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Menschenbild und Medizin.qxd - Dialogforum Pluralismus in der ...

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M.Girke /J.-D. Hoppe / P. F. Matthiessen / S. N. Willich (Hrsg.)<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong>


M. Girke / J.-D. Hoppe /<br />

P.F. Matthiessen / S.N. Willich (Hrsg.)<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Menschenbild</strong><br />

Das Verständnis des Menschen <strong>in</strong><br />

Schul- <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

Dargestellt vom<br />

<strong>Dialogforum</strong> <strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Mit 7 Abbildungen <strong>und</strong> 2 Tabellen<br />

Deutscher Ärzte-Verlag Köln


ISBN 3-7691-0514-1<br />

aerzteverlag.de<br />

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte<br />

bibliografische Daten s<strong>in</strong>d im Internet über<br />

http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />

Wichtiger H<strong>in</strong>weis:<br />

Die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> das Ges<strong>und</strong>heitswesen unterliegen<br />

e<strong>in</strong>em fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass<br />

alle Angaben immer nur dem Wissensstand zum<br />

Zeitpunkt <strong>der</strong> Drucklegung entsprechen können.<br />

Die angegebenen Empfehlungen wurden von Verfassern<br />

<strong>und</strong> Verlag mit größtmöglicher Sorgfalt erarbeitet<br />

<strong>und</strong> geprüft. Trotz sorgfältiger Manuskripterstellung<br />

<strong>und</strong> Korrektur des Satzes können Fehler nicht ausgeschlossen<br />

werden.<br />

Der Benutzer ist aufgefor<strong>der</strong>t, zur Auswahl sowie<br />

Dosierung von Medikamenten die Beipackzettel <strong>und</strong><br />

Fach<strong>in</strong>formationen <strong>der</strong> Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen<br />

<strong>und</strong> im Zweifelsfall e<strong>in</strong>en Spezialisten zu konsultieren.<br />

Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische<br />

<strong>und</strong> therapeutische Applikation, Medikation<br />

<strong>und</strong> Dosierung.<br />

Verfasser <strong>und</strong> Verlag übernehmen <strong>in</strong>folgedessen ke<strong>in</strong>e<br />

Verantwortung <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e daraus folgende o<strong>der</strong> sonstige<br />

Haftung für Schäden, die auf irgende<strong>in</strong>e Art aus <strong>der</strong><br />

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Die Wie<strong>der</strong>gabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen,<br />

Warenbezeichnungen usw. <strong>in</strong> diesem Werk<br />

berechtigt auch ohne beson<strong>der</strong>e Kennzeichnung nicht<br />

zu <strong>der</strong> Annahme, dass solche Namen im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong><br />

Warenzeichen- o<strong>der</strong> Markenschutz-Gesetzgebung als<br />

frei zu betrachten wären <strong>und</strong> daher von je<strong>der</strong>mann<br />

benutzt werden dürfen.<br />

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung<br />

<strong>in</strong> an<strong>der</strong>en als den gesetzlich zugelassenen Fällen<br />

bedarf deshalb <strong>der</strong> vorherigen schriftlichen Genehmigung<br />

des Verlages.<br />

Copyright ©2006 by<br />

Deutscher Ärzte-Verlag GmbH<br />

Dieselstraße 2, 50859 Köln<br />

Umschlagkonzeption: Hans Peter Willberg <strong>und</strong> Ursula<br />

Ste<strong>in</strong>hoff<br />

Titelgrafik: Bett<strong>in</strong>a Kulbe<br />

Satz: RPS Satzstudio GmbH, 40489 Düsseldorf<br />

Druck/B<strong>in</strong>dung: Warlich Druck, 53340 Meckenheim<br />

5 4 3 2 1 0 / 614


Inhaltsverzeichnis<br />

E<strong>in</strong>führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong> . . . . . . 9<br />

Wolfgang Wieland<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />

Wolfgang Schad<br />

Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />

Klaus Dörner<br />

Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong>: se<strong>in</strong>e Bedeutung für das ärztliche<br />

Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />

Hermann Heimpel<br />

Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e komplementärmediz<strong>in</strong>ische Therapie –<br />

Naturheilk<strong>und</strong>e? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />

Jörg Melzer, Re<strong>in</strong>hard Saller<br />

Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e komplementärmediz<strong>in</strong>ische Therapie –<br />

Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />

Matthias Girke<br />

Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e komplementärmediz<strong>in</strong>ische Therapie –<br />

Homöopathie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

Roland Baur<br />

Welches <strong>Menschenbild</strong> bestimmt das ärztliche Handeln im Āyurveda? . . . . . . . . . . . 99<br />

Ananda Samir Chopra<br />

Welches <strong>Menschenbild</strong> bestimmt das ärztliche Handeln <strong>in</strong> <strong>der</strong> Traditionellen<br />

Ch<strong>in</strong>esischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />

Stefan Kirchhoff<br />

Herausgeber- <strong>und</strong> Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />

V


E<strong>in</strong>führung<br />

Matthias Girke, Jörg-Dietrich Hoppe, Peter F. Matthiessen, Stefan N. Willich<br />

Hab Achtung vor dem <strong>Menschenbild</strong>,<br />

Und denke, daß, wie auch verborgen,<br />

Dar<strong>in</strong> für irgende<strong>in</strong>en Morgen<br />

Der Keim zu allem Höchsten schwillt!<br />

Hab Achtung vor dem <strong>Menschenbild</strong>,<br />

Und denke, daß, wie tief er stecke,<br />

E<strong>in</strong> Hauch des Lebens, <strong>der</strong> ihn wecke,<br />

Vielleicht aus de<strong>in</strong>er Seele quillt!<br />

Hab Achtung vor dem <strong>Menschenbild</strong>!<br />

Die Ewigkeit hat e<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>e,<br />

Wo jegliches dir e<strong>in</strong>e W<strong>und</strong>e<br />

Und, wenn nicht die, e<strong>in</strong> Sehnen stillt!<br />

(Christian Friedrich Hebbel, 1813–1863)<br />

Nach Umfragen des Instituts für Demoskopie<br />

Allensbach nehmen fast 70% <strong>der</strong><br />

Bevölkerung im Krankheitsfall komplementärmediz<strong>in</strong>ische<br />

bzw. naturheilk<strong>und</strong>liche<br />

Behandlungsverfahren <strong>in</strong> Anspruch<br />

[Häußermann 1997]. In e<strong>in</strong>er repräsentativen<br />

Bevölkerungsstudie gaben 57% aller<br />

Befragten an, <strong>in</strong> den letzten zwölf Monaten<br />

Naturheilverfahren <strong>in</strong> Anspruch genommen<br />

zu haben, auch Homöopathie<br />

<strong>und</strong> Akupunktur waren mit 10–20% Inanspruchnahme<br />

häufig vertreten [Härtel,<br />

Volger 2004]. Der im Sozialgesetzbuch V<br />

verankerte <strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

[SGB V 2005] bildet somit e<strong>in</strong> mehrheitliches<br />

Interesse <strong>der</strong> Bevölkerung ab.<br />

So unkompliziert sich die komb<strong>in</strong>ierte<br />

Inanspruchnahme sowohl schulmediz<strong>in</strong>i-<br />

scher als auch komplementärmediz<strong>in</strong>ischer<br />

Versorgungsangebote von Seiten<br />

<strong>der</strong> Patientenschaft offensichtlich erweist<br />

– systematische Informationen zu diesem<br />

Thema s<strong>in</strong>d lei<strong>der</strong> nur spärlich verfügbar<br />

–, so glaubenskriegartig präsentieren sich<br />

die diesbezüglichen Diskussionen noch<br />

immer <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> ärztlichen Zunft. Im<br />

Arzt-Patienten-Verhältnis führt dies oftmals<br />

zu Gesprächstabus mit <strong>der</strong> Folge,<br />

dass <strong>der</strong> Patient die von ihm an<strong>der</strong>norts<br />

<strong>in</strong> Anspruch genommenen komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />

