gegenstand, dann nämlich, wenn<br />
sie die ihnen zugedachten Aufgaben e<strong>in</strong>-<br />
9
10<br />
mal gerade nicht erfüllen. Dann muss<br />
man sich vergegenwärtigen, dass wir –<br />
entgegen dem ersten Ansche<strong>in</strong> – <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em<br />
<strong>der</strong> Begriffe, mit denen wir <strong>in</strong> unserer<br />
Profession o<strong>der</strong> im alltäglichen Leben<br />
umgehen, e<strong>in</strong> Gebilde sehen dürfen, das<br />
nach se<strong>in</strong>em Inhalt <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em Umfang<br />
e<strong>in</strong> für alle Mal fixiert wäre. Dadurch, dass<br />
man mit Begriffen umgeht, schleifen sie<br />
sich gleichsam ab. Und weil sich dies zumeist<br />
unterhalb <strong>der</strong> Bewusstse<strong>in</strong>sschwelle<br />
abspielt, müssen sie immer wie<strong>der</strong> neu<br />
justiert werden. Das gilt <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em<br />
Maße für jene Begriffe, die den kategorialen<br />
Rahmen unseres Weltverständnisses<br />
wie auch unseres Selbstverständnisses bilden.<br />
Zudem darf man die Spannung nicht<br />
übersehen, die dar<strong>in</strong> liegt, dass auf alte,<br />
überkommene Begriffe gerade auch <strong>der</strong>jenige<br />
zurückgreifen muss, <strong>der</strong> Neues, Innovatives<br />
mitteilen will.<br />
Bevor man die <strong>in</strong>haltsbezogenen<br />
Merkmale <strong>der</strong> <strong>Menschenbild</strong>er betrachtet,<br />
die h<strong>in</strong>ter den e<strong>in</strong>zelnen Richtungen <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> stehen, ist es daher zweckmäßig,<br />
sich zunächst darüber klar zu werden,<br />
welchen S<strong>in</strong>n man mit <strong>der</strong> Rede von <strong>Menschenbild</strong>ern<br />
verb<strong>in</strong>det <strong>und</strong> welche Funktionen<br />
man ihnen abzuverlangen pflegt.<br />
<strong>Menschenbild</strong>er s<strong>in</strong>d nämlich höchstens<br />
<strong>in</strong> Ausnahmefällen Resultate wissenschaftlicher<br />
Forschung. Ihr Ursprung liegt<br />
zumeist vor aller Wissenschaft. Es gehört<br />
zu den anthropologischen Konstanten,<br />
dass die Menschen Lebewesen s<strong>in</strong>d – vermutlich<br />
sogar die e<strong>in</strong>zigen Lebewesen –,<br />
die sich e<strong>in</strong> Bild von sich selbst machen<br />
<strong>und</strong> die ihr Leben an diesem Bild orientieren<br />
können. Solche Bil<strong>der</strong> werden dem<br />
Menschen auf unmittelbare Weise zu-<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
nächst von Sagen, Mythen <strong>und</strong> Religionen<br />
vermittelt, oft <strong>in</strong> bildlicher Rede,<br />
implizit aber auch von dem Umfeld, <strong>in</strong><br />
das er h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geboren wird, <strong>in</strong> dem er aufwächst<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong> dem er – mo<strong>der</strong>n ausgedrückt<br />
– se<strong>in</strong>e Sozialisation erfährt. In diesem<br />
S<strong>in</strong>n spricht man beispielsweise vom<br />
christlichen, vom buddhistischen, vom<br />
materialistischen, bis vor kurzem auch<br />
vom marxistischen <strong>Menschenbild</strong> ebenso<br />
wie von manchen an<strong>der</strong>en weltanschaulich<br />
f<strong>und</strong>ierten <strong>Menschenbild</strong>ern. Sie<br />
haben den Status von Symbolen, die<br />
jeweils auf die wesentlichen Inhalte e<strong>in</strong>er<br />
Glaubensüberzeugung verweisen. Deswegen<br />
erheben sie e<strong>in</strong>en universellen<br />
Anspruch: Sie wollen den Menschen<br />
<strong>in</strong>mitten se<strong>in</strong>er Welt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ganzheit<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong> allen se<strong>in</strong>en Bezügen erfassen <strong>und</strong><br />
decken deswegen oft auch Bereiche ab,<br />
die vom menschlichen Erkennen, sofern<br />
es auf rationale Begründungen aus ist,<br />
nicht mehr erreicht werden. Es gehört zu<br />
<strong>der</strong> Funktion solcher <strong>Menschenbild</strong>er,<br />
dass sie dem Menschen nicht nur vermitteln<br />
wollen, was er ist <strong>und</strong> was er se<strong>in</strong><br />
kann, son<strong>der</strong>n auch, was er se<strong>in</strong> <strong>und</strong> wie<br />
er leben soll. Leicht übersieht man, dass<br />
jedes <strong>Menschenbild</strong> auch normative Elemente<br />
enthält, die se<strong>in</strong>en Charakter<br />
manchmal stärker prägen als se<strong>in</strong>e<br />
deskriptiven, faktenbezogenen Elemente.<br />
Von <strong>Menschenbild</strong>ern spricht man<br />
aber auch noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz an<strong>der</strong>en<br />
S<strong>in</strong>n. Hier ist an Bil<strong>der</strong> zu denken, die<br />
man besser als Modelle bezeichnet. Sie<br />
symbolisieren ke<strong>in</strong>e Glaubensüberzeugungen,<br />
die das menschliche Leben <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Ganzheit zu erfassen <strong>und</strong> zu normieren<br />
bestimmt s<strong>in</strong>d. Bei ihnen handelt es
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
sich um artifizielle Gebilde, die durch<br />
mentale Experimente von <strong>der</strong> Art gezielter<br />
Abstraktionen o<strong>der</strong> Konstruktionen<br />
entstehen. Zu diesen Modellen gehören<br />
auch bestimmte Rollen, die e<strong>in</strong> Mensch<br />
übernehmen <strong>und</strong> spielen, aber auch wie<strong>der</strong><br />
abgeben kann. Was hier geme<strong>in</strong>t ist,<br />
kann man sich an dem Beispiel des Homo<br />
oeconomicus klar machen, mit dem die<br />
Wirtschaftswissenschaftler gerne arbeiten.<br />
Bei diesem Homo oeconomicus handelt<br />
es sich um das idealtypische Bild<br />
e<strong>in</strong>es Menschen, <strong>der</strong> sich mit se<strong>in</strong>er ganzen<br />
Existenz <strong>der</strong> Welt des Gew<strong>in</strong>nstrebens<br />
ergeben hat. Se<strong>in</strong> Leben <strong>und</strong> Handeln orientiert<br />
er ausschließlich an dem Ziel, die<br />
Bilanz se<strong>in</strong>es wirtschaftlichen Nutzens zu<br />
maximieren. Zu diesem Zweck ist er auch<br />
ständig darum bemüht, sich die für se<strong>in</strong>e<br />
Handlungsentscheidungen bedeutsamen<br />
Informationen zu verschaffen. Dieser<br />
Homo oeconomicus ist jedoch e<strong>in</strong>e bloße<br />
Konstruktion, e<strong>in</strong>e Konstruktion freilich,<br />
die sich beson<strong>der</strong>s ihres heuristischen<br />
Potentials wegen als em<strong>in</strong>ent fruchtbar<br />
erwiesen hat. Sie leistet den Ökonomen<br />
gute Dienste, wenn sie ihnen <strong>in</strong> Fallstudien<br />
hilft, idealisierte Alternativen <strong>in</strong><br />
Gedankenexperimenten durchzuspielen<br />
<strong>und</strong> zu bewerten. Für den wirklichen<br />
Menschen bleibt <strong>der</strong> Homo oeconomicus<br />
dagegen immer nur e<strong>in</strong>e idealtypische<br />
Rolle. Würde er sich mit ihr so weit identifizieren,<br />
dass es ihm nicht mehr möglich<br />
wäre, auch an<strong>der</strong>e Rollen zu übernehmen,<br />
wäre er allenfalls die Karikatur e<strong>in</strong>es<br />
lebendigen Menschen.<br />
Fragt man nach <strong>der</strong> Tragweite <strong>der</strong><br />
<strong>Menschenbild</strong>er <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> für<br />
die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, so sollte man nicht aus dem<br />
Auge verlieren, dass man <strong>in</strong> diesen beiden<br />
Bedeutungen – Glaubensüberzeugung<br />
o<strong>der</strong> Modellkonstruktion – von ihnen<br />
sprechen kann. Im Rahmen <strong>der</strong> Thematik<br />
unseres Symposiums wird allerd<strong>in</strong>gs nur<br />
die erste dieser beiden Alternativen<br />
bedeutsam. Stellt sich <strong>der</strong> Arzt den mit ihr<br />
verb<strong>und</strong>enen Problemen, so muss er sich<br />
stets vergegenwärtigen, dass nicht nur er<br />
sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausübung se<strong>in</strong>er Profession,<br />
bewusst o<strong>der</strong> unbewusst, an e<strong>in</strong>em <strong>Menschenbild</strong><br />
– nämlich se<strong>in</strong>em eigenen – orientiert,<br />
son<strong>der</strong>n dass sich auch <strong>der</strong><br />
Patient, dem er begegnet, ebenfalls e<strong>in</strong>em<br />
<strong>Menschenbild</strong>, vielleicht ganz an<strong>der</strong>er<br />
Art, verpflichtet weiß. Er muss nur wissen,<br />
dass er sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausübung se<strong>in</strong>es<br />
Berufs nicht auf so etwas wie e<strong>in</strong> „naturwissenschaftliches<br />
<strong>Menschenbild</strong>“ berufen<br />
kann, gleichgültig, welcher mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Richtung er verpflichtet ist. Denn<br />
e<strong>in</strong> naturwissenschaftliches <strong>Menschenbild</strong><br />
<strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, <strong>in</strong> dem <strong>in</strong> unserem<br />
Zusammenhang von <strong>Menschenbild</strong>ern<br />
die Rede ist, gibt es nicht <strong>und</strong> kann es<br />
nicht geben. Denn jede Naturwissenschaft<br />
untersucht immer nur faktische<br />
Sachverhalte, wenn sie danach fragt,<br />
unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> realen<br />
Welt etwas <strong>der</strong> Fall o<strong>der</strong> nicht <strong>der</strong> Fall ist.<br />
E<strong>in</strong>e auch noch so raff<strong>in</strong>iert geplante<br />
naturwissenschaftliche Analyse kann<br />
<strong>in</strong>dessen niemals entdecken, was se<strong>in</strong><br />
<strong>und</strong> was nicht se<strong>in</strong> soll. E<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong>,<br />
das nicht lediglich den Status e<strong>in</strong>es<br />
abstrakten Modells hat, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e<br />
umfassende Glaubensüberzeugung symbolisiert,<br />
muss aber auch die normative<br />
<strong>und</strong> die praktische Dimension abdecken.<br />
Gerade wenn man die Funktion von Men-<br />
11
12<br />
schenbil<strong>der</strong>n im Blick auf den ärztlichen<br />
Auftrag erörtert, kann man nicht darauf<br />
verzichten, das Interesse vornehmlich<br />
<strong>der</strong>en normativem Potenzial zuzuwenden.<br />
Die Erforschung bloßer Fakten liefert<br />
für sich alle<strong>in</strong> niemals e<strong>in</strong>e tragfähige<br />
Basis für die Beantwortung von Legitimationsfragen.<br />
Gegenständliche Naturforschung<br />
alle<strong>in</strong> könnte noch nicht e<strong>in</strong>mal<br />
e<strong>in</strong>e Antwort auf die e<strong>in</strong>fache Frage<br />
begründen „Warum überhaupt <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>?“<br />
Nicht leicht zu beantworten s<strong>in</strong>d Fragen<br />
wie die, ob <strong>Menschenbild</strong>er wahrheitsfähig<br />
s<strong>in</strong>d, unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
man, wenn überhaupt, von richtigen<br />
o<strong>der</strong> von falschen <strong>Menschenbild</strong>ern sprechen<br />
kann <strong>und</strong> <strong>in</strong> welcher Weise <strong>Menschenbild</strong>er<br />
e<strong>in</strong>er Kritik unterzogen werden<br />
können. Dah<strong>in</strong>ter steht die Frage, ob<br />
die Identifizierung mit e<strong>in</strong>em <strong>Menschenbild</strong><br />
entwe<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>er Erkenntnis o<strong>der</strong><br />
auf e<strong>in</strong>em Bekenntnis, auf e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>sicht<br />
o<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>er Entscheidung beruht, mag<br />
e<strong>in</strong>em diese Entscheidung auch von<br />
an<strong>der</strong>en abgenommen worden se<strong>in</strong>. Wer<br />
e<strong>in</strong>e solche Frage stellt, hat aber schon<br />
vorausgesetzt, dass er es mit Glie<strong>der</strong>n<br />
e<strong>in</strong>er Alternative zu tun hat, die e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
ausschließen. Doch bei <strong>der</strong>artigen Erörterungen<br />
darf man nicht übersehen, dass<br />
die Analyse e<strong>in</strong>es <strong>Menschenbild</strong>es e<strong>in</strong>e<br />
Vielheit von heterogenen Elementen<br />
zutage för<strong>der</strong>t, nicht nur Tatsachenannahmen,<br />
son<strong>der</strong>n auch Gebote <strong>und</strong> Verbote,<br />
Werte <strong>und</strong> Normen. Solche Elemente<br />
verlangen unterschiedlich strukturierte<br />
Gestalten <strong>der</strong> Kritik. Zustimmung <strong>und</strong><br />
Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e Norm o<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>e Werteordnung s<strong>in</strong>d von an<strong>der</strong>er<br />
Natur <strong>und</strong> folgen an<strong>der</strong>en Regeln als<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
Annahmen über die Existenz o<strong>der</strong> die<br />
Nichtexistenz von faktischen Sachverhalten.<br />
Die unterschiedliche Struktur dieser<br />
Elemente muss man auch deswegen im<br />
Auge behalten, weil Gebote <strong>und</strong> Werte<br />
oftmals auch <strong>in</strong> maskierter Gestalt auftreten.<br />
Das geschieht beispielsweise dann,<br />
wenn sie die äußere Form von Tatsachenbehauptungen<br />
annehmen, h<strong>in</strong>ter denen<br />
sie ihre wahre Natur gleichsam verstecken.<br />
Weil sich <strong>in</strong> jedem ernst zu nehmenden<br />
<strong>Menschenbild</strong> e<strong>in</strong>e Gemengelage von<br />
faktischen <strong>und</strong> normativen Elementen<br />
ausmachen lässt, kann es als Folge neuer<br />
Erkenntnisse über die reale Welt, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
durch Resultate wissenschaftlicher<br />
Forschung <strong>in</strong> Krisen geraten, die<br />
auch Zweifel <strong>in</strong> Bezug auf die Verb<strong>in</strong>dlichkeit<br />
se<strong>in</strong>es normativen Gehalts nähren.<br />
Sucht man <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht nach<br />
e<strong>in</strong>schlägigen historischen Beispielen, so<br />
braucht man nur an die Namen von Nikolaus<br />
Kopernikus, von Charles Darw<strong>in</strong>,<br />
von Sigm<strong>und</strong> Freud zu er<strong>in</strong>nern. Gerade<br />
die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen <strong>der</strong> christlichen<br />
Religion mit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft<br />
liefern <strong>in</strong>soweit reichhaltiges Material<br />
zu lehrreichen Fallstudien. Sie können<br />
e<strong>in</strong>em zeigen, wie sich <strong>der</strong> normative<br />
Gehalt e<strong>in</strong>es <strong>Menschenbild</strong>es bewahren<br />
lässt, wenn man manches von dem als<br />
bildliche Rede deutet, was man bis dah<strong>in</strong><br />
gemäß se<strong>in</strong>em puren Worts<strong>in</strong>n verstanden<br />
hatte. E<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong> kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Krise aber auch dadurch geraten, dass e<strong>in</strong><br />
Stück se<strong>in</strong>es realen Gehaltes wegbricht.<br />
Das geschieht, wenn die Fakten nicht<br />
mehr dieselben s<strong>in</strong>d, wenn die reale Welt<br />
nicht mehr dieselbe ist wie die Welt, auf
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
die sich <strong>der</strong> normative Gehalt des <strong>Menschenbild</strong>es<br />
bis dah<strong>in</strong> beziehen ließ. Hier<br />
kann man an die Entwicklungen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
gegenwärtigen Mikrobiologie denken, die<br />
sich anbahnen <strong>und</strong> die Aussicht eröffnen,<br />
e<strong>in</strong>es nicht allzu fernen Tages das Wesen<br />
des Menschen, das man bisher für e<strong>in</strong>e<br />
Konstante gehalten hatte, verän<strong>der</strong>n zu<br />
können, nicht nur <strong>in</strong> Bezug auf se<strong>in</strong>e physische,<br />
son<strong>der</strong>n auch auf se<strong>in</strong>e psychische<br />
Ausstattung, beispielsweise auf se<strong>in</strong>e<br />
Triebstruktur. Sobald dieser Punkt erreicht<br />
ist, geht es nicht mehr lediglich darum,<br />
was für e<strong>in</strong> Bild sich <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt vorf<strong>in</strong>dende<br />
Mensch von sich selbst <strong>und</strong> von<br />
se<strong>in</strong>er Welt macht. Denn <strong>in</strong> diesem Fall<br />
muss auch darüber entschieden werden,<br />
auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage welcher Bil<strong>der</strong>, besser<br />
noch: welcher Blaupausen e<strong>in</strong> neuer<br />
Mensch hergestellt, konstruiert werden<br />
soll. Doch diese Probleme liegen außerhalb<br />
des Themenkreises, mit dem sich<br />
unser Symposium befasst.<br />
Dieses Symposium macht es sich zur<br />
Aufgabe, mittels e<strong>in</strong>er Konfrontation <strong>der</strong><br />
h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> jeweiligen ärztlichen Arbeit stehenden<br />
<strong>Menschenbild</strong>er das Verhältnis<br />
zu bestimmen, <strong>in</strong> dem die Schulmediz<strong>in</strong><br />
<strong>und</strong> die verschiedenen Richtungen <strong>der</strong><br />
Komplementärmediz<strong>in</strong> zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen.<br />
Gerade weil dieses Verhältnis durch<br />
Kontroversen charakterisiert ist, sollte<br />
man den Blick zunächst auf das richten,<br />
wor<strong>in</strong> die unterschiedlichen Schulen <strong>und</strong><br />
Richtungen übere<strong>in</strong>kommen. Zweckmäßig<br />
ist dies auch deswegen, weil das Bewusstse<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Basis dazu<br />
beitragen kann, die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen<br />
zu versachlichen. Im Blick auf diese<br />
Basis müssen alle Beteiligten e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
zugestehen, dass das, was sie praktizieren,<br />
ihrer Intention nach jedenfalls <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
ist – wenn auch vielleicht e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Irrtümern<br />
befangene, auf falschen Pr<strong>in</strong>zipien<br />
beruhende <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, vielleicht e<strong>in</strong>e unvollständige,<br />
ihre Möglichkeiten nicht<br />
ausnutzende o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Bezug auf ihre<br />
Wirksamkeit nicht h<strong>in</strong>reichend geprüfte<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Ohne e<strong>in</strong>en <strong>der</strong>artigen M<strong>in</strong>imalkonsens<br />
wäre jedes Gespräch zum Scheitern<br />
verurteilt. Diese Geme<strong>in</strong>samkeit<br />
zeigt sich dar<strong>in</strong>, dass sich je<strong>der</strong> Arzt, an<br />
welchem <strong>Menschenbild</strong> er se<strong>in</strong>e Arbeit<br />
auch immer orientiert, se<strong>in</strong>em Patienten<br />
verpflichtet weiß. Dieser Patient hat sich<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Obhut begeben, als e<strong>in</strong> Homo<br />
patiens, e<strong>in</strong> leiden<strong>der</strong> Mensch, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Situation geraten ist, <strong>in</strong> <strong>der</strong> se<strong>in</strong> Leben<br />
bedroht o<strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Möglichkeiten<br />
reduziert ist, <strong>der</strong> Heilung o<strong>der</strong> wenigstens<br />
L<strong>in</strong><strong>der</strong>ung se<strong>in</strong>es Leidens verlangt, um<br />
diese Situation bestehen zu können, <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> er sich selbst zu helfen nicht mehr<br />
fähig ist [vgl. Wieland 1993]. Nun kann<br />
<strong>der</strong> Mensch von Leid ganz unterschiedlicher<br />
Art betroffen werden. Aber <strong>der</strong> Arzt<br />
weiß, dass er – <strong>in</strong>nerhalb von nicht immer<br />
randscharf markierten Grenzen – nur<br />
für jenes Leid <strong>und</strong> Leiden <strong>der</strong> berufene<br />
Begleiter ist, dessen Ursachen o<strong>der</strong> dessen<br />
Folgen sich auch im Bereich des Körpers<br />
manifestieren.<br />
Man mag e<strong>in</strong>wenden, dass es sich bei<br />
dem eben Gesagten doch nur um e<strong>in</strong>e Trivialität<br />
handelt, <strong>der</strong>en Selbstverständlichkeit<br />
e<strong>in</strong>e Erörterung, selbst e<strong>in</strong>e Erwähnung<br />
erübrigt. Doch gerade die Orientierung<br />
am <strong>Menschenbild</strong> des Homo<br />
patiens, <strong>der</strong> Hilfe begehrt, macht e<strong>in</strong>en<br />
darauf aufmerksam, dass die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
13
14<br />
ihrem formalen Status nach e<strong>in</strong>e praktische<br />
Wissenschaft ist. Wer heute nach dem<br />
Status <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> fragt, erhält freilich<br />
sehr oft nur die Antwort, sie sei angewandte<br />
Naturwissenschaft. Dabei orientiert<br />
man sich an den Wissenschaften von<br />
<strong>der</strong> Natur, wie sie mit ihren spezifisch<br />
neuzeitlichen Fragestellungen <strong>und</strong> Methoden<br />
heute allenthalben betrieben werden.<br />
Das ist immerh<strong>in</strong> verständlich, da<br />
die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> ke<strong>in</strong>er ihrer Wandlungen, die<br />
sie <strong>in</strong> ihrer langen Geschichte erfahren<br />
hat, so große <strong>und</strong> so wirkungsmächtige<br />
Fortschritte verdankt wie <strong>der</strong> Übernahme<br />
von Resultaten <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen naturwissenschaftlichen<br />
Forschung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Anwendung<br />
<strong>der</strong> dort entwickelten Methoden.<br />
So ist es ke<strong>in</strong> Zufall, dass heute<br />
manch e<strong>in</strong> Vertreter gerade <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />
auch sich selbst <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Tätigkeit<br />
e<strong>in</strong>seitig, von <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft<br />
her versteht. Auch im Bereich <strong>der</strong><br />
verschiedenen Richtungen <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
werden schließlich die<br />
<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft entstammenden<br />
Resultate <strong>und</strong> Methoden<br />
nicht überall verschmäht, auch wenn<br />
man dort <strong>in</strong> höherem Maße als <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Schulmediz<strong>in</strong> von Hilfsmitteln Gebrauch<br />
macht, die aus an<strong>der</strong>en Quellen stammen.<br />
Es ist nicht r<strong>und</strong>um verfehlt, den Status<br />
e<strong>in</strong>er Wissenschaft von den Hilfsmitteln<br />
her zu bestimmen, <strong>der</strong>en sie sich<br />
bedient. Dennoch wird die Sachlage dabei<br />
auf unangemessene Weise verzeichnet, da<br />
sie den Blick von dem Ziel ablenkt, das die<br />
Wissenschaft verfolgt. Immerh<strong>in</strong> ist im<br />
Begriff <strong>der</strong> Anwendung das für die sachgerechte<br />
E<strong>in</strong>stufung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als Wissen-<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
schaft zentrale Merkmal enthalten, nämlich<br />
die Ausrichtung auf e<strong>in</strong>e bestimmte<br />
Praxis, auf e<strong>in</strong>e bestimmte Tätigkeit h<strong>in</strong>.<br />
Hier darf man an die alte, ihrem Ursprung<br />
nach aristotelische E<strong>in</strong>teilung <strong>der</strong> Wissenschaften<br />
<strong>in</strong> theoretische <strong>und</strong> praktische<br />
Diszipl<strong>in</strong>en er<strong>in</strong>nern. Sie ist <strong>in</strong> letzter Zeit<br />
fast <strong>in</strong> Vergessenheit geraten, nachdem<br />
sie dem heute beliebten Klassifizierungsschema<br />
Platz gemacht hat, das Naturwissenschaften<br />
<strong>und</strong> Geisteswissenschaften<br />
unterscheidet. Nun lassen sich <strong>in</strong> dieses<br />
Schema gewiss nicht alle wissenschaftlichen<br />
Diszipl<strong>in</strong>en zwanglos e<strong>in</strong>ordnen.<br />
Trotzdem musste sie es sich gefallen lassen,<br />
zu e<strong>in</strong>em Gegensatz von zwei Kulturen<br />
hochstilisiert zu werden, <strong>der</strong>en Vertreter<br />
gr<strong>und</strong>verschiedene Sprachen sprechen<br />
<strong>und</strong> füre<strong>in</strong>an<strong>der</strong> we<strong>der</strong> Interesse noch<br />
Verständnis aufbr<strong>in</strong>gen. Im Vergleich mit<br />
dem Schema von Natur- <strong>und</strong> Geisteswissenschaften,<br />
aber auch mit <strong>der</strong> Unterscheidung<br />
von re<strong>in</strong>en <strong>und</strong> angewandten<br />
Diszipl<strong>in</strong>en erweist sich die alte E<strong>in</strong>teilung<br />
<strong>in</strong> theoretische <strong>und</strong> praktische Wissenschaften<br />
als zwei gleichrangigen <strong>und</strong> vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
unabhängigen Fächergruppen immerh<strong>in</strong><br />
als sachgerechter.<br />
Theoretische Wissenschaften s<strong>in</strong>d<br />
nach dieser E<strong>in</strong>teilung Diszipl<strong>in</strong>en, <strong>in</strong><br />
denen man <strong>der</strong> Idee nach zweckfreie<br />
Erkenntnis, Erkenntnis um ihrer selbst<br />
willen sucht – o<strong>der</strong> die man zum<strong>in</strong>dest so<br />
betreibt, als ob <strong>der</strong> Dienst an <strong>der</strong> Erkenntnis<br />
Selbstzweck wäre. In diesem S<strong>in</strong>n ist<br />
<strong>der</strong> Forscher, mag er Philologe o<strong>der</strong><br />
Mathematiker, Physiker o<strong>der</strong> Historiker<br />
se<strong>in</strong>, nur darauf aus, <strong>in</strong> Freiheit gegenüber<br />
allen Zwecksetzungen <strong>und</strong> Machtansprüchen<br />
von Autoritäten, gleichsam im
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
Stand <strong>der</strong> wissenschaftlichen Unschuld,<br />
aus <strong>der</strong> Distanz e<strong>in</strong>es ke<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en<br />
Interessen verpflichteten, unbeteiligten<br />
Beobachters Erkenntnisse über die reale<br />
o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e ideale Welt zu gew<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> zu<br />
begründen. Frei ist er auch von je<strong>der</strong> Verantwortung<br />
für die Ziele, die von an<strong>der</strong>en<br />
angestrebt <strong>und</strong> mit Hilfe <strong>der</strong> von ihm<br />
erarbeiteten Resultate verwirklicht werden.<br />
Mo<strong>der</strong>ne liberale Staatsverfassungen<br />
garantieren <strong>der</strong> Wissenschaft diese Freiheit,<br />
weil sie <strong>in</strong> ihr e<strong>in</strong> Mittel sehen, das<br />
geeignet ist, den Menschen aus e<strong>in</strong>er<br />
Unmündigkeit zu befreien, <strong>in</strong> <strong>der</strong> ihm<br />
von Autoritäten unterschiedlicher Art<br />
vorgeschrieben wurde, was er als wahr<br />
anzuerkennen hat. Das <strong>Menschenbild</strong>,<br />
das h<strong>in</strong>ter den dem Ideal <strong>der</strong> Freiheit,<br />
auch <strong>der</strong> Zweckfreiheit verpflichteten<br />
theoretischen Wissenschaften steht, ist<br />
demnach das Bild des mündigen Menschen,<br />
<strong>der</strong> die Sache <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Wahrheit selbst <strong>in</strong> die Hand nimmt<br />
<strong>und</strong> damit auf exemplarische Weise e<strong>in</strong><br />
Stück <strong>der</strong> ihm menschenrechtlich zukommenden<br />
Freiheit realisiert.<br />
Praktischen, auf Handeln <strong>und</strong> Tätigkeiten<br />
bezogenen Wissenschaften ist<br />
demgegenüber e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Status eigen.<br />
Ist von ihnen die Rede, so denkt man<br />
heute vielleicht zuerst an die technischen<br />
Diszipl<strong>in</strong>en, die sich die Herstellung o<strong>der</strong><br />
Gestaltung e<strong>in</strong>er Sache o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Zustandes<br />
zum Ziel setzen. Praktische Wissenschaften<br />
im engeren S<strong>in</strong>n – wie die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>,<br />
die Jurisprudenz o<strong>der</strong> die Politologie<br />
– s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>dessen dadurch charakterisiert,<br />
dass es <strong>in</strong> ihnen nicht um irgendwelche<br />
Tätigkeiten geht, son<strong>der</strong>n um jenes Handeln,<br />
das handlungsfähige Personen <strong>in</strong>s<br />
Visier nimmt <strong>und</strong> auf sie zielt. Für sie gelten<br />
an<strong>der</strong>e Gr<strong>und</strong>sätze als für die theoretischen<br />
Fächer. Ihre Eigenart verfehlt man,<br />
wenn man <strong>in</strong> ihnen lediglich angewandte<br />
o<strong>der</strong> anwendende Wissenschaften sieht.<br />
Es charakterisiert nämlich diese Diszipl<strong>in</strong>en,<br />
dass sie sich stets auch selbst als Element<br />
<strong>der</strong> Welt ansehen müssen, mit <strong>der</strong><br />
sie befasst s<strong>in</strong>d. Ihre Vertreter können,<br />
an<strong>der</strong>s als die Theoretiker, <strong>in</strong> Bezug auf<br />
ihren Gegenstand nicht die Position e<strong>in</strong>es<br />
unbeteiligten Beobachters e<strong>in</strong>nehmen.<br />
Zwar erarbeiten auch sie Erkenntnisse,<br />
diese werden von ihnen aber noch nicht<br />
e<strong>in</strong>mal <strong>der</strong> Idee nach um ihrer selbst willen<br />
gesucht, denn diese Diszipl<strong>in</strong>en f<strong>in</strong>den<br />
ihren Zweck <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten<br />
zielgerichteten Handeln – wohlgemerkt<br />
<strong>in</strong> diesem Handeln selbst <strong>und</strong> nicht nur <strong>in</strong><br />
Erkenntnissen von ihm. So gesehen, ist<br />
die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> e<strong>in</strong>e Handlungswissenschaft<br />
<strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, dass sie Handlungen nicht<br />
nur zum Gegenstand macht, son<strong>der</strong>n<br />
auch selbst handelt. 1 Ihr von Hause aus<br />
praktischer Charakter wird nicht dadurch<br />
relativiert, dass sie <strong>in</strong> ihrem Handeln zum<br />
1 Es lässt sich zeigen, warum gerade dieser<br />
Unterschied für die Natur e<strong>in</strong>er praktischen,<br />
also handelnden Wissenschaft von zentraler<br />
Bedeutung ist. Das Wissen von e<strong>in</strong>em Sachverhalt,<br />
auch von e<strong>in</strong>er Handlung kann<br />
man durch die Zuordnung e<strong>in</strong>es Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsgrades<br />
relativieren o<strong>der</strong><br />
gleichsam abschwächen. Das Handeln selbst<br />
ist dagegen das, was es ist, stets ganz <strong>und</strong><br />
ungeteilt. E<strong>in</strong>e Handlung wird realisiert o<strong>der</strong><br />
sie wird nicht realisiert. Gr<strong>und</strong>sätzlich kann<br />
man sogar den Grad <strong>der</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
eruieren, mit dem damit zu rechnen ist, dass<br />
man <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukunft e<strong>in</strong>e bestimmte Handlung<br />
realisieren wird. Ist dies aber geschehen,<br />
so kommt deswegen <strong>der</strong> Handlung<br />
selbst nicht bloß e<strong>in</strong>e gewisse Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
zu.<br />
15
16<br />
Wohle des Patienten, <strong>in</strong> weitem Umfang<br />
auch von Ergebnissen theoretischer, vorwiegend<br />
naturwissenschaftlicher Fächer<br />
Gebrauch macht.<br />
Nun darf man fragen, was damit<br />
gewonnen ist, wenn man die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
ihrem Status nach als nicht als angewandte<br />
Naturwissenschaft, son<strong>der</strong>n als praktische<br />
Wissenschaft e<strong>in</strong>stuft. E<strong>in</strong> Skeptiker<br />
mag sogar argwöhnen, dass hier letztlich<br />
nur e<strong>in</strong> folgenloses Spiel mit Begriffen<br />
betrieben wird. Doch es lässt sich deutlich<br />
machen, dass dem nicht so ist. Dass die<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong> weitem Umfang von Ergebnissen<br />
<strong>und</strong> Methoden <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen<br />
Forschung Gebrauch macht,<br />
wird freilich niemand ernsthaft bestreiten.<br />
Wer sie jedoch alle<strong>in</strong> auf dieser Basis<br />
def<strong>in</strong>ieren will, entwertet von vornhere<strong>in</strong><br />
alle Möglichkeiten, dem leidenden, vom<br />
Tod bedrohten Menschen auch mit Hilfsmitteln<br />
an<strong>der</strong>er Provenienz beizustehen.<br />
Der Satz „Wer heilt, hat Recht“ mag<br />
Gefahr laufen, die e<strong>in</strong>schlägigen Probleme<br />
zu trivialisieren. Dennoch macht er <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>er holzschnittartigen E<strong>in</strong>fachheit<br />
darauf aufmerksam, dass man den Status<br />
<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> nicht von ihren Hilfsmitteln<br />
<strong>und</strong> Werkzeugen, son<strong>der</strong>n ausschließlich<br />
von ihrem Ziel her bestimmen muss – wie<br />
immer sie ihn auch erreicht. Die Ergebnisse<br />
<strong>der</strong> Arbeit des Arztes haben stets Vorrang<br />
vor den Voraussetzungen, unter<br />
denen sie erzielt worden s<strong>in</strong>d. 2<br />
Zur Verdeutlichung <strong>der</strong> Eigenart <strong>der</strong><br />
praktischen Wissenschaften seien e<strong>in</strong>ige<br />
<strong>der</strong> für sie charakteristischen Merkmale<br />
angeführt. So kann e<strong>in</strong>e solche Diszipl<strong>in</strong><br />
gerade deswegen, weil sie ihr Ziel <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em bestimmten Handeln f<strong>in</strong>det, nicht<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
auf das Ideal <strong>der</strong> Wertfreiheit verpflichtet<br />
werden. Denn jedes menschliche Handeln<br />
unterliegt e<strong>in</strong>er Bewertung, mit <strong>der</strong><br />
es als legitim o<strong>der</strong> illegitim, als geboten,<br />
freigestellt o<strong>der</strong> verboten e<strong>in</strong>gestuft wird.<br />
Je<strong>der</strong> handelnde Mensch unterstellt se<strong>in</strong><br />
Tun e<strong>in</strong>er ethischen Normierung, sei es<br />
2 Erwünschte Resultate können gelegentlich<br />
sogar auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage fragwürdiger o<strong>der</strong><br />
gar falscher Voraussetzungen erzielt werden.<br />
Sie lassen sich durch den H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e<br />
<strong>der</strong>artige Entstehung nicht entwerten. Nur<br />
auf den ersten Blick sche<strong>in</strong>t überzeugend zu<br />
argumentieren, wer geltend macht, falsche<br />
Voraussetzungen würden e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> Mühe<br />
entheben, sich mit den Resultaten ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
zu setzen, da aus Falschem niemals Richtiges<br />
folgen könne. Doch Argumentationen,<br />
die diesem Muster folgen, s<strong>in</strong>d selbst<br />
unhaltbar – ihrer verme<strong>in</strong>tlichen Evidenz<br />
zum Trotz. Das ergibt sich bereits aus den<br />
Gesetzen <strong>der</strong> formalen Logik. Hier wird e<strong>in</strong><br />
Lehr<strong>in</strong>halt (die so genannte Paradoxie <strong>der</strong><br />
Implikation) bedeutsam, <strong>der</strong> für manch<br />
e<strong>in</strong>en Anfänger <strong>in</strong> <strong>der</strong> Logik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat wie<br />
e<strong>in</strong> Stolperste<strong>in</strong> wirkt. Es handelt sich um<br />
die Merkwürdigkeit, dass sich aus wahren<br />
Sätzen auf formal logisch korrekte Weise nur<br />
wahre Sätze erschließen lassen, dass es an<strong>der</strong>erseits<br />
jedoch möglich ist, aus falschen Sätzen<br />
nicht nur an<strong>der</strong>e falsche Sätze, son<strong>der</strong>n<br />
gelegentlich auch wahre Sätze abzuleiten,<br />
<strong>und</strong> dies, wohlgemerkt, auf logisch vollkommen<br />
korrekte Weise. Aus diesem Gr<strong>und</strong> lässt<br />
sich e<strong>in</strong> Resultat auch <strong>in</strong>haltlich nicht<br />
schon dadurch ad absurdum führen, dass<br />
man auf falsche Voraussetzungen verweist,<br />
auf <strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong>lage es erzielt worden ist.<br />
Mit an<strong>der</strong>en Worten: Richtige Voraussetzungen<br />
garantieren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Logik, sofern nur<br />
methodisch korrekt gearbeitet wird, auch<br />
richtige Resultate; falsche Voraussetzungen<br />
können dagegen bald zu falschen, bald aber<br />
auch zu richtigen Resultaten führen. Natürlich<br />
will jede Wissenschaft die Resultate<br />
ihrer Arbeit <strong>in</strong> letzter Instanz auch auf richtige<br />
Pr<strong>in</strong>zipien gründen. Dem steht jedoch<br />
nicht entgegen, dass <strong>der</strong> Möglichkeit, zutreffende<br />
Ergebnisse gelegentlich auch auf <strong>der</strong><br />
Basis falscher Voraussetzungen zu erzielen,<br />
e<strong>in</strong> heuristisches Potential <strong>in</strong>newohnt, das<br />
man nicht verachten sollte.