Leistungsangebote dem<br />

schulmediz<strong>in</strong>isch arbeitenden Arzt nicht<br />

nennt. Im Interesse e<strong>in</strong>es transparenten<br />

Dialogs <strong>und</strong> e<strong>in</strong>es den Bedürfnissen des<br />

Patienten angemessenen Informationswesens<br />

ist hier die konstruktive Diskussion<br />

zwischen Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

gefor<strong>der</strong>t. Dies auch vor<br />

dem mediz<strong>in</strong>geschichtlichen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>,<br />

dass wesentliche Entdeckungen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wie etwa <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz von<br />

Digitalis bei Herz<strong>in</strong>suffizienz o<strong>der</strong> die<br />

Leistungen Semmelweis‘ h<strong>in</strong>sichtlich des<br />

K<strong>in</strong>dbettfiebers zunächst Außenseiterpositionen<br />

gewesen s<strong>in</strong>d.<br />

Der kritischen, ergebnisoffenen <strong>und</strong><br />

unvore<strong>in</strong>genommenen Begegnung unterschiedlicher<br />

mediz<strong>in</strong>ischer Denkansätze,<br />

Ausrichtungen <strong>und</strong> Systeme widmet sich<br />

seit dem Jahr 2000 das auf e<strong>in</strong>e Anregung<br />

von Prof. Dr. med. Dr. h. c. Jörg-Dietrich<br />

1


2<br />

Hoppe, Präsident <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esärztekammer,<br />

begründete „<strong>Dialogforum</strong> <strong>Pluralismus</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ [Willich et al. 2004].<br />

Zu dessen ersten Arbeitsschritten gehörte<br />

die an konkreten Patientenbeispielen vorgetragene<br />

<strong>und</strong> zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> Komparation<br />

gestellte Darstellung diagnostischer<br />

<strong>und</strong> therapeutischer Vorgehensweisen<br />

schulmediz<strong>in</strong>ischer <strong>und</strong> komplementärmediz<strong>in</strong>ischer<br />

Ansätze. E<strong>in</strong> nächster<br />

Schritt galt <strong>der</strong> Frage, anhand welcher Kriterien<br />

seriöse <strong>und</strong> verfolgenswerte komplementärmediz<strong>in</strong>ische<br />

Ansätze von fragwürdigen,<br />

unseriösen abzugrenzen s<strong>in</strong>d.<br />

Zur Beurteilung, ob e<strong>in</strong> Diskurs zwischen<br />

Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />

Methode möglich <strong>und</strong><br />

s<strong>in</strong>nvoll ist, wurden im <strong>Dialogforum</strong> drei<br />

Hauptkriterien zugr<strong>und</strong>e gelegt:<br />

1. Die komplementärmediz<strong>in</strong>ische Richtung<br />

muss <strong>in</strong> ihrem theoretischen<br />

Ansatz <strong>in</strong>tersubjektiv vermittelbar<br />

se<strong>in</strong> h<strong>in</strong>sichtlich des ihr zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

<strong>Menschenbild</strong>es sowie <strong>der</strong><br />

Rolle ihres Krankheitsverständnisses<br />

für die therapierichtungsimmanente<br />

therapeutische Zielsetzung.<br />

2. Die komplementärmediz<strong>in</strong>ische Richtung<br />

erweist sich als diskursbereit <strong>und</strong><br />

diskursfähig, kann daher <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Verhältnis<br />

zu an<strong>der</strong>en mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Systemen gesetzt werden <strong>und</strong> bef<strong>in</strong>det<br />

sich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlich isolierten<br />

Position.<br />

3. Die komplementärmediz<strong>in</strong>ische Richtung<br />

stellt sich <strong>der</strong> Frage e<strong>in</strong>er Nutzendokumentation<br />

<strong>und</strong> Wirksamkeitsbeurteilung.<br />

E<strong>in</strong>führung<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> wurde im April<br />