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
auf ausdrückliche o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest auf<br />
latente Weise. Als praktische Wissenschaft<br />
kann sich die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> daher noch<br />
nicht e<strong>in</strong>mal fiktiv von <strong>der</strong> Dimension<br />
<strong>der</strong> Werte distanzieren. Das ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>,<br />
warum die ärztliche Ethik e<strong>in</strong> Zweig dieser<br />
Wissenschaft <strong>und</strong> nicht lediglich e<strong>in</strong><br />
Superadditum darstellt. Der <strong>in</strong> unserer<br />
Gegenwart stark zunehmende Komplikationsgrad<br />
<strong>der</strong> e<strong>in</strong>schlägigen Probleme hat<br />
bekanntlich, um die Präsenz <strong>der</strong> Wertdimension<br />
zu sichern, zu <strong>der</strong> Bestellung<br />
von Ethikkommissionen geführt. Jedenfalls<br />
kann sich ke<strong>in</strong> Vertreter e<strong>in</strong>er praktischen<br />
Diszipl<strong>in</strong>, auch nicht <strong>der</strong> handelnde<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> forschende Arzt, auf die Freiheit<br />
<strong>der</strong> Wissenschaft berufen <strong>und</strong><br />
gegenüber den für alles menschliche Handeln<br />
geltenden ethischen Normen irgendwelche<br />
Son<strong>der</strong>rechte beanspruchen. Das<br />
hatte beispielsweise die Deutsche Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
verkannt, als sie<br />
sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em für die Öffentlichkeit<br />
bestimmten Memorandum für die These<br />
stark machte, <strong>in</strong> bestimmten Fällen könne<br />
das Zurücktreten des – menschenrechtlich<br />
garantierten – Gr<strong>und</strong>rechts auf<br />
Leben gegenüber dem Gr<strong>und</strong>recht auf<br />
Forschungsfreiheit geboten se<strong>in</strong>. 3 Man<br />
erweist <strong>der</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> <strong>der</strong> Forschung<br />
ke<strong>in</strong>en Dienst, wenn man verlangt,<br />
dass für sie notfalls auch das Leben<br />
von Menschen e<strong>in</strong>gesetzt wird.<br />
E<strong>in</strong>e f<strong>und</strong>amentale Differenz zwischen<br />
theoretischen <strong>und</strong> praktischen Diszipl<strong>in</strong>en<br />
zeigt sich <strong>in</strong> ihrem Umgang mit<br />
Hypothesen. Zu dem erstaunlichen Erfolg<br />
<strong>der</strong> neuzeitlichen theoretischen Wissenschaften<br />
hat zu e<strong>in</strong>em guten Teil beigetragen,<br />
dass sie nicht nur <strong>in</strong> weitem Umfang<br />
von Hypothesen Gebrauch gemacht<br />
haben, son<strong>der</strong>n sich auch häufig damit<br />
zufrieden gaben, hypothetisches Wissen<br />
zu erarbeiten. Analysiert man die Resultate<br />
ihrer Arbeit auf ihre logische Struktur<br />
h<strong>in</strong>, so zeigt sich, dass e<strong>in</strong>e große Anzahl<br />
von ihnen die Form von Wenn-Dann-Aussagen<br />
hat. In <strong>der</strong> Regel wird nicht<br />
erforscht, was schlechth<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n was<br />
unter bestimmten Voraussetzungen <strong>der</strong><br />
Fall ist. Nun kann auch e<strong>in</strong>e praktische<br />
Diszipl<strong>in</strong> von Hypothesen Gebrauch<br />
machen. Das geschieht, wenn sie Vorerwägungen<br />
<strong>in</strong> Bezug auf Handlungsalternativen<br />
anstellt. Gleichwohl gibt es zwar e<strong>in</strong><br />
hypothetisches, nur unter bestimmten<br />
Voraussetzungen gültiges Wissen, aber es<br />
gibt ke<strong>in</strong> hypothetisches Handeln, ke<strong>in</strong><br />
wirkliches Handeln auf Probe. Mit jedem<br />
Handeln ist gleichsam <strong>der</strong> „Ernstfall“<br />
gegeben, weil mit ihm Unwi<strong>der</strong>rufliches<br />
<strong>und</strong> Endgültiges gesetzt wird. E<strong>in</strong>e Hypothese<br />
kann man zurücknehmen o<strong>der</strong> austauschen;<br />
e<strong>in</strong>e Handlung kann man zwar<br />
bereuen, aber niemals wi<strong>der</strong>rufen.<br />
Die Fragen, auf die <strong>der</strong> Theoretiker<br />
e<strong>in</strong>e Antwort sucht, hat er sich zum<strong>in</strong>dest<br />
im Pr<strong>in</strong>zip immer selbst gestellt. In dem<br />
von ihm geplanten Experiment kann er<br />
sogar den Gegenstand, auf den er se<strong>in</strong><br />
Interesse richten will, nicht nur selbst<br />
bestimmen, son<strong>der</strong>n sogar auch präparieren<br />
<strong>und</strong> gestalten. Ganz an<strong>der</strong>e Verhältnisse<br />
liegen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> vor. Der Arzt<br />
wählt sich se<strong>in</strong>e Probleme niemals selbst<br />
aus; sie werden ihm vielmehr von se<strong>in</strong>em<br />
Partner, vom Patienten gestellt. Deshalb<br />
3 Vgl. das Memorandum „Forschungsfreiheit“,<br />
We<strong>in</strong>heim 1966.<br />
17
18<br />
steht <strong>der</strong> Praktiker zudem, wie es ohneh<strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Eigenart allen Handelns entspricht,<br />
auch immer unter dem Diktat <strong>der</strong> Zeit,<br />
des Hier <strong>und</strong> Jetzt. Der Theoretiker muss<br />
es aushalten können, se<strong>in</strong>e Probleme<br />
e<strong>in</strong>stweilen auch e<strong>in</strong>mal zu suspendieren<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schwebe zu lassen. Der Arzt<br />
kann h<strong>in</strong>gegen die D<strong>in</strong>ge nie auf sich<br />
beruhen lassen. Das von ihm gefor<strong>der</strong>te<br />
Handeln darf er niemals aufschieben.<br />
Der strukturelle Unterschied zwischen<br />
theoretischen <strong>und</strong> praktischen Wissenschaften<br />
zeigt sich auch im Status ihrer<br />
Vertreter. Wer zum<strong>in</strong>dest <strong>der</strong> Idee nach<br />
Erkenntnis um ihrer selbst willen sucht,<br />
kann die Resultate se<strong>in</strong>er Bemühungen <strong>in</strong><br />
Gestalt e<strong>in</strong>es Systems von Sätzen objektivieren<br />
<strong>und</strong> sich mit se<strong>in</strong>er eigenen Person<br />
zugleich davon distanzieren. Se<strong>in</strong>e Position<br />
ist die e<strong>in</strong>es unbeteiligten Beobachters,<br />
<strong>der</strong> die D<strong>in</strong>ge gleichsam von außen<br />
betrachtet. Dagegen kann <strong>der</strong> Handelnde<br />
niemals h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong> Handeln zurücktreten.<br />
In das Gegenstandsfeld, mit dem er<br />
sich befasst, ist er stets auch selbst <strong>in</strong>volviert.<br />
Denn mit se<strong>in</strong>en Handlungen hat<br />
man sich immer schon unwi<strong>der</strong>ruflich<br />
identifiziert, auch wenn e<strong>in</strong>em dies im<br />
E<strong>in</strong>zelfall vielleicht nicht gefällt o<strong>der</strong><br />
wenn man se<strong>in</strong> Handeln später bereut.<br />
Das darf man nicht übersehen, wo nach<br />
dem <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> gefragt<br />
wird. Von ihrer personalen Verankerung<br />
kann man noch nicht e<strong>in</strong>mal fiktiv abstrahieren.<br />
Das ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>, warum es bei<br />
<strong>der</strong> Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong> nicht<br />
nur um das Bild des Homo patiens, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>in</strong> gleicher Weise auch um das Bild<br />
des unter dem Diktat <strong>der</strong> Zeit stehenden<br />
Arztes geht.<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
Achtet man auf den Status <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
als den e<strong>in</strong>er praktischen Wissenschaft,<br />
wird man auch leichter <strong>der</strong> Eigenart<br />
<strong>der</strong> Begriffe gerecht, mit denen sie<br />
umgeht <strong>und</strong> mit denen sie ihr Handeln<br />
begleitet. Ihrem formalen Charakter nach<br />
s<strong>in</strong>d sie nämlich handlungsleitende Begriffe.<br />
Betrachtet man beispielsweise den<br />
Begriff <strong>der</strong> Diagnose auch auf se<strong>in</strong>e Funktion<br />
h<strong>in</strong>, so zeigt sich sofort, dass er allenfalls<br />
beiläufig e<strong>in</strong> Erkenntnisbegriff ist, <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>em Kern jedoch zu den Handlungselementen<br />
gehört, <strong>der</strong>er sich <strong>der</strong> Arzt<br />
bedient, um die <strong>in</strong> <strong>der</strong> jeweiligen Situation<br />
gebotenen Handlungen nicht nur zu<br />
ermitteln, son<strong>der</strong>n zugleich auch zu normieren.<br />
Deswegen kann es unärztliches<br />
Verhalten se<strong>in</strong>, Diagnostik zu betreiben,<br />
aus <strong>der</strong> nichts weiter folgt. Losgelöst aus<br />
<strong>der</strong> Handlungskette, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie ihre unvertretbare<br />
Funktion erfüllt, kann <strong>der</strong> pure<br />
Erkenntniswert e<strong>in</strong>er Diagnose nur wenig<br />
Interesse erwecken.<br />
Auch <strong>der</strong> Leitbegriff <strong>der</strong> Krankheit<br />
gehört zu den praktischen Begriffen. Er<br />
markiert jenen Teilbereich menschlichen<br />
Lebens <strong>und</strong> Leidens, auf den die ärztliche<br />
Kunst ausgerichtet ist <strong>und</strong> <strong>in</strong> dem sie<br />
aktiv wird. Hier sche<strong>in</strong>t es, als würde sich<br />
die e<strong>in</strong>seitig an den Naturwissenschaften<br />
orientierte Deutung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> schließlich<br />
doch noch bewähren. E<strong>in</strong> Krankheitsprozess<br />
ist e<strong>in</strong> Naturvorgang <strong>und</strong><br />
ke<strong>in</strong> Resultat des E<strong>in</strong>greifens übernatürlicher<br />
Mächte – das ist e<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong>satz, den<br />
man schon <strong>der</strong> griechischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> verdankt.<br />
Die Erforschung <strong>der</strong>artiger Vorgänge<br />
mit den Mitteln <strong>der</strong> neuzeitlichen<br />
Naturwissenschaft hat dann e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />
von Möglichkeiten eröffnet, gezielt <strong>in</strong> sie
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
e<strong>in</strong>zugreifen. Dennoch bleibt jede Argumentation<br />
lückenhaft, mit <strong>der</strong> man versucht,<br />
auf eben diesen Möglichkeiten<br />
e<strong>in</strong>en natürlichen Krankheitsbegriff zu<br />
gründen. Denn e<strong>in</strong>en natürlichen Krankheitsbegriff<br />
gibt es nicht. Das sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e<br />
reichlich provokante These zu se<strong>in</strong>. Aber<br />
auch wenn Krankheiten Naturprozesse<br />
s<strong>in</strong>d, lässt sich dieser Tatsache alle<strong>in</strong> noch<br />
ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis darauf entnehmen, an welchen<br />
Kriterien man sich orientieren soll,<br />
wenn man aus <strong>der</strong> unüberschaubar großen<br />
Fülle <strong>der</strong> Naturereignisse e<strong>in</strong>e Teilklasse<br />
von Vorgängen e<strong>in</strong>grenzen will,<br />
um sie <strong>und</strong> nur sie als Krankheiten zu<br />
markieren <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihren von <strong>der</strong> Natur<br />
vorgezeichneten Verlauf e<strong>in</strong>zugreifen.<br />
Noch ke<strong>in</strong>er <strong>der</strong> vielen Versuche, e<strong>in</strong>en<br />
Krankheitsbegriff ausschließlich mit Hilfe<br />
natürlicher Kriterien zu def<strong>in</strong>ieren, hat<br />
bislang zu e<strong>in</strong>em Ergebnis geführt, dem es<br />
gelungen wäre, allgeme<strong>in</strong>e Anerkennung<br />
zu f<strong>in</strong>den.<br />
Die Vergeblichkeit dieser Versuche<br />
erhellt sich aus dem e<strong>in</strong>fachen Sachverhalt:<br />
Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit betriebenen<br />
Naturwissenschaften s<strong>in</strong>d mitsamt ihren<br />
Begriffen wertfrei. Ihre Neutralität gegenüber<br />
allen Werten gehört zu den Faktoren,<br />
die zu ihrem beispiellosen Erfolg beigetragen<br />
haben. Der Begriff <strong>der</strong> Krankheit<br />
ist h<strong>in</strong>gegen von Hause aus e<strong>in</strong> Wertbegriff.<br />
Genauer: Er ist e<strong>in</strong> hybri<strong>der</strong> Begriff,<br />
<strong>der</strong> sowohl faktische als vor allem auch<br />
normative Momente enthält. Bedient<br />
man sich se<strong>in</strong>er, so will man bestimmte<br />
Naturvorgänge nicht nur bezeichnen,<br />
son<strong>der</strong>n zugleich auch signalisieren, dass<br />
<strong>in</strong> sie e<strong>in</strong>zugreifen statthaft, vielleicht<br />
sogar geboten ist. Wendet man diesen<br />
Begriff auf e<strong>in</strong>en solchen Vorgang an, so<br />
drückt man also aus, dass er nicht se<strong>in</strong> soll.<br />
Was se<strong>in</strong> soll o<strong>der</strong> nicht se<strong>in</strong> soll, lässt sich<br />
aber, bei Strafe des „naturalistischen Fehlschlusses“,<br />
wie ihn die Ethiker nennen,<br />
auch auf e<strong>in</strong>e noch so genaue Beobachtung<br />
dessen, was ist, also auf Faktisches<br />
alle<strong>in</strong> niemals gründen. Wer die belebte<br />
Natur mit e<strong>in</strong>em konsequent wertfreien<br />
Blick ansieht, entdeckt dort ke<strong>in</strong>e Krankheiten,<br />
son<strong>der</strong>n allenfalls aufbauende<br />
<strong>und</strong> abbauende Prozesse, die sich oft die<br />
Waage halten. Auf diese normativen<br />
Momente im Krankheitsbegriff hat übrigens<br />
auch Karl Jaspers <strong>in</strong> <strong>der</strong> „Allgeme<strong>in</strong>en<br />
Psychopathologie“, <strong>der</strong> bedeutendsten<br />
se<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischen Arbeiten, aufmerksam<br />
gemacht: „In <strong>der</strong> Menge <strong>der</strong><br />
Anwendungen, die <strong>der</strong> Krankheitsbegriff<br />
gef<strong>und</strong>en hat, ... ist das e<strong>in</strong>zig Geme<strong>in</strong>same,<br />
daß damit immer e<strong>in</strong> Werturteil ausgedrückt<br />
wird. Krank heißt unter irgende<strong>in</strong>em,<br />
aber ke<strong>in</strong>eswegs immer gleichen<br />
Gesichtspunkt schädlich, unerwünscht,<br />
m<strong>in</strong><strong>der</strong>wertig ... Mit krank wird zunächst<br />
bezeichnet, daß etwas e<strong>in</strong>en Unwert darstellt“<br />
[Jaspers 1965]. Ohne e<strong>in</strong>e solche<br />
Normierung präsentieren sich Krankheiten<br />
als bloße Naturprozesse wie alle an<strong>der</strong>en<br />
Naturvorgänge auch. Hat man aber<br />
erst e<strong>in</strong>mal bestimmte Prozesse als Krankheiten<br />
normiert, braucht man sich von<br />
niemandem daran h<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu lassen,<br />
ihren Verlauf mit allen Techniken wertneutraler<br />
Naturforschung zu analysieren. 4<br />
4 In <strong>der</strong> Sprache unseres Alltags bedienen wir<br />
uns ständig hybri<strong>der</strong> Begriffe. Ohneh<strong>in</strong> entspricht<br />
es unserer Lebenspraxis, dass wir die<br />
D<strong>in</strong>ge, die uns begegnen <strong>und</strong> mit denen wir<br />
uns befassen, nicht nur bezeichnen, son<strong>der</strong>n<br />
19
20<br />
Wer die normative Basis des Krankheitsbegriffes<br />
im Auge behält, wird sich<br />
schwerlich darüber w<strong>und</strong>ern, dass die<br />
Grenzen se<strong>in</strong>er Anwendung seit eh <strong>und</strong> je<br />
dem Wandel unterworfen s<strong>in</strong>d. Das lässt<br />
sich an Hand von manchen Beispielen<br />
wie mit denen <strong>der</strong> Infertilität o<strong>der</strong> des<br />
Alkoholismus, <strong>der</strong> Migräne o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Adipositas,<br />
<strong>der</strong> Schlaflosigkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Gedeihstörungen <strong>der</strong> frühen K<strong>in</strong>dheit gut<br />
belegen. Lehrreich ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
auch <strong>der</strong> Umgang mit jenen<br />
Geisteskrankheiten, die – an<strong>der</strong>s als heute<br />
– ehedem nicht als eigentliche Krankheiten<br />
anerkannt waren, aber auch <strong>der</strong><br />
Umgang mit psychischen Deviationen<br />
sowie mit Ersche<strong>in</strong>ungsformen <strong>der</strong> Sexualität,<br />
für die <strong>in</strong> früheren Zeiten nicht <strong>der</strong><br />
Arzt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Exorzist, <strong>der</strong> Beichtvater,<br />
wenn nicht sogar <strong>der</strong> Strafrichter zuständig<br />
war. Er<strong>in</strong>nern darf man <strong>in</strong> diesem<br />
Zusammenhang auch an die Vexierfrage,<br />
ob das Altern als Krankheit anzusehen sei;<br />
es ist e<strong>in</strong>e Frage, die sich mit Hilfe naturwissenschaftlicher<br />
Analysen alle<strong>in</strong> selbst<br />
dann nicht beantworten ließe, wenn<br />
sämtliche mikrobiologisch <strong>und</strong> biochemisch<br />
erfassbaren Elemente des Alterungsprozesses<br />
bereits erforscht wären.<br />
Man hat sich jedenfalls im Lauf <strong>der</strong> Zeit<br />
daran gewöhnt, e<strong>in</strong>em immer größeren<br />
Kreis von Zuständen „Krankheitswert“<br />
zuzusprechen. Das zeigt sich auch daran,<br />
dass das Krankenbett heute nicht mehr<br />
als das generelle <strong>und</strong> zentrale Leitsymbol<br />
für alle ernsthaften Krankheiten gelten<br />
kann. Es ist <strong>in</strong>dessen ke<strong>in</strong> Zufall, dass die<br />
Entwicklung diese Richtung genommen<br />
hat. Denn die mit <strong>der</strong> Krankenrolle verb<strong>und</strong>enen,<br />
nach <strong>und</strong> nach immer weiter<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
ausgedehnten sozialen Privilegien können<br />
e<strong>in</strong>en dazu verführen, diese Rolle<br />
unbewusst, manchmal sogar gezielt anzustreben.<br />
Dann gerät allerd<strong>in</strong>gs leicht <strong>in</strong><br />
Vergessenheit, dass als eigentliche Krankheiten<br />
ursprünglich nur Zustände <strong>und</strong><br />
Prozesse galten, h<strong>in</strong>ter denen, sich selbst<br />
überlassen, <strong>der</strong> Tod droht. Wie immer<br />
aber die Kriterien auch def<strong>in</strong>iert se<strong>in</strong><br />
mögen, gemäß denen man e<strong>in</strong>em Menschen<br />
zugesteht, die Krankenrolle <strong>in</strong><br />
Anspruch zu nehmen – <strong>in</strong> jedem Fall wird<br />
<strong>der</strong> Arzt ebenso wie <strong>der</strong> Patient akzeptieren<br />
müssen, dass Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
nicht durch e<strong>in</strong>e randscharfe Grenze,<br />
son<strong>der</strong>n durch e<strong>in</strong>e breite Grauzone vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
getrennt s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e Grauzone, <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> sich die ärztliche Kunst <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em<br />
Maße zu bewähren hat.<br />
Der Wandel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bestimmung des<br />
Krankheitsbegriffes f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Entsprechung<br />
im Bereich <strong>der</strong> Medikamente.<br />
Medikamente s<strong>in</strong>d bekanntlich Stoffe, die<br />
geeignet <strong>und</strong> dazu bestimmt s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong><br />
Krankheitsprozesse e<strong>in</strong>zugreifen. Man<br />
Fortsetzung Fn 4<br />
zugleich auch unter bestimmten, ständig<br />
wechselnden Gesichtspunkten bewerten.<br />
Die randscharfe Unterscheidung normativer<br />
<strong>und</strong> deskriptiver Elemente ist bereits e<strong>in</strong><br />
Ergebnis jener Abstraktion, die zu den<br />
Voraussetzungen je<strong>der</strong> Wissenschaft gehört,<br />
<strong>in</strong>sofern sie sich von <strong>der</strong> lebenspraktischen<br />
E<strong>in</strong>stellung des Alltags abhebt. E<strong>in</strong> triviales<br />
Beispiel für e<strong>in</strong>en solchen hybriden Begriff<br />
ist <strong>der</strong> Begriff „Unkraut“. Wo man ihn verwendet,<br />
will man bewerten, <strong>und</strong> zwar unter<br />
Gesichtspunkten, die sich nicht alle<strong>in</strong> den<br />
botanischen Fakten entnehmen lassen.<br />
Unkraut f<strong>in</strong>det sich daher nur dort, wo<br />
Menschen zielgerichtet aktiv s<strong>in</strong>d. In <strong>der</strong><br />
freien, vom Menschen, se<strong>in</strong>en Plänen <strong>und</strong><br />
Bewertungen noch nicht <strong>in</strong> Besitz genommenen<br />
Natur lässt sich ke<strong>in</strong> Unkraut entdecken.
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
suchte sie lange Zeit vorwiegend <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Natur; später war die Herstellung solcher<br />
Stoffe Aufgabe gezielter Forschung bis h<strong>in</strong><br />
zur mo<strong>der</strong>nen <strong>in</strong>dustriellen Projektforschung.<br />
Heute kann die Entwicklung von<br />
Lifestyle-„Medikamenten“, also von Stoffen,<br />
von denen ihre Konsumenten e<strong>in</strong>e<br />
Anhebung <strong>der</strong> Bef<strong>in</strong>dlichkeit <strong>und</strong> des<br />
Gefühlslebens erwarten dürfen, Material<br />
zu e<strong>in</strong>er lehrreichen Fallstudie liefern. Es<br />
s<strong>in</strong>d Mechanismen <strong>der</strong> Ökonomie, die<br />
dem Interesse Vorschub leisten, die<br />
Zustände, die sich auf diese Weise <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />
diesem S<strong>in</strong>n modifizieren lassen, unter<br />
gleichsam den „Schutz“ des Krankheitsbegriffes<br />
zu stellen. E<strong>in</strong> erfolgreiches<br />
Sachbuch hat diese D<strong>in</strong>ge mit journalistischen<br />
Mitteln aufzubereiten versucht <strong>und</strong><br />
sie dabei gewiss auch vergröbert [Blech<br />
2003]. Dennoch lässt sich nicht ausschließen,<br />
dass nicht mehr nur zur Bekämpfung<br />
von Krankheiten Medikamente, son<strong>der</strong>n<br />
auch zu potenziellen Medikamenten entsprechende<br />
Krankheiten gesucht werden:<br />
„Jede mediz<strong>in</strong>technische Möglichkeit<br />
führt bei entsprechen<strong>der</strong> sozialpsychologischer<br />
Aufbereitung zur gesellschaftlichen<br />
Nachfrage, die sich als Krankheit<br />
beschreiben lässt“ [Forschner 2001]. E<strong>in</strong><br />
bekannter Journalist formuliert sogar,<br />
leicht übertreibend: „Die demokratische<br />
Zukunft im biotechnischen Zeitalter<br />
hängt von <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition des Wortes<br />
‚Krankheit’ ab. Krankheit ist vieles <strong>und</strong><br />
am Ende das Leben selbst“ [Schirrmacher<br />
2001]. Freilich könnte es se<strong>in</strong>, dass sich<br />
die Tendenz, e<strong>in</strong>e immer größere Anzahl<br />
von Zuständen unter dem Begriff <strong>der</strong><br />
Krankheit zu subsumieren, e<strong>in</strong>es Tages<br />
e<strong>in</strong>mal umkehrt. Dergleichen werden wir<br />
vermutlich von dem Zwang zur Rationierung<br />
im Ges<strong>und</strong>heitswesen zu erwarten<br />
haben, von dem heute erst die Anfänge<br />
spürbar s<strong>in</strong>d.<br />
Den Status <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als den e<strong>in</strong>er<br />
praktischen Wissenschaft <strong>und</strong> den normativen<br />
Kern des Krankheitsbegriffes<br />
habe ich <strong>in</strong> diesem Vortrag deswegen<br />
beson<strong>der</strong>s betont, weil sich so die Umrisse<br />
e<strong>in</strong>es <strong>Menschenbild</strong>es <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> am<br />
besten nachzeichnen lassen. Wer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Krankheit nichts an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong> Naturereignis<br />
sieht, kann auf dieser Basis alle<strong>in</strong><br />
noch nicht legitimieren, dass man <strong>in</strong> sie<br />
e<strong>in</strong>greift, dass man nicht bereit ist, <strong>der</strong><br />
Natur ihren Lauf zu lassen – wozu ihn e<strong>in</strong><br />
Radikalnaturalist durchaus ermutigen<br />
könnte. Die Rede von bloßen Umrissen<br />
e<strong>in</strong>es <strong>Menschenbild</strong>es ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
mit Bedacht gewählt. Denn<br />
die unterschiedlichen Bil<strong>der</strong>, die h<strong>in</strong>ter<br />
den e<strong>in</strong>zelnen Richtungen <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
stehen, weisen e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen<br />
Gr<strong>und</strong>bestand auf. Er eröffnet die Chance,<br />
bestimmte Legitimationsfragen zu<br />
beantworten: „Warum überhaupt <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>?<br />
– Warum lässt man dem Menschen<br />
die Betreuung durch die ärztliche Kunst<br />
angedeihen? – Warum gesteht man ihm<br />
das Recht zu, e<strong>in</strong>e solche Betreuung sogar<br />
zu verlangen?“ Auf dem Boden e<strong>in</strong>er<br />
strikt als Naturwissenschaft verstandenen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> alle<strong>in</strong> lassen sich solche Fragen<br />
jedenfalls nicht beantworten.<br />
Die Antworten f<strong>in</strong>det man im H<strong>in</strong>weis<br />
auf das im Menschen, was <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er natürlichen<br />
Faktizität nicht aufgeht. Man hat es<br />
im Auge, wenn man mit oft missbrauchten,<br />
im Kern aber immer noch unverbrauchten<br />
Ausdrücken von Humanität<br />
21
22<br />
<strong>und</strong> von <strong>der</strong> Würde des Menschen spricht.<br />
Wenn man sie durch Unantastbarkeit auszeichnet,<br />
so bedeutet dies nicht, dass sie<br />
nicht missachtet werden könnte. Dergleichen<br />
geschieht ohneh<strong>in</strong> allenthalben.<br />
Unantastbar ist sie – mitsamt den auf ihr<br />
basierenden Menschenrechten – deswegen,<br />
weil sie jedem Menschen kraft eigenen<br />
Rechts o<strong>der</strong>, wie man auch zu sagen<br />
pflegt, schon von Geburt an zukommt. Sie<br />
wird ihm daher nicht von se<strong>in</strong>esgleichen<br />
verliehen, <strong>und</strong> sie kann ihm deshalb auch<br />
von niemandem entzogen werden. Sie<br />
kommt ihm zu, weil er, unbeschadet se<strong>in</strong>er<br />
physischen Existenz, auch e<strong>in</strong> moralfähiges<br />
Wesen ist, e<strong>in</strong> Wesen, das nicht<br />
nur reagiert, son<strong>der</strong>n auch agiert, weil er<br />
mith<strong>in</strong> das Subjekt se<strong>in</strong>er Handlungen ist,<br />
die er unter Normen stellt, <strong>und</strong> zwar auch<br />
dann, wenn er im E<strong>in</strong>zelfall gegen sie verstößt<br />
– mit an<strong>der</strong>en Worten: weil er e<strong>in</strong><br />
Wesen ist, das für se<strong>in</strong> Handeln verantwortlich<br />
ist <strong>und</strong> deshalb dafür auch zur<br />
Rechenschaft gezogen werden kann. 5<br />
Nur als e<strong>in</strong> so geartetes Wesen kann<br />
e<strong>in</strong> je<strong>der</strong> Mensch von se<strong>in</strong>esgleichen jene<br />
Anerkennung verlangen, mit <strong>der</strong> es nicht<br />
zu vere<strong>in</strong>baren ist, dass man mit ihm ausschließlich<br />
wie mit e<strong>in</strong>em Objekt umgeht.<br />
So spricht <strong>der</strong> Arzt nicht nur über<br />
se<strong>in</strong>en Patienten, son<strong>der</strong>n vor allem auch<br />
mit ihm – er spricht ihn an. Weil er von<br />
je<strong>der</strong>mann for<strong>der</strong>n kann, als moralfähiges<br />
Wesen anerkannt zu werden, darf <strong>der</strong><br />
Patient auch Hilfe beanspruchen, wenn<br />
se<strong>in</strong>e physische Existenz bedroht o<strong>der</strong><br />
ihre Entfaltung durch Leiden beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t<br />
ist. Dabei ist zu bedenken, dass <strong>der</strong><br />
Mensch durch Tod <strong>und</strong> Leiden zwar auch<br />
von außen, vor allem jedoch schon durch<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
se<strong>in</strong>e eigene Natur bedroht ist. Die Bereitschaft<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Wille, die physische<br />
Gr<strong>und</strong>lage des bedrohten menschlichen<br />
Lebens ohne Wenn <strong>und</strong> Aber zu erhalten,<br />
bildet für die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> den Brennpunkt<br />
aller ihrer Aufgaben, auch wenn <strong>der</strong> Arzt<br />
weiß, dass er auf längere Sicht immer<br />
scheitern wird, da auch er niemanden vor<br />
dem Tode bewahren kann. Dieser Gr<strong>und</strong>satz<br />
ist von Christoph Wilhelm Hufeland,<br />
dem Arzt <strong>der</strong> Weimarer Klassiker, auf e<strong>in</strong>prägsame<br />
Weise ausformuliert worden:<br />
Der Arzt „soll <strong>und</strong> darf nichts an<strong>der</strong>es<br />
tun, als Leben erhalten; ob es e<strong>in</strong> Glück<br />
o<strong>der</strong> Unglück sei, ob es Wert habe o<strong>der</strong><br />
nicht, dies geht ihn nichts an, <strong>und</strong> maßt<br />
er sich e<strong>in</strong>mal an, diese Rücksicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />
Geschäft mit aufzunehmen, so s<strong>in</strong>d die<br />
Folgen unabsehbar, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Arzt wird <strong>der</strong><br />
gefährlichste Mensch im Staate; denn ist<br />
e<strong>in</strong>mal die L<strong>in</strong>ie überschritten, glaubt<br />
sich <strong>der</strong> Arzt e<strong>in</strong>mal berechtigt, über die<br />
Notwendigkeit e<strong>in</strong>es Lebens zu entscheiden,<br />
so braucht es nur stufenweise Progressionen,<br />
um den Unwert, <strong>und</strong> folglich<br />
die Unnötigkeit e<strong>in</strong>es Menschenlebens<br />
auch auf an<strong>der</strong>e Fälle anzuwenden“<br />
5 Daran än<strong>der</strong>t auch die Tatsache nichts, dass<br />
zu den notwendigen, wenngleich nicht h<strong>in</strong>reichenden<br />
Voraussetzungen <strong>der</strong> Moralfähigkeit<br />
<strong>und</strong> des Moralbewusstse<strong>in</strong>s des Menschen<br />
die Ergebnisse se<strong>in</strong>er neuronalen Entwicklung<br />
gehören. Auch wenn sich das<br />
Zentralnervensystem als e<strong>in</strong> System von<br />
schlechth<strong>in</strong> lückenlosen Kausalrelationen<br />
erweisen sollte, bliebe das von diesem System<br />
gestützte Moralbewusstse<strong>in</strong> nicht nur<br />
e<strong>in</strong> Faktum, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong> Faktor des<br />
menschlichen Selbstbewusstse<strong>in</strong>s, dessen<br />
Herkunft durch die Ergebnisse <strong>der</strong> Gehirnforschung<br />
zwar e<strong>in</strong>e bestimmte Deutung<br />
erfahren, dadurch aber nicht entwertet <strong>und</strong><br />
schon gar nicht unwirksam gemacht werden<br />
kann.
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
[Hufeland 1816]. Dieser Satz verdient<br />
beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit gerade <strong>in</strong><br />
unserer Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> beispielsweise von<br />
Holland aus, e<strong>in</strong>em für viele von uns<br />
mental fremd gewordenen Land, Bewegungen<br />
<strong>in</strong> Gang gekommen s<strong>in</strong>d, <strong>der</strong>en<br />
Konsequenzen e<strong>in</strong>stweilen noch niemand<br />
absehen kann. 6<br />
Die condicio humana als die e<strong>in</strong>es<br />
moralfähigen, schon auf Gr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />
eigenen Natur vom Tod bedrohten Wesens<br />
verkennt, wer nicht berücksichtigt,<br />
dass <strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong> Wesen ist, vielleicht<br />
das e<strong>in</strong>zige Wesen überhaupt, das von se<strong>in</strong>er<br />
Sterblichkeit weiß. Dieses Bewusstse<strong>in</strong><br />
prägt auch die Existenzweise dessen, <strong>der</strong><br />
se<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> diesseitigen Welt nur<br />
als e<strong>in</strong>e Phase e<strong>in</strong>es umfassen<strong>der</strong>en<br />
Lebens ansieht. Gleichwohl pflegt <strong>der</strong><br />
Mensch unter den Bed<strong>in</strong>gungen des Alltags<br />
das Bewusstse<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sterblichkeit<br />
zu verdrängen. Aber jede ernsthafte<br />
Krankheit konfrontiert ihn mit <strong>der</strong> Tatsache,<br />
dass er unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong><br />
vita brevis, des durch se<strong>in</strong>e Kürze geprägten<br />
Lebens existiert, wie es dem Arzt<br />
schon von alters her von dem berühmten<br />
ersten hippokratischen Aphorismus e<strong>in</strong>geprägt<br />
wurde. Zu dieser condicio humana<br />
gehört freilich auch, dass <strong>der</strong> Mensch<br />
die St<strong>und</strong>e se<strong>in</strong>es Todes gerade nicht<br />
kennt. So gehört zu jedem bewussten<br />
Leben des Menschen stets <strong>der</strong> Ausblick <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e Zukunft, die für ihn noch offen ist.<br />
Es gehört zu den Aufgaben des auf die<br />
Erhaltung des Lebens verpflichteten Arztes,<br />
mit allen Mitteln se<strong>in</strong>em Patienten<br />
diese Zukunft offen zu halten.<br />
Damit s<strong>in</strong>d schon die wichtigsten Elemente<br />
genannt, die das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> konstituieren. Es ist das Bild<br />
e<strong>in</strong>es Menschen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> moralfähiges,<br />
durch se<strong>in</strong>e unantastbare Würde ausgezeichnetes<br />
Wesen ist, das unter den Bed<strong>in</strong>gungen<br />
se<strong>in</strong>er von <strong>der</strong> Natur gegebenen<br />
biologischen Ausstattung se<strong>in</strong> Leben<br />
führt, <strong>in</strong> dieser Natürlichkeit aber nicht<br />
aufgeht. Er ist e<strong>in</strong> Wesen, das auf die<br />
humane Anerkennung durch se<strong>in</strong>esgleichen<br />
angewiesen ist, die es auch verlangen<br />
kann; er ist e<strong>in</strong> dem Leiden ausgesetztes<br />
Wesen, das von den Gefährdungen<br />
se<strong>in</strong>es Dase<strong>in</strong>s <strong>und</strong> von se<strong>in</strong>er Sterblichkeit<br />
weiß <strong>und</strong> das von se<strong>in</strong>esgleichen Hilfe<br />
zur Erhaltung se<strong>in</strong>es physischen Lebens<br />
erwarten <strong>und</strong> sogar verlangen darf. Damit<br />
s<strong>in</strong>d freilich zunächst nur M<strong>in</strong>imalbed<strong>in</strong>gungen<br />
skizziert, denen e<strong>in</strong> solches <strong>Menschenbild</strong><br />
genügen muss. Darauf sollten<br />
sich freilich alle e<strong>in</strong>igen können, die sich,<br />
auf dem Boden welcher mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Richtung auch immer, mit Hilfe <strong>der</strong> ärztlichen<br />
Kunst um die Erhaltung menschlichen<br />
Lebens sorgen. H<strong>in</strong>gegen ist e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiges<br />
<strong>Menschenbild</strong> dort nicht mehr<br />
6 Dem Arzt wird zugemutet, sich an gezielten<br />
Tötungen von Menschen zu beteiligen. Wie<br />
weit die Entwicklung schon gediehen ist,<br />
zeigt sich auch daran, dass e<strong>in</strong>ige Bioethiker<br />
mittlerweile bereit s<strong>in</strong>d, bei Morbus Alzheimer<br />
im Frühstadium e<strong>in</strong>e Indikation zur<br />
Euthanasie zu stellen, so dass überdies auch<br />
die unfreiwillige Euthanasie bereits statistikfähig<br />
geworden ist. Mit <strong>der</strong> Perversion <strong>der</strong><br />
Arztrolle hat sich offenbar manch e<strong>in</strong>er<br />
schon abgef<strong>und</strong>en. Im Gegensatz zur herkömmlichen,<br />
auf unbed<strong>in</strong>gte Lebenserhaltung<br />
zielende Ausrichtung dieser Rolle wird<br />
dem Arzt nunmehr das gezielte Töten von<br />
Menschen nicht nur erlaubt, son<strong>der</strong>n er ist<br />
sogar <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige, dem es gestattet ist, Euthanasie<br />
zu exekutieren. Man darf fragen, welche<br />
Eigenschaft o<strong>der</strong> welche Kompetenz<br />
gerade den Arzt zu diesem Tötungsamt qualifizieren<br />
soll.<br />
23
24<br />
maßgebend, wo man dem Arzt e<strong>in</strong>e Lizenz<br />
zur gezielten Tötung ausstellt <strong>und</strong><br />
damit e<strong>in</strong>e Entwicklung beför<strong>der</strong>t, an dessen<br />
Ende <strong>der</strong> zur Tötung freigegebene<br />
Mensch, grobschlächtig ausgedrückt, zu<br />
e<strong>in</strong>em Stück hom<strong>in</strong>i<strong>der</strong> Biomasse degradiert<br />
ist.<br />
Es sche<strong>in</strong>t, als könnte man es, was die<br />
Gr<strong>und</strong>züge des <strong>Menschenbild</strong>es <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> anbelangt, mit dieser Skizze<br />
e<strong>in</strong>stweilen bewenden lassen. Es gibt<br />
<strong>in</strong>dessen e<strong>in</strong>e Dimension des Problems,<br />
die hier noch nicht zur Sprache gekommen<br />
ist. Bisher stand die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong><br />
Gestalt <strong>der</strong> kurativen Individualmediz<strong>in</strong><br />
im Blickfeld, wie sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Interaktion<br />
von Arzt <strong>und</strong> Patient praktiziert wird, die<br />
sich beide mit Namen ansprechen können.<br />
An<strong>der</strong>e, heute immer wichtiger werdende<br />
Zweige <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, so das öffentliche<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> die Epidemiologie,<br />
blieben ausgeklammert. Gewiss<br />
s<strong>in</strong>d auch von dem, was <strong>in</strong> diesen Bereichen<br />
erkannt <strong>und</strong> entschieden wird, am<br />
Ende immer <strong>in</strong>dividuelle Menschen<br />
betroffen. Doch unmittelbar geht es dort<br />
nicht um identifizierte Individuen, son<strong>der</strong>n<br />
um statistische Gesamtheiten. Ähnliches<br />
gilt für die kl<strong>in</strong>ische Forschung, die<br />
zwar von <strong>in</strong>dividuellen Patienten ausgeht<br />
<strong>und</strong> bei ihnen ansetzt, jedoch auf Ergebnisse<br />
zielt, die sich auf statistische Kollektive<br />
beziehen. Hier reicht die E<strong>in</strong>stellung<br />
nicht aus, die <strong>der</strong> ausschließlich kurativ<br />
tätige Arzt angesichts des <strong>in</strong>dividuellen<br />
Patienten kultiviert. Schon mit je<strong>der</strong> Randomisierung<br />
wird e<strong>in</strong> Stück personaler<br />
Individualität des an e<strong>in</strong>er kl<strong>in</strong>ischen Studie<br />
beteiligten Patienten gleichsam ausgeklammert.<br />
Die unübersehbaren Erfolge,<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
die <strong>in</strong> diesen Bereichen erzielt werden,<br />
sollten e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dessen davon abhalten, <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>stellung, die personal ansprechbare<br />
Individuen zu Elementen von statistischen<br />
Gesamtheiten nivelliert, lediglich<br />
e<strong>in</strong> Defizit zu sehen.<br />
Die Orientierung an nur statistisch<br />
erfassten Gesamtheiten steht auch im<br />
Rücken <strong>der</strong> vom kurativ tätigen Arzt praktizierten<br />
Individualmediz<strong>in</strong>. Nicht immer<br />
macht man sich klar, dass die fachliche<br />
Kompetenz des Individualarztes zu e<strong>in</strong>em<br />
guten Teil auch auf e<strong>in</strong>em Wissen von<br />
probabilistischem Charakter beruht. Freilich<br />
wusste man von je her, dass es für die<br />
ärztliche Praxis kaum e<strong>in</strong>e Regel gibt, die<br />
ohne Ausnahme nahtlos auf alle wirklichen<br />
o<strong>der</strong> gar auf alle denkbaren Fälle<br />
passt. Je<strong>der</strong> Arzt ist sich zudem dessen<br />
bewusst, dass er die Situation, mit <strong>der</strong> er<br />
konfrontiert wird, niemals <strong>in</strong> allen E<strong>in</strong>zelheiten<br />
durchschaut, dass er immer auf<br />
Zufälle gefasst se<strong>in</strong> <strong>und</strong> daher fähig se<strong>in</strong><br />
muss, die daraus folgende Unsicherheit<br />
auszuhalten. Schon längst gehört es zum<br />
Erfahrungsschatz des Arztes, dass er im<br />
Raum des nur Wahrsche<strong>in</strong>lichen tätig<br />
werden muss, <strong>in</strong> dem er sich nur noch an<br />
se<strong>in</strong>e Urteilskraft halten kann.<br />
Heute hat man längst gelernt, Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />
zu quantifizieren <strong>und</strong><br />
mit eigens zu diesem Zweck entwickelten<br />
mathematischen Methoden zu behandeln.<br />
Stehen e<strong>in</strong>em diese Methoden zur<br />
Verfügung, muss man sich nicht mehr<br />
damit begnügen, im Zufall nur e<strong>in</strong>e gelegentliche<br />
Ausnahme von <strong>der</strong> Regel zu<br />
sehen, weil man mit ihrer Hilfe jetzt auch<br />
gezielt nach Regeln des Zufalls suchen<br />
kann. Nun beruht das se<strong>in</strong>er Struktur
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
nach probabilistische Wissen, das <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>ne Arzt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Tätigkeit umsetzt,<br />
auf e<strong>in</strong>er Unzahl von kl<strong>in</strong>ischen Studien,<br />
die er <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vielfalt ihrer Fragestellungen<br />
<strong>und</strong> Methoden selbst kaum mehr überblicken<br />
<strong>und</strong> auswerten kann. Auf <strong>der</strong> Basis<br />
von relativen Häufigkeiten <strong>und</strong> von konventionell<br />
festgesetzten, den Zufall m<strong>in</strong>imierenden<br />
Signifikanzgrenzen werden<br />
dort die Werte von Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />
erarbeitet, mit denen Wirkungen <strong>der</strong> jeweils<br />
untersuchten Maßnahme zu erwarten<br />
s<strong>in</strong>d. Vom mo<strong>der</strong>nen Arzt erwartet<br />
man denn auch, dass er mit den Gr<strong>und</strong>lagen<br />
<strong>der</strong> Biometrie vertraut <strong>und</strong> fähig ist,<br />
mit quantifizierten Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />
umzugehen. Trotzdem kann er dem<br />
Dilemma nicht ausweichen, <strong>in</strong> den ihn<br />
das probabilistische Wissen führt. Er hat<br />
gelernt, dass es aus pr<strong>in</strong>zipiellen Gründen<br />
nicht möglich ist, aus <strong>der</strong> Statistik sichere<br />
Urteile o<strong>der</strong> gar Voraussagen über e<strong>in</strong>en<br />
konkreten E<strong>in</strong>zelfall abzuleiten. Der unverwechselbare,<br />
zudem durch den Besitz<br />
von Menschenrechten ausgezeichnete <strong>in</strong>dividuelle<br />
Patient kommt <strong>in</strong> ihr nicht vor.<br />
Dennoch wird vom kurativ tätigen Arzt<br />
etwas verlangt, was er, streng genommen,<br />
gar nicht leisten kann: Er soll auf <strong>der</strong><br />
Gr<strong>und</strong>lage probabilistischen Wissens Entscheidungen<br />
fällen, die jeweils e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen<br />
Patienten <strong>und</strong> gerade nicht<br />
e<strong>in</strong> statistisches Kollektiv betreffen.<br />
Um dem Arzt im Labyr<strong>in</strong>th <strong>der</strong> Probabilistik<br />
zu Hilfe zu kommen, hat man ihm<br />
<strong>in</strong> Gestalt <strong>der</strong> Evidenzbasierten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
(EbM) e<strong>in</strong> Hilfsmittel an die Hand gegeben,<br />
das die weit verzweigten <strong>und</strong> ihn<br />
manchmal auch verwirrenden Massen<br />
statistischer Informationen aufarbeitet<br />
<strong>und</strong> es ihm erleichtert, sich <strong>in</strong> diesem<br />
schwer zu überschauenden Bereich verlässlich<br />
zu orientieren. Man sollte sich<br />
gewiss davor hüten, den Nutzen kle<strong>in</strong>zureden,<br />
<strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> EbM ziehen lässt.<br />
Doch auch für sie gilt, wie für viele Neuerungen,<br />
die anfangs überschätzt werden,<br />
dass sich die mit ihr verknüpften Hoffnungen<br />
nicht ganz erfüllt haben. Ohne<br />
Zweifel kann sie dem Arzt bei se<strong>in</strong>en Entscheidungen<br />
zu Hilfe kommen. Ihm diese<br />
Entscheidungen im E<strong>in</strong>zelfall abnehmen<br />
o<strong>der</strong> gar se<strong>in</strong>e Urteilskraft überflüssig<br />
machen, kann sie nicht. Im Gegenteil:<br />
Gerade umgekehrt bedarf es <strong>der</strong> Urteilskraft,<br />
um mit <strong>der</strong> EbM sachgerecht umgehen<br />
zu können. 7<br />
Im Übrigen hat das Denken <strong>in</strong> statistischen<br />
Kategorien <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zwar<br />
nicht zu e<strong>in</strong>er Entwertung des strikten<br />
Kausalitätsbegriffes, wohl aber zu e<strong>in</strong>er<br />
Relativierung <strong>der</strong> an ihm orientierten E<strong>in</strong>stellung<br />
geführt. Nach wie vor muss sich<br />
auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />
Krankheit immer noch jedes Ereignis als<br />
Wirkung e<strong>in</strong>er Ursache o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Ursachenkomplexes<br />
deuten lassen. Die Strukturen<br />
im Reich des Lebendigen s<strong>in</strong>d<br />