2003 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong> erstes Symposium veranstaltet,<br />

das <strong>der</strong> Darstellung unterschiedlicher<br />

Richtungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

diente. Im Mai 2004 ist <strong>der</strong> Initiativkreis<br />

durch e<strong>in</strong>en Artikel im Deutschen Ärzteblatt<br />

mit dem Titel „Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

Komplementärmediz<strong>in</strong> – Verständnis <strong>und</strong><br />

Zusammenarbeit müssen vertieft werden“<br />

erstmals <strong>in</strong> die Öffentlichkeit getreten<br />

[Willich et al. 2004]. Dieser Artikel hat<br />

vielfältige positive, allerd<strong>in</strong>gs auch wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />

Reaktionen <strong>und</strong> Resonanzen<br />

hervorgerufen. Der damalige B<strong>und</strong>espräsident<br />

Dr. h.c. Johannes Rau hat bei se<strong>in</strong>er<br />

Begrüßung auf dem 107. Deutschen Ärztetag<br />

2004 <strong>in</strong> Bremen die Existenz dieses<br />

Forums ausdrücklich positiv erwähnt.<br />

Insgesamt s<strong>in</strong>d wir vielfach ermutigt worden,<br />

mit unserer Initiative fortzufahren.<br />

Im September 2004 schloss sich dann<br />

<strong>in</strong> Düsseldorf e<strong>in</strong> weiteres Symposium an,<br />

das sich <strong>der</strong> Frage nach dem „<strong>Menschenbild</strong>“<br />

<strong>in</strong> verschiedenen Richtungen <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> widmete. Anthropologische<br />

Gr<strong>und</strong>überzeugungen liegen – wenn auch<br />

meist nur wenig reflektiert – unseren ärztlichen<br />

Entscheidungen bis h<strong>in</strong> zu ethischen<br />

E<strong>in</strong>schätzungen zugr<strong>und</strong>e. E<strong>in</strong> Ergebnis<br />

dieses Symposiums ist <strong>der</strong> vorliegende<br />

Band mit Beiträgen des Symposiums<br />

„<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“.<br />

Durch die im ausgehenden 19. <strong>und</strong><br />

vor allem im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert etablierte<br />

Schulmediz<strong>in</strong> wurde <strong>der</strong> kausalanalytische,<br />

auf das naturwissenschaftlich Beschreibbare<br />

konzentrierte Zugang zum<br />

Menschen <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen diagnostischen<br />

<strong>und</strong> therapeutischen Maßnahmen<br />

überaus erfolgreich vorangetrieben. Die


E<strong>in</strong>führung<br />

sonographische Diagnose e<strong>in</strong>es Gallenblasenste<strong>in</strong>leidens<br />

orientiert sich vor diesem<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> genau wie ihre ggf.<br />

anschließend durchzuführende chirurgische<br />

Therapie am materiellen Bef<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

reflektiert <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel ke<strong>in</strong>en Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> seelischen Seite <strong>und</strong> <strong>der</strong> Persönlichkeit<br />

des Patienten. Für dieses Vorgehen<br />

ist selbst die Geschlechtszugehörigkeit<br />

von allenfalls sek<strong>und</strong>ärer Bedeutung.<br />

Sicher gibt es viele Erkrankungen, die e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne reduzierte Betrachtungs<strong>und</strong><br />

Vorgehensweise berechtigt ersche<strong>in</strong>en<br />

lassen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite fragt die<br />

junge, schlanke, vor wenigen Monaten<br />

erst Mutter gewordene Patient<strong>in</strong>, was diese<br />

Erkrankung „mit ihr selbst“ als ganzer<br />

Person zu tun habe. Sie for<strong>der</strong>t von uns<br />

behandelnden Ärzten e<strong>in</strong>e erweiterte<br />

Betrachtungsart, e<strong>in</strong> erweitertes, nicht<br />

nur naturwissenschaftliches <strong>Menschenbild</strong><br />

<strong>und</strong> damit e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es „fram<strong>in</strong>g“ e<strong>in</strong>,<br />

das die kausalanalytisch beschreibbare<br />

Pathophysiologie <strong>der</strong> Erkrankung nicht<br />

ausschließt, sie allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> den Kontext<br />

e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en bzw. erweiterten Menschenverständnisses<br />

stellt.<br />

Anliegen des jetzt <strong>in</strong> Düsseldorf veranstalteten<br />

Symposiums „<strong>Menschenbild</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ des „<strong>Dialogforum</strong>s <strong>Pluralismus</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ war es, nach <strong>der</strong><br />