7 Wie sich immer wie<strong>der</strong> zeigt, hat <strong>der</strong><br />
Mensch, obwohl schon im Alltag ständig<br />
mit relativen Häufigkeiten <strong>und</strong> mit nur qualitativ<br />
bestimmten Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />
konfrontiert, oftmals beträchtliche Schwierigkeiten,<br />
mit quantifizierten Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />
sachgerecht umzugehen. So ist es<br />
ke<strong>in</strong> Zufall, dass die Belehrung, die <strong>der</strong> Arzt<br />
den Resultaten <strong>der</strong> EbM entnehmen kann,<br />
weniger mit den ihm von ihr vermittelten<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten, als mit den aus<br />
ihnen abgeleiteten, <strong>der</strong> Anschauung näheren<br />
NNT-Werten (number needed to treat)<br />
<strong>und</strong> NNH-Werten (number needed to harm)<br />
verb<strong>und</strong>en ist.<br />
25
26<br />
<strong>in</strong>dessen so vielschichtig <strong>und</strong> so vielfältig<br />
vernetzt, dass für die ärztliche Praxis ke<strong>in</strong>e<br />
wirkliche Chance besteht, nach dem<br />
Vorbild <strong>der</strong> experimentellen Forschungsmethoden<br />
für jedes Ereignis die vollständigen<br />
<strong>und</strong> lückenlosen Kausalketten zu<br />
ermitteln, die es hervorgebracht haben.<br />
Die Orientierung an statistischen Gesetzlichkeiten<br />
mit ihren relativen Häufigkeiten<br />
<strong>und</strong> ihren Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />
kann hier Hilfe leisten, wenn auch um<br />
den Preis, dass die Individualität des E<strong>in</strong>zelfalles<br />
unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen niemals<br />
ganz erreicht wird. Die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> hat<br />
jedenfalls die Chancen des statistischen<br />
Denkens ergriffen <strong>und</strong> für ihre Arbeit<br />
fruchtbar gemacht. Die Pathologie <strong>der</strong><br />
Krankheitsursachen kann mit <strong>der</strong> Pathologie<br />
<strong>der</strong> Risikofaktoren <strong>und</strong> <strong>der</strong> auf<br />
Gr<strong>und</strong> quantifizierter Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />
zu erwartenden Nebenwirkungen<br />
durchaus koexistieren. Jede statistische<br />
Signifikanz rechtfertigt zum<strong>in</strong>dest den<br />
Verdacht auf das Vorliegen e<strong>in</strong>er Kausalbeziehung<br />
auch dann, wenn sie die Elemente<br />
<strong>der</strong> vermuteten ursächlichen<br />
Beziehung nicht namhaft machen <strong>und</strong><br />
nicht vor Augen stellen kann.<br />
Was haben diese D<strong>in</strong>ge, was hat das<br />
Denken <strong>in</strong> statistischen Kategorien mit<br />
dem Problemkreis des <strong>Menschenbild</strong>es zu<br />
tun? Sie berühren ihn deswegen, weil <strong>der</strong><br />
Patient als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle, identifizierbare<br />
Person e<strong>in</strong>em Arzt gegenübersteht,<br />
<strong>der</strong> für ihn e<strong>in</strong> Wissen fruchtbar macht,<br />
das sich se<strong>in</strong>er Natur nach zu e<strong>in</strong>em großen<br />
Teil auf Kollektive bezieht, <strong>der</strong>en Elemente<br />
aus pr<strong>in</strong>zipiellen Gründen anonym<br />
bleiben. Als statistisches Wissen<br />
„funktioniert“ es, solange diese Elemente<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />
nicht identifiziert werden <strong>und</strong> daher auch<br />
nicht als unverwechselbare, <strong>in</strong>dividuelle<br />
Personen begegnen. Deswegen ist im<br />
Recht, wer dem Statistiker e<strong>in</strong> eigenes<br />
<strong>Menschenbild</strong>, wenn auch vielleicht nur<br />
die Schw<strong>und</strong>stufe e<strong>in</strong>es solchen Bildes<br />
zugesteht. So bleibt die Frage, wie <strong>der</strong> Arzt<br />
den Hiatus überbrückt, <strong>der</strong> zwischen se<strong>in</strong>em<br />
personalen Zugang zum Patienten<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Anonymität <strong>der</strong> Welt des Statistikers<br />
liegt, von dessen Resultaten er dennoch<br />
ständig Gebrauch machen muss.<br />
Vielleicht ist die gegenwärtige Begegnung<br />
von Vertretern verschiedener mediz<strong>in</strong>ischer<br />
Richtungen nicht die schlechteste<br />
Gelegenheit, diese Vermittlung durchschaubar<br />
zu machen, die <strong>der</strong> Arzt tagtäglich<br />
praktiziert.<br />
Damit komme ich zum Schluss. Ohne<br />
Zweifel lohnt es die Mühe, die Unterschiede<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Richtungen<br />
<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong> Diagnose <strong>und</strong> Therapie<br />
mit Differenzen <strong>der</strong> zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />
<strong>Menschenbild</strong>er zu korrelieren, Vere<strong>in</strong>bares<br />
von Unvere<strong>in</strong>barem abzugrenzen, um<br />
damit zugleich Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen<br />
e<strong>in</strong>er Kooperation zu ermitteln. Man<br />
sollte aber nicht übersehen, dass <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Frage des <strong>Menschenbild</strong>es <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
das größere Gewicht dem zukommt, was<br />
diesen Richtungen geme<strong>in</strong>sam ist. Dies<br />
muss deswegen betont werden, weil die<br />
„heißen“ Kontroversen <strong>der</strong> heutigen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> auf e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Ebene geführt<br />
werden. Es s<strong>in</strong>d die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen<br />
um das Klonen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das<br />
reproduktive Klonen <strong>und</strong> die Präimplantationsdiagnostik,<br />
um die Menschenzüchtung<br />
<strong>und</strong> das Designerbaby, vor<br />
allem aber um die freiwillige <strong>und</strong> mittler-
Literatur<br />
weile auch die unfreiwillige Euthanasie<br />
mitsamt <strong>der</strong> e<strong>in</strong>schlägigen Ökonomie.<br />
Hier prallen <strong>Menschenbild</strong>er von e<strong>in</strong>er<br />
Unvere<strong>in</strong>barkeit aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, im Vergleich<br />
zu <strong>der</strong> die Differenzen zwischen<br />
den <strong>Menschenbild</strong>ern <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong> kle<strong>in</strong><br />
ersche<strong>in</strong>en.<br />
Literatur<br />
Blech J (2003) Die Krankheitsf<strong>in</strong><strong>der</strong>. Wie<br />
wir zu Patienten gemacht werden.<br />
Fischer, Frankfurt<br />
Forschner M, Philosophie: Technischer<br />
Fortschritt <strong>und</strong> menschliche Würde.<br />
Dtsch Ärztebl (2001), 98, A 1039–1042<br />
Hufeland CW (1816) Die Verhältnisse des<br />
Arztes, 15f. Berl<strong>in</strong>. Zitiert nach: Neumann<br />
JN (2000) <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> im Zeitalter<br />
<strong>der</strong> Aufklärung. In: von Engelhardt D,<br />
Gierer A (Hrsg.), Georg Ernst Stahl<br />
(1659–1734) <strong>in</strong> wissenschaftshistorischer<br />
Sicht. 27. Deutsche Akademie<br />
<strong>der</strong> Naturforscher Leopold<strong>in</strong>a, Halle/<br />
Saale<br />
Jaspers K (1965) Allgeme<strong>in</strong>e Psychopathologie,<br />
8. unverän<strong>der</strong>te Aufl., 652f.<br />
Spr<strong>in</strong>ger, Berl<strong>in</strong> u.a.<br />
Schirrmacher F, Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e<br />
Zeitung (6. 6. 2001)<br />
Wieland W (1993) Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heitspolitik. In: Vogel H-R<br />
(Hrsg.), Illusionen <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heitspolitik,<br />
7–23. Urban & Fischer, Stuttgart<br />
27
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />
Wolfgang Schad<br />
Der Methodenkontext<br />
Der Zoologe Otto Köhler sprach e<strong>in</strong>mal<br />
vom unbenannten Denken <strong>der</strong> Tiere, denn<br />
auch sie wählen aus <strong>der</strong> Flut <strong>der</strong> S<strong>in</strong>nesreize<br />
ausschnitthaft aus <strong>und</strong> geben ihnen<br />
Bedeutungen, auf die sie sich fokussieren.<br />
Für die Haustauben als Abkömml<strong>in</strong>ge <strong>der</strong><br />
wilden Felsentaube ist so <strong>der</strong> Kölner Dom<br />
e<strong>in</strong>e bevorzugte Felsenlandschaft. Für<br />
e<strong>in</strong>en H<strong>und</strong> ist e<strong>in</strong>e warme, duftende<br />
Wurst ebenso rasch mit e<strong>in</strong>er zu ihm passenden<br />
Bedeutung belegt. Das f<strong>in</strong>det auch<br />
unentwegt beim Menschen statt, aber auffällig<br />
freigestellter. E<strong>in</strong> Metzgermeister, e<strong>in</strong><br />
Lebensmittelchemiker, e<strong>in</strong> Stilllebenmaler<br />
o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Vegetarier können die Wurst noch<br />
an<strong>der</strong>s mit Bedeutungen belegen, als dass<br />
sie nur zum Essen verwendbar ist. Und was<br />
den Kölner Dom betrifft, werden e<strong>in</strong><br />
Kunsthistoriker, e<strong>in</strong> katholischer Priester,<br />
e<strong>in</strong> Sightsee<strong>in</strong>g-Tourist o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Flechtenforscher<br />
das gleiche Objekt auch sehr<br />
unterschiedlich beachten <strong>und</strong> bewerten.<br />
Wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bedeutungsvergabe gerade<br />
nicht festgelegt, denn dadurch nur ist Wissenschaft<br />
möglich. Das heißt, sie ist immer<br />
multiperspektivisch <strong>und</strong> sollte so auch ihre<br />
sozio-kulturelle Bed<strong>in</strong>gtheit wie ihre Historizität<br />
gerade auch <strong>in</strong> den Naturwissenschaften<br />
nie aus dem Auge lassen. Sonst<br />
funktionieren unsere Begriffsmuster auch<br />
nur reflexartig.<br />
Innerhalb dieses freigestellten Bezugsrahmens<br />
gibt es immerh<strong>in</strong> auffällige anthropologische<br />
Konstanten wissenschaftlichen<br />
Verhaltens. Wie gehen wir mit den<br />
Entscheidungsfreiheiten <strong>der</strong> Bedeutungsvergabe<br />
an die empirischen Gegebenheiten<br />
vielfach um? Dazu brauchen wir e<strong>in</strong>gangs<br />
e<strong>in</strong>e kurze Bestandsaufnahme.<br />
Wir s<strong>in</strong>d z.B. nie mit dem bloßen<br />
Anblick des Status quo zufrieden, son<strong>der</strong>n<br />
brechen bald aus <strong>der</strong> Gegenwart aus: Wir<br />
fragen z.B. nach den bestimmenden<br />
Bed<strong>in</strong>gungen aus <strong>der</strong> vorausgegangenen<br />
Vergangenheit <strong>und</strong> suchen dort die „Ur“-<br />
Sachen. Das ist die durchgängige Methode<br />
aller Kausalforschung.<br />
Wir können ebenso <strong>in</strong> die Zukunft<br />
aussteigen <strong>und</strong> fragen dann vielmehr<br />
danach, wozu die Gegenwart e<strong>in</strong>mal zu<br />
gebrauchen se<strong>in</strong> wird, urteilen teleologisch,<br />
suchen den Zweckaspekt. Wir<br />
sehen die gerade gegebenen Verhältnisse<br />
dann nicht mehr als Auswirkungen von<br />
Ursachen, son<strong>der</strong>n vorwiegend als Mittel<br />
zum Zweck. Diesen Zweckmäßigkeitsaspekt<br />
verfolgen alle angewandten Wissenschaften,<br />
z.B. die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Dabei setzt<br />
sie oft die zukünftigen Abläufe mit e<strong>in</strong>er<br />
fortrollenden Vergangenheit gleich <strong>und</strong><br />
versucht, <strong>in</strong> sie kausal e<strong>in</strong>zugreifen.<br />
Zukunft ist aber oftmals mehr als weiterrollende<br />
Vergangenheit – schon weil von<br />
subjektiven Erwartungen <strong>und</strong> ihrer „self-<br />
29
30<br />
fullfill<strong>in</strong>g prophecy“ [Watzlawick 1985,<br />
Ludwig 1991] durchkreuzt. Wir s<strong>in</strong>d dann<br />
verw<strong>und</strong>ert über die Grenzen an Prognostizität.<br />
Das gehört zur Determ<strong>in</strong>ismus/Indeterm<strong>in</strong>ismus-Debatte.<br />
Wir dehnen beide Male das Beobachtbare<br />
zeitlich – eben auf se<strong>in</strong>e Gründe <strong>und</strong><br />
Zwecke – aus, überspr<strong>in</strong>gen die Gegenwart<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong>tegrieren im Zeitpanorama<br />
methodologisch über Vergangenheit <strong>und</strong><br />
Zukunft. Beide Methoden, <strong>der</strong> Kausalismus<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> F<strong>in</strong>alismus, haben trotz ihrer<br />
polaren, sich oft geradezu polarisierenden<br />
Haltungen aber e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>sam. Sie verlieren<br />
allzu leicht die Gegenwart <strong>und</strong> vernachlässigen<br />
dann die ausführliche Zuwendung<br />
an das Gegebene. Wir sehen<br />
nicht mehr h<strong>in</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong>terpretieren eben<br />
alle<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Retrospektive o<strong>der</strong> eben <strong>der</strong><br />
konstruierten Zukunft. Die Phänomene<br />
kommen zu kurz, denn sie <strong>in</strong>teressieren<br />
dann nur noch als bestätigendes Resultat<br />
o<strong>der</strong> als bloße, zu verwendende Ressource.<br />
Aber beide „Aussteiger“-Methoden<br />
s<strong>in</strong>d s<strong>in</strong>nlos, wenn sie nicht auf <strong>der</strong> Empirik<br />
des Jetzt <strong>und</strong> Hier fußen. Das Vorf<strong>in</strong>dbare<br />
hat sogar se<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>en eigenen<br />
Erklärungswert, wo mit Hilfe des Gestalts<strong>in</strong>nes<br />
das erfasste Syndrom sich zur Physiognomie<br />
verdichtet, <strong>in</strong>dem es sich<br />
schon selbst „ausspricht“. Das gibt <strong>der</strong><br />
Kasuistik ihren Wert, die – wenn sie gut<br />
gemacht wird – mehr ist als bloße<br />
Deskription, wenn auch dann immer<br />
noch oft nur als solche bezeichnet. Den<br />
Erklärungswert <strong>in</strong>nerhalb des Gegenwärtig-Vorf<strong>in</strong>dbaren<br />
sah auch schon Ernst<br />
Mayr [1989] <strong>in</strong> dessen Simultanverursachung.<br />
Wir ziehen e<strong>in</strong>e erste Bilanz: E<strong>in</strong><br />
Aspekt alle<strong>in</strong> reicht letztlich nie. Kausalis-<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />
mus, Phänomenalismus <strong>und</strong> F<strong>in</strong>alismus<br />
gehören durch ihre sich gegenseitig ergänzenden<br />
Zeitaspekte zwar plural, aber<br />
dennoch <strong>in</strong>sgesamt methodisch zusammen<br />
<strong>und</strong> s<strong>in</strong>d es ja bei guter Arbeit auch<br />
oft.<br />
Was s<strong>in</strong>d Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />
Krankheit?<br />
Oft hört man heute davon, dass im ärztlichen<br />
Feld <strong>der</strong> aufgeklärte, an se<strong>in</strong>er Therapie<br />
mitarbeitende Patient geschätzt<br />
wird. Also habe ich mich als Nichtmediz<strong>in</strong>er<br />
darüber aufzuklären versucht, was im<br />
Berufsfeld <strong>der</strong> Ärzte unter Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> Krankheit verstanden wird. Es war<br />
dann doch überraschend, dass es davon<br />
ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigen Begriffe gibt. Gerhard<br />
Kienle hatte schon 1974 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch<br />
Arzneimittelsicherheit <strong>und</strong> Gesellschaft darauf<br />
h<strong>in</strong>gewiesen; <strong>und</strong> <strong>in</strong> dem Standardwerk<br />
von Gross <strong>und</strong> Löffler Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> [1997] f<strong>in</strong>det sich auch nach<br />
langseitigen Aufzählungen von Def<strong>in</strong>itionsversuchen<br />
ke<strong>in</strong> tragfähiges Ergebnis.<br />
Schon die WHO-Def<strong>in</strong>ition von 1957,<br />
Ges<strong>und</strong>heit sei „<strong>der</strong> Zustand völligen körperlichen,<br />
seelischen <strong>und</strong> sozialen Wohlbef<strong>in</strong>dens“,<br />
auf die je<strong>der</strong>mann e<strong>in</strong> Recht<br />
habe – ja sogar e<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong>recht, ist nicht<br />
e<strong>in</strong>lösbar. Dann „wären u.a. schwere<br />
Arbeit, Erkenntnisr<strong>in</strong>gen, aber auch das<br />
Vertreten nicht opportunistischer Auffassungen<br />
Krankheiten“ [Kienle 1974]. E<strong>in</strong><br />
Leben ohne Angst gibt es nicht. Das nur<br />
dem Menschen zugängliche Wissen, e<strong>in</strong>mal<br />
sterben zu müssen, macht lebenslang<br />
ke<strong>in</strong> Wohlbef<strong>in</strong>den, denn auch die Ver-
Was s<strong>in</strong>d Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit?<br />
drängung dieser e<strong>in</strong>zig sicheren Tatsache<br />
<strong>der</strong> biografischen Zukunft befreit uns<br />
nicht von diesem Wissen. Parson hat deshalb<br />
versucht, den Ges<strong>und</strong>heitsbegriff<br />
mit <strong>der</strong> persönlichen, subjektbezogenen<br />
Wertesetzung zu verknüpfen. Er def<strong>in</strong>ierte<br />
Ges<strong>und</strong>heit als den „Zustand optimaler<br />
Fähigkeiten zur wirksamen Erfüllung von<br />
für wertvoll gehaltenen Aufgaben“ [Parson<br />
1967]. Was aber, wenn die persönliche<br />
Wertsetzung von Asozialität, Drogenmissbrauch<br />
o<strong>der</strong> gar Selbstzerstörung<br />
dem Lebenskonzept entspricht?<br />
Aber bietet nicht das ärztliche Inventarium<br />
diagnostischer Maßnahmen genügend<br />
Klarheit, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit<br />
zu unterscheiden? Durchaus nicht, denn<br />
<strong>der</strong> als völlig ges<strong>und</strong> geltende Mensch<br />
besitzt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er normalen Genausstattung<br />
Protoonkogene <strong>und</strong> damit immer<br />
schon die erbliche Potenz zu Neoplasmen.<br />
Wohl tra<strong>in</strong>iert er damit se<strong>in</strong>e Immunlage<br />
gegen krebsig entartete Körperzellen,<br />
aber eben nicht immer erfolgreich:<br />
Die künftige Krankheit ist immer schon<br />
angelegt – auch beim „völlig Ges<strong>und</strong>en“.<br />
Gerade die Immunologie zeigt, dass z.B.<br />
gut durchgemachte Infektionskrankheiten<br />
zu e<strong>in</strong>er stabileren Ges<strong>und</strong>heitslage<br />
führen als vorher. Es gibt eben Ges<strong>und</strong>heit<br />
mit Krankheit <strong>und</strong> Krankheit zu<br />
mehr Ges<strong>und</strong>heit.<br />
Diese Bilanz führt zum e<strong>in</strong>en dazu,<br />
den Begriffen von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit<br />
e<strong>in</strong>e naturwissenschaftlich fassbare<br />
Aussage abzusprechen. Wenn es schon<br />
ke<strong>in</strong>e völlig objektivierbaren Krankheiten<br />
gibt, so aber doch subjekthaft leidende<br />
Kranke. Dann s<strong>in</strong>d Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />
Krankheit am Leiden bewertete Anthro-<br />
pomorphismen. Der Homo patiens erwartet<br />
vom Therapeuten Heilung vom Leid.<br />
Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit s<strong>in</strong>d Wertungen,<br />
die danach an <strong>der</strong> psychischen Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />
abgenommen werden. Der<br />
Patient erwartet nicht nur den diagnostischen,<br />
son<strong>der</strong>n auch den therapeutischen<br />
Arzt. Der aber muss wissen, wie er handeln<br />
soll. In <strong>der</strong> Naturwissenschaft aber<br />
gibt es ke<strong>in</strong> Sollen, son<strong>der</strong>n nur e<strong>in</strong> Konstatieren.<br />
Demnach gibt es auch ke<strong>in</strong>e<br />
„naturwissenschaftliche <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“, weil<br />
sie ke<strong>in</strong>e Sollensanweisung geben kann.<br />
So überraschend diese Aussage ist, so<br />
ist sie doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> ökologischen Diskussion<br />
noch sehr viel deutlicher. Gibt es<br />
ges<strong>und</strong>e o<strong>der</strong> kranke Landschaften, Wetterverhältnisse<br />
o<strong>der</strong> Wassersysteme? Der<br />
Biologe Hans Mohr konstatierte dazu<br />
ganz nüchtern, dass e<strong>in</strong> st<strong>in</strong>ken<strong>der</strong>, verjauchter<br />
Fluss für die Fische als krank gelten<br />
mag, für die Bakterien dar<strong>in</strong> aber ke<strong>in</strong>eswegs:<br />
Ihnen bekommt das faulige<br />
Wasser beson<strong>der</strong>s gut. – E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> naturwissenschaftliche<br />
E<strong>in</strong>stellung wird e<strong>in</strong>en<br />
Fieberkranken auch nur als e<strong>in</strong>en bevorzugten<br />
Biotop <strong>in</strong>fektiöser Mikroben betrachten,<br />
<strong>der</strong> ohne E<strong>in</strong>greifen wegen geschwächter<br />
Immunlage von <strong>der</strong> natürlichen<br />
Selektion aus <strong>der</strong> Population <strong>der</strong><br />
Ges<strong>und</strong>en ausgeschlossen wird. E<strong>in</strong> Vorgang,<br />
wie ihn eben die außermenschliche<br />
Natur überall praktiziert.<br />
Charles Darw<strong>in</strong> sah das Problem<br />
schon deutlich, ohne sich zu e<strong>in</strong>er begrifflichen<br />
Abklärung entscheiden zu können.<br />
Der mit ihm eng befre<strong>und</strong>ete Alfred Russel<br />
Wallace, <strong>der</strong> eigenständig parallel zu<br />
Darw<strong>in</strong> die evolutiven Wirkungen <strong>der</strong><br />
Selektion ebenfalls entdeckt hatte <strong>und</strong> sie<br />
31
32<br />
sogar konsequenter als Darw<strong>in</strong> für Pflanze<br />
<strong>und</strong> Tier vertrat, legte ihm persönlich<br />
nahe, die Selektionstheorie bitte nicht auf<br />
den Menschen anzuwenden; sonst begänne<br />
<strong>der</strong> Untergang <strong>der</strong> Kultur. Darw<strong>in</strong> h<strong>in</strong>gegen<br />
wollte für se<strong>in</strong>e Theorie ke<strong>in</strong>e Ausnahme<br />
zulassen. Dabei sah er klar die<br />
antiselektionistische Rolle <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>:<br />
„Es ist Gr<strong>und</strong> vorhanden anzunehmen,<br />
daß die Impfung Tausende erhalten<br />
hat, welche <strong>in</strong> Folge ihrer schwachen<br />
Konstitution früher den Pocken erlegen<br />
wären. Hierdurch geschieht es, daß auch<br />
die schwächeren Glie<strong>der</strong> <strong>der</strong> zivilisierten<br />
Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand,<br />
welcher <strong>der</strong> Zucht domestizierter<br />
Tiere se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit gewidmet<br />
hat, wird daran zweifeln, dass dies für das<br />
Menschengeschlecht im höchsten Grade<br />
schädlich se<strong>in</strong> muß.“<br />
Sogleich aber zau<strong>der</strong>te Darw<strong>in</strong> angesichts<br />
<strong>der</strong> Folgen dieser naturwissenschaftlichen<br />
Gedankengänge, <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Mischung von Trieb, Inst<strong>in</strong>kt, Sympathie,<br />
Verstand <strong>und</strong> „edelstem Teil unserer<br />
Natur“ – was das auch immer bei ihm<br />
begrifflich war – plädiert er dafür, die<br />
mediz<strong>in</strong>ische Hilfestellung zu „ertragen“:<br />
„Die Hilfe, welche wir dem Hilflosen<br />
zu widmen uns getrieben fühlen, ist<br />
hauptsächlich das Resultat des Inst<strong>in</strong>ktes<br />
<strong>der</strong> Sympathie, welcher ursprünglich als<br />
e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> sozialen Inst<strong>in</strong>kte erlangt,<br />
aber später <strong>in</strong> <strong>der</strong> oben bezeichneten Art<br />
<strong>und</strong> Weise zarter gemacht <strong>und</strong> weiter verbreitet<br />
wurde. Auch können wir unsere<br />
Sympathie, wenn sie durch den Verstand<br />
hart bedrängt würde, nicht hemmen,<br />
ohne den edelsten Teil unserer Natur<br />
herabzusetzen. [...] Wir müssen daher die<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />
ganz zweifellos schlechte Wirkung des<br />
Lebenbleibens <strong>und</strong> <strong>der</strong> Vermehrung <strong>der</strong><br />
Schwachen ertragen“ [Darw<strong>in</strong> 1871].<br />
Dabei lässt Darw<strong>in</strong> unbesprochen, wie<br />
die harte Selektion uns die edlen, sozialen<br />
Inst<strong>in</strong>kte anzüchten konnte. Zwei Konsequenzen<br />
haben die gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse daraus gezogen: Entwe<strong>der</strong><br />
die Selektion aller Hilfsbedürftigen im<br />
Zuge des Sozialdarw<strong>in</strong>ismus – o<strong>der</strong> die<br />
strikte Trennung von naturwissenschaftlicher<br />
Konstatierung des Seienden <strong>und</strong> des<br />
moralisch relevanten Sollens unserer mitmenschlichen<br />
Handlungen. Heute beruft<br />
man sich <strong>in</strong> unserer Gesellschaft zumeist<br />
auf die zweite E<strong>in</strong>stellung. Dann aber gibt<br />
es auch ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> naturwissenschaftliche<br />
Begründung von <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>.<br />
Nun gibt es noch e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Ausweg<br />
aus dem begrifflichen Dilemma <strong>der</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heits-/Krankheits-Debatte als nur<br />
den <strong>der</strong> dualistischen Trennung objektiver<br />
Sachbezogenheit <strong>und</strong> subjektiver Bedürftigkeit.<br />
Der Organismus selbst lebt<br />
e<strong>in</strong>en solchen Ausweg schon immer gekonnt<br />
vor, <strong>in</strong>dem gerade er zwischen <strong>der</strong><br />
gegenständlichen <strong>und</strong> <strong>der</strong> psychischen<br />
Natur des Menschen qua se<strong>in</strong>er Physiologie<br />
vermittelt. Diese vermittelnde Leistung<br />
kann nach allem bisher Gesagten<br />
we<strong>der</strong> objektiviert noch subjektiviert werden,<br />
son<strong>der</strong>n ist dort zu suchen, wo sich<br />
die Kluft zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt<br />
aufhebt. Es ist zwar recht ungewohnt, diese<br />
Überbrückungsfunktion <strong>in</strong> Betracht zu<br />
ziehen, <strong>und</strong> doch ist sie klar beschreibbar.<br />
Sie f<strong>in</strong>det sich nicht gegenständlichräumlich<br />
vor, noch im Überräumlichen<br />
<strong>der</strong> Bewusstse<strong>in</strong>s<strong>in</strong>halte, son<strong>der</strong>n im Element<br />
<strong>der</strong> Zeit: ke<strong>in</strong> physiologischer Vor-
Was s<strong>in</strong>d Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit?<br />
gang ohne se<strong>in</strong> spezifisches Zeitmuster.<br />
Leben besteht geradezu <strong>in</strong> rhythmischen<br />
Oszillationen um prägnante Sollwerte. Sie<br />
laufen ebenso unbewusst ab, wie an<strong>der</strong>erseits<br />
Zeit nicht gegenständlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Flasche<br />
aufgehoben werden kann. Rhythmus<br />
besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung von<br />
schon Gewesenem <strong>und</strong> vergegenwärtigt<br />
damit unaufhörlich gelebte Vergangenheit.<br />
Da er aber nie starrer Takt ist, son<strong>der</strong>n<br />
adaptiv verän<strong>der</strong>lich bleibt, <strong>in</strong>tegriert<br />
er <strong>in</strong> jedem Moment die noch nicht<br />
festgelegte Zukunftsoffenheit ihrerseits <strong>in</strong><br />
den gegenwärtigen Vollzug. Variabler<br />
Rhythmus ist immer belastbar, weil er<br />
zum Ausgleich tendiert, ohne ihn je im<br />
Leben zu erreichen. Er <strong>in</strong>tegriert faktisch<br />
<strong>in</strong> je<strong>der</strong> Periode gelebte Vergangenheit<br />
<strong>und</strong> zu lebende Zukunft <strong>in</strong> die gegenwärtige<br />
Dynamik jedes Lebensvollzugs. Zeit<strong>in</strong>tegration<br />
ist das Kennzeichen gelebter<br />
Physiologie.<br />
Unter dem Aspekt <strong>der</strong> Zeit<strong>in</strong>tegration<br />
nimmt nun auch die Ges<strong>und</strong>heits-/<br />
Krankheits-Debatte e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Lösungsweg.<br />
Wir müssen ja davon ausgehen,<br />
dass Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit nur<br />
annähernd diagnostiziert werden können,<br />
nie völlig. Ja, auch <strong>der</strong> als völlig<br />
ges<strong>und</strong> Geltende kann objektiv wie subjektiv<br />
unbemerkt schon von e<strong>in</strong>em beg<strong>in</strong>nenden<br />
Primärtumor befallen se<strong>in</strong>. Trotzdem<br />
hat es S<strong>in</strong>n, beide Begriffe weiter zu<br />
verwenden, wenn wir <strong>in</strong> ihnen nicht so<br />
sehr das Ergebnis <strong>der</strong> Diagnose sehen,<br />
son<strong>der</strong>n vorwiegend e<strong>in</strong>e Option auf die<br />
Zukunft. Dann ist das Urteil „Ges<strong>und</strong>heit“<br />
die Prognose auf lang währende<br />
Zukunft, „Krankheit“ die <strong>der</strong> potenziell<br />
verkürzten Zukunft. Und <strong>in</strong> eben diesem<br />
S<strong>in</strong>ne gebrauchen wir nämlich auch bei<br />
näherem Zusehen diese Bezeichnungen.<br />
E<strong>in</strong>e Hilfe für unsere E<strong>in</strong>schätzung von<br />
Zukunft ist zusätzlich die Aufnahme <strong>der</strong><br />
bisherigen Ges<strong>und</strong>heits- bzw. Krankheitsbiografie,<br />
ohne dass sie alles für die Zukunft<br />
voraussagen kann. Immerh<strong>in</strong> bedarf<br />
es für die Abschätzung, wie viel an<br />
Ges<strong>und</strong>heitslage bzw. Krankheitslage des<br />
Probanden bzw. Patienten vorliegt, aller<br />
drei Zeitaspekte: <strong>der</strong> Anamnese, <strong>der</strong> Diagnose<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Prognose. Es geht also letztlich<br />
immer bei e<strong>in</strong>er genügend umfassenden<br />
Beurteilung durch den Therapeuten<br />
<strong>der</strong> Blick über den gegenwärtigen Zustand<br />
h<strong>in</strong>aus auf die Vergangenheit <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
die Zukunft h<strong>in</strong> <strong>und</strong> leistet <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
E<strong>in</strong>schätzung von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />
Krankheit die Zeit<strong>in</strong>tegration im eigenen<br />
Urteil. Bisherige Erfahrung, jetzige Wahrnehmung<br />
<strong>und</strong> prognostischer Blick zusammen<br />
ermöglichen erst die s<strong>in</strong>nvolle<br />
Verwendung <strong>der</strong> Bezeichnungen von Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> Krankheit, nie <strong>der</strong> Status<br />
quo alle<strong>in</strong>.<br />
Natürlich können sich die Schwerpunkte<br />
verschieben. In <strong>der</strong> Akutmediz<strong>in</strong><br />
steht das rasche Handeln im Hier <strong>und</strong><br />
Jetzt im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>. Bei den chronischen<br />
Erkrankungen ist die Anamnese<br />
weit auszudehnen. In <strong>der</strong> prophylaktischen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e durch Psychohygiene<br />
steht die Zukunftssicherung<br />
im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>. Und doch müssen<br />
immer alle drei Zeitausrichtungen e<strong>in</strong>bezogen<br />
werden. Das gilt ja, wie wir e<strong>in</strong>gangs<br />
gesehen haben, für die dreifache<br />
Multiperspektivität gerade von Wissenschaft<br />
sowieso, sollte also <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />
Reflexion nicht fremd se<strong>in</strong>.<br />
33
34<br />
Auch ihre Verfahren zielen primär auf<br />
Zeit<strong>in</strong>tegration aller Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> Vergangenheit,<br />
Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft<br />
[Schad 1998].<br />
Zur Goetheanistik<br />
E<strong>in</strong>ige wenige Bemerkungen zur Goetheanistik.<br />
In dem Mehrautorenbeitrag zum<br />
Verhältnis von Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
[Willich 2004] wird<br />
auf e<strong>in</strong>e goetheanistische Erkenntnistheorie<br />
verwiesen, die von Frankenberg<br />
[2004] <strong>in</strong> den Goethe-Biografien von Friedenthal<br />
[1936] <strong>und</strong> Conrady [1985] nicht<br />
f<strong>in</strong>det. Wieso auch dort? Zu empfehlen<br />
s<strong>in</strong>d Goethes Aufsätze Der Versuch als Vermittler<br />
zwischen Objekt <strong>und</strong> Subjekt [1792]<br />
<strong>und</strong> Pr<strong>in</strong>cipes de Philosophie Zoologique<br />
[1830/32]. Wenn ihm Ste<strong>in</strong>ers Erstl<strong>in</strong>ge<br />
E<strong>in</strong>leitungen zu den Naturwississenschaftlichen<br />
Schriften <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>l<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>er<br />
Erkenntnistheorie <strong>der</strong> Goetheschen Weltanschauung<br />
[1886] zu suspekt s<strong>in</strong>d, nur weil<br />
sie von Ste<strong>in</strong>er stammen, obgleich sie von<br />
<strong>der</strong> heutigen Germanistik als historische<br />
Leistung weith<strong>in</strong> anerkannt s<strong>in</strong>d [Mandelkow<br />
1998], so ist immer noch Max<br />
Heynachers Herausgabe von Goethes Philosophie<br />
aus se<strong>in</strong>en Werken [1922] empfehlenswert<br />
wie auch Peter Heussers Herausgabe<br />
von Goethes Beitrag zur Erneuerung <strong>der</strong><br />
Naturwissenschaften [2000]. Lei<strong>der</strong> hat<br />
man sich 170 Jahre lang bemüht, Goethe<br />
<strong>in</strong> die Sparte <strong>der</strong> romantischen Naturphilosophie<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zudrängen, ohne sich an<br />
<strong>der</strong> Quelle k<strong>und</strong>ig gemacht zu haben<br />
[Schad 1981]. Franz Nager [1994] hat<br />
Goethes Beitrag für die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> ausführ-<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />
lich recherchiert <strong>und</strong> e<strong>in</strong>drücklich geschil<strong>der</strong>t.<br />
Schon zu se<strong>in</strong>en Lebzeiten<br />
merkte die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ische Fakultät <strong>in</strong> Jena<br />
etwas davon <strong>und</strong> verlieh ihm im Alter<br />
den Dr. med. honoris causa.<br />
Sowohl von den Vertretern wie von<br />
den Ablehnern <strong>der</strong> anthroposophisch<br />
erweiterten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wird Goethe allzu<br />
gerne als Vertreter e<strong>in</strong>er ganzheitlichen<br />
Naturwissenschaft gesehen. Das ist so<br />
wahr, wie es falsch ist. Goethe hat sich<br />
mit e<strong>in</strong>em geradezu ges<strong>und</strong>en Wissenschafts<strong>in</strong>st<strong>in</strong>kt<br />
nie <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Methodenecke von Partikularismus e<strong>in</strong>erseits<br />
<strong>und</strong> Holismus an<strong>der</strong>erseits treiben<br />
lassen:<br />
„Es ist nicht genug, daß wir bei Beobachtung<br />
<strong>der</strong> Natur das analytische Verfahren<br />
anwenden, das heißt, daß wir aus<br />
e<strong>in</strong>em irgend gegebenen Gegenstande so<br />
viel E<strong>in</strong>zelheiten als möglich entwickeln<br />
<strong>und</strong> sie auf diese Weise kennenlernen,<br />
son<strong>der</strong>n wir haben auch eben diese Analyse<br />
auf die vorhandenen Synthesen<br />
anzuwenden, um zu erforschen, ob man<br />
denn auch richtig, ob man <strong>der</strong> wahren<br />
Methode gemäß zu Werke gegangen. [...]<br />
E<strong>in</strong> Jahrh<strong>und</strong>ert, das sich bloß auf die<br />
Analyse verlegt <strong>und</strong> sich von <strong>der</strong> Synthese<br />
gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem<br />
rechten Wege; denn nur beide zusammen,<br />
wie Aus- <strong>und</strong> E<strong>in</strong>atmen, machen<br />
das Leben <strong>der</strong> Wissenschaft“ [Goethe<br />
1829].<br />
„Möge doch je<strong>der</strong> von uns bei dieser<br />
Gelegenheit sagen, daß Son<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Verknüpfen<br />
zwei unzertrennliche Lebensakte<br />
s<strong>in</strong>d. Vielleicht ist es besser gesagt; daß es<br />
unerläßlich ist, man möge wollen o<strong>der</strong><br />
nicht, aus dem Ganzen <strong>in</strong>s E<strong>in</strong>zelne, aus
Wert <strong>und</strong> Grenzen <strong>der</strong> <strong>Menschenbild</strong>er<br />
dem E<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong>s Ganze zu gehen, <strong>und</strong><br />
je lebendiger diese Funktionen des Geistes,<br />
wie Aus- <strong>und</strong> E<strong>in</strong>atmen, sich zusammen<br />
verhalten, desto besser wird für die<br />
Wissenschaft <strong>und</strong> ihre Fre<strong>und</strong>e gesorgt<br />
se<strong>in</strong>“ [Goethe 1831].<br />
„Um mich zu retten, betrachte ich alle<br />
Ersche<strong>in</strong>ungen als unabhängig vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
<strong>und</strong> suche sie gewaltsam zu isolieren;<br />
dann betrachte ich sie als Korrelate, <strong>und</strong><br />
sie verb<strong>in</strong>den sich zu e<strong>in</strong>em entschiedenen<br />
Leben. Dies beziehe ich vorzüglich<br />
auf Natur“ [Goethe 1976].<br />
So selbstverständlich diese Aussagen<br />
im Gr<strong>und</strong>e s<strong>in</strong>d, umso rätselhafter ist die<br />
historische Hartnäckigkeit, mit <strong>der</strong> von<br />
beiden Seiten die Polarisierung – oft mit<br />
viel Schmäh – betrieben wurde <strong>und</strong> wird.<br />
Geht man jedoch ohne Fixierungen an<br />
das Phänomen Organismus heran, so gibt<br />
er selbst alle<strong>in</strong> schon biologisch das<br />
methodische Vorbild ab: Wir müssen die<br />
Nahrungsobjekte erst unter den Zähnen<br />
zerkle<strong>in</strong>ern <strong>und</strong> mit den Verdauungsenzymen<br />
molekular abbauen, bis jenseits<br />
<strong>der</strong> Darmwand, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Leber, ja <strong>in</strong> allen<br />
Zellen die aufbauende Phase <strong>der</strong> Substanzsynthesen<br />
e<strong>in</strong>setzt: e<strong>in</strong> ausgezeichnetes<br />
Vorbild je<strong>der</strong> geistigen Ernährung<br />
durch plurale wissenschaftliche Verfahren,<br />
sonst gäbe es nur unverarbeitete<br />
Datenfriedhöfe.<br />
So demonstriert auch je<strong>der</strong> Organismus,<br />
dass er ebenso gliedhafter Teil se<strong>in</strong>es<br />
Lebensraumes ist, wie er auch darüber<br />
h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e Vielzahl von Kennzeichen<br />
ganzheitlicher Integration besitzt. Immer<br />
gehören beide Essentials, se<strong>in</strong>e Heteronomie<br />
<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Autonomie, zu se<strong>in</strong>er<br />
Gr<strong>und</strong>ausstattung. Die Totalisierung des<br />
atomistischen Blickes ist ebenso unter<br />
Ideologieverdacht zu stellen wie die des<br />
puren Holismus. Das lehrt uns ja gerade<br />
die ökologische Diskussion. Man solle<br />
endlich mit dem Missbrauch Goethes <strong>in</strong><br />
beiden Lagern, soweit sie sich verfestigt<br />
haben, aufhören. Goethe hat ebenso<br />
Schmetterl<strong>in</strong>gspuppen seziert <strong>und</strong> am<br />
reduzierten Phänomen des Säugetierskelettes<br />
zoologisiert, wie er im Erfassen von<br />
Typus, <strong>der</strong> Metamorphose <strong>und</strong> dem Kompensationspr<strong>in</strong>zip<br />
hohe synthetische<br />
Denkleistungen <strong>in</strong> Vorreiterrolle e<strong>in</strong>gebracht<br />
hat.<br />
Wert <strong>und</strong> Grenzen <strong>der</strong><br />
<strong>Menschenbild</strong>er<br />
E<strong>in</strong> hervorgehobenes Thema dieses Symposiums<br />
ist <strong>der</strong> Umgang mit <strong>Menschenbild</strong>ern.<br />
Der plurale E<strong>in</strong>bezug zeichnet<br />
sich <strong>in</strong>zwischen auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />
ab. Sie vertritt zunehmend e<strong>in</strong> bio-psycho-soziales<br />
<strong>Menschenbild</strong> [Uexküll/Wesiak<br />
1998]; man kann sie deshalb nicht<br />
auf das reduktionistische <strong>Menschenbild</strong><br />
<strong>der</strong> Naturwissenschaft festlegen, schon<br />
weil die Naturwissenschaft ke<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />
haben kann, denn sie möchte<br />
ja wertungsfrei se<strong>in</strong>, was sie allerd<strong>in</strong>gs bei<br />
näherem Zusehen oft nicht ist, z.B. wenn<br />
sie mediz<strong>in</strong>ische Handlungsmotive aufstellen<br />
will.<br />
Der <strong>Pluralismus</strong> von <strong>Menschenbild</strong>ern<br />
ist phänomenaliter im Menschen<br />
selbst vorgegeben. Wir verfügen über e<strong>in</strong>e<br />
physiko-chemische Existenz, leben die<br />
biologische Qualität, s<strong>in</strong>d psychisch begabte<br />
Wesen <strong>und</strong> darüber h<strong>in</strong>aus zur geis-<br />
35
36<br />
tigen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung fähig. Diese<br />
Glie<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> vier Se<strong>in</strong>sschichten ist <strong>in</strong><br />
allen Hochkulturen als anthropologische<br />
Bestandsaufnahme vorzuf<strong>in</strong>den: vom<br />
alten Ägypten über Aristoteles, die Hochscholastik,<br />
die Renaissancephilosophen,<br />
bei Hegel, Ste<strong>in</strong>er, Nicolai Hartmann etc.<br />
Daraus ergeben sich die folgenden <strong>Menschenbild</strong>er:<br />
D <strong>in</strong>dividuelle Geistigkeit<br />
→ Menschenrechtsanerkennung<br />
D psychologische Triebstruktur<br />
→ Triebpsychologie<br />
D biologische Physiologie<br />
→ Biologismus<br />
D physiko-chemische Ausstattung<br />
→ Materialismus<br />
M<strong>in</strong>destens alle vier <strong>Menschenbild</strong>er zusammen<br />
gehören zur anthroposophischen<br />
Anthropologie, ohne dass sie dar<strong>in</strong><br />
begrenzt ist. Vielfach spricht man heute<br />
trotzdem vom „anthroposophischen<br />
<strong>Menschenbild</strong>“. Dem möchte ich als<br />
Anthroposoph massiv wi<strong>der</strong>sprechen. Es<br />
gibt ke<strong>in</strong> „anthroposophisches <strong>Menschenbild</strong>“<br />
– nicht nur deshalb, weil nirgends<br />
<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong>ers Gesamtwerk diese<br />
Bezeichnung zu f<strong>in</strong>den ist, son<strong>der</strong>n weil<br />
sie <strong>in</strong>haltlich nicht greift. Der Term<strong>in</strong>us<br />
<strong>Menschenbild</strong> legt nahe, man habe endgültig<br />
e<strong>in</strong> stimmiges, <strong>in</strong> sich ausgemaltes,<br />
fertiges Bild von dem, was <strong>der</strong> Mensch ist.<br />
Das ist ja schon deshalb nicht möglich,<br />
weil <strong>der</strong> Mensch nie „ist“, son<strong>der</strong>n immer<br />
„wird“. Es gibt nichts, was wir noch<br />
menschlicher machen könnten, <strong>und</strong> was<br />
uns unvorhersagbar verän<strong>der</strong>t. Das hängt<br />
mit se<strong>in</strong>er ansatzweisen Freiheitsphäre<br />
zusammen. Warum sollte es nicht künftig<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />
noch mehr als die vier genannten<br />
Wesensschichten im Menschen geben?<br />
Ste<strong>in</strong>er liebte hier<strong>in</strong> Heraklit zu zitieren<br />
[Ste<strong>in</strong>er GA 58]:<br />
„Der Seele Grenzen kannst du im<br />
Gehen nicht ausf<strong>in</strong>dig machen, <strong>und</strong> ob<br />
du jegliche Straße abschrittest; so tiefen<br />
S<strong>in</strong>n hat sie“ [Diels 1957].<br />
<strong>Menschenbild</strong>er gibt es natürlich sehr<br />
viele <strong>und</strong> immer dort, wo e<strong>in</strong> Paradigma<br />
festgeschrieben wird. Dagegen ist nichts<br />
zu sagen, wenn sie Durchgangsstadien<br />
s<strong>in</strong>d, die nicht Endgültigkeitsanspruch<br />
haben. Nun gibt es den E<strong>in</strong>wurf, dass<br />
doch auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> anthroposophischen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> von e<strong>in</strong>em „anthroposophischen<br />
<strong>Menschenbild</strong>“ gesprochen <strong>und</strong><br />
geschrieben wird. Das Simplifizieren gibt<br />
es eben überall; davor ist niemand geschützt,<br />
auch wenn es nicht im S<strong>in</strong>ne des<br />
Erf<strong>in</strong><strong>der</strong>s ist. Ste<strong>in</strong>er for<strong>der</strong>te massiv die<br />
Multiperspektivität, als er von m<strong>in</strong>destens<br />
12 Weltanschauungen <strong>und</strong> bei je<strong>der</strong><br />
noch von 7 Weltanschauungsstimmungen<br />
sprach, die nötig s<strong>in</strong>d, um e<strong>in</strong>igermaßen<br />
umfänglich e<strong>in</strong>en Sachverhalt zu<br />
erfassen [Ste<strong>in</strong>er GA 151]. Ich wüsste niemanden,<br />
<strong>der</strong> die damit möglichen 7 x 12<br />
= 84 Aspekte methodisch e<strong>in</strong>gesetzt <strong>und</strong><br />
durchgekostet hat. Wir s<strong>in</strong>d ja schon froh,<br />
wenn wir es mit 2, 3 o<strong>der</strong> 4 schaffen <strong>und</strong><br />
halten uns das mit Recht schon zugute. So<br />
akzeptiert die Anthroposophie natürlich<br />
auch den Materialismus als e<strong>in</strong>e von 12<br />
berechtigten Weltanschauungen.<br />
Der Chirurg muss sich auf den organologischen<br />
Gegenstand konzentrieren<br />
<strong>und</strong> kann sich <strong>der</strong>weil nicht mit <strong>der</strong> Biografie<br />
des ansonsten für ihn unsichtbaren,<br />
abgedeckten Patienten beschäftigen.