Wortbedeutung „<strong>Menschenbild</strong>“ im<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlichen, aber auch im H<strong>in</strong>blick<br />

auf dessen praktische Relevanz <strong>in</strong> <strong>der</strong> alltäglichen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zu fragen. E<strong>in</strong>geladen<br />

waren neben Referenten zu gr<strong>und</strong>legenden<br />

Themen Vertreter <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> mehrerer komplementärmediz<strong>in</strong>ischer<br />

Richtungen: Naturheilk<strong>und</strong>e, Homöopathie,<br />

Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>,<br />

Ayurveda <strong>und</strong> Traditionelle Ch<strong>in</strong>esische<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Die Teilnehmer erlebten Vorträge<br />

wie auch Diskussionsbeiträge als e<strong>in</strong>en<br />

positiven Dialog, <strong>der</strong> Gelegenheit gab,<br />

Gewohntes <strong>und</strong> Ungewohntes kennen zu<br />

lernen. Mit den <strong>in</strong> <strong>der</strong> vorliegenden Monographie<br />

herausgegebenen Vorträgen<br />

möchten wir e<strong>in</strong>er größeren Leserschaft<br />

das Selbstverständnis <strong>der</strong> verschiedenen<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Richtungen <strong>und</strong> die Ergebnisse<br />

dieses <strong>in</strong>terparadigmatischen Dialogs<br />

zugänglich machen.<br />

Der e<strong>in</strong>leitende Beitrag von Wolfgang<br />

Wieland beleuchtet aus philosophischer<br />

<strong>und</strong> mediz<strong>in</strong>theoretischer Sicht die Rolle<br />

<strong>und</strong> die Tragweite von <strong>Menschenbild</strong>ern<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> für die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Es gilt<br />

im Auge zu behalten, dass nicht nur <strong>der</strong><br />

Arzt, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Patient sich – bewusst<br />

o<strong>der</strong> unbewusst – e<strong>in</strong>em, nämlich<br />

se<strong>in</strong>em <strong>Menschenbild</strong> verpflichtet weiß.<br />

Deutlich wird, dass sich <strong>der</strong> Arzt <strong>in</strong> Ausübung<br />

se<strong>in</strong>es Berufs nicht auf so etwas<br />

wie e<strong>in</strong> „naturwissenschaftliches <strong>Menschenbild</strong>“<br />

berufen kann, da <strong>Menschenbild</strong>er<br />

über die wertneutrale Feststellung<br />

faktischer Sachverhalte, wie sie den<br />

Naturwissenschaften zu eigen ist, immer<br />

auch e<strong>in</strong>e normative <strong>und</strong> praktische<br />

Dimension abdecken. Im Gegensatz zu<br />

den theoretischen Wissenschaften, bei<br />

denen die Idee <strong>der</strong> Wertfreiheit <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

zweckfreien Erkenntnis leitend ist,<br />

kommt <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>der</strong> Status e<strong>in</strong>er praktischen<br />

Wissenschaft zu, <strong>der</strong>en Aufgabe<br />

nicht Erkenntnis um ihrer selbst Willen<br />

ist, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> vom Patienten her veranlasstes<br />

zweckgerichtetes Handeln. Begriffe<br />

wie etwa <strong>der</strong> <strong>der</strong> Diagnose o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Krankheit<br />

erweisen sich demzufolge nicht pri-<br />

3


4<br />

mär als Erkenntnis-, son<strong>der</strong>n als normative<br />

Handlungsbegriffe. Angesichts <strong>der</strong><br />

ethischen Herausfor<strong>der</strong>ungen durch das<br />

<strong>in</strong>zwischen biotechnologisch Machbare<br />

hebt Wieland hervor, dass nicht nur die<br />

Unterschiede <strong>und</strong> das Trennende zwischen<br />

den <strong>Menschenbild</strong>ern <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>,<br />

son<strong>der</strong>n vor allem auch die Herausarbeitung<br />

ihrer Geme<strong>in</strong>samkeiten sich als<br />

Aufgabe stellt.<br />

An verschiedenen Beispielen zeigt<br />

auch Wolfgang Schad, dass die Begriffe<br />

Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit sich e<strong>in</strong>er nur<br />

naturwissenschaftlichen Betrachtung entziehen<br />

<strong>und</strong> nur auf dem Boden e<strong>in</strong>er gesamtanthropologischen<br />