Wert <strong>und</strong> Grenzen <strong>der</strong> <strong>Menschenbild</strong>er<br />
Schlimm aber, wenn er nur Ersteres kann.<br />
Es ist methodisch voll berechtigt, sich<br />
zeitweise konsequent an das materielle<br />
Substrat zu wenden; gefährlich, weil ideologisch,<br />
wird es nur, wenn totalisiert wird,<br />
dass es nur die Materie gibt. Den methodologischen<br />
Materialismus kann man<br />
befürworten, den ontologischen Materialismus<br />
jedoch nie, weil er totalitär wird.<br />
Gerade zwischen methodologischen <strong>und</strong><br />
ontologischen <strong>Menschenbild</strong>ern ist<br />
scharf zu unterscheiden. Wenn das nicht<br />
geschehen wird, f<strong>in</strong>den die bekannten,<br />
unaufhörlichen Grabenkämpfe statt – gerade<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> –, wogegen dieses<br />
Symposium angehen möchte. S<strong>in</strong>d die<br />
verschiedenen Standpunkte re<strong>in</strong> methodologisch<br />
akzeptiert, so kann das gegenseitige<br />
Lernen h<strong>in</strong> zur Komplementierung<br />
o<strong>der</strong> gar Auflösung <strong>der</strong> abgegrenzten<br />
<strong>Menschenbild</strong>er stattf<strong>in</strong>den. Oft bleiben<br />
dann nur noch Sprachbarrieren, die überw<strong>in</strong>dbar<br />
se<strong>in</strong> sollten. <strong>Menschenbild</strong>er<br />
s<strong>in</strong>d als Zwischenbilanzen anzusehen, um<br />
– wenn sie ihren Dienst zeitweise s<strong>in</strong>nvoll<br />
getan haben – wie<strong>der</strong> aufgebrochen zu<br />
werden.<br />
Ich habe sogar die Frage, ob <strong>der</strong> Ausdruck<br />
„anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“, obgleich<br />
längst e<strong>in</strong>geführt <strong>und</strong> sogar <strong>in</strong><br />
Gesetzestexten festgeschrieben, nicht<br />
auch e<strong>in</strong> unzulänglicher Reduktionismus<br />
ist. Verlangte doch Ste<strong>in</strong>er von jedem<br />
anthroposophischen Arzt die volle Beherrschung<br />
<strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong>, zu <strong>der</strong> die<br />
anthroposophische Menschenkenntnis<br />
<strong>und</strong> -erkenntnis ergänzend <strong>und</strong> damit<br />
erweiternd h<strong>in</strong>zukommt. Nur die Scheu<br />
vor <strong>der</strong> sprachlichen Umständlichkeit,<br />
jedes Mal von „anthroposophisch erwei-<br />
terter bzw. orientierter <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ zu sprechen,<br />
hat die missverständliche Formulierung<br />
<strong>in</strong> Gebrauch gebracht, so als ob es<br />
e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>e, eigene, alternative<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> sei.<br />
Thomas McKeen [1980] hat darauf<br />
e<strong>in</strong>mal h<strong>in</strong>gewiesen: Ebenso wenig wie es<br />
e<strong>in</strong>e „deutsche Physik“ geben kann, gibt<br />
es e<strong>in</strong>e „anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />
etwa im Gegensatz zur Schulmediz<strong>in</strong>. Wir<br />
haben schon e<strong>in</strong>gangs uns <strong>der</strong> Aussage<br />
angeschlossen, dass die Schulmediz<strong>in</strong><br />
nicht die bloße Vertretung e<strong>in</strong>er reduktionistischen<br />
Naturwissenschaft ist, son<strong>der</strong>n<br />
die Vielschichtigkeit des Menschen auch<br />
<strong>in</strong> psychologischer <strong>und</strong> sozialer H<strong>in</strong>sicht<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Lehre e<strong>in</strong>bezieht. Die Schulmediz<strong>in</strong><br />
def<strong>in</strong>iert sich durch das Curriculum, das<br />
im <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>studium vermittelt wird.<br />
Indem an den Universitäten <strong>in</strong> Witten/<br />
Herdecke <strong>und</strong> Bern Begleitstudiengänge<br />
<strong>in</strong> anthroposophischer <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong>zwischen<br />
angeboten werden, ist diese dabei,<br />
sich an <strong>der</strong> hochschulmediz<strong>in</strong>ischen Ausbildung<br />
zu beteiligen. Wenn Hessel<br />
[2004] statt alternativer <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> e<strong>in</strong>e gute<br />
Schulmediz<strong>in</strong> for<strong>der</strong>t, so kann das nur<br />
begrüßt werden. Dann sollte aber, was<br />
zuerst alternativ, dann komplementär<br />
genannt wurde <strong>und</strong> wird, <strong>in</strong> das Hochschulstudium<br />
vermehrt kompetent e<strong>in</strong>gebaut<br />
werden <strong>und</strong> dadurch die Schulmediz<strong>in</strong><br />
zu „guter Schulmediz<strong>in</strong>“ ganz im S<strong>in</strong>ne<br />
Hessels sich entwickeln. Genügend<br />
gute Ansätze <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> anthroposophisch-orientierten<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> gibt es. Nur<br />
was soll sie machen, wenn sie von Vertretern<br />
<strong>der</strong> bisherigen Schulmediz<strong>in</strong> gesagt<br />
bekommt, die Erde noch als Scheibe aufzufassen,<br />
auf dem Standpunkt <strong>der</strong> „prä-<br />
37
38<br />
stabilen Harmonie“ von Leibniz zu stehen<br />
(muss übrigens „prästabiliert“ heißen,<br />
so bei Leibniz) <strong>und</strong> sich mit Goethe<br />
nur zu kaschieren? Wie leicht s<strong>in</strong>d diese<br />
Vertreter emotionalisierbar, um die<br />
Tugenden <strong>der</strong> Aufklärung – die nüchterne<br />
Argumentation – zu vergessen.<br />
Von Franckenberg [2004] verme<strong>in</strong>t,<br />
nur alle<strong>in</strong> schon durch die Nennung <strong>der</strong><br />
Anthroposophie als Geheimwissenschaft<br />
die anthroposophisch orientierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
genügend desavouieren zu können. Da<br />
<strong>der</strong> größte Teil heute unter Esoterik laufenden<br />
Strömungen, die tatsächlich ke<strong>in</strong>en<br />
Wissenschaftsanspruch vertreten<br />
wollen <strong>und</strong> können, auf die Ste<strong>in</strong>ersche<br />
Esoterik projiziert wird, sieht man se<strong>in</strong>e<br />
„Geheimwissenschaft im Umriß“ als anstößig<br />
an. Wissenschaft kann doch nicht<br />
geheim se<strong>in</strong>! Man mache sich wenigstens<br />
im Vorwort k<strong>und</strong>ig, dass sie es nicht ist,<br />
sonst wäre sie ja nicht veröffentlicht, son<strong>der</strong>n<br />
dass sie e<strong>in</strong>e Wissenschaft von dem<br />
für die S<strong>in</strong>ne Unzugänglichen, Geheimen<br />
be<strong>in</strong>haltet. Schon jede Psychologie, die<br />
die Empathie e<strong>in</strong>bezieht, geht mit Erfahrungen<br />
im psychischen Feld um, die ja<br />
nicht s<strong>in</strong>nenfällig s<strong>in</strong>d, womit sie immer<br />
schon <strong>in</strong> eben diesem S<strong>in</strong>ne „Geheim-<br />
Wissenschaft“ ist. Natur-Wissenschaft ist<br />
ja auch nicht e<strong>in</strong>e natürliche Wissenschaft,<br />
son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e solche von <strong>der</strong> Natur.<br />
Auf jenem Gebiet erfahrenere Leute anzutreffen,<br />
als man selbst ist, ist natürlich<br />
immer schmerzlich. Aber wie viel versteht<br />
<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er von Quantenphysik? Hier<br />
geht es alle<strong>in</strong> um e<strong>in</strong> klares Argumentations-Angebot.<br />
Ohne Frage hat man es <strong>in</strong> den anthroposophischen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen mit geistigen<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />
Inhalten zu tun, <strong>der</strong>en Methodik rechenschaftsschuldig,<br />
aber auch rechenschaftsfähig<br />
ist. Nur es muss doch möglich se<strong>in</strong>,<br />
sich methodisch klar zu e<strong>in</strong>igen, immer<br />
S<strong>in</strong>neserfahrung <strong>und</strong> geistige Forschung<br />
sauber ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu halten. Das sollte<br />
immerh<strong>in</strong> für jeden mit e<strong>in</strong>em wissenschaftlichen<br />
Anspruch konsensfähig se<strong>in</strong>.<br />
Ich möchte deshalb mit dem folgenden<br />
Zitat schließen:<br />
„Deshalb muß ich Sie schon heute bitten,<br />
mir e<strong>in</strong>ige Begriffe zu verzeihen.<br />
Wenn jemand etwa glauben wollte: Nun,<br />
es ist uns<strong>in</strong>nig, s<strong>in</strong>nenfällige Empirie <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Physiologie, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Biologie zu treiben,<br />
wozu braucht man die spezielle<br />
Fachwissenschaft, man entwickelt sich<br />
geistige Fähigkeiten, schaut <strong>in</strong> die geistige<br />
Welt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, kommt dann zu e<strong>in</strong>er<br />
Anschauung über den Menschen, über<br />
den ges<strong>und</strong>en, über den kranken Menschen,<br />
<strong>und</strong> kann gewissermaßen e<strong>in</strong>e<br />
geistige <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> begründen, – so wäre das<br />
e<strong>in</strong> großer Irrtum. Es tun ja das manche<br />
auch, aber es kommt nichts dabei heraus.<br />
Höchstens das, daß sie wacker schimpfen<br />
auf die empirische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, aber sie<br />
schimpfen eben dann über etwas, was sie<br />
nicht kennen. Also darum kann es sich<br />
nicht handeln, daß wir etwa e<strong>in</strong>en Strich<br />
machen gegenüber <strong>der</strong> gewöhnlichen s<strong>in</strong>nenfälligen<br />
empirischen Wissenschaft. So<br />
ist es gar nicht. Sie können zum Beispiel,<br />
wenn Sie geisteswissenschaftlich forschen,<br />
nicht etwa auf dasselbe kommen,<br />
was Sie mit dem Mikroskop erforschen.<br />
Sie können ruhig jemanden, <strong>der</strong> Ihnen<br />
den Glauben beibr<strong>in</strong>gen will, daß er aus<br />
<strong>der</strong> Geisteswissenschaft heraus dasselbe<br />
f<strong>in</strong>den kann, was man unter dem Mikro-
Literatur<br />
skop f<strong>in</strong>det, als e<strong>in</strong>en Scharlatan auffassen.<br />
Das ist nicht so. Dasjenige, was empirische<br />
Forschung im heutigen S<strong>in</strong>ne gibt,<br />
besteht. Und um die Wissenschaft auch<br />
im S<strong>in</strong>ne geisteswissenschaftlicher Anthroposophie<br />
vollständig zu machen auf<br />
irgende<strong>in</strong>em Gebiete, dazu ist nicht etwa<br />
e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>wegräumen des s<strong>in</strong>nenfällig Empirischen<br />
statthaft, son<strong>der</strong>n es ist durchaus<br />
e<strong>in</strong> Rechnen mit dieser s<strong>in</strong>nenfälligen<br />
Empirie notwendig“ [Ste<strong>in</strong>er GA 314].<br />
Literatur<br />
Conrady KO (1985) Goethe, Leben <strong>und</strong><br />
Werk., Neuauflage (1994): Artemis &<br />
W<strong>in</strong>kler<br />
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26. rororo, Re<strong>in</strong>beck<br />
Frankenberg Dv, Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
– Verständnis <strong>und</strong><br />
Zusammenarbeit müssen vertieft werden:<br />
Goetheanistik. Dtsch Ärztebl<br />
(2004), 101, A 2313<br />
Friedenthal R (1936) Goethe, Leben <strong>und</strong><br />
Werk, Neuauflage (1994): Artemis &<br />
W<strong>in</strong>kler, Düsseldorf<br />
Goethe JW (1976) Maximen <strong>und</strong> Reflexionen,<br />
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1988<br />
Goethe JW (1829) Analyse <strong>und</strong> Synthese.<br />
Werke, Hamburger Ausgabe Bd. 13,<br />
49. dtv München 1988<br />
Goethe JW (1792) Der Versuch als Vermittler<br />
zwischen Objekt <strong>und</strong> Subjekt.<br />
Werke, Hamburger Ausgabe Bd. 13,<br />
10. dtv München 1988<br />
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<strong>und</strong> Methoden. Spr<strong>in</strong>ger, Berl<strong>in</strong>,<br />
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Hessel W, Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
– Verständnis <strong>und</strong> Zusammenarbeit<br />
müssen vertieft werden:<br />
Alternative: gute Schulmediz<strong>in</strong>.<br />
Dtsch Ärztebl (2004), 101, A 2313<br />
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Köhler O, Vom unbenannten Denken.<br />
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Mandelkow KR (1998) Natur <strong>und</strong> Geschichte<br />
bei Goethe im Spiegel se<strong>in</strong>er<br />
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Rezeption. In: Matussek P,<br />
Goethe <strong>und</strong> die Verzeitlichung <strong>der</strong><br />
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In: Meier H (Hrsg.), Die<br />
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Parson T (1967) Def<strong>in</strong>ition von Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> Krankheit. Krankheit im<br />
39
40<br />
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Merkurstab (2001) 54, 85–90<br />
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Schad W (1997) Die Zeit<strong>in</strong>tegration als<br />
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Universität Witten/Herdecke<br />
Schad W (1981) Die geschichtliche<br />
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Rudolf Ste<strong>in</strong>er Verlag, Dornach/<br />
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Weltanschauung mit beson<strong>der</strong>er<br />
Rücksicht auf Schiller. Rudolf Ste<strong>in</strong>er<br />
Verlag, Dornach/Schweiz<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />
Ste<strong>in</strong>er R (GA 58) Metamorphosen des Seelenlebens,<br />
Bd.1, Neun Vorträge, 44,<br />
76, 77. Rudolf Ste<strong>in</strong>er Verlag, Dornach/Schweiz<br />
Ste<strong>in</strong>er R (GA 151) Der menschliche <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> kosmische Gedanke. Rudolf Ste<strong>in</strong>er<br />
Verlag, Dornach/Schweiz<br />
Ste<strong>in</strong>er R (GA 314) Physiologisch-Therapeutisches<br />
auf Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Geisteswissenschaft.<br />
Rudolf Ste<strong>in</strong>er Verlag,<br />
Dornach/Schweiz<br />
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Denkens <strong>und</strong> Handelns, 3. Aufl.<br />
Urban & Schwarzenberg, München,<br />
Wien, Baltimore<br />
Watzlawick P (1985) Selbsterfüllende Prophezeiungen.<br />
In: Watzlawick P, Die<br />
erf<strong>und</strong>ene Wirklichkeit. Beiträge zum<br />
Konstruktivismus, 91–110. Piper,<br />
München<br />
WHO World Health Organisation (1958)<br />
Constitution. Genf<br />
Willich et al., Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong>:<br />
Verständnis <strong>und</strong><br />
Zusammenarbeit müssen vertieft werden.<br />
Dtsch Ärztebl (2004) 101, A 1317
Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />
Klaus Dörner<br />
Wenn e<strong>in</strong> grünes Männchen vom Mars,<br />
natürlich mit ethnomethodologischem<br />
Blick, das „<strong>Dialogforum</strong> <strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ o<strong>der</strong> dieses Symposium<br />
betrachten würde, stünde es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefahr,<br />
sich totzulachen: Denn wenn die<br />
etablierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> den Kampfbegriff<br />
„Schulmediz<strong>in</strong>“ ihrer Kontrahenten sich<br />
selbst freiwillig aufdrückt – <strong>und</strong> mit diesem<br />
Begriff ist schließlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition<br />
von Hamlets Schulweisheit e<strong>in</strong>seitignaturwissenschaftliche<br />
<strong>und</strong> menschenfe<strong>in</strong>dliche<br />
Borniertheit geme<strong>in</strong>t –, dann<br />
arbeitet die etablierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> offenk<strong>und</strong>ig<br />
an ihrem eigenen Untergang, lässt ke<strong>in</strong>e<br />
Selbstachtung mehr erkennen <strong>und</strong><br />
dürfte kaum noch zu retten se<strong>in</strong>.<br />
Kommt erschwerend h<strong>in</strong>zu, dass <strong>der</strong><br />
Gegenbegriff des „Komplementären“ das<br />
Wesen <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> viel genauer trifft, hat<br />
diese doch von Beg<strong>in</strong>n an betont, nicht<br />
sie, son<strong>der</strong>n die Natur heile den Patienten,<br />
während <strong>der</strong> Arzt <strong>der</strong> Natur nur ergänzend-komplementär<br />
helfe. Und umgekehrt<br />
passt „Schulmediz<strong>in</strong>“ besser auf die<br />
komplementär genannten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen,<br />
da hier doch e<strong>in</strong> jeweils ganzheitliches,<br />
umfassendes <strong>und</strong> daher geschlossenes<br />
Lehrgebäude reklamiert wird, während<br />
die etablierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> sich eher als<br />
e<strong>in</strong>en offenen Fortschrittsprozess versteht.<br />
Obwohl ich nun selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit<br />
me<strong>in</strong>er Lehre an <strong>der</strong> Universität Witten/<br />
Herdecke das dauerhafte Nachdenken <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er über den Menschen – hier nur<br />
am Beispiel des anthroposophischen Modells<br />
– zu för<strong>der</strong>n versucht habe, damit<br />
übrigens am Des<strong>in</strong>teresse <strong>der</strong> kooperierenden<br />
Kl<strong>in</strong>iken <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>studenten<br />
gescheitert b<strong>in</strong>, zähle ich mich zum<br />
Lager <strong>der</strong> etablierten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>.<br />
Schon <strong>der</strong> Chancengleichheit wegen<br />
kann ich nun beim besten Willen me<strong>in</strong>e<br />
etablierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> nicht „Schulmediz<strong>in</strong>“<br />
nennen, eben weil dies e<strong>in</strong>em sprachlichen<br />
Vorab-Selbstmord gleichkäme. Für<br />
die Zwecke me<strong>in</strong>er Ausführungen werde<br />
ich sie stattdessen „allgeme<strong>in</strong>e <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />
nennen, die komplementäre <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
h<strong>in</strong>gegen die „beson<strong>der</strong>e <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ (nach<br />
den „beson<strong>der</strong>en Therapierichtungen“<br />
des Gesetzestextes), abgekürzt A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
<strong>und</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Das ist nicht optimal,<br />
aber formal vertretbar, macht <strong>in</strong>haltlich<br />
sogar e<strong>in</strong> wenig S<strong>in</strong>n; <strong>und</strong> man muss<br />
nicht Hegel gelesen haben, um zu wissen,<br />
dass das Allgeme<strong>in</strong>e <strong>und</strong> das Beson<strong>der</strong>e <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Entwicklung je<strong>der</strong>zeit <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
umschlagen können.<br />
Ähnliche Bauchschmerzen bestehen<br />
beim Begriff „<strong>Menschenbild</strong>“. Dies ist<br />
we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> philosophischer noch e<strong>in</strong> wissenschaftlicher<br />
Begriff. Er gehört vielmehr<br />
zur ontologischen Sprache <strong>der</strong><br />
Weltanschauungen <strong>und</strong> Glaubenssysteme.<br />
Daher können B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er damit<br />
41
42<br />
besser leben als A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er wie ich. Da<br />
nun gleichwohl allen mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Äußerungen Annahmen über e<strong>in</strong> Menschenverständnis<br />
zugr<strong>und</strong>e liegen, spreche<br />
ich hier lieber von anthropologischen<br />
Annahmen, auch wenn – bezeichnend für<br />
das desolate Ergänzungsbedürfnis <strong>der</strong> A-<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – etwa <strong>der</strong> Pschyrembel we<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ische Anthropologie noch<br />
e<strong>in</strong>e anthropologische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> kennt, e<strong>in</strong><br />
Bef<strong>und</strong>, <strong>der</strong> alle<strong>in</strong> schon alle <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>-Verantwortlichen<br />
schlaflos machen müsste.<br />
Nun habe ich hier den Auftrag, über<br />
die anthropologischen Motive <strong>und</strong> Begründungen<br />
<strong>der</strong> ärztlichen Ethik <strong>und</strong><br />
damit des ärztlichen Handelns nachzudenken.<br />
Schon um hier den naturalistischen<br />
Fehlschluss zu vermeiden, also<br />
unzulässig vom menschlichen Se<strong>in</strong> auf<br />
das Sollen zu schließen, wofür B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er<br />
noch anfälliger als A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er s<strong>in</strong>d,<br />
empfiehlt sich Zurückhaltung bei anthropologischen<br />
Se<strong>in</strong>saussagen. So ist z.B.<br />
schon <strong>der</strong> Satz aus dem „<strong>Dialogforum</strong>“-<br />
Text [Willich 2004] bedenklich, Heilen sei<br />
die „Hilfe bei <strong>der</strong> Realisierung <strong>in</strong>dividueller<br />
Lebensperspektiven“ im Krankheitsfall.<br />
Denn unter heutigen Marktbed<strong>in</strong>gungen<br />
werden tendenziell alle Menschen<br />
als (vor allem psychisch) therapie<strong>und</strong><br />
verbesserungsbedürftig gewertet, was<br />
die Gefahr e<strong>in</strong>er menschenbeglückenden<br />
Medikokratie ebenso erkennen lässt wie<br />
die Tatsache, dass die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>-Verantwortlichen<br />
heute nur noch ungern von<br />
„Krankheit“, dafür aber umso begeisterter<br />
ontologisch von „Ges<strong>und</strong>heit“ <strong>und</strong> ihrer<br />
Steigerungsfähigkeit reden, weshalb sich<br />
auch das Konzept <strong>der</strong> Salutogenese e<strong>in</strong>er<br />
zu h<strong>in</strong>terfragenden Beliebtheit erfreut.<br />
Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />
Wegen solcher Gefährdungen beschränke<br />
ich mich hier auf die Beschreibung des<br />
Wandels anthropologischer Annahmen<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> ihrer<br />
Ethik.<br />
Methodisch folge ich damit <strong>der</strong> jungen<br />
kulturwissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> „historischen Anthropologie“, wie sie<br />
Re<strong>in</strong>hard [2004] <strong>in</strong> Freiburg entwickelt<br />
hat.<br />
In diesem S<strong>in</strong>ne zunächst e<strong>in</strong>e kurze,<br />
allgeme<strong>in</strong>-menschliche Rahmenerzählung,<br />
die gleichwohl für unser Thema<br />
nicht bedeutungslos ist: Der Aufbruch zur<br />
europäischen Rationalität als Befreiung<br />
vom Mythos erfolgt im Altertum im Spannungsfeld<br />
zwischen zwei Denktraditionen,<br />
e<strong>in</strong>mal <strong>der</strong> griechischen mit ihrem<br />
Ausgang vom Ich <strong>und</strong> zum an<strong>der</strong>en <strong>der</strong><br />
biblischen mit ihrem Ausgang vom An<strong>der</strong>en,<br />
egal ob vom an<strong>der</strong>en Menschen o<strong>der</strong><br />
von Gott – e<strong>in</strong> bis heute wirksames Spannungsfeld.<br />
Innerhalb dieser sich so rationalisierenden<br />
Kultur Europas ist die erste mediz<strong>in</strong>-relevante<br />
Feststellung trotz ihrer<br />
Schlichtheit die am meisten vergessene:<br />
Da die Ärzte sich nämlich (von Ausnahmen<br />
abgesehen) während <strong>der</strong> vielen Jahrh<strong>und</strong>erte<br />
des Mittelalters <strong>und</strong> <strong>der</strong> Neuzeit<br />
auf die Behandlung <strong>der</strong> wenigen Besitzenden<br />
beschränkten, war das anthropologisch<br />
bedeutsame Helfen <strong>in</strong> Krankheit<br />
<strong>und</strong> ähnlichen Notlagen <strong>in</strong> dieser langen<br />
Zeit vor allem die Sache <strong>der</strong> Bürger selbst,<br />
ihres recht <strong>und</strong> schlecht funktionierenden<br />
solidarischen Füre<strong>in</strong>an<strong>der</strong>e<strong>in</strong>stehens,<br />
stabilisiert von den drei nahräumigen<br />
Solidaritäts-Institutionen <strong>der</strong> Familie, <strong>der</strong><br />
Nachbarschaft <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de. Auch
Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />
vergessen ist, dass die kle<strong>in</strong>ste tragfähige<br />
soziale E<strong>in</strong>heit bei überdurchschnittlichem<br />
Hilfsbedarf im Regelfall nie die isolierte<br />
Familie, son<strong>der</strong>n immer Familie<br />
<strong>und</strong> Nachbarschaft zusammen waren,<br />
wofür die Hausärzte heute erst wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />
S<strong>in</strong>nesorgan entwickeln. Und die Solidarität<br />
territorialer Kle<strong>in</strong>räume ist <strong>und</strong> bleibt<br />
das basale Steuerungs<strong>in</strong>strument jedes<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesens bis heute. Nur so ist<br />
zu erklären, dass selbst unter den heutigen<br />
ungünstigen Bed<strong>in</strong>gungen 70% <strong>der</strong><br />
Alterspflegebedürftigen familiär betreut<br />
werden.<br />
Aber zwischen den beiden Ebenen<br />
bürgerschaftlicher Solidarität <strong>und</strong> ärztlichen<br />
Handelns gab es – nicht nur für den<br />
mal mehr, mal weniger, aber immer wirksamen<br />
Placebo-Bereich <strong>der</strong> notgeborenen<br />
gläubigen Heilserwartung – ebenso dauerhaft<br />
die Tradition <strong>der</strong> Volksmediz<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
ihren unendlich vielen Schattierungen.<br />
Wo <strong>der</strong>en Vertreter dem Ärztestand zu<br />
nahe kamen, wurden sie oft als „Unehrliche“<br />
abgewehrt, notfalls auch <strong>in</strong> Hexenprozesse<br />
verstrickt. Die heutigen beson<strong>der</strong>en<br />
Therapierichtungen <strong>der</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
haben wirksame Wurzeln <strong>in</strong> dieser Tradition<br />
<strong>der</strong> Volksmediz<strong>in</strong>, sei es <strong>der</strong> eigenen<br />
o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er fremden Kultur, teils bis <strong>in</strong> die<br />
Esoterik <strong>und</strong> die para-religiöse Spiritualität<br />
des vor-europäischen Mythos zurückreichend.<br />
Der Rationalisierungsschub <strong>der</strong> Aufklärung<br />
<strong>und</strong> des Beg<strong>in</strong>ns <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />
än<strong>der</strong>te im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert fast alles.<br />
E<strong>in</strong>erseits führte die Verwissenschaftlichung<br />
<strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Technik aus <strong>der</strong><br />
Begeisterung über den dadurch erzielten<br />
Wirksamkeitszuwachs nicht nur zum<br />
neuen Leitbild <strong>der</strong> zukünftigen Herstellbarkeit<br />
e<strong>in</strong>er leidensfreien Gesellschaft,<br />
son<strong>der</strong>n auch zur Vernachlässigung <strong>der</strong><br />
Wirksamkeit <strong>der</strong> Person des Arztes <strong>und</strong><br />
se<strong>in</strong>er ethischen Erfahrungsregeln. Es entstand<br />
die Gefahr des Verlustes se<strong>in</strong>er<br />
beruflichen Autorität <strong>und</strong> Identität <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Eigenständigkeit se<strong>in</strong>er Wissenschaft.<br />
Wie die ärztlichen Techniken durch Anwendung<br />
an<strong>der</strong>er Wissenschaften (Physik,<br />
Chemie, Biologie, später Psychologie<br />
<strong>und</strong> Soziologie) effektiviert wurden, so<br />
wurden schließlich auch die ethischen<br />
Normen von außen importiert. Auf diese<br />
Weise wurden nun die Patienten zwar<br />
technisch erreichbar, aber dafür emotional-persönlich<br />
unerreichbar, was wie<strong>der</strong>um<br />
die B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
wichtiger werden ließ.<br />
An<strong>der</strong>erseits führte zwar <strong>der</strong> Universalismus-Anspruch<br />
<strong>der</strong> neuen Rationalität<br />
dazu, dass die Ärzte nun erstmals <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>geschichte für alle Menschen da<br />
se<strong>in</strong>, sich mit allen solidarisieren wollten,<br />
abzulesen etwa an den vielen kommunalen<br />
Ärztevere<strong>in</strong>en im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Auf diese Tradition greift die heutige<br />
„<strong>in</strong>tegrierte Versorgung“ zurück, wenn es<br />
ihr um die Versorgung e<strong>in</strong>es erlebnisfähigen<br />
kommunalen Nahraums geht; hier ist<br />
territoriale Verantwortung endlich die<br />
Basis ärztlicher Sorge-Ethik. Doch wählte<br />
<strong>der</strong> Staat mit den Sozialgesetzen ab 1880<br />
e<strong>in</strong>e eher entsolidarisierende Problemlösung<br />
top-down, von oben herunter – mit<br />
<strong>der</strong> Botschaft an die Bürger, dass sie sich<br />
nun von ihrer Solidarität des Helfens<br />
zugunsten eigener Freiheit durch Geld<br />
(Steuern/Beiträge) freikaufen könnten –<br />
mit <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong> seitherigen Schwächung<br />
43
44<br />
<strong>der</strong> drei Solidaritäts<strong>in</strong>stitutionen Familie,<br />
Nachbarschaft <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>de <strong>und</strong> des<br />
Irrglaubens <strong>der</strong> Bürger, sie hätten sich<br />
jetzt nicht mehr an ihrer Bedeutung für<br />
An<strong>der</strong>e, son<strong>der</strong>n nur noch an ihrer eigenen<br />
Selbsterhaltung <strong>und</strong> Selbstbestimmung<br />
zu orientieren. Dies war passend<br />
zur zunehmenden Bedeutung des Marktes,<br />
<strong>der</strong> nun gegenüber <strong>der</strong> Solidarität,<br />
wenn auch schrittweise, das immer stärkere<br />
Steuerungs<strong>in</strong>strument des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />
werden konnte, bis heute<br />
nach dem Willen von WTO <strong>und</strong> EU das<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen dem globalen Dienstleistungshandel<br />
allmählich freigegeben<br />
wird, was den Arztberuf zum Gewerbe<br />
<strong>und</strong> den Arzt zum Wunscherfüller von<br />
Dienstleistungsk<strong>und</strong>en macht, den besseren<br />
hofierend <strong>und</strong> melkend, den schlechteren<br />
an die Konkurrenz abdrückend. In<br />
dem Maße, wie sich dieser Prozess, zu<br />
dem sich auch Deutschland verpflichtet<br />
hat, realisiert, könnten A- <strong>und</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er<br />
dann nur noch im schlechten <strong>Pluralismus</strong><br />
postmo<strong>der</strong>ner Beliebigkeit um die<br />
profitableren Marktanteile konkurrieren.<br />
Wer hier resignieren will, sei auf die<br />
zur Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> historischen Anthropologie<br />
diskutierte Hypothese [Re<strong>in</strong>hard 2004,<br />
S. 276] verwiesen, dass die zu beobachtende<br />
postmo<strong>der</strong>ne Wie<strong>der</strong>zuwendung <strong>der</strong><br />
Menschen zu den vormo<strong>der</strong>nen Nahräumen<br />
<strong>und</strong> Kle<strong>in</strong>gruppen damit zu tun<br />
haben könnte, dass die durch die Befreiung<br />
von den B<strong>in</strong>dungen <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>gruppen<br />
e<strong>in</strong>gehandelte Diszipl<strong>in</strong>ierung durch<br />
die dadurch gestärkten Groß<strong>in</strong>stitutionen<br />
– nache<strong>in</strong>an<strong>der</strong> Kirche, Staat <strong>und</strong> Markt –<br />
zunehmend umfassen<strong>der</strong> <strong>und</strong> drücken<strong>der</strong><br />
erlebt wurde. Da die Menschen so vom<br />
Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />
Regen <strong>in</strong> die Traufe gekommen seien, versuchten<br />
sie, dies durch e<strong>in</strong>e Reorientierung<br />
an den durch die Mo<strong>der</strong>ne überholt<br />
geglaubten Kle<strong>in</strong>gruppen (Familie, Nachbarschaft,<br />
Geme<strong>in</strong>de, auch Fre<strong>und</strong>schaft)<br />
zu kompensieren. In dem Maße, wie das<br />
zutrifft, wäre es für die Ärzte geboten, sich<br />
ihrerseits wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Dienst dieser<br />
Kle<strong>in</strong>gruppen <strong>und</strong> damit <strong>der</strong> bürgerschaftlichen<br />
Solidarität des Helfens zu<br />
stellen, um diese gegenüber dem an<strong>der</strong>en<br />
Steuerungs<strong>in</strong>strument des Ges<strong>und</strong>heitswesens,<br />
dem Markt, zu stärken. Wie das<br />
geht, wie z.B. <strong>der</strong> Hausarzt Geme<strong>in</strong>dearzt<br />
werden kann, habe ich <strong>in</strong> Der gute Arzt<br />
[2003] <strong>und</strong> Das Ges<strong>und</strong>heitsdilemma<br />
[2004] zu zeigen versucht.<br />
Nach dieser historischen Analyse nun<br />
e<strong>in</strong> paar systematische Aspekte zur Frage<br />
<strong>der</strong> Technik-Moral-Balance, des Ethik-Ausgleichs,<br />
nachdem wir uns darüber vermutlich<br />
e<strong>in</strong>ig s<strong>in</strong>d, dass die Verwissenschaftlichung<br />
<strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Techniken zwischenzeitlich<br />
zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>strumentellen<br />
Verkürzung <strong>der</strong> anzustrebenden vollständigen<br />
Rationalität gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>,<br />
vermeidbar o<strong>der</strong> nicht, geführt hat.<br />
Auch auf diesem Weg kommen wir zu<br />
ähnlichen Ergebnissen:<br />
D Der Verallgeme<strong>in</strong>erbarkeit <strong>und</strong> Wie<strong>der</strong>holbarkeit<br />
als Wirkungskriterium<br />
e<strong>in</strong>es Experimentes, e<strong>in</strong>er ärztlichen<br />
Maßnahme o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Medikamentes<br />
entspricht ethisch am ehesten die<br />
Gerechtigkeits-Norm. Deren Formalismus<br />
(alle haben dasselbe Recht, unter<br />
Brücken zu schlafen) bedarf des Ausgleichs<br />
durch E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> die<br />
eigentlich ärztliche Ethik <strong>der</strong> Sorge,<br />
wie <strong>der</strong> amerikanische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>-Ethi-
Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />
ker Warren T. Reich [1997] gezeigt hat.<br />
Dies konkretisiert me<strong>in</strong> kategorischer<br />
Imperativ <strong>der</strong> Solidarität: „Handle <strong>in</strong><br />
de<strong>in</strong>em Verantwortungsbereich so,<br />
dass du mit dem E<strong>in</strong>satz all de<strong>in</strong>er<br />
Ressourcen beim jeweils Letzten beg<strong>in</strong>nst,<br />
bei dem es sich am wenigsten<br />
lohnt.“ Damit ist unschwer zu erkennen,<br />
dass <strong>der</strong> Markt e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en,<br />
umgekehrten ethischen Imperativ<br />
folgt (beg<strong>in</strong>nen, wo es sich am meisten<br />
lohnt).<br />
D Die Adressierung e<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Maßnahme an e<strong>in</strong> krankes, isoliertes<br />
Individuum bedarf des kompensatorischen<br />
Ausgleichs <strong>der</strong> Aufmerksamkeit<br />
für se<strong>in</strong>en Kontext, se<strong>in</strong>e Lebenswelt.<br />
Daher ist ärztliche Verantwortung, im<br />
Dienst des bürgerschaftlichen Solidarsystems,<br />
immer zuerst territorial zu<br />
def<strong>in</strong>ieren. Und daher ist die Arzt-Patienten-Beziehung<br />
immer zuerst e<strong>in</strong>e<br />
Arzt-Patienten-Angehörigen-Beziehung,<br />
wenn sie vollständig rational<br />
se<strong>in</strong> will.<br />
D Die Fokussierung ärztlichen Handelns<br />
auf die technische Endstrecke verlangt<br />
als Ausgleich die E<strong>in</strong>bettung des<br />
Handelns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e beziehungsmediz<strong>in</strong>ische<br />
Kultur, wie dies u.a. Uexküll<br />
[1994] beschreibt.<br />
D Die ethische Reflexion <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als<br />
Beziehungswissenschaft unterscheidet<br />
<strong>in</strong> je<strong>der</strong> Beziehung zwischen zwei<br />
asymmetrischen Dimensionen: Dies<br />
ist e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e aktiv-asymmetrische<br />
Subjekt-Objekt-Dimension, <strong>in</strong> <strong>der</strong> ich<br />
mich dazu bekenne, den <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Not<br />
eher nicht selbstbestimmten, son<strong>der</strong>n<br />
real-fremdbestimmten Patienten zur<br />
Anwendung e<strong>in</strong>er kunstgerecht <strong>in</strong>dizierten<br />
Technik führen zu wollen.<br />
Dies ist verantwortungs-ethisch nur<br />
gerechtfertigt, wenn diese Dimension<br />
zum an<strong>der</strong>en als Ausgleich e<strong>in</strong>gebettet<br />
ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e umgekehrte passivasymmetrischeObjekt-Subjekt-Dimension,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> ich mich ebenso<br />
vorbehaltlos dem Dienst an dem Patienten<br />
aussetze, den sprechenden<br />
Augen se<strong>in</strong>es schutzlosen Antlitzes<br />
ohne Hörigkeit gehorsam b<strong>in</strong>, wie<br />
Lev<strong>in</strong>as [1992] den Vorrang <strong>der</strong> Ethik<br />
vor <strong>der</strong> Ontologie auch allgeme<strong>in</strong><br />
begründet. Nur über diesen Umweg<br />
<strong>der</strong> „Kunst des Indirekten“ [Schernus<br />
2003] kann die Beziehung gelegentlich<br />
auch als wechselseitig <strong>in</strong> ihrer<br />
Subjekt-Subjekt-Dimension erlebnisfähig<br />
werden. Hier wird deutlich, dass<br />
„Dienst“ das Gegenteil von „Dienstleistung“<br />
ist.<br />
D In <strong>der</strong> Balance zwischen nomothetischer<br />
<strong>und</strong> idiopathischer Ausrichtung<br />
<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> hat <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die A-<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> sich über 200 Jahre vor allem<br />
naturwissenschaftlich-nomothetisch<br />
weitergebildet, während die humanwissenschaftlich-idiopathischeOrientierung<br />
überholt zu se<strong>in</strong> schien. Heute<br />
können wir wissen, dass zur nicht<br />
<strong>in</strong>strumentell verkürzten, vollständigen<br />
Rationalität <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
mediz<strong>in</strong>ischen Anthropologie die E<strong>in</strong>bettung<br />
<strong>der</strong> naturwissenschaftlichen<br />
<strong>in</strong> die humanwissenschaftliche Orientierung<br />
geboten ist, ähnlich wie<br />
Newtons mechanische Physik sich<br />
nur als Son<strong>der</strong>fall <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>eren<br />
Quantenphysik als gültig erwiesen<br />
45
46<br />
hat. Wir tun also gut daran, für die<br />
nächsten 100 Jahre unsere S<strong>in</strong>nesorgane<br />
für das Idiopathische nachzuentwickeln,<br />
unsere Befähigung zum biographisch-hermeneutischen<br />
Denken<br />
<strong>und</strong> zur phänomenologischen Erfahrung,<br />
die <strong>in</strong> <strong>der</strong> konkreten Situation<br />
die evidence-basierten Leitl<strong>in</strong>ien<br />
nicht e<strong>in</strong>fach befolgt, son<strong>der</strong>n sie souverän<br />
<strong>in</strong> ihren Dienst zu nehmen versteht.<br />
Dem entspricht durchaus die<br />
Wie<strong>der</strong>entdeckung unserer S<strong>in</strong>nesorgane<br />
für die überholt geglaubten<br />
Kle<strong>in</strong>gruppen <strong>der</strong> Menschen, die solidaritätsstabilisierenden<br />
Institutionen<br />
Familie, Nachbarschaft, Geme<strong>in</strong>de,<br />
damit für die territoriale Def<strong>in</strong>ition<br />
unserer Verantwortung, vor allem die<br />
des Hausarztes. Auch Habermas’<br />
[2001] postsäkulare Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>beziehung<br />
<strong>der</strong> biblischen neben <strong>der</strong><br />
gewohnten griechischen Denktradition<br />
zu e<strong>in</strong>em vollständigen Rationalitätsbegriff<br />
ist hier e<strong>in</strong>schlägig,<br />
schließlich auch die Wahrnehmung<br />
des Spannungsfeldes zwischen den<br />
beiden anthropologischen Gr<strong>und</strong>bedürfnissen<br />
jedes Menschen, e<strong>in</strong>erseits<br />
nach ges<strong>und</strong>-egoistischer Selbsterhaltung/Selbstbestimmung<br />
<strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits<br />
nach Auslastung durch Bedeutung<br />
für An<strong>der</strong>e; dann nämlich habe<br />
ich mich als Arzt bei <strong>der</strong> Entlassung<br />
e<strong>in</strong>es Patienten aus dem Krankenhaus<br />
nicht nur zu fragen, ob er selbstständig<br />
genug sei, son<strong>der</strong>n auch, ob er<br />
h<strong>in</strong>reichend mit Bedeutung für An<strong>der</strong>e<br />
ausgelastet sei. Von Viktor von<br />
Weizsäcker [1987] kann man das lernen.<br />
Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />
Folgende Schlussfolgerungen lassen sich<br />
aus den historischen <strong>und</strong> systematischen<br />
Überlegungen ziehen:<br />
1. A- <strong>und</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> haben zum<strong>in</strong>dest<br />
zwei geme<strong>in</strong>same Interessen. E<strong>in</strong>mal die<br />
Rückbes<strong>in</strong>nung darauf, dass die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
selbst e<strong>in</strong>e eigenständige, zwar nicht<br />
naturwissenschaftliche, wohl aber humanwissenschaftliche<br />
Wissenschaft ist.<br />
Sie <strong>in</strong>tegriert zwar die Ergebnisse vieler<br />
an<strong>der</strong>er Wissenschaften, entwickelt aber<br />
eigene Theorien <strong>und</strong> folgt e<strong>in</strong>er eigenen<br />
Philosophie, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch Ethik,<br />
wofür ich e<strong>in</strong>ige Beispiele genannt habe.<br />
Die resignierten Ärzte an <strong>der</strong> Basis hoffen<br />
kaum noch, aber erwarten dennoch, dass<br />
ihre Selbstverwaltungs-Repräsentanten<br />
sich zu diesem Anspruch, auch Machtanspruch<br />
bekennen, um dem ärztlichen Alltagshandeln<br />
se<strong>in</strong>e früher wegen e<strong>in</strong>seitiger<br />
Hypertrophie teils zurecht aberkannte<br />
Autorität <strong>in</strong> dieser an<strong>der</strong>en Form wie<strong>der</strong>zugeben,<br />
ohne die es nicht h<strong>in</strong>reichend<br />
wirken kann.<br />
Das an<strong>der</strong>e geme<strong>in</strong>same Interesse<br />
besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rückbes<strong>in</strong>nung darauf,<br />
dass das professionelle <strong>und</strong> bezahlte Hilfesystem<br />
<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> das unbezahlte bürgerschaftliche<br />
Hilfesystem nicht etwa<br />
ersetzt o<strong>der</strong> allenfalls ergänzend <strong>in</strong> Form<br />
von Ehrenamtlichen zulässt, wie wir dies<br />
über 200 Jahre Mo<strong>der</strong>ne praktiziert haben.<br />
Dieses Verhältnis ist nun wie<strong>der</strong> vom<br />
Kopf auf die Füße zu stellen: Das professionelle<br />
Hilfesystem <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, so potent es<br />
auch se<strong>in</strong> mag, steht nämlich nach wie<br />
vor nur im Dienst des Solidaritätshilfesystems<br />
<strong>der</strong> Bürger, ergänzt es nur; die Bürger<br />
bezahlen die Profis dafür, dass sie ergänzend,<br />
komplementär nur dort tätig wer-
Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />
den, wo die Bürger dies mangels Kompetenz<br />
nicht können.<br />
Dies entspricht nicht nur <strong>der</strong> historischen<br />
Wahrheit, ist nicht nur arzt-ethisch<br />
geboten <strong>und</strong> auch nicht nur ökonomisch<br />
notwendig, um Steuern <strong>und</strong> Beiträge <strong>in</strong><br />
Grenzen zu halten. Vielmehr ist diese organisatorische<br />
<strong>und</strong> persönliche Indienstnahme<br />
<strong>der</strong> Ärzte durch das Solidaritätssystem<br />
<strong>der</strong> bürgerschaftlichen Kle<strong>in</strong>gruppen<br />
(Familie, Nachbarschaft, Geme<strong>in</strong>de)<br />
buchstäblich die e<strong>in</strong>zige Chance, um zu<br />
verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, dass das professionelle <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>system<br />
restlos vom zweiten Steuerungs<strong>in</strong>strument<br />
Markt geschluckt <strong>und</strong><br />
dem global-freien Handel als Dienstleistung<br />
ausgesetzt wird – mit <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong><br />
Verwandlung <strong>der</strong> Patienten <strong>in</strong> K<strong>und</strong>en<br />
o<strong>der</strong> Waren <strong>und</strong> <strong>der</strong> endgültigen Auflösung<br />
ärztlicher Identität. Die resignierten<br />
Ärzte an <strong>der</strong> Basis hoffen kaum noch, aber<br />
erwarten dennoch, dass die Ärztestandverantwortlichen<br />
die Realisierung <strong>der</strong> Indienstnahme<br />
<strong>der</strong> Ärzte durch die Bürger-<br />
Solidarität zu ihrer vornehmsten Pflicht<br />
machen, den Vorrang <strong>der</strong> Steuerung<br />
durch die Solidarität vor <strong>der</strong> Steuerung<br />
durch den Markt durchsetzen. Dann<br />
nämlich wäre jedem klar, dass die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
im Kern nicht marktfähig ist. Soweit<br />
die B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er die Erben <strong>der</strong> Volksmediz<strong>in</strong><br />
s<strong>in</strong>d, liegt es nahe, dass hier die Aeher<br />
von <strong>der</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> lernen kann.<br />
2. Von den B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ern ist aber<br />
noch mehr zu lernen. So ist für sie etwa<br />
die E<strong>in</strong>bettung mediz<strong>in</strong>ischer Techniken<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Beziehungskultur selbstverständlicher<br />
geblieben. Auch <strong>der</strong> durch die Technik-Fasz<strong>in</strong>ation<br />
bed<strong>in</strong>gte Irrglaube des<br />
mo<strong>der</strong>nisierten Arztes, er selbst sei es, <strong>der</strong><br />
heilen könne, ist ihr eher fremd. Vor allem<br />
aber ist es heute von existenzieller Bedeutung,<br />
dass die eher somato-psycho-sozialen<br />
(<strong>und</strong> nur damit biologischen) ganzheitlichen<br />
Wahrnehmungsmethoden <strong>der</strong><br />
B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er eher gegen das A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>-<br />
Übel immunisieren, den Patienten zu fragmentisieren<br />
<strong>und</strong> für se<strong>in</strong>e psychischen<br />
getrennt von se<strong>in</strong>en somatischen Leidensäußerungen<br />
arbeitsteilig <strong>und</strong> kostentreibend<br />
zwei getrennte Spezialistensysteme<br />
mit marktförmig unendlicher Expansionstendenz<br />
zu schaffen. Dies begünstigt,<br />
dass <strong>der</strong> Arzt überflüssig wird; denn<br />
wenn die psychische o<strong>der</strong> Personwirkung<br />
dem Psycho-Spezialisten zugeschrieben<br />
wird, ist die Somato-Technik beim Ingenieur<br />
besser aufgehoben. Wenn nun <strong>der</strong><br />
heutige A-B-Dialog genauso läuft wie <strong>der</strong><br />
frühere Somato-Psycho-Dialog, dann werden<br />
wir <strong>in</strong> 30 Jahren – Market<strong>in</strong>g-gesteuert<br />
– für jede Behandlung nicht zwei, son<strong>der</strong>n<br />
drei Spezialistensysteme haben:<br />
Je<strong>der</strong> Patient (z.B. je<strong>der</strong> Diabetiker) wird<br />
als Behandlungs-Gr<strong>und</strong>ausstattung den<br />
Technik-Spezialisten o<strong>der</strong> Ingenieur, den<br />
Psycho-Spezialisten <strong>und</strong> den Komplementär-Arzt<br />
o<strong>der</strong> Geistheiler wünschen –<br />
<strong>und</strong> nur se<strong>in</strong> Wunsch zählt am Markt; er<br />
wird dies notfalls gerichtlich e<strong>in</strong>klagen.<br />
Obwohl wir mit diesem A-mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Irrweg <strong>der</strong> Verdoppelung des somatischen<br />
durch e<strong>in</strong> psychisches Hilfesystem erst<br />
begonnen haben, f<strong>in</strong>det man <strong>in</strong> den<br />
Branchenverzeichnissen „besserer“ Stadtteile<br />
heute schon mehr Psycho-Anbieter<br />
als Körpermediz<strong>in</strong>er. Wie dies wie<strong>der</strong><br />
zusammenzuführen (lei<strong>der</strong> weniger: wie<br />
dies auf die wirklich kranken Patienten<br />
wie<strong>der</strong> ges<strong>und</strong>zuschrumpfen) ist, ist eher<br />
47
48<br />
von <strong>der</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zu lernen. Im Übrigen<br />
ist <strong>der</strong> Lernprozess zwischen den A- <strong>und</strong><br />
den B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ern schon seit langem im<br />
Gange.<br />
3. Umgekehrt haben die B- von den A-<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ern gnadenlos die Wirksamkeitsnachweise<br />
ihrer Verfahren zu lernen,<br />
auch wenn es dabei Fehler aufzudecken<br />
gibt. Die „B<strong>in</strong>nenanerkennung“ <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
heutigen Form politischer Gefälligkeit<br />
kann jedenfalls ke<strong>in</strong>en Bestand haben,<br />
wollen wir die Zeiten des Kulturkampfes<br />
h<strong>in</strong>ter uns br<strong>in</strong>gen. Und was die schulhaften,<br />
geschlossenen Weltanschauungsgebäude<br />
angeht, so sollte trotz aller Lebensperspektiven-S<strong>in</strong>nstiftungsbedürfnisse<br />
–<br />
am europäischen Vollständigkeitsideal<br />
<strong>der</strong> Rationalität festhaltend – nicht h<strong>in</strong>ter<br />
den Stand <strong>der</strong> Erkenntnistheorie Kants<br />
zurückgegangen werden. Wo <strong>der</strong> Rückgriff<br />
noch h<strong>in</strong>ter die griechischen <strong>und</strong><br />
biblischen Denktraditionen zurückreicht<br />
<strong>und</strong> sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Esoterik <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Spiritualität<br />
mythologischen Wähnens verwurzelt,<br />
sollte e<strong>in</strong>e Grenze gezogen se<strong>in</strong>,<br />
damit e<strong>in</strong> solcher nicht mehr weltoffener<br />
Holismus nicht Menschen kolonisiert<br />
<strong>und</strong> so imperialistisch wird. Wer Gläubige<br />
rekrutieren will, mag das tun, aber nicht<br />
durch Missbrauch zwangsläufiger Suggestibilität<br />
notleiden<strong>der</strong> Kranker, also getrennt<br />
von <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, die geme<strong>in</strong>nützig<br />
dem solidarischen Hilfesystem aller Bürger<br />
dient, worüber die ärztliche Selbstverwaltung<br />
zu wachen hat – für ihre Glaubwürdigkeit<br />
<strong>und</strong> Autorität Nachteile <strong>in</strong><br />
Kauf nehmend.<br />
4. Alle Gesprächsteilnehmer sollten<br />
sich unter dem Anspruch versammeln,<br />
den Markt-<strong>Pluralismus</strong> <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen<br />
Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />
Beliebigkeit, <strong>der</strong> für jeden e<strong>in</strong>e dauerhafte<br />
Nischenexistenz toleriert, abzulehnen<br />
<strong>und</strong> stattdessen das rationale Ziel anzustreben,<br />
dass es auf Dauer nur e<strong>in</strong>e <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
als Praxis <strong>und</strong> Wissenschaft geben<br />
kann, egal, wer wen wie bereichert <strong>und</strong><br />
wie lange <strong>der</strong> lernende Austausch dauert.<br />
Die seriöseste Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e solche<br />
Entwicklung ist für mich nach wie vor die<br />
anthropologische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> von Weizsäckers<br />
[1987], durch Kant <strong>der</strong> Rationalität<br />
verpflichtet, durch se<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>schaft<br />
mit Mart<strong>in</strong> Buber dialogphilosophisch<br />
weltoffen gehalten <strong>und</strong> natürlich für<br />
unsere heutige Situation weiterentwickelt,<br />
wofür Asmus F<strong>in</strong>zen [2002] mit se<strong>in</strong>em<br />
Buch Warum werden unsere Kranken<br />
eigentlich wie<strong>der</strong> ges<strong>und</strong>? Räsonieren über<br />
das Heilen uns e<strong>in</strong> Füllhorn von Anregungen<br />
gibt.<br />
Abschließen will ich mit dem Lebensbericht<br />
e<strong>in</strong>es alten, engagierten Landarztes:<br />
Er habe im schon fortgeschrittenen<br />
Erfahrungsstadium sich e<strong>in</strong>er kompletten<br />
homöopathischen Ausbildung unterzogen,<br />
weil er auf ke<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Weg vollständiger<br />
die Wahrnehmung des Gesamtorganismus<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Biographie des je e<strong>in</strong>maligen<br />
Patienten habe lernen können.<br />
Die auf dieser Gr<strong>und</strong>lage höchst <strong>in</strong>dividuell<br />
verordneten Kügelchen seien ihm nur<br />
als Beziehungssymbol wichtig gewesen,<br />
worauf er <strong>in</strong> dem Maße habe verzichten<br />
können, wie es ihm gelungen sei, den<br />
jeweils <strong>in</strong>dizierten technischen Maßnahmen<br />
durch das Wirken se<strong>in</strong>er Person e<strong>in</strong>e<br />
tragfähige Basis zu geben.