Betrachtung wissenschaftliche<br />

Tragfähigkeit <strong>und</strong> lebenspraktische<br />

Fruchtbarkeit entfalten. In<br />

methodologischer H<strong>in</strong>sicht erfor<strong>der</strong>t dies<br />

e<strong>in</strong>e bewusste <strong>und</strong> sorgfältig gehandhabte<br />

Pluralisierung von Gesichtspunkten <strong>und</strong><br />

Herangehensweisen, e<strong>in</strong>schließlich e<strong>in</strong>er<br />

Berücksichtigung aller drei Zeitdimensionen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> kategorial unterschiedlichen<br />

Se<strong>in</strong>sbereiche des Menschen, nämlich<br />

e<strong>in</strong>er physiko-chemischen, e<strong>in</strong>er biologisch-physiologischen,<br />

e<strong>in</strong>er psychologischen<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividuell geistigen Ebene.<br />

Dabei charakterisiert er die „goetheanistische<br />

Erkenntnismethode“ als e<strong>in</strong>en<br />

Ansatz, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>seitige <strong>und</strong> damit dogmatik-<br />

<strong>und</strong> ideologieanfällige Wissenschaftsansätze<br />

zugunsten e<strong>in</strong>er gezielten Perspektivenvielfalt<br />

zu überw<strong>in</strong>den trachtet.<br />

<strong>Menschenbild</strong>er, sollen sie nicht zu Paradigmen<br />

erstarren, s<strong>in</strong>d nach Schad stets<br />

„Durchgangsstadien ohne Endgültigkeitsanspruch“.<br />

Als anthroposophisch orientierter<br />

Biologe betont Schad, dass es <strong>in</strong>sofern<br />

auch ke<strong>in</strong> feststehendes „anthropo-<br />

E<strong>in</strong>führung<br />

sophisches <strong>Menschenbild</strong>“ gibt, son<strong>der</strong>n<br />

das Bestreben e<strong>in</strong>er durch geisteswissenschaftliche<br />

Gesichtspunkte erweiterten,<br />

dynamischen Erkenntnisbildung vom<br />

Menschen.<br />

Dass die etablierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> sich den<br />

von ihren Kontrahenten gebildeten<br />

Kampfbegriff „Schulmediz<strong>in</strong>“ angezogen<br />

hat, kommt nach Klaus Dörner e<strong>in</strong>em<br />

„sprachlichen Vorab-Selbstmord“ gleich.<br />

E<strong>in</strong> jeweils ganzheitliches <strong>und</strong> eher abgeschlossenes<br />

Lehrgebäude reklamierend,<br />

passt dieser Begriff nach Dörner eher auf<br />

die komplementär genannten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen.<br />

Dörner bevorzugt daher die<br />

Sprachregelung e<strong>in</strong>er „allgeme<strong>in</strong>en o<strong>der</strong><br />

A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ zur Kennzeichnung <strong>der</strong> etablierten<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> diejenige e<strong>in</strong>er<br />

„beson<strong>der</strong>en o<strong>der</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ für die<br />

„beson<strong>der</strong>en Therapierichtungen“. Auch<br />

Dörner verweist auf die Nähe des Begriffes<br />

„<strong>Menschenbild</strong>“ zur Sprache <strong>der</strong> Weltanschauungen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Glaubenssysteme<br />

<strong>und</strong> spricht daher lieber von „anthropologischen<br />

Annahmen“. In <strong>der</strong> Balance<br />

zwischen nomothetischer <strong>und</strong> idiopathischer<br />

Ausrichtung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> hat sich<br />

die „A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ im Wesentlichen naturwissenschaftlich-nomothetischentwickelt,<br />

während sich die „B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />

durch ihre größere Nähe zum biographisch-hermeneutischen<br />

Denken <strong>und</strong> zur<br />

phänomenologischen Erfahrung charakterisiert.<br />

Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> geme<strong>in</strong>samer<br />