Literatur<br />
Literatur<br />
Dörner K (2003) Der gute Arzt. Deutscher<br />
Ärzte-Verlag, Köln<br />
Dörner K (2004) Das Ges<strong>und</strong>heitsdilemma.<br />
Ullste<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong><br />
F<strong>in</strong>zen A (2002) Warum werden unsere<br />
Kranken eigentlich wie<strong>der</strong> ges<strong>und</strong>?<br />
Psychiatrie-Verlag, Bonn<br />
Habermas J (2001) Friedenspreisrede. Frankfurter<br />
R<strong>und</strong>schau vom 16.10.2001<br />
Lev<strong>in</strong>as E (1992) Jenseits des Se<strong>in</strong> o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>s als Se<strong>in</strong> geschieht. Alber, Freiburg<br />
Reich WT (1997) Verrat an <strong>der</strong> Fürsorge,<br />
unveröffentlichter Text <strong>der</strong> Freiburger<br />
Tagung vom 12.10.1997 <strong>der</strong> Akademie<br />
für Ethik <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Re<strong>in</strong>hard W (2004) Lebensformen Europas,<br />
e<strong>in</strong>e historische Kulturanthropologie.<br />
Beck, München<br />
Schernus R (2003) Die Kunst des Indirekten.<br />
Paranus, Münster<br />
Uexküll T (1994) Rückmeldung als Modell<br />
<strong>in</strong>terpersonaler Beziehungen. Psychosomatische<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als Beziehungsmediz<strong>in</strong>.<br />
In: Hahn PH (Hrsg.), Modell<br />
<strong>und</strong> Methode <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychosomatik.<br />
Beltz, We<strong>in</strong>heim<br />
Weizsäcker Vv (1987) Der Arzt <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Kranke. In: Weizsäcker Vv et al. (Hrsg.),<br />
Gesammelte Schriften. Suhrkamp,<br />
Frankfurt/Ma<strong>in</strong><br />
Willich SN, Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong>.<br />
Dtsch Ärztebl (2004)<br />
101, A 1314–1319<br />
49
Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong>:<br />
se<strong>in</strong>e Bedeutung für das ärztliche Handeln<br />
Hermann Heimpel<br />
Auch wenn es uns im ärztlichen Alltag<br />
nicht immer bewusst ist, bestimmt unser<br />
<strong>Menschenbild</strong> letztlich jede Entscheidung,<br />
die wir für unsere Patienten <strong>und</strong><br />
mit unseren Patienten treffen. Wenn <strong>in</strong><br />
diesem Symposium des <strong>Dialogforum</strong>s<br />
„<strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ e<strong>in</strong> Kl<strong>in</strong>iker<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong> Humangenetiker die Aufgaben<br />
übernommen haben, die Bedeutung des<br />
<strong>Menschenbild</strong>es für das ärztliche Handeln<br />
aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> darzulegen<br />
<strong>und</strong> damit den Vorstellungen an<strong>der</strong>er,<br />
„nicht schulmediz<strong>in</strong>ischer“ <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen<br />
gegenüberzustellen, s<strong>in</strong>d<br />
zunächst e<strong>in</strong>ige Vorbemerkungen notwendig.<br />
E<strong>in</strong>e erste Vorbemerkung betrifft den<br />
Begriff <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong>, wie er <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Vorstellung des <strong>Dialogforum</strong>s <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
ersten Veröffentlichung verwendet wurde<br />
[Willich 2004]. Dabei wurde zunächst<br />
darauf verzichtet, den Worts<strong>in</strong>n dieses<br />
Begriffes zu h<strong>in</strong>terfragen. Er entspricht<br />
vielmehr dem üblichen Sprachgebrauch<br />
<strong>und</strong> bezeichnet im Kontext dieser Darstellung<br />
die dem heutigen Lehrgebäude <strong>der</strong><br />
Humanmediz<strong>in</strong> entsprechenden Denkweisen<br />
<strong>und</strong> Verfahren, die an den Universitäten<br />
<strong>der</strong> hoch entwickelten westlichen<br />
Län<strong>der</strong> erforscht <strong>und</strong> gelehrt <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
naturwissenschaftlich orientierten mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Praxis verwendet werden.<br />
Dabei ist nicht zu übersehen, dass er von<br />
Seiten <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong>er mit dem positiven<br />
Beiklang e<strong>in</strong>er wissenschaftlich f<strong>und</strong>ierten<br />
Schule, von Vertretern komplementärer<br />
<strong>und</strong> alternativer <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen<br />
(im <strong>Dialogforum</strong> verengt auf den<br />
Begriff <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong>) häufig<br />
mit dem negativen Beiklang e<strong>in</strong>er reduktionistischen<br />
anthropologischen Sicht<br />
gebraucht wird. Es ist bemerkenswert,<br />
dass Schulmediz<strong>in</strong>er, die sich mit alternativen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen <strong>und</strong> ihren Verfahren<br />
ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> setzen, fast immer<br />
darauf verzichten, ihre eigene <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
term<strong>in</strong>ologisch zu def<strong>in</strong>ieren. E<strong>in</strong>e Ausnahme<br />
bildet die Stellungnahme von<br />
Bock, <strong>der</strong> die hier als Schulmediz<strong>in</strong> bezeichnete<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtung als „wissenschaftliche<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ <strong>der</strong> alternativen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> gegenüberstellt [Bock 1993].<br />
Dagegen betrifft Bleulers Kritik an <strong>der</strong><br />
Inkonsequenz des Denkens <strong>in</strong> <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Praxis gleichermaßen die Schulmediz<strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>er Zeit wie alternative <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen<br />
[Bleuler 1962].<br />
Unbeschadet <strong>der</strong> Problematik des<br />
Wissenschaftsbegriffes wurde im Kontext<br />
des Verständigungsversuches des <strong>Dialogforum</strong>s<br />
darauf verzichtet, den zweifellos<br />
richtigen Term<strong>in</strong>us <strong>der</strong> „wissenschaftlichen“<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> für die heutige Schulmediz<strong>in</strong><br />
zu verwenden <strong>und</strong> damit allen an<strong>der</strong>en<br />
<strong>in</strong> diesem Symposium vertretenen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen <strong>und</strong> ihren Protagonis-<br />
51
52<br />
ten wissenschaftliche Reflexion <strong>und</strong> wissenschaftliche<br />
Argumentation von vornehere<strong>in</strong><br />
abzusprechen. Wir s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs<br />
nicht bereit, unsere <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> auf den Begriff<br />
<strong>der</strong> „naturwissenschaftlichen“ <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
zu reduzieren; denn unbeschadet <strong>der</strong><br />
entscheidenden Rolle <strong>der</strong> exakten Naturwissenschaften<br />
für die heute weltumspannende<br />
„allgeme<strong>in</strong>e“ <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> im S<strong>in</strong>ne<br />
Dörners haben nicht naturwissenschaftliche<br />
Fächer wie die allgeme<strong>in</strong>e Wissenschaftstheorie,<br />
die Psychologie <strong>und</strong> die<br />
Soziologie die heutige Schulmediz<strong>in</strong> mitgeformt<br />
<strong>und</strong> s<strong>in</strong>d bei <strong>der</strong> Sozialisation des<br />
Laien zum Arzt wesentlich beteiligt. Der<br />
viel zitierte Ausspruch Naunyns lautet<br />
eben nicht „die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wird Naturwissenschaft<br />
se<strong>in</strong> o<strong>der</strong> sie wird nicht se<strong>in</strong>“,<br />
son<strong>der</strong>n „… wird Wissenschaft se<strong>in</strong> o<strong>der</strong><br />
sie wird nicht se<strong>in</strong>“ [Raspe 2001].<br />
Der Begriff <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />
bedeutet zunächst die Absetzung von <strong>der</strong><br />
scholastischen Schulmediz<strong>in</strong> des Mittelalters<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Renaissance, die auf dem<br />
über 1.000 Jahre konservierten humoralpathologischen<br />
Modell <strong>der</strong> Biologie des<br />
Menschen beruhte, das sich als für den<br />
mediz<strong>in</strong>ischen Fortschritt untaugliches<br />
Modell erwiesen hat. Dabei war die Schulmediz<strong>in</strong><br />
für den Kranken oft gefährlicher<br />
<strong>und</strong> weniger nützlich als die Tätigkeit<br />
nicht anerkannter Außenseiter wie<br />
W<strong>und</strong>ärzte, Wasserheiler o<strong>der</strong> Kräuterfrauen.<br />
Reste des humoralpathologischen<br />
Modells waren selbst nach se<strong>in</strong>er wissenschaftlichen<br />
Ablösung – für die Namen<br />
wie William Harvey o<strong>der</strong> Rudolph Virchow<br />
stehen – noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Hälfte<br />
des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>in</strong> <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />
mediz<strong>in</strong>ischen Praxis zu f<strong>in</strong>den, wäh-<br />
Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />
rend heute die so genannten ausleitenden<br />
Verfahren – E<strong>in</strong>läufe, Schropfköpfe o<strong>der</strong><br />
Blutegel – nur noch von e<strong>in</strong>igen alternativmediz<strong>in</strong>ischen<br />
Richtungen propagiert<br />
werden. Dazu gehören nicht die anthroposophische<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Rudolf Ste<strong>in</strong>ers<br />
<strong>und</strong> die klassische Homöopathie Samuel<br />
Hahnemanns, obwohl sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis<br />
<strong>der</strong> so genannten Naturheilk<strong>und</strong>e homöopathische<br />
o<strong>der</strong> anthroposophisch begründete<br />
Medikamentenanwendung <strong>und</strong><br />
auf humoralpathologischen Vorstellungen<br />
beruhende Verfahren häufig vermischen.<br />
Der Begriff <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />
weist darüber h<strong>in</strong>aus darauf h<strong>in</strong>, dass das<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> <strong>in</strong> ständigem<br />
evolutionären Wandel begriffen<br />
ist, bed<strong>in</strong>gt durch Erkenntnisse <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
selber, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> im Wesentlichen<br />
durch die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> getriebenen humanbiologischen,<br />
speziell <strong>der</strong> molekulargenetischen<br />
Forschung, aber auch durch<br />
die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aufklärung angestoßenen Verän<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> gesellschaftlichen Wertvorstellungen,<br />
die unter an<strong>der</strong>em die mediz<strong>in</strong>ische<br />
Ethik <strong>und</strong> die Arzt-Patienten-<br />
Beziehung prägen. Dagegen ersche<strong>in</strong>t das<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> komplementären <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen<br />
stärker konserviert, wie<br />
die häufige Berufung europäischer Schulen<br />
wie Homöopathie o<strong>der</strong> anthroposophische<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> auf die kaum h<strong>in</strong>terfragte<br />
Theorie ihrer Grün<strong>der</strong> <strong>und</strong> die <strong>der</strong> asiatischen<br />
traditionellen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> auf ihre<br />
jahrtausendjährige Tradition deutlich<br />
machen.<br />
Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen<br />
Schulmediz<strong>in</strong> wird aber nicht nur durch<br />
den wissenschaftlichen Fortschritt <strong>und</strong>
Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />
den gesellschaftlichen Wandel geprägt,<br />
son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> zeitgleicher Betrachtung<br />
durch unterschiedliche kulturelle Bed<strong>in</strong>gungen<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong>dividuelle E<strong>in</strong>stellungen<br />
modifiziert. Als Kl<strong>in</strong>iker, dessen Erlebniswelt<br />
vorwiegend von <strong>der</strong> Beschäftigung<br />
mit schweren somatischen <strong>und</strong> psychosomatischen<br />
Erkrankungen bestimmt ist,<br />
werde ich drei Hypothesen zur im Titel<br />
gestellten Frage auswählen, die we<strong>der</strong> den<br />
unangemessenen Anspruch auf Vollständigkeit<br />
erheben noch erwarten lassen,<br />
dass ihre Bedeutung von allen schulmediz<strong>in</strong>isch<br />
ausgerichteten Ärzten geteilt wird.<br />
Sie wurden ausgewählt, weil sie de facto<br />
das praktische Handeln <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> weitem Maße <strong>und</strong> <strong>in</strong> vielen Situationen<br />
erfolgreich bestimmen. Sie ersche<strong>in</strong>en<br />
darüber h<strong>in</strong>aus geeignet zu prüfen,<br />
<strong>in</strong>wieweit die gr<strong>und</strong>sätzliche Basis ärztlicher<br />
Entscheidungen <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />
mit an<strong>der</strong>en <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen übere<strong>in</strong>stimmt<br />
<strong>und</strong> ggf. mit welchen <strong>der</strong> vielen<br />
außerhalb <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> stehenden<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen <strong>und</strong> Protagonisten<br />
alternativer Verfahren e<strong>in</strong> weiterführendes<br />
Gespräch vertretbar <strong>und</strong> aussichtsreich<br />
ist.<br />
Die erste Hypothese sieht die Biologie<br />
des Menschen als Ergebnis <strong>der</strong> Evolution,<br />
die e<strong>in</strong>e höchst erfolgreiche Spezies<br />
mit gr<strong>und</strong>sätzlich gleichen f<strong>und</strong>amentalen<br />
Mechanismen <strong>der</strong> Immunkontrolle,<br />
<strong>der</strong> Regeneration <strong>und</strong> <strong>der</strong> Alterungsprozesse<br />
geschaffen hat. Dies wi<strong>der</strong>spricht<br />
nicht <strong>der</strong> Erkenntnis, dass selbstverständlich<br />
je<strong>der</strong> Mensch aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />
Genetik [Iafrate et al. 2004] <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />
biologischen Biografie (z.B. Immunisierung,<br />
Ernährung) auch biologisch<br />
e<strong>in</strong>zigartig ist. Für das ärztliche Handeln<br />
ergeben sich daraus u.a. zwei Teilhypothesen.<br />
Die erste Teilhypothese lautet: In<br />
H<strong>in</strong>sicht auf die Natur <strong>der</strong> Krankheiten<br />
<strong>und</strong> den Nutzen therapeutischer Interventionen<br />
s<strong>in</strong>d die Menschen gleichartig,<br />
aber nicht gleich.<br />
Auf <strong>der</strong> Annahme <strong>der</strong> Gleichartigkeit<br />
beruht nicht nur die Def<strong>in</strong>ition diskreter<br />
Krankheiten, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Glaube an die<br />
Übertragbarkeit von Krankheitsabläufen,<br />
die von an<strong>der</strong>en Beobachtern bei an<strong>der</strong>en<br />
Patienten beschrieben wurden <strong>und</strong> die<br />
<strong>der</strong> Arzt mit zunehmen<strong>der</strong> Erfahrung<br />
häufiger erlebt hat, auf den aktuellen<br />
Patienten. Die Diagnose <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />
ist daher primär – wenn auch ke<strong>in</strong>eswegs<br />
ausschließlich – e<strong>in</strong>e Krankheitsdiagnose,<br />
die immer gleichzeitig die Prognose<br />
e<strong>in</strong>schließt. Sie ist damit die erste<br />
Handlungsanweisung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e wesentliche<br />
Gr<strong>und</strong>lage ärztlicher Entscheidungen<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> schulmediz<strong>in</strong>ischen Praxis.<br />
Nehmen wir uns als erstes Beispiel<br />
e<strong>in</strong>e Infektionskrankheit, die Malaria tropica,<br />
vor, die nach wie vor zu den großen<br />
Krankheitsproblemen dieser Welt gehört.<br />
Wird Plasmodium falciparum auf e<strong>in</strong>en<br />
Menschen übertragen, so erkrankt je<strong>der</strong><br />
nicht immune Europäer <strong>in</strong> typischer Weise<br />
mit hohem Fieber, Kopfschmerzen,<br />
Schweißausbrüchen <strong>und</strong> schwerem<br />
Krankheitsgefühl, also zunächst mit wenigen<br />
spezifischen Ersche<strong>in</strong>ungen, die<br />
durch persönliche Faktoren wie Alter,<br />
Konstitution <strong>und</strong> vorbestehende chronische<br />
Krankheiten modifiziert s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>heitlich<br />
ist allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> zugr<strong>und</strong>e liegende<br />
Lebenszyklus <strong>der</strong> Plasmodien im Wirtsorganismus<br />
Mensch, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>heitlich ist<br />
53
54<br />
auch <strong>der</strong> Verlauf <strong>der</strong> unbehandelten<br />
Erkrankung mit immer spezifischer werden<strong>der</strong><br />
Symptomatik <strong>und</strong> schließlich dem<br />
Tod. Aufgabe des Arztes ist es also, das<br />
Geme<strong>in</strong>same <strong>der</strong> Krankheit Malaria tropica<br />
zu erkennen <strong>und</strong> im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> „evidence<br />
based medic<strong>in</strong>e“ nach Leitl<strong>in</strong>ien zu<br />
behandeln, die auf <strong>der</strong> Erfahrung „Infektion<br />
mit Plasmodium falciparum“ bei vergleichbaren<br />
Populationen beruhen. Dies<br />
gilt nicht nur für die Kernkrankheit Malaria,<br />
son<strong>der</strong>n auch für ihre Komplikationen<br />
wie drohendes Nierenversagen o<strong>der</strong> Herzrythmusstörungen,<br />
die im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong><br />
schulmediz<strong>in</strong>ischen Krankheitslehre als<br />
eigene Krankheiten angesehen werden<br />
können. Ihre erfolgreiche Erkennung <strong>und</strong><br />
Behandlung beruht wie<strong>der</strong>um auf <strong>der</strong><br />
Erfahrung gleichartiger Abläufe bei an<strong>der</strong>en<br />
Menschen, die bei uns ganz überwiegend<br />
häufigere Gr<strong>und</strong>erkrankungen als<br />
e<strong>in</strong>e Malaria haben. Es würde uns <strong>in</strong>teressieren,<br />
ob z.B. e<strong>in</strong> Homöopath glaubt, dass<br />
für ärztliche Entscheidungen <strong>in</strong> dieser<br />
Situation das Arzneimittelbild entscheidungsrelevant<br />
ist, o<strong>der</strong> ob se<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />
es erlaubt, die Behandlung e<strong>in</strong>er solchen<br />
lebensbedrohlichen organischen<br />
Erkrankung mit Homöopathika von vornehere<strong>in</strong><br />
auszuschließen. Ebenso <strong>in</strong>teressant<br />
wäre es, von den Kennern <strong>der</strong> traditionellen<br />
<strong>in</strong>dischen <strong>und</strong> ch<strong>in</strong>esischen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zu erfahren, ob nach Entdeckung<br />
des Erregers <strong>und</strong> <strong>der</strong> wirksamen Chemotherapie<br />
die Klassifikationen <strong>und</strong> Verfahren<br />
dieser Jahrtausende alten Erfahrungsmediz<strong>in</strong>,<br />
<strong>der</strong>en Herkunftslän<strong>der</strong> ebenfalls<br />
seit Jahrtausenden zu den endemischen<br />
Malariagebieten gehörten, noch e<strong>in</strong>e<br />
Bedeutung haben.<br />
Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />
Das Beispiel <strong>der</strong> Malaria würde also<br />
mit unserer These durchaus vere<strong>in</strong>bar<br />
se<strong>in</strong>. Man könnte e<strong>in</strong>wenden, dass es sich<br />
hier um den Son<strong>der</strong>fall e<strong>in</strong>er monokausalen<br />
Erkrankung mit e<strong>in</strong>deutiger externer<br />
Ursache handelt, bei <strong>der</strong> Gleichartigkeit<br />
resultieren<strong>der</strong> schulmediz<strong>in</strong>ischer Krankheitsdef<strong>in</strong>ition<br />
die relevante Handlungsbasis<br />
ist, dass dies aber für die Mehrzahl<br />
<strong>der</strong> Erkrankungen mit une<strong>in</strong>heitlicher,<br />
nur teilweise bekannter Ätiologie <strong>und</strong><br />
Pathogenese nicht zutrifft. Dieser E<strong>in</strong>wand<br />
ist aber zum<strong>in</strong>dest für Erkrankungen<br />
mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>deutigen pathologischanatomischen<br />
Substrat nicht relevant.<br />
Nehmen wir wie<strong>der</strong>um als konkretes Beispiel<br />
die Erkrankungen des Dickdarms:<br />
Nicht nur beim Coloncarc<strong>in</strong>om, son<strong>der</strong>n<br />
auch bei <strong>der</strong> Colitis ulcerosa <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ileitis<br />
term<strong>in</strong>alis, dem Morbus Crohn, zeigen<br />
sich im Langzeitverlauf e<strong>in</strong>deutig krankheitstypische<br />
Verläufe. Dies wird beson<strong>der</strong>s<br />
deutlich bei den bis vor etwa 10 Jahren<br />
bezweifelten Unterschieden <strong>der</strong> beiden<br />
letztgenannten Erkrankungen. Hier<br />
zeigt sich, dass das Ausmaß <strong>der</strong> Gleichartigkeit<br />
von den Fortschritten <strong>der</strong> Differenzierung<br />
<strong>und</strong> ggf. <strong>der</strong> Neuordnung von<br />
Krankheitsbegriffen abhängt <strong>und</strong> dass e<strong>in</strong><br />
Teil <strong>der</strong> früher als <strong>in</strong>dividuell angenommenen<br />
Unterschiede mit <strong>der</strong> naturwissenschaftlich<br />
str<strong>in</strong>genteren Krankheitsdef<strong>in</strong>ition<br />
verschw<strong>in</strong>det. Gerade beim Morbus<br />
Crohn zeigt sich allerd<strong>in</strong>gs ebenso<br />
deutlich die Modifikation <strong>der</strong> kl<strong>in</strong>ischen<br />
Symptomatik <strong>und</strong> ihrer Bedeutung für<br />
den Erkrankten durch psychische Faktoren.<br />
Trotzdem beruhen die Fortschritte<br />
<strong>der</strong> Diagnostik <strong>und</strong> <strong>der</strong> Basistherapie im<br />
Wesentlichen auf <strong>der</strong> Übertragung <strong>der</strong>
Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />
durch Langzeitbeobachtung bei an<strong>der</strong>en<br />
Menschen gemachten Erfahrungen <strong>und</strong><br />
unterstützen unsere Hypothese.<br />
Die am Beispiel <strong>der</strong> entzündlichen<br />
Darmerkrankungen beschriebene Neuordnung<br />
<strong>der</strong> bisher weitgehend auf dem<br />
Phänotyp beruhenden Krankheitsbegriffe<br />
ist <strong>in</strong> vielen Bereichen, beispielsweise auf<br />
me<strong>in</strong>em früheren Arbeitsgebiet <strong>der</strong> hämatologischen<br />
Neoplasien, <strong>in</strong> jüngster Zeit<br />
rasch fortgeschritten. Bei <strong>der</strong> bis vor 15<br />
Jahren unbestrittenen Krankheitse<strong>in</strong>heit<br />
„akute myeloische Leukämie“ schien die<br />
Übertragbarkeit früherer Erfahrungen nur<br />
e<strong>in</strong>geschränkt nützlich zu se<strong>in</strong>, da die lange<br />
Zeit bei etwa 30% stagnierende Heilungschance<br />
nur statistisch für e<strong>in</strong>e ausreichend<br />
große Patientengruppe, nicht<br />
aber für den e<strong>in</strong>zelnen Patienten vorhersagbar<br />
war. Inzwischen hat sich die<br />
Krankheit <strong>in</strong> genomisch unterschiedliche<br />
Gruppen aufteilen lassen, die prognostisch<br />
weit homogener s<strong>in</strong>d als die frühere<br />
Krankheit akute myeloische Leukämie.<br />
Ob die verbleibende Inhomogenität auf<br />
e<strong>in</strong>er verbleibenden genomischen Inhomogenität<br />
<strong>der</strong> klonalen Zellpopulation<br />
o<strong>der</strong> auf dem <strong>in</strong>dividuellen prämorbiden<br />
genetischen Sett<strong>in</strong>g des Krankheitsträgers<br />
beruht, ist bei den hier als Beispiele angeführten<br />
Erkrankungen nicht bekannt.<br />
Wie steht es mit dem zweiten Teilsatz<br />
unserer Behauptung „<strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht auf den<br />
Nutzen therapeutischer Interventionen<br />
s<strong>in</strong>d die Menschen gleichartig, aber nicht<br />
gleich“? Dabei geht es wie<strong>der</strong>um nicht<br />
darum, ihre im Wesen des Menschen<br />
begründete Gültigkeit zu beweisen, son<strong>der</strong>n<br />
zu zeigen, dass sie das therapeutische<br />
Handeln <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> weitge-<br />
hend bestimmt. Dies ist unbestritten <strong>und</strong><br />
im Allgeme<strong>in</strong>en erfolgreich beim Handeln<br />
nach Mustererkennung. Dabei werden<br />
e<strong>in</strong>deutige eigene o<strong>der</strong> berichtete<br />
Er<strong>in</strong>nerungen an Therapieerfolge bei gut<br />
def<strong>in</strong>ierbaren Krankheitszuständen bei<br />
an<strong>der</strong>en Menschen zugr<strong>und</strong>e gelegt. Beispiele<br />
s<strong>in</strong>d die Behandlung mit Vitam<strong>in</strong><br />
B12, die immer <strong>und</strong> nur bei Vitam<strong>in</strong> B12-<br />
Mangel erfolgreich ist, die bereits 1747<br />
durch e<strong>in</strong>e randomisierte Studie bewiesene<br />
Prävention von Skorbut durch Vitam<strong>in</strong><br />
C [L<strong>in</strong>d 1983], die lebenslang notwendige<br />
Cortisonbehandlung beim Morbus Addison<br />
o<strong>der</strong> die für jeden Arzt unvergessliche<br />
Wirksamkeit von Morph<strong>in</strong> bei schwerem<br />
Tumorschmerz. Hier ist die Dosisanpassung<br />
allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong>dividuell, von somatischen<br />
<strong>und</strong> psychischen Faktoren <strong>und</strong> Präferenzen<br />
des Patienten abhängig <strong>und</strong> mit<br />
e<strong>in</strong>em wenn auch ger<strong>in</strong>gen Suchtrisiko<br />
belastet, so dass wir unter Unsicherheit<br />
handeln <strong>und</strong> im E<strong>in</strong>zelfall nicht vorhersagen<br />
können, ob e<strong>in</strong>e Sucht e<strong>in</strong>treten wird.<br />
Der weit häufigere Fall ist die Behandlungsentscheidung<br />
nach statistisch def<strong>in</strong>ierten<br />
Erfolgs- <strong>und</strong> Misserfolgswahrsche<strong>in</strong>lichkeiten.<br />
Da zum<strong>in</strong>dest bei<br />
schweren organischen <strong>und</strong> psychischen<br />
Erkrankungen die Zahl <strong>der</strong> selbsterlebten<br />
vergleichbaren Situationen für e<strong>in</strong>e kritische<br />
Analyse zu ger<strong>in</strong>g ist, beruht die Entscheidung<br />
fast ausschließlich auf externer<br />
Evidenz im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> „evidence based<br />
medic<strong>in</strong>e“. Für die Übertragbarkeit von<br />
Prognose <strong>und</strong> Therapieentscheidung auf<br />
den e<strong>in</strong>zelnen Patienten reicht hier allerd<strong>in</strong>gs<br />
<strong>der</strong> noch so differenzierte Krankheitsbegriff<br />
alle<strong>in</strong> nicht aus. Zu berücksichtigen<br />
s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Vielzahl weiterer Va-<br />
55
56<br />
riablen, so Alter, Vorerkrankungen <strong>und</strong><br />
Vortherapie, die sich mit den Verfahren<br />
<strong>der</strong> Entscheidungsanalyse abbilden lassen<br />
[We<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>, F<strong>in</strong>eberg 1980].<br />
Aus dem Bild <strong>der</strong> optimierten extrem<br />
komplexen Regulationsvorgänge <strong>der</strong> höheren<br />
Organismen, <strong>und</strong> damit auch des<br />
Menschen, als Ergebnis <strong>der</strong> Evolution ergibt<br />
sich e<strong>in</strong>e zweite Teilhypothese: <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ische<br />
E<strong>in</strong>griffe, seien sie mechanisch<br />
wie ausleitende Verfahren o<strong>der</strong> Operationen,<br />
physikalisch wie Strahlenexposition<br />
o<strong>der</strong> unnatürliche Wärmeapplikation, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
aber chemisch wie die Gabe<br />
von Medikamenten, s<strong>in</strong>d a priori als<br />
schädlich zu betrachten <strong>und</strong> haben ihren<br />
Nutzen durch wissenschaftlich e<strong>in</strong>wandfrei<br />
erfasste Erfahrung zu beweisen. Nicht<br />
die Unterlassung, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> therapeutische<br />
Nutzen jedes E<strong>in</strong>griffs ist zu beweisen.<br />
Der aus den hippokratischen Schriften<br />
stammende Leitsatz des „primum nil<br />
nocere“ ist <strong>in</strong> das Bild <strong>der</strong> menschlichen<br />
Biologie als Ergebnis <strong>der</strong> Evolution ohne<br />
Schwierigkeiten e<strong>in</strong>zupassen. Die For<strong>der</strong>ung<br />
e<strong>in</strong>er „evidence base“ ist damit als<br />
Warnung vor <strong>der</strong> Missachtung des Leitsatzes<br />
zu verstehen, welche die Schulmediz<strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Scholastik, die Argumentation alternativer<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen, aber auch die<br />
Praxis <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong> durchzieht.<br />
Dies gilt auch für E<strong>in</strong>griffe, die auf<br />
pathophysiologischen Konstrukten beruhen.<br />
In <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> f<strong>in</strong>den wir dies<br />
z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Intensivmediz<strong>in</strong>, die heute e<strong>in</strong>e<br />
Vielzahl von E<strong>in</strong>zelfunktionen wie Blutdruck,<br />
Zeitvolumen, Sauerstofftransport<br />
o<strong>der</strong> Elektrolytkonzentrationen fortlaufend<br />
misst. Die Prämisse, dass Normalisierung<br />
<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelfunktion nützlich ist, ist<br />
Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />
beispielsweise bei Schockzuständen <strong>in</strong> vielen<br />
Fällen richtig, <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en aber falsch.<br />
Die Ursache liegt sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> prämorbiden<br />
Individualität des Patienten als auch<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> Störung, die e<strong>in</strong>e<br />
Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> Patientengruppen, zwischen<br />
denen Übertragung <strong>der</strong> Erfahrung<br />
gerechtfertigt ist, bisher nicht zulassen.<br />
Ges<strong>und</strong>heitsschäden durch mediz<strong>in</strong>ische<br />
E<strong>in</strong>griffe s<strong>in</strong>d im Bereich <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> vielfach dokumentiert,<br />
unabhängig davon, ob sie als „schulmediz<strong>in</strong>isch“,<br />
„alternativ“, „sanft“, „naturgemäß“<br />
o<strong>der</strong> „ganzheitlich“ etikettiert werden<br />
o<strong>der</strong> nicht. Als Nebenwirkungen therapeutisch<br />
notwendiger <strong>und</strong> nützlicher<br />
Verfahren s<strong>in</strong>d sie oft unvermeidlich <strong>und</strong><br />
nach sorgfältiger Nutzen-Schadens-Abwägung<br />
mit dem E<strong>in</strong>verständnis des Patienten<br />
zu tolerieren. Voraussetzung ist die<br />
kont<strong>in</strong>uierliche Bewertung des therapeutischen<br />
Nutzens im Licht epidemiologischer<br />
Beobachtungen <strong>und</strong> im Vergleich<br />
mit neueren konkurrierenden Verfahren.<br />
Die zweite Hypothese ergibt sich aus<br />
<strong>der</strong> Ablehnung <strong>der</strong> reduktionistischen<br />
Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> als naturwissenschaftliche<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Ke<strong>in</strong>e Überlegung<br />
zum <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
kann e<strong>in</strong>er Stellungnahme zum Leib-Seele<br />
Problem ausweichen, auch wenn gerade<br />
hier <strong>in</strong>dividuelle <strong>und</strong> transkulturelle Unterschiede<br />
<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />
unübersehbar s<strong>in</strong>d. Unabhängig<br />
von <strong>der</strong> religiösen o<strong>der</strong> weltanschaulichen<br />
Stellung des e<strong>in</strong>zelnen Arztes überwiegt<br />
heute e<strong>in</strong> monistisches Modell, das<br />
von dem amerikanischen Psychiater<br />
George Engel als bio-psycho-soziales Modell<br />
bezeichnet worden ist [Engel 1982].
Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />
Dabei wird allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> Teilterm<strong>in</strong>us<br />
„bio“ auf den mit naturwissenschaftlichen<br />
Methoden erfassbaren Bereich reduziert,<br />
so dass, wie Dörner richtig anmerkt,<br />
die deutsche Übersetzung besser „somatopsycho-soziales<br />
Modell“ lauten müsste.<br />
Damit werden nicht getrennte Bereiche<br />
<strong>der</strong> Natur des Menschen bezeichnet, son<strong>der</strong>n<br />
Betrachtungsweisen, <strong>der</strong>en Trennung<br />
für die mediz<strong>in</strong>ische Forschung <strong>und</strong><br />
die Tätigkeit mediz<strong>in</strong>ischer Spezialisten<br />
s<strong>in</strong>nvoll ist, die bei <strong>der</strong> ärztlichen Betreuung<br />
e<strong>in</strong>es Patienten aber gleichwertig<br />
beachtet werden müssen. Die Ablösung<br />
des von den Schülern Johannes Müllers<br />
propagierten Masch<strong>in</strong>enmodells durch<br />
die Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Seele <strong>in</strong> die<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> durch Siegm<strong>und</strong> Freud hat nach<br />
dem Verständnis <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> nicht<br />
zu e<strong>in</strong>em neuen dualistischen Modell<br />
o<strong>der</strong> zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aufklärung überw<strong>und</strong>enen<br />
Vitalismus o<strong>der</strong> Animismus<br />
geführt, auch wenn die Zusammenführung<br />
<strong>der</strong> Tätigkeit <strong>der</strong> somatischen mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Fächer mit <strong>der</strong> Psychotherapie<br />
erst <strong>der</strong> Psychosomatik gelungen ist [Uexküll<br />
2004].<br />
Als Beispiel für die Handlungsrelevanz<br />
des somato-psycho-sozialen Modells mag<br />
die Alkoholkrankheit dienen, die von<br />
höchster sozialmediz<strong>in</strong>ischer <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitsökonomischer<br />
Bedeutung ist<br />
<strong>und</strong> durch die Schädigung vitaler Funktionen<br />
des Herzens, <strong>der</strong> Leber <strong>und</strong> des<br />
Gehirns unbee<strong>in</strong>flusst <strong>in</strong>nerhalb von<br />
5–15 Jahren zum Tode führt. Die somatische<br />
Betrachtung des Phänomens „Alkoholkrankheit“<br />
alle<strong>in</strong> führt we<strong>der</strong> zur<br />
Diagnose (welche erst im Stadium <strong>der</strong><br />
Organschädigung aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong>en mess-<br />
barer Auswirkungen vermutet werden<br />
kann) noch zur wirksamen Therapie. Entscheidend<br />
ist vielmehr die Interaktion des<br />
Arztes mit dem Betroffenen als e<strong>in</strong>em von<br />
se<strong>in</strong>er Biografie <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Umwelt geprägten<br />
Individuum, <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht auf die<br />
Therapie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e unter E<strong>in</strong>beziehung<br />
<strong>der</strong> Familie o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>er Bezugspersonen.<br />
De facto wird e<strong>in</strong>e solche aus dem<br />
<strong>Menschenbild</strong> resultierende ganzheitliche,<br />
<strong>in</strong>tegrative Therapie e<strong>in</strong>es Alkoholkranken<br />
allerd<strong>in</strong>gs häufig versäumt; hier,<br />
wie <strong>in</strong> zahlreichen an<strong>der</strong>en Situationen,<br />
löst also die Schulmediz<strong>in</strong> ihr aus ihrem<br />
<strong>Menschenbild</strong> resultierendes Handlungsversprechen<br />
allzu häufig nicht e<strong>in</strong>.<br />
Dualistische Modelle <strong>und</strong> vitalistische<br />
<strong>und</strong> animistische Vorstellungen spielen<br />
heute noch <strong>in</strong> vielen komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />
Richtungen, so <strong>in</strong> <strong>der</strong> anthroposophischen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, e<strong>in</strong>e Rolle [Willich<br />
et al. 2004]; sie dürften für unterschiedliche<br />
Handlungsmuster durchaus<br />
bedeutsam se<strong>in</strong>.<br />
Die dritte <strong>und</strong> mediz<strong>in</strong>geschichtlich<br />
jüngste Hypothese zur Bedeutung<br />
des <strong>Menschenbild</strong>es für das ärztliche Handeln<br />
betrifft die Anerkennung <strong>der</strong> Autonomie<br />
o<strong>der</strong> des Selbstbestimmungsrechtes<br />
des Patienten. Obwohl das Selbstbestimmungsrecht<br />
aller Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Zeit <strong>der</strong> französischen Revolution, also <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
formuliert wurde <strong>und</strong> nach dem Vorbild<br />
<strong>der</strong> Verfassung <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>igten Staaten<br />
von Amerika E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> Gesetzgebung<br />
<strong>und</strong> Rechtsprechung <strong>in</strong> den westlichen<br />
Demokratien gef<strong>und</strong>en hat, hat es etwa<br />
150 Jahre gedauert, bis dieses Recht dem<br />
Kranken im Verhältnis zu se<strong>in</strong>en Ärzten<br />
57
58<br />
zugebilligt wurde. Diese späte Entwicklung<br />
belegen zahlreiche Schil<strong>der</strong>ungen<br />
des Arzt-Patienten-Verhältnisses <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Literatur <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. <strong>und</strong><br />
des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts, angefangen bei<br />
Leo Tolstoi <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er erschütternden<br />
Novelle Der Tod des Iwan Ijitsch (1886)<br />
über Thomas Manns Zauberberg (1924) bis<br />
zur Krebsstation von Alexan<strong>der</strong> Solschenizyn<br />
(1968). Diese Krankengeschichten<br />
zeigen darüber h<strong>in</strong>aus, dass auf <strong>der</strong> Seite<br />
<strong>der</strong> Patienten, entgegen den noch heute<br />
gelegentlich zu hörenden Schutzbehauptungen<br />
von Ärzten, Selbstbestimmung <strong>in</strong><br />
schwerer Krankheit gewünscht, wenn<br />
auch selten offen gefor<strong>der</strong>t wurde. Ältere<br />
Ärzte wie <strong>der</strong> Verfasser dieser Stellungnahme<br />
er<strong>in</strong>nern sich, dass <strong>der</strong> Wunsch<br />
nach Selbstbestimmung noch <strong>in</strong> den 70er<br />
Jahren des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts von Seiten<br />
<strong>der</strong> Ärzte <strong>und</strong> <strong>der</strong> Versicherungsträger<br />
ke<strong>in</strong>eswegs allgeme<strong>in</strong> akzeptiert wurde.<br />
„Therapieverweigerer“ wurden ausgegrenzt<br />
<strong>und</strong> psychiatrisiert, e<strong>in</strong>e vom Patienten<br />
gewünschte (aus heutiger Sicht<br />
auch mediz<strong>in</strong>isch oft s<strong>in</strong>nvolle) „vorzeitige“<br />
Entlassung führte zu heftigen emotionalen<br />
Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen, Fragen<br />
„schwieriger“ Patienten nach <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />
<strong>und</strong> den Risiken bestimmter<br />
Verordnungen wurden nicht o<strong>der</strong> ungern<br />
beantwortet, kaum an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> Tolstois<br />
Novelle geschil<strong>der</strong>t.<br />
Aus <strong>der</strong> Anerkennung des Rechts <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Fähigkeit zur Selbstbestimmung des<br />
Bürgers auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rolle des Patienten<br />
folgt unmittelbar se<strong>in</strong> Recht auf relevante,<br />
verständliche <strong>und</strong> ehrliche Information<br />
<strong>und</strong> daraus unmittelbar die heute <strong>in</strong><br />
unserem Kulturkreis nicht mehr bestritte-<br />
Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />
ne Verpflichtung zur Information <strong>und</strong><br />
Beratung als wesentliches Merkmal ärztlichen<br />
Handelns. Bewusst wurde im Kontext<br />
dieses Symposiums das häufig gebrauchte<br />
Adjektiv „wahrhaftig“ durch<br />
„ehrlich“ ersetzt. „Ehrlich“ deutet <strong>in</strong> diesem<br />
Zusammenhang auf die Überzeugung<br />
des Arztes über die Prognose, <strong>und</strong> darauf<br />
aufbauend die Notwendigkeit <strong>und</strong> den<br />
Nutzen <strong>der</strong> von ihm vorgeschlagenen<br />
Maßnahmen. Die Information nach eigener<br />
Überzeugung sollte beispielsweise<br />
dem homöopathisch orientierten Arzt zugestanden<br />
<strong>und</strong> von ihm <strong>in</strong> gleicher Weise<br />
gefor<strong>der</strong>t werden, auch wenn die heutige<br />
Schulmediz<strong>in</strong> mit guter Begründung<br />
pharmakologische Wirksamkeit <strong>und</strong> Nutzen<br />
homöopathischer Arzneimittel bezweifelt<br />
[Bock 1993; Hoppf, Prokop<br />
1992]. Dass sich dabei <strong>der</strong> homöopathisch<br />
orientierte Arzt ebenso wie Vertreter<br />
an<strong>der</strong>er am Rande o<strong>der</strong> außerhalb <strong>der</strong><br />
Schulmediz<strong>in</strong> stehenden <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen<br />
bei allen Zuständen, welche die Integrität<br />
<strong>und</strong> das Leben des Patienten bedrohen,<br />
an den evidenzbasierten Leitl<strong>in</strong>ien<br />
zu Diagnostik <strong>und</strong> Therapie zu orientieren<br />
haben, ist unbestritten. Nur unter dieser<br />
Voraussetzung ist <strong>der</strong> hier begonnene<br />
Dialog mit den tatsächlich „komplementären“<br />
unter den zahlreichen nicht schulmediz<strong>in</strong>ischen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen zu verantworten.<br />
Wahrung <strong>der</strong> Autonomie des<br />
Patienten bedeutet eben auch Beachtung<br />
<strong>der</strong> eigenen Grenzen.<br />
Um häufigen Missverständnissen vorzubeugen,<br />
s<strong>in</strong>d zwei zusätzliche Bemerkungen<br />
angebracht:<br />
Information als Voraussetzung zur<br />
Wahrnehmung <strong>der</strong> Autonomie des Pa-
Literatur<br />
tienten darf nicht dazu führen, dass dem<br />
Patienten Entscheidungen überlassen<br />
werden, die er aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>es trotz aller<br />
Informationsmöglichkeiten beschränkten<br />
Verständnisses <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er emotionalen<br />
Situation nicht treffen kann. „Relevant“<br />
bedeutet nicht naturwissenschaftliche<br />
Vollständigkeit, son<strong>der</strong>n Auswahl <strong>der</strong> für<br />
se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuellen Perspektiven bedeutsamen<br />
realisierbaren Alternativen. Empathie<br />
<strong>und</strong> Kommunikationsfähigkeit des<br />
Arztes bleiben Gr<strong>und</strong>lage im Arzt-Patienten-Verhältnis,<br />
auch <strong>und</strong> gerade im Umgang<br />
mit dem selbstbestimmenden Patienten.<br />
Autonomie umfasst auch die Annahme<br />
e<strong>in</strong>er Delegation geme<strong>in</strong>samer<br />
Entscheidungen auf die Entscheidung des<br />
Arztes nach dem Wunsch se<strong>in</strong>es Patienten.<br />
Schließlich betrifft das Recht <strong>der</strong><br />
Selbstbestimmung nicht nur den Patienten,<br />
son<strong>der</strong>n auch den Arzt. Geme<strong>in</strong>same<br />
Entscheidung o<strong>der</strong> „shared decision<br />
mak<strong>in</strong>g“ [Floer et al. 2004] beruht auf <strong>der</strong><br />
Handlungsentscheidung bei<strong>der</strong> Partner.<br />
Gerade angesichts <strong>der</strong> Information, <strong>und</strong><br />
damit auch nicht selten <strong>der</strong> Verführung<br />
<strong>der</strong> als Patienten auftretenden Bürger<br />
durch die Medien, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> kaum<br />
kontrollierbaren Information im Internet<br />
kann <strong>der</strong> Arzt nicht zu je<strong>der</strong> Leistung verpflichtet<br />
werden. Dies gilt nicht nur <strong>in</strong><br />
den Grenzbereichen <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Ethik, son<strong>der</strong>n auch für die unterschiedlichen<br />
Auffassungen <strong>in</strong> Bezug auf schulmediz<strong>in</strong>ische<br />
<strong>und</strong> komplementäre Verfahren.<br />
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59
Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e komplementärmediz<strong>in</strong>ische<br />
Therapie – Naturheilk<strong>und</strong>e? 1<br />
Jörg Melzer, Re<strong>in</strong>hard Saller<br />
<strong>Menschenbild</strong> – <strong>Menschenbild</strong>er<br />
Der Begriff <strong>Menschenbild</strong> ist vermutlich<br />
e<strong>in</strong> spezifisch deutschsprachiger Term<strong>in</strong>us,<br />
<strong>der</strong> im englischsprachigen Raum ke<strong>in</strong>e<br />
direkte Entsprechung besitzt. Se<strong>in</strong> etymologischer<br />
Ursprung ist bislang nicht<br />
näher beschrieben [Kluge, Seebold 2004;<br />
Pfeifer 1993]. Vor dem 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
[Zedler 1739; Meyers Großes Konversations-Lexikon<br />
1906] <strong>und</strong> auch heute f<strong>in</strong>det<br />
sich <strong>der</strong> Begriff nicht immer <strong>in</strong> Lexika, ist<br />
aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Enzyklopädien enthalten<br />
[Korff, Beck, Mikat 2000; Prechtl, Burkhard<br />
1999].<br />
E<strong>in</strong>e grobe Orientierung zur lange vorherrschenden<br />
Auffassung zum Begriff <strong>Menschenbild</strong><br />
bietet die über zwei Jahrzehnte<br />
wortwörtlich gleiche Def<strong>in</strong>ition <strong>in</strong> den<br />
Enzyklopädien von Meyer <strong>und</strong> Brockhaus:<br />
„E<strong>in</strong>e von bestimmten Fakten <strong>und</strong>/o<strong>der</strong><br />
Vorstellungen ausgehende bzw. <strong>in</strong> den Rahmen<br />
bestimmter wissenschaftl. o<strong>der</strong> weltanschaul.<br />
Methoden- o<strong>der</strong> Denksysteme<br />
gefügte Betrachtung o<strong>der</strong> Abhandlung über<br />
den Menschen. E<strong>in</strong> biolog. M. beispielsweise<br />
wird weitgehend mit Orientierung auf<br />
die naturwissenschaftliche Forschung am<br />
Menschen gezeichnet. Es unterscheidet<br />
sich <strong>in</strong>folgedessen wesentl. von M.ern etwa<br />
<strong>der</strong> Philosophie o<strong>der</strong> Theologie“ [Meyers<br />
enzyklopädisches Lexikon 1976; Brockhaus<br />
1998; Kuhn 1990].<br />
Diese Def<strong>in</strong>ition beschreibt vor allem<br />
die biologische Sichtweise des <strong>Menschenbild</strong>es,<br />
wenngleich sie an<strong>der</strong>e mögliche<br />
Aspekte je nach Fach e<strong>in</strong>räumt. Po<strong>in</strong>tiert<br />
formuliert weist Hartmann auf die solchen<br />
Aussagen <strong>in</strong>härente Betonung partikulärer<br />
Charakteristiken von <strong>Menschenbild</strong>ern<br />
h<strong>in</strong>: „<strong>der</strong> Mensch als Endglied<br />
e<strong>in</strong>er tierischen Entwicklungsreihe, <strong>der</strong><br />
Mensch als Retorte o<strong>der</strong> als physikalischer<br />
Versuchsaufbau, <strong>der</strong> Mensch als Zellhaufen<br />
o<strong>der</strong> als Mitglied e<strong>in</strong>es Staates, e<strong>in</strong>er<br />
Nation, e<strong>in</strong>er Rasse, e<strong>in</strong>er Klasse – all diese<br />
Fiktionen hatten den Blick für den Menschen,<br />
<strong>der</strong> zwar alles dieses zusammen,<br />
aber noch mehr <strong>und</strong> an<strong>der</strong>s ist, verstellt“<br />
[Hartmann 1973]. Dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger s<strong>in</strong>gulär nach<br />
e<strong>in</strong>em konkreten <strong>Menschenbild</strong> gefragt<br />
wurde, hängt vielleicht damit zusammen,<br />
dass die Frage oft von e<strong>in</strong>er bestimmten<br />
Fachdiszipl<strong>in</strong> gestellt wurde (z.B. Biologie,<br />
Pädagogik, Soziologie, Theologie) [Bonk<br />
1986; Schwidetzky 1972; Imfeld-Stiftung<br />
1992] <strong>und</strong> damit zum<strong>in</strong>dest unbewusst<br />
teilweise e<strong>in</strong>e Wertung für e<strong>in</strong> korrektes<br />
<strong>Menschenbild</strong> verb<strong>und</strong>en war. In diesem<br />
Zusammenhang formulierte <strong>und</strong> for<strong>der</strong>te<br />
1 Themenstellung des Referats anlässlich des<br />
Symposiums „<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />
des <strong>Dialogforum</strong>s „<strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />
vom 15.09.2004 bei <strong>der</strong> Ärztekammer<br />
Düsseldorf.<br />
61
62<br />
bereits Gadamer: „E<strong>in</strong> ‚richtiges <strong>Menschenbild</strong>’,<br />
das ist vor allem e<strong>in</strong> durch<br />
Naturwissenschaft, Verhaltensforschung,<br />
Ethnologie wie durch die Vielfalt geschichtlicher<br />
Erfahrung entdogmatisiertes<br />
<strong>Menschenbild</strong>“ [Gadamer 1972].<br />
Dieser For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>em „entdogmatisierten<br />
<strong>Menschenbild</strong>“ kommt<br />
e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e, realitätsnahe Def<strong>in</strong>ition des<br />
Begriffes nahe, die mehr auf das subjektiv<br />
konstruierende Moment e<strong>in</strong>geht: „Zum<br />
Mensch-Se<strong>in</strong> gehört es offenbar, dass wir<br />
e<strong>in</strong>e Vorstellung davon haben, was ‚den<br />
Menschen‘ – <strong>und</strong> damit auch uns – ‚eigentlich‘<br />
kennzeichnet. Die Vorstellung,<br />
die wir von uns haben – unser <strong>Menschenbild</strong><br />
–, ist e<strong>in</strong>e f<strong>und</strong>amentale Gr<strong>und</strong>lage<br />
unseres Selbstverständnisses <strong>und</strong> je<strong>der</strong><br />
bewussten Gestaltung unseres Soziallebens.“<br />
Damit bestimmen wir, „was wir als<br />
unsere f<strong>und</strong>amentalen Eigenschaften annehmen,<br />
d.h. vor allem, welche Bedürfnisse<br />
<strong>und</strong> Handlungstendenzen wir uns<br />
zuschreiben, evtl. auch, wor<strong>in</strong> die Ziele<br />
menschlichen Lebens bestehen <strong>und</strong> welche<br />
Werte Menschen als f<strong>und</strong>amental ansehen“<br />
[Barsch, Hejl 2000]. Diese Gedanken<br />
verorten den Begriff <strong>Menschenbild</strong><br />
neben den allgeme<strong>in</strong>en Erkenntnissen zu<br />
e<strong>in</strong>er bestimmten Zeit auch <strong>in</strong> den Bereich<br />
eigener Erfahrungen <strong>und</strong> tragen damit<br />
dem dynamischen Wandel Rechnung, <strong>der</strong><br />
auch knapp <strong>in</strong> dem Satz ausgedrückt werden<br />
könnte: „… jede Zeit hat ihr eigenes<br />
<strong>Menschenbild</strong>“ [Brockhaus 1999].<br />
Aber nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> zeitlichen Abfolge<br />
s<strong>in</strong>d wir mit mehreren <strong>Menschenbild</strong>ern<br />
konfrontiert. Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> gesellschafts- <strong>und</strong> wirtschaftspolitischen<br />
Entwicklung <strong>in</strong> Mitteleuropa von<br />
Menschenverständnis – Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
1850–1910 analysieren Barsch <strong>und</strong> Hejl,<br />
wie angesichts von Industrialisierung,<br />
Verstädterung, Verwissenschaftlichung<br />
<strong>und</strong> Säkularisierung neue Beschreibungen<br />
<strong>und</strong> Erkenntnisse über den Menschen<br />
entstanden. Sie stellen die These von <strong>der</strong><br />
Pluralität neuer, verweltlichter <strong>Menschenbild</strong>er<br />
auf. Für sie legen die historischen,<br />
gesellschaftlichen, kulturellen <strong>und</strong><br />
wissenschaftlichen Entwicklungen nahe,<br />
dass e<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong> heute nicht aus<br />
e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Annahme über das, was <strong>der</strong><br />
Mensch ist, bestehen kann. Vielmehr sollte<br />
im Plural von <strong>Menschenbild</strong>ern als<br />
„Wirklichkeitskonstrukten“ [Grimm, Rafael<br />
2002] gesprochen werden, die im kulturellen<br />
Prozess erprobt <strong>und</strong> verän<strong>der</strong>t<br />
werden <strong>und</strong> so jeweils e<strong>in</strong> „konzeptuelles<br />
Netzwerk mit mehr o<strong>der</strong> weniger scharfen<br />
Grenzen“ darstellen [Barsch, Hejl 2000].<br />
Ab den 1990er Jahren spiegelt sich diese<br />
These <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe von neueren Forschungsarbeiten<br />
wi<strong>der</strong>, obwohl schon vorher<br />
die Vielzahl an Arbeiten über das <strong>Menschenbild</strong><br />
<strong>in</strong> unterschiedlichen Diszipl<strong>in</strong>en<br />
<strong>in</strong>direkt e<strong>in</strong> plurales Verständnis über die<br />
Vorstellungen vom Menschen nahe legte<br />
[Barsch, Hejl 2000; Grimm, Capurro 2002;<br />
We<strong>in</strong>ke, Grabner-Hai<strong>der</strong> 1993].<br />
Die Soziologie als „e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tern beson<strong>der</strong>s<br />
stark fragmentierte Diszipl<strong>in</strong>“ [Mayntz<br />
2001] eignet sich hier als gutes Beispiel.<br />
Nach Mayntz besteht <strong>in</strong> diesem Fach<br />
wenigstens E<strong>in</strong>igkeit darüber, e<strong>in</strong> „spezifisch<br />
soziologisches <strong>Menschenbild</strong> müsse<br />
den Menschen als sozial Handelnden, als<br />
Akteur betrachten“ [Mayntz 2001]. Damit<br />
sei klar, dass zwar handlungstheoretische<br />
Konzepte für das <strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Soziologie spezifisch seien, jedoch würden
<strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
nicht alle Soziologen dieselbe Handlungstheorie<br />
vertreten. Dies verdeutlicht sie<br />
anhand dreier markanter <strong>Menschenbild</strong>er:<br />
dem „homo sociologicus“, <strong>der</strong> se<strong>in</strong> Handeln<br />
an sozialen Normen orientiert (nach<br />
Dahrendorf 1960) [Mayntz 2001], dem<br />
„homo oeconomicus“, <strong>der</strong> versucht, se<strong>in</strong>en<br />
eigenen Nutzen zu maximieren (nach<br />
Etzioni 1988) [Mayntz 2001], o<strong>der</strong> dem<br />
„homo rationalis“, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage<br />
subjektiver Erwartungen handele, um e<strong>in</strong><br />
brauchbares Ergebnis zu erlangen (nach<br />
Simon 1986) [Mayntz 2001]. Mayntz resümiert,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Soziologie gebe es also „nicht<br />
nur e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n mehrere <strong>Menschenbild</strong>er<br />
mit durchaus unterschiedlichen Vorstellungen“.<br />
Da e<strong>in</strong> stark selektives <strong>Menschenbild</strong><br />
die soziologische Theorienbildung e<strong>in</strong>enge,<br />
sollte die Möglichkeit unterschiedlicher<br />
Handlungsorientierungen zum Kern<br />
e<strong>in</strong>es soziologischen <strong>Menschenbild</strong>es gehören.<br />
Dies habe schon Weber 1964 berücksichtigt,<br />
als er sich auf vier Formen<br />
menschlichen Handelns bezog: das zweckrationale,<br />
normative, traditionelle <strong>und</strong><br />
emotionale Handeln [Mayntz 2001]. Daher<br />
kommt sie zu dem Schluss, e<strong>in</strong>e komplexere<br />
Argumentation sei notwendig, um <strong>der</strong><br />
Komplexität <strong>der</strong> Wirklichkeit besser gerecht<br />
zu werden [Mayntz 2001].<br />
In mehreren Diszipl<strong>in</strong>en nehmen verschiedene<br />
Autoren heute den Standpunkt<br />
<strong>der</strong> „Pluralität <strong>der</strong> <strong>Menschenbild</strong>er“ [Rafael<br />
2002] e<strong>in</strong>. Für die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> stellt sich<br />
daher die Frage, ob auch sie diese Sichtweise<br />
teilt.<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Seit dem ersten Drittel des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
gibt es e<strong>in</strong>e Tradition, die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
im deutschsprachigen Raum term<strong>in</strong>ologisch<br />
<strong>in</strong> „Schulmediz<strong>in</strong>“ <strong>und</strong> „Naturheilk<strong>und</strong>e“<br />
(<strong>in</strong> den letzten 15 Jahren auch<br />
„Komplementärmediz<strong>in</strong>“) zu unterteilen<br />
[Grote, Brauchle 1935; Hampel 1998; Willich<br />
et al. 2004; Fritschi 2005; Bühr<strong>in</strong>g<br />
1998]. Gelegentliche Modifikationen <strong>der</strong><br />
Begriffe wurden an an<strong>der</strong>er Stelle bereits<br />
erörtert [Saller, Kristof 1998]. Trotz verschiedentlich<br />
dargestellter Unterschiede<br />
<strong>und</strong> Übere<strong>in</strong>stimmungen zwischen Schul<strong>und</strong><br />
Komplementärmediz<strong>in</strong> (s. Abb. 1)<br />
gab es seit Ende <strong>der</strong> 1970er Jahre, etwa<br />
durch das von George Engel beschriebene<br />
„bio-psycho-soziale Modell“, e<strong>in</strong>e weitere<br />
Annäherung bei<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>bereiche. Die<br />
Zuhilfenahme dieser Modellerklärung,<br />
dass Entstehung, Verlauf <strong>und</strong> Bewältigung<br />
von Krankheit e<strong>in</strong> multikonditionaler<br />
Prozess sei, bei dem das Zusammenwirken<br />
biologischer, psychologischer <strong>und</strong><br />
sozialer Faktoren entscheidend ist, gab<br />
e<strong>in</strong>en Rahmen für e<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, das über die re<strong>in</strong> reduktionistisch-biologische<br />
Sicht h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g.<br />
Solche ergänzenden Sichtweisen <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> f<strong>in</strong>den sich im Verlauf <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>geschichte immer wie<strong>der</strong>. Diese<br />
s<strong>in</strong>d oft mit dem Begriff <strong>der</strong> Anthropologie<br />
verb<strong>und</strong>en. E<strong>in</strong> früher Nachweis des<br />
late<strong>in</strong>ischen Wortes „Antropologium“<br />
f<strong>in</strong>det sich bei dem Philosophen, Arzt<br />
63
64<br />
Menschenverständnis – Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
Komplementärmediz<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>er Sammelbegriff für e<strong>in</strong>e heterogene Vielfalt therapeutischer<br />
<strong>und</strong> diagnostischer Methoden <strong>und</strong> Verfahren, die <strong>in</strong> den <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>systemen <strong>in</strong><br />
Mitteleuropa nicht allgeme<strong>in</strong> anerkannt s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> höchstens vere<strong>in</strong>zelt an mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Fakultäten beforscht, gelehrt <strong>und</strong> angewandt werden.<br />
Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Strukturierung kann die Komplementärmediz<strong>in</strong> nach verschiedenen Aspekten<br />
differenziert werden:<br />
D nach umfassenden Richtungen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>zelnen Verfahren: eigenständige Richtungen mit<br />
umfassen<strong>der</strong> Theorie <strong>und</strong> Konzeption (z.B. Homöopathie) o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelverfahren, die nicht<br />
zu den jeweiligen Richtungen gehören (z.B. Fußreflexzonenmassage).<br />
D nach geographischem Ursprung: europäische Richtungen (z.B. anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>)<br />
<strong>und</strong> außereuropäische Richtungen (z.B. Traditionelle Ch<strong>in</strong>esische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>) <strong>und</strong> Verfahren<br />
Diese Unterteilungen sagen nicht zw<strong>in</strong>gend etwas über die Qualität <strong>der</strong> entsprechenden<br />
Methoden <strong>und</strong> Verfahren aus, son<strong>der</strong>n dienen letztlich nur zur Reduktion <strong>der</strong> Komplexität<br />
<strong>der</strong> Vielfalt <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong> durch e<strong>in</strong>fache E<strong>in</strong>teilungen.<br />
Gelegentlich wird die Komplementärmediz<strong>in</strong> auch nach universitärer Vertretung <strong>und</strong> Beforschung<br />
o<strong>der</strong> außeruniversitärer Repräsentation unterschieden, was aber e<strong>in</strong>em dynamischen<br />
Wandel unterliegt. Damit verb<strong>und</strong>en ist oft die Unterscheidung <strong>in</strong> ärztliche <strong>und</strong> nicht<br />
ärztliche Therapeut<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Therapeuten.<br />
Die universitär vertretene Komplementärmediz<strong>in</strong> versteht sich nicht als Alternative zur<br />
sonstigen Hochschulmediz<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n als Ergänzung. Als entscheidende Charakteristika<br />
erweitert sie e<strong>in</strong>erseits für e<strong>in</strong>zelne Indikationen o<strong>der</strong> Behandlungsanlässe das therapeutische<br />
Spektrum <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. An<strong>der</strong>erseits bietet sie für ÄrztInnen <strong>und</strong> PatientInnen weitere<br />
Facetten <strong>der</strong> Betrachtungsvielfalt vom Verständnis von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit, wobei<br />
zusätzliche Optionen <strong>der</strong> Patientenpräferenz <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> aufgegriffen werden.<br />
Möglichkeit <strong>der</strong> Strukturierung <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong> nach Richtungen <strong>und</strong> Verfahren:<br />
Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
� �<br />
umfassende Richtungen (z.B.) e<strong>in</strong>zelne Verfahren (z.B.)<br />
Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Aromatherapie<br />
Ayurvedische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Bioresonanztherapie<br />
Homöopathie Fußreflexzonenmassage<br />
Traditionelle europ. Naturheilk<strong>und</strong>e K<strong>in</strong>esiologie<br />
Tibetische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Neuraltherapie<br />
Traditionelle Ch<strong>in</strong>esische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Polarity<br />
Abb. 1: Arbeitsdef<strong>in</strong>ition Komplementärmediz<strong>in</strong> [modifiziert nach Melzer, Brignoli, Saller<br />
2004]
<strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
<strong>und</strong> Theologen Magnus H<strong>und</strong>t 2 (1449–<br />
1519) [Bauer 1984]. Das deutsche Wort<br />
f<strong>in</strong>det sich 1772 im Buchtitel Anthropologie<br />
für Aerzte <strong>und</strong> Weltweise des Arztes<br />
Ernst Platner (1744–1818). Auch er führt<br />
aus, <strong>der</strong> Mensch sei „we<strong>der</strong> Körper, noch<br />
Seele alle<strong>in</strong>; er ist die Harmonie von beyden“<br />
[Bauer 1984]. E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Betrachtung<br />
lehnt er ab <strong>und</strong> plädiert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Anthropologie für die Betrachtung<br />
des Verhältnisses bei<strong>der</strong> Elemente: „Der<br />
Mensch ist <strong>in</strong>sofern das ganze von Seele<br />
<strong>und</strong> Körper …“ [Bauer 1984]. Auffallend<br />
ist für den <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>historiker Bauer, dass<br />
bei dieser Auffassung <strong>der</strong> cartesianische<br />
Dualismus erkennbar bleibt, auch wenn<br />
die Än<strong>der</strong>ung dar<strong>in</strong> liegt, dass bei Platner<br />
die Betonung <strong>der</strong> Seele <strong>und</strong> bei Descartes<br />
des Körpers im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> steht. 3 Der<br />
Begriff <strong>der</strong> „mediz<strong>in</strong>ischen Anthropologie“<br />
f<strong>in</strong>det sich u.a. 1806 bei Johann C. A.<br />
He<strong>in</strong>roth (1773–1843). Se<strong>in</strong>e Darstellungen<br />
zeigen e<strong>in</strong>e klare Gegenposition zum<br />
naturwissenschaftlichen Positivismus im<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Er beschreibt den Menschen<br />
als „Person“, bestehend aus Leib<br />
<strong>und</strong> Seele, <strong>und</strong> verwendet sogar den<br />
Begriff des Individuums [Bauer 1984].<br />
Jedoch f<strong>in</strong>det He<strong>in</strong>roth mit se<strong>in</strong>en Ausführungen<br />
ke<strong>in</strong> Echo, <strong>und</strong> erst 1927<br />
spricht Viktor von Weizsäcker wie<strong>der</strong> von<br />
mediz<strong>in</strong>ischer Anthropologie [Weizsäcker<br />
1941]. Ihr Kernelement stellt für ihn aber<br />
das „Verhältnis von Arzt <strong>und</strong> Patient“ dar,<br />
das er über se<strong>in</strong>e Theorie des therapeutischen<br />
Gestaltkreises beschreibt [Weizsäcker<br />
1941]. Damit betont er die Wichtigkeit<br />
<strong>der</strong> Beziehung zwischen Arzt <strong>und</strong><br />
Patient, die ihm so bedeutsam ist, dass er<br />
auch von beiden als „bipersonellem Men-<br />
schen“ spricht [Weizsäcker 1941]. Damit<br />
unterstreicht er die Notwendigkeit <strong>der</strong><br />
Integration des Patienten durch den Arzt<br />
im therapeutischen Gespräch. Erst diese<br />
E<strong>in</strong>heit beschreibt er als die „‚Ganzheit’<br />
<strong>der</strong> ärztlichen Behandlung“, denn es<br />
kommt ihm nicht nur auf die Wahrnehmung<br />
des „ganzen Patienten“ durch den<br />
Arzt an [Weizsäcker 1941]. In <strong>der</strong> Folge<br />
werden die verschiedenen Sichtweisen<br />
<strong>der</strong> Somato- <strong>und</strong> <strong>der</strong> Psychotherapie vor<br />
allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychosomatik vere<strong>in</strong>t <strong>und</strong><br />
bieten für die gesamte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> e<strong>in</strong>e<br />
Erweiterung <strong>der</strong> therapeutischen Sichtweise,<br />
die <strong>in</strong> den kl<strong>in</strong>ischen Alltag jedes<br />
Faches <strong>in</strong>tegriert werden kann.<br />
Nachdem die Relevanz <strong>der</strong> Arzt-<br />
Patienten-Beziehung erkannt war, wurde<br />
<strong>der</strong> Blick auf die therapeutische Situation<br />
um noch e<strong>in</strong>e weitere Stufe erweitert,<br />
nämlich die Arzt-Patienten-Angehörigen-<br />
Beziehung, die ebenfalls bei <strong>der</strong> Therapieplanung<br />
zu berücksichtigen ist, da sie<br />
e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf das Wohlbef<strong>in</strong>den des<br />
Patienten <strong>und</strong> den Erfolg <strong>der</strong> Therapie<br />
haben kann [Dörner 2001].<br />
Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
ist also e<strong>in</strong> Wandel des Menschenverständnisses<br />
erkennbar, <strong>der</strong> hier nur <strong>in</strong><br />
subjektiv ausgewählten Zügen skizziert<br />
2 Nach Bauer stellt er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch Antropologium<br />
de hom<strong>in</strong>is dignitate, natura et proprietatibus<br />
von 1501 anatomische, physiologische<br />
<strong>und</strong> psychologische Aspekte des Menschen<br />
als E<strong>in</strong>heit dar.<br />
3 Allerd<strong>in</strong>gs sche<strong>in</strong>t diese Auffassung nicht<br />
e<strong>in</strong>heitlich von an<strong>der</strong>en Autoren <strong>der</strong> „mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Anthropologie“ geteilt worden zu<br />
se<strong>in</strong>. Für Just C. Lo<strong>der</strong> (1753–1832) beispielsweise<br />
steht, völlig im Gegensatz zu<br />
Platner, die Betrachtung des Körpers im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>.<br />
Ibid<br />
65
66<br />
wird. Angesichts dieses Wandels des <strong>Menschenbild</strong>es<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> sche<strong>in</strong>t es<br />
nicht verw<strong>und</strong>erlich, dass auch <strong>in</strong> diesem<br />
Fach früh die Stimme für „die Anerkennung<br />
<strong>der</strong> Notwendigkeit e<strong>in</strong>es <strong>Pluralismus</strong><br />
<strong>der</strong> Methoden“ erhoben wird – <strong>und</strong><br />
zwar verb<strong>und</strong>en mit e<strong>in</strong>em notwendigen<br />
„Verzicht auf e<strong>in</strong>e geschlossene Weltsicht“<br />
[Mitscherlich 1948]. In ähnliche<br />
Richtung geht die Bezeichnung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
als e<strong>in</strong> „plurales System von Wissenschaften“,<br />
da ihr etwa naturwissenschaftliche,<br />
psychotherapeutische, humanökologische<br />
<strong>und</strong> soziologische Erkenntnisse<br />
zugr<strong>und</strong>e liegen [Schipperges 1975]. In<br />
jüngster Zeit hat dann auch Roelcke expli-<br />
Abb. 2: Arbeitsdef<strong>in</strong>ition Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
Menschenverständnis – Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
zit ausgesprochen, dass es „nicht um das<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> schlechth<strong>in</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n um die <strong>Menschenbild</strong>er – im Plural<br />
– gehe, die den verschiedenen Formen<br />
mediz<strong>in</strong>ischer Angebote zu Gr<strong>und</strong>e liegen“<br />
[Roelcke 2000].<br />
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong><br />
Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
Sowohl Anwen<strong>der</strong> als auch Nutzer <strong>der</strong><br />
Naturheilk<strong>und</strong>e (s. Abb. 2) rekurrieren<br />
darauf, dass e<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>lage ihres Handelns<br />
die Annahme e<strong>in</strong>es so genannten<br />
ganzheitlichen <strong>Menschenbild</strong>es o<strong>der</strong><br />
Naturheilk<strong>und</strong>e ist die Lehre von <strong>der</strong> Vorbeugung <strong>und</strong> Behandlung von Krankheiten unter<br />
Verwendung von Mitteln („Naturheilmittel“), die <strong>der</strong> Natur entstammen, weitgehend<br />
naturbelassen, <strong>der</strong> Natur nachempf<strong>und</strong>en, bzw. <strong>der</strong> Natur (u.a. <strong>der</strong> Biologie) des Menschen<br />
angemessen s<strong>in</strong>d. Hierzu zählen:<br />
spezielle Ernährungsformen, pflanzliche, tierische <strong>und</strong> m<strong>in</strong>eralische Arzneistoffe o<strong>der</strong> physikalische<br />
Reize wie Licht, Wasser, Sonne, Kälte, Wärme, Bewegung, Ruhe, sowie psychosoziale<br />
E<strong>in</strong>flussfaktoren, wie etwa Gespräch <strong>und</strong> Beratung [modifiziert nach Pschyrembel<br />
1998, 2000].<br />
Historische gewachsene Strukturierung <strong>der</strong> Naturheilk<strong>und</strong>e [modifiziert nach Melchart<br />
2002, Bühr<strong>in</strong>g 1993]:<br />
Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
� �<br />
klassische Naturheilverfahren: erweiterte Naturheilverfahren (Auswahl):<br />
Bewegungstherapie ausleitende Verfahren (z.B. A<strong>der</strong>lass,<br />
Ernährungstherapie Schröpfen, Blutegel)<br />
Hydropathie Neuraltherapie<br />
„Ordnungstherapie“ Symbioselenkung<br />
Phytotherapie Thalassotherapie
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
Menschenverständnisses sei, bei dem <strong>der</strong><br />
„ganze Mensch ohne Trennl<strong>in</strong>ie zwischen<br />
Körper, Geist <strong>und</strong> Seele“ behandelt werde<br />
[Coward 1995]. 4 In diesem Kontext stößt<br />
man auf die Begriffe ganzheitliche <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
o<strong>der</strong> Ganzheitsmediz<strong>in</strong>, die heute<br />
weitgehend durch die Bezeichnung Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
ersetzt s<strong>in</strong>d, aber noch<br />
Verwendung f<strong>in</strong>den. 5<br />
Über die zeitliche E<strong>in</strong>ordnung des<br />
Begriffes schreibt Jütte, die Ära <strong>der</strong> Ganzheitsmediz<strong>in</strong><br />
habe 1945 begonnen, als die<br />
Vertreter naturheilk<strong>und</strong>licher Therapien<br />
auf <strong>der</strong> Suche nach e<strong>in</strong>em neuen Wort<br />
waren, „mit dem man e<strong>in</strong>e desavouierte<br />
Strömung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wie<strong>der</strong> salonfähig<br />
zu machen hoffte“ [Jütte 1996].<br />
Gleichwohl diskutierten aber schon <strong>in</strong><br />
den 1930er Jahren Ärzte über „ganzheitliche<br />
Bestrebungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ [Harr<strong>in</strong>gton<br />
2002] 6 , <strong>und</strong> Begriffe wie Ganzheitlichkeit<br />
o<strong>der</strong> Ganzheit f<strong>in</strong>den sich<br />
bereits seit 1900 im wissenschaftlichen<br />
Diskurs im deutschsprachigen Raum<br />
[Harr<strong>in</strong>gton 2002], auch wenn sie damals<br />
noch nicht <strong>in</strong> Lexika zu f<strong>in</strong>den waren<br />
[Zedler 1735, 1994; Meyers Großes Konversations-Lexikon<br />
1906].<br />
Der Brockhaus verweist 1978 unter<br />
Ganzheitsmediz<strong>in</strong> [Brockhaus 1978] auf<br />
die Psychosomatik als: „ganzheitliche,<br />
seelisch-körperl. Betrachtungs- <strong>und</strong> Heilweise,<br />
welche bei psychogenen Erkrankungen<br />
neben Organschädigungen <strong>und</strong><br />
Organfunktionsstörungen auch die emotionalen<br />
<strong>und</strong> sozialen Ursachen sowie die<br />
gesamte Persönlichkeit <strong>und</strong> das Lebensschicksal<br />
berücksichtigt … <strong>der</strong> Begriff<br />
‚Psychosomatische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>‘ wurde erst<br />
von F. Deutsch (1922) e<strong>in</strong>geführt“ [Brock-<br />
haus 1978]. In den 1990er Jahren gibt es<br />
neben diesem Verweis auch e<strong>in</strong>e eigene<br />
Def<strong>in</strong>ition, die im <strong>in</strong>haltlichen Kern mit<br />
<strong>der</strong> vorherigen übere<strong>in</strong>stimmt: „Ganzheitsmediz<strong>in</strong>;<br />
mediz<strong>in</strong>. Richtung, die den<br />
Kranken nicht nur nach e<strong>in</strong>zelnen Krankheitsbil<strong>der</strong>n<br />
<strong>und</strong> E<strong>in</strong>zelbef<strong>und</strong>en, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em physisch-psychischen<br />
Gesamtzustand erfassen <strong>und</strong> ärztlich<br />
behandeln will“ [Brockhaus 1997]. 7 Ähnliche<br />
Def<strong>in</strong>itionen f<strong>in</strong>den sich bei e<strong>in</strong>er<br />
Reihe weiterer Autoren [Pschyrembel<br />
2000; Meyer 1966; Koch 1996], wobei mal<br />
mehr von e<strong>in</strong>er Leib-Seele-E<strong>in</strong>heit [Nie<strong>der</strong>meyer<br />
1955], e<strong>in</strong>em Leib-Seele-Problem<br />
[Mitscherlich 1969] o<strong>der</strong> dem Gan-<br />
4 E<strong>in</strong> Umstand, den von Uexküll ablehnte: „Als<br />
‚Ganzheitsmediz<strong>in</strong>’ habe sie [die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>]<br />
auch die Notwendigkeit überw<strong>und</strong>en, zwischen<br />
seelischen <strong>und</strong> körperlichen Ersche<strong>in</strong>ungen<br />
<strong>und</strong> Vorgängen zu unterscheiden. Ich<br />
b<strong>in</strong> nicht dieser Ansicht. Ich glaube im Gegenteil,<br />
dass die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> auf diese Unterscheidungen<br />
nicht verzichten kann, ohne die Orientierung<br />
zu verlieren“ [Uexküll 1968].<br />
5 Beispielsweise <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz vertreten<br />
durch die seit 1989 ersche<strong>in</strong>ende Schweizerische<br />
Zeitschrift für Ganzheitsmediz<strong>in</strong> o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
Österreich seit 1988 durch die Ärztegesellschaft<br />
„Wiener <strong>in</strong>ternationale Akademie für<br />
Ganzheitsmediz<strong>in</strong>“.<br />
6 So auf dem „Kongress zur För<strong>der</strong>ung <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ischer<br />
Synthese <strong>und</strong> Ärztlicher Weltanschauung“<br />
1932 <strong>in</strong> Marienbad. Die von<br />
Theodor Brugsch unter dem Titel E<strong>in</strong>heitsstrebungen<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> herausgegebenen<br />
Beiträge <strong>der</strong> Tagung erhalten den Artikel<br />
„Die ganzheitlichen Betrachtung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ des Neurologen Kurt Goldste<strong>in</strong>s<br />
(1878–1965). E<strong>in</strong> Jahr später gelang ihm,<br />
SPD-Mitglied <strong>und</strong> jüdischer Konfession,<br />
nach zeitweiliger Haft die Emigration [Harr<strong>in</strong>gton<br />
2000]. Brugsch veröffentlichte 1936<br />
das Buch Ganzheitsproblematik <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>.<br />
7 E<strong>in</strong>e neuere ähnliche Def<strong>in</strong>ition: „Ganzheitsmediz<strong>in</strong>:<br />
Richtung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, die den<br />
Kranken <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er leib-seelischen Gesamtverfassung<br />
zu erfassen u. zu behandeln sucht“<br />
[Brockhaus 1999].<br />
67
68<br />
zen als Summe <strong>der</strong> Teile [Stacher 1993]<br />
gesprochen wird. 8<br />
Die Betrachtung physischer, psychischer<br />
<strong>und</strong> sozialer Aspekte des Menschen<br />
können <strong>in</strong> <strong>der</strong> Naturheilk<strong>und</strong>e als traditionell<br />
europäischer Teil <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
ebenso beachtet werden, wie im<br />
bio-psycho-sozialen Modell o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Psychosomatik.<br />
Hier f<strong>in</strong>den sich also Parallelen<br />
zwischen den e<strong>in</strong>zelnen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>bereichen.<br />
Auch wenn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit die<br />
e<strong>in</strong>zelnen komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />
Methoden tendenziell getrennt vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
operierten, so bed<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> zunehmende<br />
<strong>und</strong> selbstverständliche Gebrauch verschiedener<br />
Methoden durch PatientInnen,<br />
auch <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong>,<br />
e<strong>in</strong>e gewisse Information o<strong>der</strong> Zusammenarbeit<br />
<strong>der</strong> TherapeutInnen. Gerade am<br />
Arznei- <strong>und</strong><br />
Heilpflanzen<br />
als Rohstoff<br />
(afrikanisch,<br />
amerikanisch,<br />
asiatisch,<br />
australisch,<br />
europäisch)<br />
Menschenverständnis – Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
Traditionelle Ch<strong>in</strong>esische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Arzneimittel Arzneimittel<br />
Ayurvedische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Arzneimittel<br />
Tibetische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Arzneimittel<br />
Kampo-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Arzneimittel<br />
Arzneimittel<br />
Europäische Phytotherapie<br />
Homöopathie<br />
Urt<strong>in</strong>kturen<br />
Orthomolekulare <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Arzneimittel<br />
Spagyrik<br />
Arzneimittel<br />
Abb. 3: Bezug <strong>der</strong> Phytotherapie zu an<strong>der</strong>en komplementärmediz<strong>in</strong>ischen Richtungen <strong>und</strong><br />
Verfahren über Arznei- <strong>und</strong> Heilpflanzen<br />
Beispiel <strong>der</strong> Phytotherapie (s. Abb. 3) lässt<br />
sich verdeutlichen, welche Vielfalt an Verb<strong>in</strong>dungen<br />
es zu an<strong>der</strong>en komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />
Methoden <strong>und</strong> Gedankenwelten<br />
<strong>der</strong> Patienten geben kann. So kann<br />
es se<strong>in</strong>, dass beispielsweise <strong>in</strong> verschiedenen<br />
komplementärmediz<strong>in</strong>ischen Methoden<br />
e<strong>in</strong>e Heilpflanze bei an<strong>der</strong>en Indikationen<br />
verwendet o<strong>der</strong> unterschiedlich<br />
zubereitet wird. Dies macht es deutlich,<br />
dass Offenheit <strong>und</strong> Informationsaustausch<br />
<strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />
Methoden zum Wohl <strong>der</strong><br />
PatientInnen notwendig ist. Mitunter<br />
8 Der Begriff <strong>der</strong> Ganzheit f<strong>in</strong>det sich auch <strong>in</strong><br />
modifiziert an<strong>der</strong>er Bedeutung bei C. G.<br />
Jung [Hydwolff 2000] <strong>und</strong> Ganzheitlichkeit<br />
auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gestaltpsychologie [Zabransky<br />
2000].
<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
kann auch das <strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> Therapieverständnis<br />
<strong>in</strong> den verschiedenen Methoden<br />
variieren <strong>und</strong> den Therapieverlauf<br />
bee<strong>in</strong>flussen.<br />
Wesentliche Aspekte des Therapie<strong>und</strong><br />
Menschenverständnisses <strong>der</strong> naturheilk<strong>und</strong>lichen<br />
Therapie, die sich aus<br />
unseren Erfahrungen vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
ambulanten Patientenversorgung zeigen<br />
<strong>und</strong> teilweise frühere Annahmen bestätigen,<br />
werden im Folgenden an Aspekten<br />
zu Patientenerwartungen, Therapiegestaltung<br />
<strong>und</strong> -ansätzen verdeutlicht:<br />
D Aspekte <strong>der</strong> Erwartungen <strong>der</strong><br />
PatientInnen<br />
– aktiver E<strong>in</strong>bezug <strong>der</strong> Vorstellung<br />
über die Krankheit <strong>in</strong> die<br />
Behandlung<br />
– aktiver E<strong>in</strong>bezug von Subjektivität<br />
<strong>und</strong> Individualempirie<br />
(auch <strong>der</strong> TherapeutInnen)<br />
– aktiver E<strong>in</strong>bezug persönlicher<br />
Lebensphilosophie<br />
D Aspekte <strong>der</strong> Therapiegestaltung<br />
– freie, subjektive Wahl von<br />
TherapeutInnen, Therapien,<br />
Krankheitssicht<br />
– <strong>in</strong>dividuelle/subjektive Deutungsmöglichkeiten<br />
des<br />
Krankse<strong>in</strong>s<br />
– Mitkonstruktion <strong>der</strong> Sicht des<br />
Ges<strong>und</strong>werdens durch die<br />
PatientInnen (häufig eklektizistisch)<br />
D Aspekte von Therapieansätzen<br />
– therapeutische Wirkungen<br />
über Regulationsvorgänge<br />
– Konstitution als potenzielles<br />
Reaktionsvermögen<br />
– Therapiebeg<strong>in</strong>n an leistungsfähigen<br />
Anteilen des Organismus<br />
– (Selbst)-Heilungspotenz <strong>und</strong><br />
Selbstheilungsvermögen<br />
– Ressourcenaktivierung/Perspektivenbildung<br />
– Stärkung <strong>der</strong> Autonomie <strong>der</strong><br />
PatientInnen<br />
Von den Erwartungen, mit denen PatientInnen<br />
<strong>in</strong> die Beratung zur naturheilk<strong>und</strong>lichen<br />
Therapie kommen, ersche<strong>in</strong>t<br />
es beson<strong>der</strong>s wichtig, dass Elemente ihrer<br />
Vorstellung über die Krankheit aktiv <strong>in</strong><br />
die Behandlung mit e<strong>in</strong>bezogen werden<br />
können. Dies verlangt Wissen, Verständnis<br />
<strong>und</strong> Empathie <strong>der</strong> TherapeutInnen.<br />
Ferner erwarten PatientInnen, dass auch<br />
ihre Subjektivität als Person <strong>und</strong> ihre Individualempirie<br />
im Zusammenhang mit<br />
<strong>der</strong> Erkrankung vom Therapeuten registriert<br />
<strong>und</strong> bei se<strong>in</strong>em Handeln e<strong>in</strong>bezogen<br />
wird. Das kann auch Aspekte <strong>der</strong> persönlichen<br />
Lebensphilosophie betreffen.<br />
Aus den Erwartungen <strong>der</strong> PatientInnen<br />
ergeben sich teilweise auch Aspekte<br />
<strong>der</strong> Therapiegestaltung. Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> persönlichen<br />
Lebense<strong>in</strong>stellung <strong>und</strong> Philosophie<br />
ergeben sich für PatientInnen subjektive<br />
Deutungsmöglichkeiten ihres<br />
Krankse<strong>in</strong>s. Daraus kann sich auch e<strong>in</strong>e<br />
<strong>in</strong>dividuelle <strong>und</strong> subjektive Krankheitssicht<br />
<strong>der</strong> PatientInnen ergeben, die<br />
durchaus im Gegensatz zum Kenntnisstand<br />
des Arztes stehen kann <strong>und</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />
Prozess des Vermittelns folgen muss.<br />
Ebenso entstehen je nach Krankheitssicht<br />
Ansprüche an die freie Wahl von Thera-<br />
69
70<br />
peutInnen <strong>und</strong> Therapie. Aus den Deutungsmöglichkeiten<br />
<strong>der</strong> PatientInnen<br />
über ihr Krankse<strong>in</strong> können die TherapeutInnen<br />
<strong>der</strong>en Situation <strong>und</strong> Erwartungen<br />
besser verstehen. Schließlich können die<br />
PatientInnen bei <strong>der</strong> Mitkonstruktion <strong>der</strong><br />
Planung ihres Ges<strong>und</strong>werdens mitteilen,<br />
die Reduktion (o<strong>der</strong> Behebung) welcher<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungen für sie erste Priorität<br />
haben. Das kann von den Vorstellungen<br />
<strong>der</strong> TherapeutInnen, ggf. orientiert an kl<strong>in</strong>ischen<br />
Bef<strong>und</strong>en, Laborwerten, Ergebnissen<br />
bildgeben<strong>der</strong> Verfahren o<strong>der</strong> Surrogatparametern,<br />
abweichen.<br />
Von den Therapieansätzen, die im<br />
Rahmen e<strong>in</strong>er naturheilk<strong>und</strong>lichen Therapie<br />
zur Verfügung stehen, kann es em<strong>in</strong>ent<br />
wichtig se<strong>in</strong>, die Therapie an leistungsfähigen<br />
Anteilen des Organismus zu<br />
beg<strong>in</strong>nen, damit <strong>der</strong> eventuell lange o<strong>der</strong><br />
chronisch Kranke bemerkt, dass se<strong>in</strong><br />
Organismus auch ges<strong>und</strong>e Anteile besitzt.<br />
Die therapeutische Wirkung kann dabei<br />
auch über Regulationsvorgänge ausgelöst<br />
werden, die von E<strong>in</strong>wirkungen an an<strong>der</strong>en<br />
Körperstellen ausgehen als <strong>der</strong> eigentlich<br />
betroffenen. Die Konstitution <strong>der</strong><br />
PatientInnen kann unter Umständen für<br />
e<strong>in</strong> potenzielles Reaktionsvermögen des<br />
Organismus genutzt werden, wobei die<br />
Möglichkeit <strong>der</strong> (Selbst-)Heilungspotenz<br />
abzuwägen bzw. zu unterstützen ist. Hierzu<br />
kann es hilfreich se<strong>in</strong>, zu erkennen,<br />
welche Ressourcen aktiviert werden können,<br />
die auch zu e<strong>in</strong>er persönlich wirksamen<br />
Perspektivenbildung beitragen.<br />
Durch den möglichen Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Therapie<br />
an ges<strong>und</strong>en Anteilen des Organismus<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e realistische Perspektivenbildung<br />
kann die Autonomie <strong>der</strong> PatientInnen<br />
ebenso gestärkt werden wie auch durch<br />
den aktiven E<strong>in</strong>bezug <strong>in</strong> therapeutische<br />
Maßnahmen.<br />
E<strong>in</strong>zelne <strong>der</strong> hier vorgestellten Aspekte<br />
werden natürlich auch <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Bereichen <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> angewandt o<strong>der</strong><br />
könnten dort Verwendung f<strong>in</strong>den. Sie<br />
s<strong>in</strong>d unseres Erachtens nach konstitutiv<br />
für e<strong>in</strong>e naturheilk<strong>und</strong>liche Therapie. Für<br />
e<strong>in</strong>e befriedigende o<strong>der</strong> erfolgreiche Therapie<br />
o<strong>der</strong> Behandlung wird es notwendig<br />
se<strong>in</strong>, dass Arzt <strong>und</strong> Patient die genannten<br />
Punkte offen kommunizieren <strong>und</strong> teilweise<br />
an<strong>der</strong>e Therapeuten <strong>und</strong> Familienangehörige<br />
mit e<strong>in</strong>beziehen.<br />
Ergebnis<br />
Menschenverständnis – Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
Der Blick über die verschiedenen Zeiten<br />
<strong>und</strong> Fächer zeigt, dass heute die Existenz<br />
pluraler <strong>Menschenbild</strong>er Realität ist. Dies<br />
gilt auch für die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, die neben<br />
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen<br />
durch psychosomatische Erkenntnisse,<br />
das bio-psycho-soziale Modell <strong>und</strong> über<br />
Aspekte <strong>der</strong> Arzt-Patienten-Angehörigen-<br />
Beziehung ihr Menschenverständnis <strong>und</strong><br />
<strong>Menschenbild</strong> entscheidend erweitern<br />
konnte. Die naturheilk<strong>und</strong>liche <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
greift diese Aspekte auf <strong>und</strong> bietet <strong>der</strong><br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zusätzliche Sichtweisen h<strong>in</strong>sichtlich<br />
Patientenerwartung, Therapiegestaltung<br />
<strong>und</strong> Therapieansätzen.<br />
Diskussion<br />
Die heutige ausdifferenzierte, pluralistische<br />
mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft muss sich fra-
Literatur<br />
gen, wie sie ihr <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>system <strong>in</strong> Zukunft<br />
gestalten will. Bisher konnte die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
durch die Integration neuer Erkenntnisse<br />
den Bedürfnissen des Menschen näher<br />
kommen. Aspekte <strong>der</strong> naturheilk<strong>und</strong>lichen<br />
Therapie <strong>und</strong> Vorgehensweise könnten<br />
hier e<strong>in</strong>en weiteren Beitrag leisten<br />
<strong>und</strong> unter <strong>der</strong> Sichtweise von Naturheilk<strong>und</strong>e<br />
als Querschnittsfach <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en<br />
mediz<strong>in</strong>ischen Fächern <strong>in</strong>tegriert werden.<br />
In <strong>der</strong> Diskussion um das Verhältnis von<br />
Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
weisen e<strong>in</strong>ige Autoren auf wichtige<br />
Aspekte im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> möglichen Weiterentwicklung<br />
e<strong>in</strong>es pluralistischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>systems<br />
h<strong>in</strong>, die vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />
des Menschenverständnisses <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
relevant ersche<strong>in</strong>en.<br />
Kaptchuk <strong>und</strong> Eisenberg erachten es<br />
angesichts des Gebrauchs von Komplementärmediz<strong>in</strong><br />
als notwendig, dass Ärzte<br />
verstehen, warum Patienten diese Methoden<br />
anwenden, um die „relationship-centered<br />
care“ nicht zu gefährden. Dies sollte<br />
angesichts von „Gr<strong>und</strong>werten <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>,<br />
wie dem Respekt gegenüber den<br />
Patienten <strong>und</strong> dem Dienst am Patienten“,<br />
bedacht werden [Kaptchuk, Eisenberg<br />
2001]. „Die gegenwärtig erhöhte Aufmerksamkeit<br />
gegenüber Alternativmediz<strong>in</strong><br />
zeigt zweierlei, die Fortsetzung des<br />
mediz<strong>in</strong>ischen <strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> den USA<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e dramatische Neuordnung, weg<br />
vom Antagonismus <strong>und</strong> h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er<br />
postmo<strong>der</strong>nen Kenntnisnahme <strong>der</strong> Diversität“<br />
[Kaptchuk, Eisenberg 2001]. Kirmayer<br />
argumentiert, dass durch die Globalisierung<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>systeme, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
bestimmten Tradition e<strong>in</strong>er Kultur verankert<br />
waren, nun global verfügbar s<strong>in</strong>d.<br />
Deshalb seien Modelle „notwendig, um<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt des permanenten Flusses,<br />
<strong>der</strong> Transformation <strong>und</strong> Hybridisierung<br />
den potentiellen Nutzen von kulturell<br />
verankerten Heilsystemen zu verstehen.<br />
… Ironischerweise führt die Unzufriedenheit<br />
mit den momentanen Institutionen<br />
zu e<strong>in</strong>er romantischen Idealisierung des<br />
Exotischen als ‚traditionell‘ <strong>und</strong> ‚ganzheitlich‘<br />
<strong>und</strong> als Möglichkeit, verlorene<br />
Werte wie Harmonie <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>schaft<br />
wie<strong>der</strong> herzustellen.“ Öffentliche Informationen<br />
über komplementärmediz<strong>in</strong>ische<br />
<strong>und</strong> traditionelle Heilmethoden<br />
müssten zur Debatte um e<strong>in</strong> pluralistisches<br />
Ges<strong>und</strong>heitssystem zur Verfügung<br />
stehen, <strong>und</strong> die Wahrnehmung <strong>der</strong> Vielfalt<br />
<strong>der</strong> Heilmethoden sollte Kl<strong>in</strong>iker ermuntern,<br />
die Patienten nach dem Gebrauch<br />
komplementärmediz<strong>in</strong>ischer Methoden<br />
zu fragen [Kirmayer 2004].<br />
Danksagungen<br />
Helmut Siefert herzlichen Dank für H<strong>in</strong>weise<br />
zur mediz<strong>in</strong>ischen Anthropologie<br />
<strong>und</strong> Angela Störl für die Hilfe beim Erstellen<br />
des Literaturverzeichnisses.<br />
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Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e komplementärmediz<strong>in</strong>ische<br />
Therapie? – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Matthias Girke<br />
E<strong>in</strong>leitung<br />
Das jeweilige Bild vom Menschen prägt<br />
<strong>und</strong> bestimmt die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong> Diagnostik<br />
<strong>und</strong> Therapie. Im Unterschied zu zurückliegenden<br />
Formen <strong>der</strong> Heilkunst erfährt<br />
das ke<strong>in</strong>eswegs als <strong>in</strong>variat anzusehende<br />
Bild vom Menschen e<strong>in</strong>e erstaunlich<br />
ger<strong>in</strong>ge Reflexion. Häufig werden sogar<br />
angesichts e<strong>in</strong>er als diesbezüglich voraussetzungslos<br />
e<strong>in</strong>gestuften „ma<strong>in</strong> stream<br />
medic<strong>in</strong>e“ diese von alltäglichen Entscheidungen<br />
bis h<strong>in</strong> zu den ethischen<br />
Grenzfragen <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> reichenden Fragestellungen<br />
weitgehend ausgeklammert.<br />
Der Begriff <strong>Menschenbild</strong> kann als e<strong>in</strong>e<br />
Frage nach e<strong>in</strong>er das komplexe Se<strong>in</strong> des<br />
Menschen umschreibenden Modellvorstellung<br />
begriffen werden. Diese Ebene ist<br />
mit den folgenden Ausführungen nicht<br />
geme<strong>in</strong>t. Vielmehr geht es um e<strong>in</strong>en „perspektivischen<br />
Ansatz“ <strong>und</strong> damit um die<br />
Fragestellung, welche Ebenen <strong>der</strong> menschlichen<br />
Existenz <strong>in</strong> die Betrachtung aufgenommen<br />
werden sollen. Hier hat die im<br />
19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert sich entwickelnde<br />
„Schulmediz<strong>in</strong>“ e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Festlegung<br />
getroffen: Du Bois-Reymond sprach<br />
von e<strong>in</strong>em heiligen Eid, nur noch die biochemisch<br />
<strong>und</strong> physiologisch beschreibbare<br />
Dimension zu berücksichtigen. Es wurde<br />
<strong>der</strong> Ausgangspunkt für die heutige<br />
Schulmediz<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong> reduktionistisches<br />
<strong>Menschenbild</strong> fokussiert. Obgleich mit<br />
dem „bio-psycho-sozialen Modell“ weitere<br />
Ebenen <strong>der</strong> menschlichen Existenz angesprochen<br />
werden, so handelt es sich<br />
letztlich nur um unterschiedliche Betrachtungsarten,<br />
ohne e<strong>in</strong>em lebendigen,<br />
seelischen <strong>und</strong> geistigen Wesen des Menschen<br />
e<strong>in</strong>e Se<strong>in</strong>sdimension zuzuweisen.<br />
Karl Friedrich von Weizsäcker beschreibt<br />
vor e<strong>in</strong>em vergleichbaren H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />
e<strong>in</strong>e „kulturgeb<strong>und</strong>ene Blickbeschränkung“<br />
letztlich auf die somatische Ebene<br />
<strong>und</strong> mahnt e<strong>in</strong>e Erweiterung des perspektivisch<br />
e<strong>in</strong>geengt ersche<strong>in</strong>enden Menschenverständnisses<br />
an, <strong>in</strong>dem er bezüglich<br />
<strong>der</strong> „Subjektivität <strong>der</strong> Natur“ bemerkt:<br />
„Die Naturwissenschaft ist heute außerstande,<br />
etwas dazu zu sagen, <strong>und</strong> zwar,<br />
wie ich me<strong>in</strong>en möchte, nicht aus pr<strong>in</strong>zipieller<br />
Unmöglichkeit, aber wegen ihrer<br />
kulturgeb<strong>und</strong>enen Blickbeschränkung.<br />
Sie arbeitet ausschließlich <strong>in</strong> objektiver<br />
E<strong>in</strong>stellung, d.h. sie beschreibt Objekte,<br />
wie sie menschlichen Subjekten ersche<strong>in</strong>en,<br />
aber sie reflektiert nicht auf die Subjektivität<br />
<strong>der</strong> Subjekte“ [Weizsäcker 1975].<br />
Die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> ist aufgefor<strong>der</strong>t, e<strong>in</strong>en<br />
diesen unterschiedlichen Bereichen<br />
menschlicher Existenz jeweils angemessenen<br />
methodologischen Zugang zu f<strong>in</strong>den.<br />
Die Fragen nach e<strong>in</strong>em <strong>Menschenbild</strong><br />
beantworten sich nicht durch auswech-<br />
75
76<br />
selbare Modellvorstellungen, die als Gedankenkonstrukte<br />
Teilbereiche e<strong>in</strong>er<br />
komplexen Phänomenologie abbilden.<br />
Vielmehr wird e<strong>in</strong>e Methodologie <strong>der</strong><br />
Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung e<strong>in</strong>gefor<strong>der</strong>t, die<br />
dem jeweiligen Se<strong>in</strong>sbereich des Menschen<br />
möglichst entspricht <strong>und</strong> se<strong>in</strong><br />
komplexes Wesen nicht auf die kausal<br />
analytisch beschreibbare Ebene reduziert.<br />
In mancher Beziehung gleicht die gegenwärtige<br />
Forschungspraxis <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
e<strong>in</strong>em Konzertbesucher, <strong>der</strong> die „somatische<br />
Dimension“ durch Registrierung von<br />
Vibrationen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Instrumente<br />
<strong>und</strong> ihrer jeweiligen „Anatomie“ beschreibt<br />
<strong>und</strong> durch diese Betrachtungsart<br />
niemals auf die eigentliche musikalische<br />
Aussage <strong>und</strong> immaterielle Wirklichkeit<br />
<strong>der</strong> Musik kommt. Es ist e<strong>in</strong>e Erweiterung<br />
des Menschenverständnisses erfor<strong>der</strong>lich;<br />
<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne haben Rudolf Ste<strong>in</strong>er <strong>und</strong><br />
Ita Wegman Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
die Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> charakterisiert.<br />
Es handelt sich nicht um e<strong>in</strong>e<br />
„Alternativmediz<strong>in</strong>“, <strong>und</strong> auch <strong>der</strong> Term<strong>in</strong>us<br />
„beson<strong>der</strong>e Therapierichtung“ wird<br />
ihr demzufolge nur unzureichend gerecht.<br />
Sie versteht sich als e<strong>in</strong>e Methodologie<br />
für e<strong>in</strong> Menschenverständnis, das<br />
über die somatische Dimension h<strong>in</strong>ausweisend<br />
den lebendigen, seelischen <strong>und</strong><br />
geistigen Se<strong>in</strong>sbereich e<strong>in</strong>schließen will.<br />
Vier Kategorien von<br />
Patientenfragen<br />
In <strong>der</strong> alltäglichen Begegnung mit den<br />
Patienten lassen sich vier verschiedene<br />
Kategorien von Fragekomplexen unter-<br />
Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
scheiden, die auf e<strong>in</strong> erweitertes Menschenverständnis<br />
zielen.<br />
E<strong>in</strong>e erste Kategorie bezieht sich auf<br />
die Ebene <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Bef<strong>und</strong>e.<br />
Wird e<strong>in</strong> Gallenste<strong>in</strong>leiden diagnostiziert,<br />
so konzentriert sich die bef<strong>und</strong>orientierte<br />
Fragestellung auf die möglichen therapeutischen<br />
Verfahren, die geeignet s<strong>in</strong>d,<br />
diesen Bef<strong>und</strong> zu korrigieren. Ähnliche<br />
Fragestellungen ergeben sich beispielsweise<br />
im Zusammenhang mit <strong>der</strong> koronaren<br />
Herzerkrankung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er möglicherweise<br />
erfor<strong>der</strong>lichen Angioplastie des<br />
verengten Gefäßes. Neben diesen bef<strong>und</strong>orientierten<br />
Fragestellungen beziehen<br />
sich weitere auf den Prozess des Erkrankens.<br />
Beispielsweise bemerkt <strong>der</strong> rheumaerkrankte<br />
Patient bald, wie die Kortikoidgabe<br />
o<strong>der</strong> auch die E<strong>in</strong>leitung e<strong>in</strong>er<br />
Basistherapie e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>drückliche Symptomverbesserung<br />
br<strong>in</strong>gen kann, ohne<br />
allerd<strong>in</strong>gs den zugr<strong>und</strong>e liegenden Krankheitsprozess<br />
se<strong>in</strong>er Qualität nach zu bee<strong>in</strong>flussen.<br />
Das Absetzen <strong>der</strong> entsprechenden<br />
Medikation führt, von wenigen Ausnahmen<br />
abgesehen, zur erneuten<br />
Krankheitsmanifestation. Die prozessorientierten<br />
Patientenfragen beziehen sich<br />
auf therapeutische Möglichkeiten, die<br />
Krankheitsdynamik selber zu bee<strong>in</strong>flussen.<br />
Ihnen liegt häufig die Suche nach<br />
e<strong>in</strong>er <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zugr<strong>und</strong>e, die e<strong>in</strong> salutogenetisches<br />
Behandlungskonzept verfolgt.<br />
Ges<strong>und</strong>heit ersche<strong>in</strong>t vor <strong>der</strong>en H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />
nicht als das Gegenteil von Krankheit.<br />
Vielmehr ergibt sie sich durch die<br />
Wirksamkeit „ges<strong>und</strong>en<strong>der</strong> Kräfte“ im<br />
Organismus, die sich den krankheitserzeugenden<br />
gegenüberstellen. In diesem<br />
S<strong>in</strong>ne begreift sich die Entzündung, die
Vier Kategorien von Patientenfragen<br />
im Zusammenhang mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>gezogenen<br />
Splitter <strong>in</strong> <strong>der</strong> Haut als Reaktion des<br />
Organismus auftritt, trotz ihrer Schmerzhaftigkeit<br />
<strong>und</strong> Bee<strong>in</strong>trächtigung des Bef<strong>in</strong>dens<br />
als ges<strong>und</strong>ende Reaktion, die<br />
darauf angelegt ist, die Integrität des Organismus<br />
wie<strong>der</strong> herzustellen. Unter diesem<br />
Aspekt ersche<strong>in</strong>t Ges<strong>und</strong>heit als e<strong>in</strong>e<br />
mittlere Qualität im Spannungsfeld von<br />
pathogenetisch <strong>und</strong> salutogenetisch wirkenden<br />
Faktoren.<br />
E<strong>in</strong>e dritte Kategorie von Patientenfragen<br />
bezieht sich auf die seelische<br />
Dimension, ist demzufolge nicht mehr<br />
am Bef<strong>und</strong>, son<strong>der</strong>n am Bef<strong>in</strong>den des Patienten<br />
orientiert. Patienten fragen nach<br />
<strong>der</strong> Beziehung ihres seelischen Erlebens<br />
zum Krankheitsprozess. Der Neuro<strong>der</strong>mitis-Kranke<br />
erlebt mitunter e<strong>in</strong>drücklich<br />
die Verän<strong>der</strong>ung se<strong>in</strong>es Hautbef<strong>und</strong>es <strong>in</strong><br />
Abhängigkeit von <strong>der</strong> <strong>in</strong> unterschiedlichem<br />
Grade stressbeladenen Lebensweise.<br />
Die Haut ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>mal mehr auch<br />
<strong>in</strong> ihrer Erkrankung als <strong>der</strong> Spiegel <strong>der</strong><br />
Seele. In entsprechenden Patientenfragen<br />
wird das E<strong>in</strong>beziehen dieser seelischen<br />
Ebene <strong>in</strong> den Behandlungsprozess e<strong>in</strong>gefor<strong>der</strong>t.<br />
Schließlich weist e<strong>in</strong>e vierte Ebene auf<br />
die S<strong>in</strong>nhaftigkeit von Erkrankung. Hierher<br />
gehört das Beispiel e<strong>in</strong>es krebserkrankten<br />
Menschen, <strong>der</strong> die Arztkonsultation<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise beg<strong>in</strong>nt, dass er sich<br />
bereits gut <strong>in</strong>formiert <strong>und</strong> unterrichtet<br />
habe über viele mögliche Therapiekonzepte<br />
<strong>in</strong> konventionellen <strong>und</strong> komplementären<br />
Bereichen, aber nun wissen<br />
wolle, welchen S<strong>in</strong>n diese Erkrankung für<br />
ihn habe. E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s ausgewiesener<br />
Autor dieser Kategorie von Patientenfra-<br />
gen ist <strong>der</strong> langjährig an e<strong>in</strong>er Tuberkulose<br />
erkrankte Christian Morgenstern, <strong>der</strong><br />
hierzu die folgenden Worte fand:<br />
„Jede Krankheit hat ihren beson<strong>der</strong>en<br />
S<strong>in</strong>n; denn jede Krankheit ist e<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>igung:<br />
man muß nur herausbekommen,<br />
wovon <strong>und</strong> wozu. – Es gibt darüber annähernd<br />
sichere Aufschlüsse; aber die Menschen<br />
ziehen es vor, über h<strong>und</strong>erte <strong>und</strong><br />
tausende frem<strong>der</strong> Angelegenheiten zu<br />
lesen <strong>und</strong> zu denken, statt über ihre eigenen.<br />
Sie wollen die tiefen Hieroglyphen<br />
ihrer Krankheit nicht lesen lernen, sie<br />
<strong>in</strong>teressieren sich … noch weit mehr für<br />
das Spielzeug des Lebens als für se<strong>in</strong>en<br />
Ernst, als für ihren Ernst. – Hier<strong>in</strong> liegt die<br />
wahre Unheilbarkeit ihrer Krankheiten,<br />
im Mangel an <strong>und</strong> im Wi<strong>der</strong>willen gegen<br />
Erkenntnis, hier<strong>in</strong>, nicht im Bakteriologischen.“<br />
In diesen vier Fragen, die verbal o<strong>der</strong><br />
auch nonverbal <strong>in</strong> den Patientenkontakten<br />
aufleben können, f<strong>in</strong>den sich vier<br />
Ebenen wie<strong>der</strong>, die auf das Menschenverständnis<br />
<strong>der</strong> Anthroposophischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
weisen. Für den Patienten ist es dabei<br />
wesentlich, nicht nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche<br />
Beantwortung o<strong>der</strong> Kommentierung auf<br />
diese vier Kategorien von Fragestellungen<br />
zu bekommen. Vielmehr geht es ihm<br />
darum, <strong>in</strong> diesen verschiedenen Anliegen<br />
<strong>und</strong> Ebenen se<strong>in</strong>es Wesens wahrgenommen<br />
<strong>und</strong> angesprochen zu werden.<br />
Vier Kategorien von Patientenfragen:<br />
D am S<strong>in</strong>n orientiert<br />
D am Bef<strong>in</strong>den orientiert<br />
D prozessual orientiert<br />
D am Bef<strong>und</strong> orientiert<br />
77
78<br />
Gr<strong>und</strong>l<strong>in</strong>ien des Menschenverständnisses<br />
<strong>der</strong> Anthroposophischen<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Die e<strong>in</strong>drucksvolle Plastik „Der Buchleser“<br />
von Barlach (s. Abb. 4) weist <strong>in</strong> ihrer<br />
gegenständlichen Dimension auf den<br />
physischen Körper des Menschen. Es ist<br />
e<strong>in</strong> Bereich, <strong>der</strong> durch Maß, Zahl <strong>und</strong><br />
Gewicht beschreibbar ist <strong>und</strong> im Unter-<br />
Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
schied zu an<strong>der</strong>en Bereichen des menschlichen<br />
Wesens <strong>der</strong> Räumlichkeit angehört.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs weist bereits se<strong>in</strong>e Gestalt<br />
über die s<strong>in</strong>nenfällige, materielle Ebene<br />
h<strong>in</strong>aus. Barlach hätte die Gesichtsform<br />
sowohl <strong>in</strong> Gips, Ton, Bronze <strong>und</strong> vielen<br />
an<strong>der</strong>en Materialien herstellen können.<br />
Form ersche<strong>in</strong>t demzufolge als e<strong>in</strong> immaterielles<br />
Pr<strong>in</strong>zip, das lediglich für se<strong>in</strong>e<br />
Abb. 4: Ernst Barlach,<br />
Der Buchleser<br />
(1936) © Ernst BarlachL<strong>in</strong>zenzverwaltung<br />
Ratzeburg
Gr<strong>und</strong>l<strong>in</strong>ien des Menschenverständnisses <strong>der</strong> Anthroposophischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Ersche<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> materiellen Substanzausfüllung<br />
bedarf. Der Pathologe Wilhelm<br />
Doerr hat auf den Organismus bezogen<br />
diesen Tatbestand <strong>in</strong> den folgenden Worten<br />
zusammengefasst:<br />
„Der Organismus ist kausal unerklärbar,<br />
nicht weil er e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s verwickeltes<br />
chemisches Problem ist, ebensowenig<br />
weil er etwas metaphysisches wäre, son<strong>der</strong>n<br />
e<strong>in</strong>fach darum, weil an <strong>und</strong> für sich<br />
<strong>der</strong> Organismus ‚selber e<strong>in</strong>e eigenartige<br />
Denkform, e<strong>in</strong> Urbegriff ist, welche weitere<br />
Auflösung we<strong>der</strong> zuläßt noch bed<strong>in</strong>gt.‘<br />
… Denn Ordnung ist we<strong>der</strong> Kraft, noch<br />
Energie, noch Stoff. Sie bedarf aber dieser,<br />
um sich zu manifestieren …“ [Doerr<br />
1992].<br />
Im lebenden Organismus kennen wir<br />
im Unterschied zu <strong>der</strong> leblosen Welt primär<br />
ke<strong>in</strong>e fertige, unabän<strong>der</strong>liche Form<br />
o<strong>der</strong> Gestalt. Vielmehr herrscht hier<br />
Formverwandlung. Bezieht man <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
die embryonalen morphogenetischen,<br />
gestaltbildenden Prozesse mit e<strong>in</strong>,<br />
so ist die <strong>in</strong> ständigen Bildeprozessen<br />
bef<strong>in</strong>dliche Gestaltwerdung beson<strong>der</strong>s<br />
e<strong>in</strong>drücklich. Goethe unterscheidet <strong>in</strong><br />
diesem Zusammenhang zwischen Gestaltung<br />
als dem räumlich Gewordenen <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Bildung als den gestaltverän<strong>der</strong>nden<br />
<strong>und</strong> -hervorbr<strong>in</strong>genden Prozessen:<br />
„… Der Deutsche hat für den Komplex<br />
des Dase<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>es wirklichen Wesens<br />
das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem<br />
Ausdruck von dem Beweglichen, er<br />
nimmt an, dass e<strong>in</strong> Zusammengehöriges<br />
festgestellt, abgeschlossen <strong>und</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Charakter fixiert sei. Betrachten wir aber<br />
alle Gestalten, beson<strong>der</strong>s die organischen,<br />
so f<strong>in</strong>den wir, daß nirgend e<strong>in</strong> Bestehen-<br />
des, nirgend e<strong>in</strong> Ruhendes, e<strong>in</strong> Abgeschlossenes<br />
vorkommt, son<strong>der</strong>n daß vielmehr<br />
alles <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er steten Bewegung<br />
schwanke. Daher unsere Sprache das<br />
Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten<br />
als auch von dem Hervorgebrachtwerdenden<br />
gehörig genug zu brauchen<br />
pflegt. Wollen wir also e<strong>in</strong>e Morphologie<br />
e<strong>in</strong>leiten, so dürfen wir nicht<br />
von Gestalt sprechen, son<strong>der</strong>n, wenn wir<br />
das Wort brauchen, uns allenfalls dabei<br />
nur die Idee, den Begriff o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes<br />
denken. Das Gebildete wird<br />
zugleich wie<strong>der</strong> umgebildet, <strong>und</strong> wir<br />
haben uns, wenn wir e<strong>in</strong>igermassen zum<br />
lebendigen Anschauen <strong>der</strong> Natur gelangen<br />
wollen, selbst so beweglich <strong>und</strong> bildsam<br />
zu erhalten, nach dem Beispiele, mit<br />
dem sie uns vorgeht …“ [Ste<strong>in</strong>er 1982].<br />
Ste<strong>in</strong>er entwickelt h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong><br />
aufbauenden, <strong>in</strong> die Gestaltung führenden<br />
Prozesse des Organismus den Begriff<br />
<strong>der</strong> Bildekräfteorganisation. Dieser ist von<br />
e<strong>in</strong>er vitalistischen o<strong>der</strong> neovitalistischen<br />
Lebenskraftdef<strong>in</strong>ition klar zu unterscheiden.<br />
Es handelt sich gegenüber <strong>der</strong> Raumesdimension<br />
des physischen Körpers<br />
um se<strong>in</strong>e gestalthaft zusammenhängenden<br />
Bildeprozesse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitdimension.<br />
E<strong>in</strong>e dritte Ebene wird deutlich durch<br />
den Gesichtsausdruck des Menschen. In<br />
Mimik <strong>und</strong> Gestik verwirklicht sich e<strong>in</strong><br />
s<strong>in</strong>nfälliges Bild seelischen Erlebens. Es ist<br />
e<strong>in</strong>e unhörbare, wenngleich <strong>in</strong> je<strong>der</strong><br />
Menschenbegegnung deutlich vernehmbare<br />
Sprache <strong>der</strong> Seele, die sich <strong>in</strong> den<br />
Zügen <strong>und</strong> verän<strong>der</strong>lichen Ausdrucksformen<br />
des menschlichen Antlitzes wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>det.<br />
Die körperliche Ersche<strong>in</strong>ung des<br />
79
80<br />
Menschen weist somit nicht nur auf ihren<br />
anatomischen Aspekt o<strong>der</strong> ihre zurückliegenden<br />
Bildeprozesse, denen sie ihr So-<br />
Se<strong>in</strong> verdankt, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> jedem<br />
Augenblick auf die Offenbarung des Seelischen,<br />
das im Falle des „Buchlesers“ als<br />
kontemplativ nachdenkliche Seelenhaltung<br />
Bild geworden ist.<br />
Schließlich wird man im Erspüren des<br />
seelischen Wesens auf e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tentionales<br />
Moment aufmerksam. Der Blick kann sich<br />
wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Barlachschen Plastik mehr<br />
nach <strong>in</strong>nen wenden <strong>und</strong> den Augen<br />
e<strong>in</strong>en gedankenverlorenen Ausdruck geben,<br />
o<strong>der</strong> er kann sich aktiv fokussierend<br />
dem gegenüber bef<strong>in</strong>dlichen an<strong>der</strong>en<br />
Menschen zuwenden. Diese <strong>in</strong>nere lenkende<br />
Instanz, die fähig ist, Gedanken zu<br />
lenken, im Gefühlsleben zu erleben <strong>und</strong><br />
schließlich sich <strong>in</strong> Willensimpulsen zu<br />
verwirklichen, ist die Individualität, das<br />
Ich des Menschen. Es weist sich e<strong>in</strong>erseits<br />
durch Beständigkeit aus, <strong>in</strong>dem es den<br />
wechselnden Alltagsereignissen <strong>und</strong> auch<br />
Bef<strong>in</strong>dlichkeiten des Körpers als Zentrum<br />
des menschlichen Wesens erlebend gegenübersteht<br />
<strong>und</strong> auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />
als entwicklungsbereit <strong>und</strong> -fähig, <strong>in</strong>dem<br />
es als zukunftsoffenes, neue Fähigkeiten<br />
eroberndes Ich o<strong>der</strong> Persönlichkeit des<br />
Menschen ersche<strong>in</strong>t.<br />
Drei Schwellenmomente<br />
Wenn man das Schicksalsgeschenk hat,<br />
e<strong>in</strong>en Menschen im Sterben zu begleiten,<br />
so bleibt e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er E<strong>in</strong>druck <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Er<strong>in</strong>nerung. Es ist <strong>der</strong> Übergang des noch<br />
lebenden Organismus, <strong>der</strong> das seelisch-<br />
Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
geistige Wesen des Menschen trägt, <strong>in</strong> die<br />
sche<strong>in</strong>bar unverän<strong>der</strong>liche <strong>und</strong> erstarrende<br />
Formwirklichkeit des Leichnams. An<br />
dieser Grenze wird e<strong>in</strong>drücklich erfahrbar,<br />
welcher Unterschied besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Wirklichkeit des physischen Körpers, <strong>der</strong><br />
von <strong>der</strong> Lebensprozessualität verlassen<br />
worden ist, <strong>und</strong> dem lebendigen, von <strong>der</strong><br />
Lebensorganisation ergriffenen Leib.<br />
E<strong>in</strong>e ähnliche Erfahrung kann sich<br />
auf an<strong>der</strong>er Ebene im Zusammenhang<br />
mit dem Schlaf, dem kle<strong>in</strong>en Bru<strong>der</strong> des<br />
Todes, e<strong>in</strong>stellen. Begleitet man e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d<br />
beim E<strong>in</strong>schlafen, so beobachtet man, wie<br />
die von vielen Tagesereignissen <strong>und</strong> Erlebnissen<br />
erfüllte Seelenhaftigkeit langsam<br />
<strong>in</strong> das bewusstse<strong>in</strong>sferne Dunkel des<br />
Schlafes e<strong>in</strong>tritt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en lebenden Organismus<br />
zurücklässt. Mit jedem Erwachen<br />
ereignet sich das umgekehrte: Das<br />
Seelisch-Geistige ergreift se<strong>in</strong>en Leib. E<strong>in</strong>schlafen<br />
o<strong>der</strong> auch das Aufwachen markieren<br />
<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne die Grenze zwischen<br />
dem seelisch-geistigen Wesen <strong>und</strong><br />
dem lebendigen Organismus.<br />
Schließlich gibt es e<strong>in</strong> noch kle<strong>in</strong>eres<br />
seelisch-geistiges E<strong>in</strong>schlafen <strong>und</strong> Aufwachen:<br />
Der uns gegenübertretende Mensch<br />
kann geistesanwesend o<strong>der</strong> auch geistesabwesend<br />
wirken. Trotzdem er augensche<strong>in</strong>lich<br />
wach ersche<strong>in</strong>t, muss er nicht<br />
<strong>in</strong> demselben S<strong>in</strong>ne als geistig anwesend<br />
erlebt werden. E<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne „geistesabwesen<strong>der</strong>“<br />
Mensch kann augenblicklich<br />
bei entsprechen<strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
se<strong>in</strong>e unmittelbare Präsenz <strong>und</strong> Geistesgegenwart<br />
entwickeln. Dieses kle<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schlafen<br />
o<strong>der</strong> auch Aufwachen unserer<br />
geistigen Persönlichkeit weist als Schwellenerlebnis<br />
auf die Differenzierung zwi-
Vier Ebenen im Krankheitsbegriff am Beispiel <strong>der</strong> koronaren Herzerkrankung<br />
schen dem seelischen Wesen des Menschen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> geistigen Individualität.<br />
Vier Ebenen im Krankheitsbegriff<br />
am Beispiel <strong>der</strong><br />
koronaren Herzerkrankung<br />
Aus dem beschriebenen Menschenverständnis<br />
lassen sich die Aspekte h<strong>in</strong>sichtlich<br />
des Krankheitsbegriffes entwickeln.<br />
Die Koronare Herzerkrankung (KHK)<br />
wird <strong>in</strong> ihrer typischen kl<strong>in</strong>ischen Symptomatik<br />
auf e<strong>in</strong>en koronar-morphologischen<br />
Bef<strong>und</strong> bezogen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stenosierung<br />
<strong>der</strong> Koronargefäße bestehen kann<br />
<strong>und</strong> durch die Koronarangiographie objektivierbar<br />
ist. Es handelt sich hier um<br />
die <strong>in</strong> die Räumlichkeit projizierte Manifestation<br />
<strong>der</strong> KHK, um die Ebene des<br />
quantifizierbaren Bef<strong>und</strong>es. Von dieser<br />
räumlichen Gestalt <strong>der</strong> Erkrankung ist als<br />
zweite Ebene ihre zeitliche Dimension,<br />
zeitliche Gestalt abzugrenzen. Je<strong>der</strong> augenblicksartig<br />
feststellbare koronarmorphologische<br />
Bef<strong>und</strong> ist Ergebnis e<strong>in</strong>es verursachenden<br />
Krankheitsprozesses, <strong>der</strong><br />
sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit entwickelt <strong>und</strong> demzufolge<br />
nicht durch den augenblicksartig herausgegriffenen,<br />
momentanen Krankheitsbef<strong>und</strong><br />
beschrieben werden kann.<br />
Im Falle <strong>der</strong> KHK lassen sich e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />
von Phänomenen dieses Krankheitsprozesses<br />
zusammenfassen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er chronischen,<br />
zur Atherosklerose führenden Entzündung.<br />
Dabei handelt es sich nicht um<br />
das akute fiebrig-durchwärmende entzündliche<br />
Geschehen, son<strong>der</strong>n um den<br />
hierzu polaren, <strong>in</strong> die Sklerose führenden<br />
Krankheitsprozess.<br />
Für e<strong>in</strong>e umfassende Beschreibung <strong>der</strong><br />
Erkrankung ist die dritte, seelische Ebene<br />
e<strong>in</strong>zubeziehen. E<strong>in</strong>e Vielzahl seelischer<br />
E<strong>in</strong>flussfaktoren ist hier für die KHK<br />
herausgearbeitet worden [Rozanski et al.<br />
2004; Rosengren et al. 2004]. Angst, Depressivität<br />
gehen genauso mit e<strong>in</strong>er Risikoerhöhung<br />
e<strong>in</strong>her wie soziale Isolation<br />
<strong>und</strong> biografische Perspektivlosigkeit. Therapeutische<br />
Verfahren, die sich schwerpunktmäßig<br />
nicht auf e<strong>in</strong>e pharmakologische<br />
Intervention im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er pathogenetischen<br />
Vorstellungsweise beziehen,<br />
son<strong>der</strong>n salutogenetische Ressourcen des<br />
Erkrankten mobilisieren im S<strong>in</strong>ne von<br />
Verän<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> Verwandlung dieses seelischen<br />
Feldes, führen – zwischenzeitlich<br />
gut dokumentiert – zu e<strong>in</strong>er annähernd<br />
vergleichbaren Wirksamkeit [Kolenda<br />
2003]. In den Schwerpunktsetzungen <strong>und</strong><br />
den therapeutischen „Strategien“ bezüglich<br />
<strong>der</strong> KHK wird gegenwärtig sowohl auf<br />
<strong>der</strong> Angebotsseite wie auch h<strong>in</strong>sichtlich<br />
<strong>der</strong> Erstattung e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong> pathogenetisch<br />
orientierter Therapieansatz <strong>und</strong><br />
nicht <strong>in</strong> vergleichbarem Ausmaß e<strong>in</strong> salutogenetisch<br />
orientierter favorisiert.<br />
Medikamentöse Therapiestrategien<br />
können e<strong>in</strong>e Regression <strong>der</strong> Erkrankung<br />
<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gere Ausprägungsgrade erreichen.<br />
Sie führen damit die Krankheit vergleichsweise<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> vergangenes, <strong>der</strong> jetzigen<br />
Manifestation vorausgehendes Erkrankungsstadium<br />
zurück. Der pathogenetisch<br />
orientierte Therapieansatz ersche<strong>in</strong>t<br />
unter diesem Aspekt „vergangenheitsorientiert“.<br />
Ihm steht <strong>der</strong> salutogenetische<br />
Therapieansatz gegenüber, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwandlung<br />
des Lebensstils <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren<br />
seelisch-geistigen Konstitution den<br />
81
82<br />
Patienten zum aktiven Mitgestalter im<br />
Ges<strong>und</strong>ungsprozess werden lässt <strong>und</strong> ihn<br />
als sich entwickelndes, zukunftsfähiges<br />
Wesen e<strong>in</strong>bezieht. Bei kaum e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en<br />
Erkrankung ist es nach <strong>der</strong> vorliegenden<br />
Studienlage gelungen, die durchaus<br />
vergleichbare Wirksamkeit bei<strong>der</strong> therapeutischer<br />
Vorgehensweisen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sek<strong>und</strong>ärprävention<br />
zu dokumentieren [Kolenda<br />
2003]. Die pathogenetisch orientierte<br />
Therapie fokussiert E<strong>in</strong>flussgrößen<br />
<strong>und</strong> Risikofaktoren <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> ihrer<br />
Wirkung als kausal e<strong>in</strong>gestufte „causa<br />
externa“ [Virchow]. Das salutogenetische<br />
Therapiekonzept setzt demgegenüber an<br />
denjenigen Kräften <strong>und</strong> Ressourcen des<br />
Menschen an, die als krankheits-überw<strong>in</strong>dende,<br />
heilende Kräfte gekennzeichnet<br />
werden können. „Das Heilen besteht<br />
eben dar<strong>in</strong>, dass man dasjenige, was im<br />
Organismus als ursprüngliche Heilkraft<br />
schon vorhanden ist, durch äußere Mittel<br />
unterstützt“ [Ste<strong>in</strong>er 1998].<br />
Durch die <strong>in</strong>nere Aktivität, die im S<strong>in</strong>ne<br />
<strong>der</strong> Mitgestaltung am Ges<strong>und</strong>ungsprozess<br />
von dem Erkrankten aufgerufen werden<br />
kann, wird auf die vierte Ebene<br />
gewiesen. Es ist diejenige <strong>der</strong> Individualität,<br />
des geistigen Wesens des Menschen.<br />
Je mehr <strong>der</strong>en Wirksamkeit sich nicht<br />
entfalten kann, je mehr e<strong>in</strong>e stressbeladene<br />
Lebensgestaltung e<strong>in</strong> von äußeren Faktoren<br />
gestaltetes, rollenartiges Funktionieren<br />
anstelle e<strong>in</strong>er durch die Persönlichkeit<br />
aktiv ergriffenen Lebensführung<br />
tritt, um so mehr kann sich <strong>in</strong> vieler<br />
Beziehung Krankheit entwickeln. Diese<br />
wird damit als e<strong>in</strong>geschränkte Zukunftsperspektive<br />
des Menschen charakterisierbar,<br />
Heilung im umgekehrten S<strong>in</strong>ne <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Eroberung e<strong>in</strong>er erneuten Zukunftsoffenheit<br />
(s. Beitrag Schad <strong>in</strong> diesem Heft). Zu<br />
e<strong>in</strong>em umfassenden Verständnis <strong>der</strong><br />
Krankheit gehört somit <strong>der</strong> Blick auf die<br />
Individualität des Erkrankten. Dieser<br />
kann sich durch die charakterisierten vier<br />
Aspekte se<strong>in</strong>es Erkrankens als gesamthaft<br />
wahrgenommen erfahren. Es entsteht<br />
hierdurch e<strong>in</strong>e vertiefte Qualität im Zusammenwirken<br />
von Patient <strong>und</strong> Arzt, die<br />
ausgehend von e<strong>in</strong>er Begegnung zu e<strong>in</strong>er<br />
therapeutischen Beziehung gestaltet werden<br />
kann.<br />
Vier Ebenen im Therapiekonzept<br />
am Beispiel <strong>der</strong><br />
Krebserkrankung<br />
Die charakterisierten vier Ebenen im<br />
Krankheitsverständnis begründen e<strong>in</strong>en<br />
vierfachen therapeutischen Zugang zum<br />
erkrankten Menschen. E<strong>in</strong> für die anthroposophische<br />
<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wesentliches Beispiel<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Zusammenhang die<br />
onkologischen Erkrankungen.<br />
Ergibt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> bildgebenden Diagnostik<br />
<strong>und</strong> nachfolgenden Stanzbiopsie<br />
die Diagnose e<strong>in</strong>es Mammakarz<strong>in</strong>oms, so<br />
ist damit die erste bef<strong>und</strong>orientierte <strong>und</strong><br />
auf die räumliche Ebene bezogene Krankheitsmanifestation<br />
beschrieben. Sie kann<br />
entsprechend <strong>der</strong> operativen Intervention<br />
zugeführt werden.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus stellt sich diese Manifestation<br />
e<strong>in</strong>es Mammakarz<strong>in</strong>oms <strong>in</strong> die<br />
zeitliche Dimension des Krankheitsprozesses.<br />
Nimmt man e<strong>in</strong>e Tumorgröße von<br />
1 cm an, so ergibt sich bei e<strong>in</strong>er modellartig<br />
vorausgesetzten durchschnittlichen
Vier Ebenen im Therapiekonzept am Beispiel <strong>der</strong> Krebserkrankung<br />
Tumorverdoppelungszeit von 100 Tagen<br />
(die diesbezüglichen Grenzwerte werden<br />
mit 23 <strong>und</strong> 209 Tagen beschrieben [Meuret<br />
1995]) e<strong>in</strong>e Entwicklungszeit dieses<br />
Tumors von ca. 10 Jahren. E<strong>in</strong> langer Abschnitt<br />
menschlicher Biografie mit vielen<br />
letztlich noch unbekannten E<strong>in</strong>flussfaktoren<br />
h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Tumorerkrankung<br />
hat sich <strong>in</strong> den Organismus e<strong>in</strong>geschrieben.<br />
E<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Bedeutung sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong><br />
diesem Zusammenhang den entzündlichen<br />
Erkrankungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anamnese<br />
zuzukommen. Seit ca. 100 Jahren wird<br />
verschiedentlich – so auch von Ste<strong>in</strong>er –<br />
auf die Gegenläufigkeit von Entzündung<br />
<strong>und</strong> maligner Erkrankung h<strong>in</strong>gewiesen<br />
[Albonico 1998; Becker et al.]. Auch die<br />
kürzlich beschriebene Assoziation <strong>der</strong><br />
antibiotischen Therapie mit dem Mammakarz<strong>in</strong>om-Risiko<br />
sche<strong>in</strong>t auf diesen<br />
Zusammenhang zu weisen [Velicier et al.<br />
2004]. Diesen Gedanken zugr<strong>und</strong>e gelegt,<br />
ersche<strong>in</strong>en die Erkrankungen des Patienten<br />
nicht als e<strong>in</strong>e akzidentelle <strong>und</strong> zufällig<br />
entstandene Reihe von korrekturbedürftigen<br />
„Fehlfunktionen“, son<strong>der</strong>n<br />
sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren, die Biografie<br />
des Menschen zeitlich umfassenden<br />
Zusammenhang zu stehen. Offenbar ist es<br />
nicht gleichgültig, wie fieberhafte Erkrankungen<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheit <strong>und</strong><br />
ersten Lebenshälfte durchgemacht werden<br />
h<strong>in</strong>sichtlich des Auftretens von malignen<br />
Erkrankungen im späteren Leben.<br />
Auch hier sche<strong>in</strong>t die zweifelsohne lästige<br />
<strong>und</strong> z.T. auch durch mögliche Komplikationen<br />
belastete febril-entzündliche Erkrankung<br />
ihren salutogenetischen Aspekt<br />
zu dokumentieren. Wirksame Maßnahmen<br />
<strong>der</strong> Infekt-„Bekämpfung“ müssen<br />
vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> nicht gleichermaßen<br />
die nachhaltig wirksamen therapeutischen<br />
Vorgehensweisen se<strong>in</strong>. Kienle<br />
hat vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> schon früh<br />
zwischen Wirkung im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es akut<br />
e<strong>in</strong>tretenden Effektes <strong>und</strong> <strong>der</strong> längerfristigen<br />
Wirksamkeit unterschieden [Kienle<br />
1974].<br />
Die Gegenläufigkeit von Entzündung<br />
<strong>und</strong> maligner Erkrankung erschließt sich<br />
dem prozessualen Krankheitsverständnis.<br />
Das Karz<strong>in</strong>om als epitheliale Neoplasie<br />
entwickelt sich an Oberflächenstrukturen<br />
des Organismus. Diese können selbstverständlich<br />
als e<strong>in</strong>gestülpte Oberflächen<br />
wie beispielsweise <strong>in</strong> den exokr<strong>in</strong>en Drüsen<br />
<strong>der</strong> Mamma o<strong>der</strong> auch des Gastro<strong>in</strong>test<strong>in</strong>altraktes<br />
ersche<strong>in</strong>en. Von diesen<br />
oberflächlichen Strukturen ausgehend,<br />
entwickelt sich das Karz<strong>in</strong>om im S<strong>in</strong>ne<br />
<strong>der</strong> malignen Infiltration mit Durchbrechung<br />
<strong>der</strong> Basalmembran <strong>und</strong> Infiltration<br />
<strong>in</strong> das umgebende Gewebe <strong>und</strong> schließlich<br />
lymphogener als auch hämatogener<br />
Metastasierung vergleichsweise nach<br />
<strong>in</strong>nen, nach zentripetal. Die umgekehrte<br />
Krankheitsausrichtung f<strong>in</strong>det sich bei <strong>der</strong><br />
Entzündung. Kommt es hier zu e<strong>in</strong>em<br />
ebenfalls an <strong>der</strong> Oberfläche des menschlichen<br />
Organismus sich ausbildenden<br />
Entzündungsprozesses, so weist dessen<br />
Dynamik zentrifugal nach außen, <strong>in</strong>dem<br />
beispielsweise e<strong>in</strong> Fremdkörper dieser Dynamik<br />
folgend den Weg nach außen f<strong>in</strong>den<br />
kann. Im Falle e<strong>in</strong>es ungenügenden<br />
zentrifugalen Krankheitsprozesses kommt<br />
es zu e<strong>in</strong>er Abgrenzung vom Organismus<br />
durch die E<strong>in</strong>kapselung im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong><br />
Fremdkörperreaktion. Auch an diesem<br />
Beispiel prozessualer Krankheitsbetrach-<br />
83
84<br />
tung zeigt sich <strong>der</strong> Gegensatz von Entzündung<br />
<strong>und</strong> Karz<strong>in</strong>om. Hier setzt nun e<strong>in</strong><br />
weiteres Therapiepr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>. Rudolf Ste<strong>in</strong>er<br />
hat für die Therapie onkologischer<br />
Erkrankungen die Anwendung von Mistelextrakten<br />
<strong>in</strong> spezieller Zubereitung<br />
empfohlen. Therapeutische Zielsetzung<br />
ist bei dieser Vorgehensweise die Unterstützung<br />
<strong>der</strong> entzündungsverwandten,<br />
salutogenetischen Reaktionsweise des<br />
Menschen. Die zwischenzeitlich verschiedentlich<br />
dokumentierten <strong>in</strong>flammatorischen,<br />
immunstimulierenden o<strong>der</strong> auch<br />
immunmodulierenden Wirkungen wie<br />
auch die Möglichkeit <strong>der</strong> Apoptose<strong>in</strong>duktion<br />
<strong>und</strong> Hemmung <strong>der</strong> Neoangiogenese<br />
ordnen sich als Detailphänomene dem<br />
gesamthaft begriffenen Wirkungsspektrum<br />
<strong>der</strong> Mistel e<strong>in</strong> [Kienle et al. 2003].<br />
Die zu dieser Therapieform vorliegende<br />
Studienlage ist entsprechend <strong>der</strong> Metaanalyse<br />
von Kienle <strong>und</strong> Kiene nachstehend<br />
aufgeführt (s. Tab. 1).<br />
Der Krankheitsprozess kann selbstverständlich<br />
auch <strong>in</strong>hibitorisch supprimiert<br />
werden. Dieser Therapieansatz liegt <strong>der</strong><br />
Anwendung <strong>der</strong> zytotoxischen Substanzen<br />
im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> <strong>in</strong> neoadjuvanter, adjuvanter<br />
o<strong>der</strong> palliativer Indikation e<strong>in</strong>gesetzten<br />
Chemotherapie zugr<strong>und</strong>e. Auf die<br />
Bewertung dieser Therapieform beziehen<br />
sich zahlreiche Patientenfragen. Ähnlich<br />
wie es für die Misteltherapie gilt, ist auch<br />
hier e<strong>in</strong>e klare Bewertung von Grenzen<br />
<strong>und</strong> Möglichkeiten, die sich vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />
unterschiedlicher Tumorentitäten<br />
ganz verschieden darstellen, erfor<strong>der</strong>lich.<br />
Der Patient hat das Recht auf die<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen ärztlichen<br />
Urteilskraft, die aus e<strong>in</strong>er leitl<strong>in</strong>ien-<br />
Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
geführten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> mit ihm zusammen<br />
die Individualisierung <strong>der</strong> therapeutischen<br />
Maßnahme entwickelt. Vor diesem<br />
H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> können Verbesserungen des<br />
„over all survivals“ nach 10 Jahren bei<br />
adjuvanter Therapie bei Mammakarz<strong>in</strong>om<br />
bei unter 50-jährigen Patient<strong>in</strong>nen<br />
zwischen 7% <strong>und</strong> 11% <strong>und</strong> über 50-jährigen<br />
Patient<strong>in</strong>nen zwischen 2% <strong>und</strong> 3%<br />
e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e beachtliche Zahl von geretteten<br />
Menschenleben (von 100 erkrankten<br />
<strong>und</strong> behandelten Frauen s<strong>in</strong>d es z.B.<br />
11) bedeuten, an<strong>der</strong>erseits aber auch die<br />
große Anzahl vergeblich behandelter<br />
Patient<strong>in</strong>nen verdeutlichen, die nahezu<br />
90% erreicht (Multi-agent chemotherapie<br />
for early breast cancer) [Cochrane Review<br />
2002]. Der pathogenetisch orientierte<br />
Therapieansatz wird auch unter dem<br />
anthroposophischen Menschenverständnis<br />
nicht abgelehnt. Die chemotherapieassoziierten<br />
Nebenwirkungen <strong>und</strong> auch<br />
das Cancer fatigue-Syndrom können, wie<br />
kürzlich gezeigt, positiv durch die ergänzend<br />
durchgeführte Misteltherapie bee<strong>in</strong>flusst<br />
werden [Piao et al. 2004].<br />
Die seelische Ebene <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erkrankung<br />
leitet auf e<strong>in</strong>en dritten therapeutischen<br />
Schwerpunkt über. Obgleich es nicht<br />
möglich ist, vere<strong>in</strong>fachend <strong>und</strong> über die<br />
verschiedensten Tumorentitäten h<strong>in</strong>weg<br />
verallgeme<strong>in</strong>ernd von e<strong>in</strong>er „Krebspsyche“<br />
zu sprechen, so werden doch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
täglichen Begegnung mit onkologischen<br />
Patienten Beson<strong>der</strong>heiten <strong>in</strong> ihrem seelischen<br />
Wesen beobachtbar. Sicher ist es<br />
schwer, zwischen reaktiven Verän<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong><br />
Tumorerkrankung <strong>und</strong> vorbestehenden<br />
Beson<strong>der</strong>heiten im Seelischen des Men-
Vier Ebenen im Therapiekonzept am Beispiel <strong>der</strong> Krebserkrankung<br />
Tab. 1: Kl<strong>in</strong>ische Studien zur Misteltherapie [nach: Kienle GS, Berr<strong>in</strong>o F, Buss<strong>in</strong>g A, Portalupi<br />
E, Rosenzweig S, Kiene H. Mistletoe <strong>in</strong> cancer – a systematic review on controlled cl<strong>in</strong>ical<br />
trials. Eur J Med Res (2003) 8, 109–119]<br />
Autor Ergebnis Qualitätskriterien erfüllt<br />
Studien mit anthroposophischen Mistelpräparaten<br />
A) B) C) D) E) F) G) H) I) J) K) Pat.zahl<br />
Grossarth 2001 signifikant + + - (-) + + + (-) + + - 34 0%<br />
Dold 1991 trend, trend,<br />
signifikant<br />
+ + - - + (-) + (+) + + (-) 337 17%<br />
Grossarth 2001 signifikant + + - (-) + (-) + (-) + + - 78 20%<br />
Salzer 1991 trend + (+) - (-) (+) (-) + (+) (+) + - 210 16%<br />
Douwes 1986 trend + - - (-) + + + + - (+) - 60 0%<br />
Gutsch 1988 signifikant + - - (-) + (-) + + (+) + - 677 20%<br />
Jach 1999 trend + - - (-) + + + (+) (-) (-) - 60 0%<br />
Salzer 1979, 1983 signifikant + - - (-) + - + + (+) (+) - 137 57%<br />
Salzer 1987 trend + (+) - (-) + - + - - - - 50 48%<br />
Eggermont 2001 trend + - - (-) (-) (-) (+) - - - (+) k.A. 3 k.A. 4<br />
(1:21)<br />
Studien mit nicht-anthroposophischen Mistelpräparaten<br />
Steuer-Vogt 2001 ke<strong>in</strong> Effekt + (+) - + + (-) + + + (+) (+) 477 29%<br />
Goebell 2002 ke<strong>in</strong> Effekt + - - (+) + + + (+) + + - 45 2%<br />
He<strong>in</strong>y 1991 signifikant + - (-) (-) + (+) + (+) + + - 40 13%<br />
He<strong>in</strong>y 1997 signifikant,<br />
ke<strong>in</strong> Effekt<br />
+ - - (-) + - + + (+) (+) - 79 26%<br />
Lenartz 1996, signifikant + - - (-) + - + - (+) (+) - 35 26%<br />
2000<br />
(38)<br />
Br<strong>in</strong>kmann 2000 ke<strong>in</strong> Effekt2 + k.A. - k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. 176 k.A.<br />
A: Schutz vor Selektionsbias, vor allem durch adäquate Randomisation<br />
B: M<strong>in</strong>imierung <strong>der</strong> Heterogenität durch Prästratifikation o<strong>der</strong> Match<strong>in</strong>g<br />
C: Schutz vor Beobachterbias durch Verbl<strong>in</strong>dung des Patienten, Arztes <strong>und</strong> Untersuchers<br />
D: Schutz vor Behandlungsbias durch Standardisierung des Behandlungsprotokolls, Dokumentation aller Ko-Interventionen, Verbl<strong>in</strong>dung<br />
von Patient <strong>und</strong> Arzt<br />
E: Schutz vor Untersuchungs(detection)bias durch Standardisierung <strong>der</strong> Untersuchung<br />
F: Schutz vor Attrition Bias: (Verlustbias) verlorenen Patienten
86<br />
schen zu unterscheiden, die e<strong>in</strong>e zur<br />
Erkrankung h<strong>in</strong>führende Bedeutung haben.<br />
Die Bedeutung seelischer Faktoren<br />
für die Krebskrankheit wird seit langer<br />
Zeit immer wie<strong>der</strong> erwähnt. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
fasste es <strong>der</strong> Londoner Chirurg<br />
Sir James Paget <strong>in</strong> die folgenden Worte:<br />
„Die Fälle, bei denen es nach tiefen Ängsten,<br />
unerfüllten Hoffnungen <strong>und</strong> großen<br />
Enttäuschungen zum Auftreten o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Verschlimmerung e<strong>in</strong>er Krebserkrankung<br />
kommt, s<strong>in</strong>d so häufig, dass wir kaum<br />
Zweifel hegen können, dass die seelische<br />
Depression zu jenen E<strong>in</strong>flüssen gehört,<br />
die das Entstehen des Krebszustandes för<strong>der</strong>n“<br />
[LeShan 2000]. Wesentliche weitere<br />
Beobachtungen stammen von Lawrence<br />
LeShan. Von den zahlreichen nachfolgenden<br />
Arbeiten sei <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die von<br />
Brenda et al. [1998] herausgehoben, die<br />
bei prospektivem Studiendesign e<strong>in</strong>e<br />
erhöhte Inzidenz von Krebserkrankungen<br />
bei alten Menschen mit zurückliegen<strong>der</strong>,<br />
mehrjähriger depressiver Stimmungslage<br />
gef<strong>und</strong>en hat.<br />
Das seelische Erleben des Menschen<br />
kann im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Atmungsprozesses<br />
verstanden werden. Die rezeptive Seelenhaltung<br />
entspricht dabei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>atmenden<br />
Geste, während die expressive, sich<br />
nach außen wendende seelische Aktivität<br />
durch e<strong>in</strong>e seelische „Ausatmung“ charakterisiert<br />
ist. Für jeden <strong>in</strong>dividuellen<br />
Menschen sche<strong>in</strong>t es e<strong>in</strong>e unterschiedliche<br />
„Atemmittellage“ zu geben, die e<strong>in</strong>mal<br />
mehr die E<strong>in</strong>atmung, das an<strong>der</strong>e Mal<br />
die Ausatmung betont. In manchen<br />
Patientenbegegnungen kann <strong>der</strong> oftmals<br />
<strong>und</strong> von Erkrankten bestätigte E<strong>in</strong>druck<br />
e<strong>in</strong>er vermehrten seelischen E<strong>in</strong>atmung<br />
Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
entstehen. Vieles wird seelisch aufgenommen<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong> das Innere geführt <strong>und</strong> nur<br />
weniges <strong>in</strong> die emotional expressive Ausatmung<br />
geleitet. Auch hier sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong><br />
krebserkrankte Mensch e<strong>in</strong>e dem Krankheitsprozess<br />
entsprechende nach <strong>in</strong>nen<br />
<strong>und</strong> zentripetal weisende Geste zu entwickeln,<br />
<strong>der</strong> die seelische „Enzündungsfähigkeit“<br />
als zentrifugale Qualität nicht <strong>in</strong><br />
gleicher Weise gegenübersteht. In diesem<br />
S<strong>in</strong>ne lässt sich auf mehreren Ebenen <strong>der</strong><br />
konstitutionellen Charakterisierung die<br />
aufnehmende, wahrnehmende <strong>und</strong> hier<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>nesorgan vergleichbare<br />
Qualität f<strong>in</strong>den. Ste<strong>in</strong>er charakterisiert die<br />
Krebserkrankung als „S<strong>in</strong>nesorganbildetendenz<br />
am falschen Ort“ [Ste<strong>in</strong>er 1994]<br />
<strong>und</strong> damit als e<strong>in</strong>en Prozess, <strong>der</strong> mit dem<br />
Dargestellten <strong>in</strong> Zusammenhang steht.<br />
Die künstlerischen Therapien <strong>der</strong><br />
Anthroposophischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> die<br />
Bewegungstherapie <strong>der</strong> Heileurythmie<br />
können auch auf dieser <strong>in</strong>neren Ebene<br />
<strong>der</strong> Krebserkrankung ansetzen <strong>und</strong> den<br />
Erkrankten zum Mitgestalter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />
Therapieverlauf e<strong>in</strong>beziehen. Besteht beispielsweise<br />
e<strong>in</strong>e wie hüllenlos imponierende<br />
Seelengeste, so können hüllebildende<br />
<strong>und</strong> den Patienten zu se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren<br />
Wesen führende therapeutische<br />
Bewegungen <strong>der</strong> Heileurythmie als Hilfestellung<br />
erlebt werden. Viele weitere Indikationen<br />
schließen sich gerade auf diese<br />
Therapieform bezogen für die Krebserkrankung<br />
an. Als e<strong>in</strong>drucksvoll <strong>und</strong> von<br />
den Patienten als ausgesprochen hilfreich<br />
e<strong>in</strong>gestuft wird die Maltherapie erlebt. In<br />
dem diagnostischen Erstbild (s. Abb. 5)<br />
zeigen sich <strong>in</strong> verschiedener Gestaltung<br />
die Dynamik e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>nerlich erschütter-
Vier Ebenen im Therapiekonzept am Beispiel <strong>der</strong> Krebserkrankung<br />
Abb. 5: AnthroposophischeKunsttherapie<br />
(Maltherapie):<br />
Erstbild e<strong>in</strong>er<br />
Patient<strong>in</strong> mit Mammakarz<strong>in</strong>om<br />
ten Seelenlebens. Durch e<strong>in</strong>en längeren,<br />
therapiebegleitenden Prozess können hier<br />
neue, Perspektiven öffnende Ebenen<br />
erobert werden, die – wie <strong>in</strong> Abbildung 6<br />
<strong>der</strong> gleichen Patient<strong>in</strong> mit Mammakarz<strong>in</strong>om<br />
erkennbar – zu e<strong>in</strong>er aufkeimenden<br />
pflanzenähnlichen Gestaltung führen,<br />
die sich dem lichterfüllten Umraum<br />
zuwendet. Die Wirksamkeit anthroposophischer<br />
Kunsttherapie bei unterschiedlichen<br />
Erkrankungen konnte <strong>in</strong> <strong>der</strong> sog.<br />
Amos-Studie dokumentiert werden [Hamre<br />
et al. 2004].<br />
Die vierte Therapieebene bezieht sich<br />
auf die unmittelbare Begegnung im<br />
Gespräch mit dem erkrankten Menschen.<br />
Unterschiedliche Themenschwerpunkte<br />
können hier <strong>in</strong>haltlich aufgegriffen werden.<br />
Zu ihnen gehören die Stellung <strong>der</strong><br />
Erkrankung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Biografie <strong>und</strong> ebenso<br />
die Möglichkeiten, die sich als „Ergebnis“<br />
<strong>und</strong> „Frucht“ <strong>der</strong> Erkrankung entwickeln.<br />
87
88<br />
Krankheit kann nicht nur als Ergebnis<br />
e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> die Vergangenheit weisenden<br />
Prozesses verstanden werden, son<strong>der</strong>n<br />
ebenso im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er „Geburtswehe“,<br />
die den Menschen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Entwicklung<br />
auf e<strong>in</strong>e neue Stufe <strong>und</strong> Entfaltungsmöglichkeit<br />
hebt. In diesem Zusammenhang<br />
s<strong>in</strong>d diejenigen Äußerungen von bereits<br />
schwer erkrankten Patienten e<strong>in</strong>drücklich,<br />
die von e<strong>in</strong>em Dank gegenüber ihrer<br />
Erkrankung berichten. In <strong>der</strong>artigen Ge-<br />
Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
Abb. 6: Bild <strong>der</strong><br />
Patient<strong>in</strong> im weiteren<br />
Therapieverlauf<br />
sprächen kann versucht werden, nicht<br />
nur auf die Schattenseiten <strong>der</strong> Krankheit<br />
zu blicken, son<strong>der</strong>n auch auf dasjenige<br />
Licht, auf das je<strong>der</strong> Schatten weist. Von<br />
manchen Patienten wird <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
die Frage nach e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren,<br />
meditativen Arbeit gestellt. Die <strong>in</strong>nere<br />
Stimmung, die <strong>in</strong> dem folgenden Gedicht<br />
von Christian Morgenstern als<br />
langjährig erkrankten Menschen beschrieben<br />
wird, kann zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren
Vier Ebenen im Therapiekonzept am Beispiel <strong>der</strong> Krebserkrankung<br />
Kraftquelle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewältigung mancher<br />
<strong>in</strong>nerer Herausfor<strong>der</strong>ung werden:<br />
Du Weisheit me<strong>in</strong>es höher’n Ich,<br />
Die über mir den Fittich spreitet<br />
Und mich von Anfang her geleitet<br />
Wie es am besten war für mich.<br />
Wenn Unmut oft mich anfocht – nun<br />
Es war <strong>der</strong> Unmut e<strong>in</strong>es Knaben,<br />
Des Mannes reife Blicke haben<br />
Die Kraft voll Dank auf Dir zu ruh’n.<br />
Durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Tätigkeit kann das<br />
ständige Grübeln <strong>und</strong> Kreisen <strong>der</strong> Gedanken<br />
um die immer wie<strong>der</strong>kehrenden Sorgen<br />
gelöst <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er tieferen Bes<strong>in</strong>nung<br />
zugeführt werden.<br />
Neben dieser meditativen Denktätigkeit<br />
kann e<strong>in</strong>e weitere Übung h<strong>in</strong>sichtlich<br />
<strong>der</strong> Willensentfaltung besprochen werden.<br />
Jedem Arzt ist die Bedeutung des<br />
<strong>in</strong>neren, positiven Willens für das Ges<strong>und</strong>en<br />
deutlich <strong>und</strong> vielfach erfahren worden.<br />
Nur zu gut er<strong>in</strong>nert man sich an diejenigen<br />
Augenblicke, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong> Patient<br />
die Entscheidung trifft, sich „aus dem<br />
Kämpfen zurückzuziehen“ mit <strong>der</strong> Folge<br />
rascher Verschlechterung <strong>und</strong> schließlich<br />
des Todesaugenblicks. Wesentlich ist e<strong>in</strong>e<br />
perspektivenerschließende, aber auch illusionsbefreite<br />
Gr<strong>und</strong>stimmung, die die<br />
weiteren Schritte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankheitsbewältigung<br />
begleitet.<br />
E<strong>in</strong> nächster Übungsschritt bezieht<br />
sich auf das Fühlen. Das Leben des krebserkrankten<br />
Menschen ist durch e<strong>in</strong>e meist<br />
<strong>in</strong>tensive Dynamik <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dungen<br />
<strong>und</strong> Gefühle gekennzeichnet, die zwischen<br />
Angst <strong>und</strong> Sorge, z.B. vor e<strong>in</strong>er<br />
nächst anstehenden Untersuchung e<strong>in</strong>es<br />
Restag<strong>in</strong>gs <strong>und</strong> Erleichterung <strong>und</strong> Hoffnung<br />
bei unauffälligen <strong>und</strong> erfreulichen<br />
Ergebnissen schwanken. Es ist e<strong>in</strong> ständiges<br />
Stehen an e<strong>in</strong>er Grenze, e<strong>in</strong>er vielfach<br />
als existenziell erlebten Bedrohung <strong>und</strong><br />
erfor<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e starke Kraft, sich die notwendige<br />
Besonnenheit erobern zu können.<br />
E<strong>in</strong> weiteres Übungsthema, das <strong>in</strong><br />
Gesprächen häufiger nachgefragt wird,<br />
bezieht sich auf das durch die Erkrankung<br />
o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erkrankung sich entwickelnde<br />
Positive. Manchmal ist es <strong>der</strong> glückliche<br />
Verlauf, <strong>der</strong> Kraft schenkt, manchmal die<br />
sich vertiefende Beziehung zum unmittelbaren<br />
menschlichen Umkreis, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
vorher nicht vergleichbaren Intensität<br />
entsteht, o<strong>der</strong> es s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>nerlich bemerkbare<br />
Entwicklungsschritte, die sich als<br />
Frucht <strong>der</strong> Erkrankung entwickeln.<br />
Schließlich verlangt die häufig anzutreffende<br />
Frage nach <strong>der</strong> Prognose im<br />
jeweiligen Erkrankungsstadium e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en<br />
Umgang im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er „Unbefangenheit“,<br />
die den <strong>in</strong>dividuellen Verlauf<br />
vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er statistisch<br />
zu erwartenden Lebenserwartung stellen<br />
kann.<br />
Es handelt sich bei diesen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
um „Übungsaufgaben“, die von<br />
Rudolf Ste<strong>in</strong>er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em umfassen<strong>der</strong>en<br />
Kontext als „Sechs Eigenschaften“ beschrieben<br />
worden s<strong>in</strong>d [Ste<strong>in</strong>er 1993].<br />
In diesem Themenkreis stellen sich<br />
selbstverständlich die Fragen von Sterben<br />
<strong>und</strong> Tod. Hier gilt es, an persönliche Auffassungen<br />
<strong>und</strong> Wertevorstellungen des<br />
Patienten anzuschließen <strong>und</strong> sie im geme<strong>in</strong>samen<br />
Gespräch zu reflektieren <strong>und</strong><br />
89
90<br />
ihnen mit den ärztlichen Erfahrungen<br />
e<strong>in</strong>er langjährigen Begleitung onkologisch<br />
erkrankter Patienten zu begegnen.<br />
Themen wie die Nahtod-Erfahrungen, die<br />
<strong>in</strong> mehreren Patientengesprächen patientenseits<br />
berichtet werden konnten o<strong>der</strong><br />
auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> beachtenswerten Studie von<br />
Lommel [Lommel 2001] untersucht worden<br />
s<strong>in</strong>d, helfen, weitere Perspektiven <strong>der</strong><br />
auch hier zukunftsfähigen menschlichen<br />
Individualität zu entwickeln. Vor dem<br />
H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> des charakterisierten Menschenverständnisses<br />
ist die ohne Frage<br />
bestehende Endlichkeit des körperlichen<br />
Se<strong>in</strong>s <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Fall zw<strong>in</strong>gend für e<strong>in</strong>e<br />
Endlichkeit des lebendigen, seelischen<br />
<strong>und</strong> geistigen Wesens des Menschen. Derartig<br />
unterschiedliche Se<strong>in</strong>sebenen haben<br />
ihre eigenen Entwicklungshorizonte. Erfasst<br />
man den Körper als Instrument, das<br />
<strong>der</strong> Individualität dient <strong>und</strong> sie zur Ersche<strong>in</strong>ung<br />
br<strong>in</strong>gt, so ist mit Wegfall dieses<br />
Instrumentes nicht von selbst auch se<strong>in</strong><br />
Benutzer aufgelöst. Vielmehr lässt sich<br />
<strong>der</strong> Gedanke e<strong>in</strong>er erneuten Verwirklichungsmöglichkeit<br />
mit e<strong>in</strong>em neuen<br />
Instrument denken, den Benjam<strong>in</strong> Frankl<strong>in</strong><br />
als 23-Jähriger für e<strong>in</strong>e Grab<strong>in</strong>schrift<br />
<strong>in</strong> die folgenden Worte fasst:<br />
„Hier ruht <strong>der</strong> Leib Benjam<strong>in</strong> Frankl<strong>in</strong>s,<br />
e<strong>in</strong>es Buchdruckers, als Speise für die<br />
Würmer, gleich dem Deckel e<strong>in</strong>es alten<br />
Buches, aus dem <strong>der</strong> Inhalt herausgenommen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> se<strong>in</strong>er Inschrift <strong>und</strong> Vergoldung<br />
beraubt ist … Doch wird das Werk<br />
selbst nicht verloren se<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>-<br />
Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />
male<strong>in</strong>st wie<strong>der</strong> ersche<strong>in</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neueren<br />
schöneren Ausgabe, durchgesehen<br />
<strong>und</strong> verbessert von dem Verfasser“ [Bock<br />
1981].<br />
Entwicklung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankheit<br />
Barlach hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em „Geisteskämpfer“<br />
(s. Abb. 7) e<strong>in</strong>e Plastik geschaffen, die <strong>in</strong><br />
künstlerischer Form die krankheitsüberw<strong>in</strong>denden<br />
Kräfte des Menschen zum<br />
Ausdruck br<strong>in</strong>gt. Das noch nicht Menschliche,<br />
son<strong>der</strong>n „Tierverwandte“ wird<br />
durch die engelsartige Gestalt nicht<br />
kämpferisch überw<strong>und</strong>en, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er ruhigen Gebärde, <strong>der</strong> jede Gewalt zu<br />
fehlen sche<strong>in</strong>t, verwandelt.<br />
Die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>der</strong> Gegenwart hat<br />
gelernt, Krankheit zu supprimieren, zu<br />
„blocken“ o<strong>der</strong> auch zu antagonisieren,<br />
aber nicht zu verwandeln. In den salutogenetischen<br />
Kräften <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> Krankheit kann <strong>der</strong> Mensch<br />
im Leiblichen, Seelischen <strong>und</strong> Geistigen<br />
verwandelnde Kräfte entfalten <strong>und</strong><br />
dadurch e<strong>in</strong>en neuen Schritt auf dem Entwicklungsweg<br />
<strong>der</strong> Individualität erobern.<br />
Krankheit stellt sich vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en engen Zusammenhang<br />
zur geistigen Wesenheit des Menschen,<br />
se<strong>in</strong>er Entelechie. Auf diesen weist Novalis<br />
mit den Worten: „Das Ideal e<strong>in</strong>er vollkommenen<br />
Ges<strong>und</strong>heit ist nur wissenschaftlich<br />
<strong>in</strong>teressant, Krankheit gehört<br />
zur Individualisierung“ [Novalis 1983].
Literatur<br />
Abb. 7: Ernst Barlach,<br />
Der Geisteskämpfer<br />
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Anthropologie. (1992)<br />
Fischer TB-Verlag, Frankfurt/Ma<strong>in</strong>
Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e<br />
komplementärmediz<strong>in</strong>ische Therapie – Homöopathie?<br />
Roland Baur<br />
Vom Veranstalter des Symposiums wurde<br />
zunächst <strong>der</strong> Begriff „<strong>Menschenbild</strong>“<br />
durch den Begriff „Menschenverständnis“<br />
ausgetauscht (Der Begriff <strong>Menschenbild</strong><br />
sei eher irreführend.). Des Weiteren<br />
wurde das Thema enger gefasst dadurch,<br />
dass das Verständnis vom Menschen an<br />
vier Punkten darzustellen sei:<br />
D am Krankheitsverständnis<br />
D an den Konsequenzen für diagnostisches<br />
<strong>und</strong> therapeutisches Handeln<br />
D an den unabd<strong>in</strong>gbaren Gr<strong>und</strong>lagen<br />
für e<strong>in</strong>e Verständigung mit dem<br />
Patienten<br />
D <strong>und</strong> zuletzt an den unabd<strong>in</strong>gbaren<br />
Gr<strong>und</strong>lagen für e<strong>in</strong>en gelungenen<br />
Dialog zwischen unterschiedlichen<br />
mediz<strong>in</strong>ischen Systemen.<br />
Zunächst sollen – aus guten Gründen –<br />
die Gr<strong>und</strong>lagen für e<strong>in</strong>e Verständigung<br />
mit dem Patienten <strong>und</strong> die Konsequenzen<br />
für diagnostisch-therapeutisches Vorgehen<br />
erörtert werden, bevor e<strong>in</strong>e Annäherung<br />
an das eigentliche Thema – Das<br />
Menschenverständnis <strong>der</strong> Homöopathie –<br />
erfolgt. Die Ausführungen beziehen sich<br />
im Wesentlichen auf Samuel Hahnemann<br />
(1755–1843), James Tyler Kent (1848–<br />
1916) <strong>und</strong> Edward Whitmont, e<strong>in</strong>em<br />
österreichisch-jüdischen homöopathischen<br />
Arzt <strong>und</strong> Psychotherapeuten, <strong>der</strong><br />
vor kurzem <strong>in</strong> Amerika verstarb.<br />
Wie sieht <strong>der</strong> Arzt den Patienten, wie<br />
<strong>der</strong> Patient den Arzt? (Wie <strong>der</strong> Mensch die<br />
Welt ansieht, so sieht die Welt ihn an<br />
[Hegel].) Aus <strong>der</strong> Begegnung des Arztes<br />
mit dem Patienten lassen sich erste Rückschlüsse<br />
auf das zugr<strong>und</strong>e liegende Menschenverständnis<br />
sowohl des Arztes als<br />
auch des Patienten wie auch auf die mediz<strong>in</strong>ische<br />
Methode ziehen. Ist <strong>der</strong> Patient<br />
K<strong>und</strong>e <strong>und</strong> König dazu? Ist <strong>der</strong> Arzt – <strong>in</strong>sgeheim<br />
vielleicht – ganz unbewusst Anhänger<br />
von Naunyn (1839–1925) „Mir ist<br />
sonnenklar, daß da, wo Wissenschaft<br />
(Naturwissenschaft) aufhört, nicht die<br />
Kunst anfängt, son<strong>der</strong>n rohe Empirie <strong>und</strong><br />
das Handwerk“ [Naunyn] o<strong>der</strong> von Virchow<br />
„Lebensersche<strong>in</strong>ungen, diese Tätigkeiten<br />
können nur mechanisch se<strong>in</strong>; vergeblich<br />
bemüht man sich, zwischen<br />
Leben <strong>und</strong> Mechanik e<strong>in</strong>en Gegensatz zu<br />
f<strong>in</strong>den“ (1858)? Sieht <strong>der</strong> Arzt den Menschen<br />
gar als Ebenbild Gottes, e<strong>in</strong>er z.B.<br />
biblischen Sicht folgend? Kommt die<br />
Krankheit von außen o<strong>der</strong> von <strong>in</strong>nen?<br />
O<strong>der</strong> sieht <strong>der</strong> Arzt den Patienten als leidenden<br />
Menschen, als Individuum, <strong>der</strong><br />
se<strong>in</strong>e Beschwerden berichten möchte, <strong>der</strong><br />
nach L<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>und</strong> Heilung sucht?<br />
Hahnemann sieht den Menschen<br />
dreigeglie<strong>der</strong>t. Diese Dreiglie<strong>der</strong>ung zeigt<br />
sich im kranken Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er körperlichen<br />
Symptomatik, e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en<br />
Symptomatik <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Geist- <strong>und</strong><br />
93
94<br />
Gemütssymptomatik. Um nun e<strong>in</strong> vollständiges<br />
Bild des Patienten <strong>und</strong> dessen<br />
Krankheit zu bekommen, s<strong>in</strong>d die Symptome<br />
nach § 7 Organon <strong>in</strong> ihrer Gesamtheit<br />
ausführlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anamnese zu erheben<br />
[Hahnemann]. Dazu gibt Hahnmann<br />
z.B. im § 83 ff. Organon genaue Anleitungen:<br />
„Unbefangenheit <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e S<strong>in</strong>ne,<br />
Aufmerksamkeit im Beobachten <strong>und</strong><br />
Treue im Aufzeichnen des Bildes <strong>der</strong><br />
Krankheit s<strong>in</strong>d vom Arzt gefor<strong>der</strong>t.“<br />
[Hahnemann] Die Anamnese ist die<br />
schwerste Arbeit des Arztes beim „Heben<br />
<strong>der</strong> Krankheit“ <strong>und</strong> gleichzeitig die wichtigste.<br />
Es ist die Kunst des Unterscheidens<br />
<strong>und</strong> für weiteres diagnostisches <strong>und</strong> vor<br />
allem therapeutisches Vorgehen Voraussetzung.<br />
Die Diagnostik, soweit notwendig,<br />
ist selbstverständlich.<br />
Bevor die Ausführungen zur Therapie<br />
erfolgen, die konsequenterweise <strong>in</strong>dividuell<br />
<strong>und</strong> nach Ähnlichkeitsbeziehungen zu<br />
erfolgen hat, sei unbed<strong>in</strong>gt darauf h<strong>in</strong>gewiesen,<br />
dass Hahnemann <strong>der</strong> Geist- <strong>und</strong><br />
Gemütssymptomatik des Kranken bei <strong>der</strong><br />
Arzneiwahl die größere Bedeutung zumaß<br />
[Hahnemann, § 24], wohlwissend, dass<br />
sich diese drei Ebenen berühren <strong>und</strong><br />
durchdr<strong>in</strong>gen (siehe hierzu auch Vortrag<br />
R. Ste<strong>in</strong>er vom 20.08.1911 [Ste<strong>in</strong>er]). Im<br />
Organon § 153 [Hahnemann] weist er daraufh<strong>in</strong>,<br />
dass eben die auffallenden, son<strong>der</strong>lichen,<br />
ungewöhnlichen <strong>und</strong> eigenheitlichen<br />
Zeichen <strong>und</strong> Symptome bei<br />
<strong>der</strong> Arzneiwahl zu beachten seien. Die<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Geist- <strong>und</strong> Gemütssymptomatik<br />
wird durch J.T. Kent nochmals<br />
hervorgehoben. Das ist deshalb erwähnenswert,<br />
weil über das Kentsche Repertorium<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> Deutschland die<br />
Menschenverständnis – Homöopathie<br />
Homöopathie wie<strong>der</strong> wesentlich auf die<br />
Hahnemannsche Ausrichtung zurückgeführt<br />
wurde. Der Gr<strong>und</strong>, weshalb <strong>in</strong> Amerika<br />
über die Svedenborgianer die Homöopathie<br />
so großen Anklang fand, lag<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorstellung, die Ähnlichkeitslehre<br />
Hahnemanns korrespondiere mit <strong>der</strong> Svedenborgschen<br />
Lehre von den Entsprechungen,<br />
dass die geistige Welt sich im<br />
Irdischen abbilde.<br />
Das Hervorheben <strong>der</strong> Geist- <strong>und</strong> Gemütssymptomatik<br />
hat se<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong> im<br />
Krankheitsverständnis <strong>der</strong> Homöopathie.<br />
Krankheiten s<strong>in</strong>d Bef<strong>in</strong>densverän<strong>der</strong>ungen<br />
des Ges<strong>und</strong>en, die sich durch Krankheitszeichen<br />
ausdrücken. Diese Bef<strong>in</strong>densverän<strong>der</strong>ungen<br />
werden durch e<strong>in</strong>e<br />
verstimmte geistige Lebenskraft, e<strong>in</strong> verstimmtes<br />
geistartiges Lebenspr<strong>in</strong>zip, bewirkt.<br />
Arzneien nun besitzen die geistartige<br />
Kraft, das auf Gefühlen, Denken <strong>und</strong><br />
Tätigkeiten beruhende Menschenbef<strong>in</strong>den<br />
umzustimmen; e<strong>in</strong>zig auf dieser Kraft<br />
beruhe ihre Heilkraft. Im Ges<strong>und</strong>en hält<br />
dieses geistartige Lebenspr<strong>in</strong>zip alle Körperteile<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bew<strong>und</strong>ernswürdigen,<br />
harmonischen Lebensganzen zusammen.<br />
„Alles, was den Menschen zusammen<br />
hält, ist geistiger Natur“, schreibt Hegel.<br />
Was nun die Lebenskraft verstimme,<br />
nennt Hahnemann e<strong>in</strong> krankmachendes<br />
Agens. Die Verstimmung zeigt sich <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Krankheit von Gefühlen <strong>und</strong> Tätigkeiten.<br />
(Es heißt wohlweislich Verstimmung<br />
<strong>und</strong> nicht Schwächung <strong>der</strong> Lebenskraft.)<br />
Wenn man nun Hahnemanns<br />
umfassenden Äußerungen zur Lebensführung<br />
kennt – Stichwort Heilungsh<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse<br />
–, so sei erlaubt, direkt an die zur<br />
Zeit geltende Neurosenlehre zu er<strong>in</strong>nern:
Menschenverständnis – Homöopathie<br />
Das Abgespaltene schwächt (verstimmt)<br />
<strong>und</strong> somatisiert letztlich. Im ges<strong>und</strong>en<br />
Zustand aber waltet die geistartige, als<br />
Dynam