Interessen, dass nämlich die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e eigenständige (Human-)<br />

Wissenschaft ist <strong>und</strong> dass sie zum an<strong>der</strong>en<br />

im Kern nicht e<strong>in</strong> vermarktungsfähiges<br />

Gebilde ist, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Hilfesystem,<br />

das se<strong>in</strong>en Auftrag dort erhält, wo das


E<strong>in</strong>führung<br />

Solidaritätshilfesystem <strong>der</strong> Bürger an se<strong>in</strong>e<br />

Grenzen stößt <strong>und</strong> auf Fremdhilfe angewiesen<br />

ist, können beide mediz<strong>in</strong>ische<br />

Kulturen vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> lernen: die A-<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> von den B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ern e<strong>in</strong>e ganzheitliche,<br />

gegenüber e<strong>in</strong>er Fragmentierung<br />

des Patienten <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Fasz<strong>in</strong>ation<br />

durch das technisch Machbare immunisierenden<br />

Betrachtungsweise, die B-<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> von den A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ern e<strong>in</strong>e<br />

Orientierung auch <strong>der</strong> Heilk<strong>und</strong>e am<br />

„Europäischen Vollständigkeitsideal <strong>der</strong><br />

Rationalität“.<br />

Die folgenden Kapitel widmen sich<br />

<strong>der</strong> wissenschaftlich etablierten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>igen wichtigen komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />

Richtungen. Hermann Heimpel<br />

verdeutlicht zunächst den historischen<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> im H<strong>in</strong>blick auf die<br />

sog. Schulmediz<strong>in</strong>. Er untersucht dann<br />

drei für das Thema beson<strong>der</strong>s relevante<br />

Aspekte: zunächst die Biologie des Menschen<br />

als Ergebnis <strong>der</strong> Evolution <strong>und</strong><br />

daraus abgeleitete ärztliche Konsequenzen,<br />

dann die heutige Schulmediz<strong>in</strong> auf<br />

Basis e<strong>in</strong>es bio-psycho-sozialen Konzeptes<br />

<strong>und</strong> schließlich die Anerkennung <strong>der</strong><br />

Autonomie des Patienten <strong>in</strong> Relation zum<br />

ärztlichen Handeln.<br />

Roland Baur beschreibt die Gr<strong>und</strong>lagen<br />

<strong>der</strong> Homöopathie basierend auf den<br />

Wegbereitern Hahnemann, Kent <strong>und</strong><br />

Whitmont im 18., 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Der homöopathische Arzt nimmt<br />

den Patienten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er lokalen körperlichen<br />

Symptomatik, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en<br />

Symptomatik <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geist- <strong>und</strong><br />

Gemütssymptomatik wahr. Die Therapie<br />

basiert auf dem Ähnlichkeitsbezug: Similia<br />

similibus curentur. Das zugr<strong>und</strong>e lie-<br />

gende <strong>Menschenbild</strong> ist durch die Aufhebung<br />

<strong>der</strong> Trennung von Geist <strong>und</strong> Körper<br />

geprägt <strong>und</strong> beugt nach Baur damit e<strong>in</strong>er<br />

Verd<strong>in</strong>glichung des Menschen vor.<br />

Die Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wird<br />

von Matthias Girke dargestellt. Zugr<strong>und</strong>e<br />

liegt dieser Richtung e<strong>in</strong>e Erweiterung des<br />

Menschenverständnisses durch Rudolf<br />

Ste<strong>in</strong>er <strong>und</strong> Ita Wegman zu Beg<strong>in</strong>n des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, das über die somatische<br />

Dimension h<strong>in</strong>aus den seelischen <strong>und</strong><br />

geistigen Se<strong>in</strong>sbereich e<strong>in</strong>schließt. Girke<br />

beschreibt zunächst aus Patientenperspektive<br />

<strong>und</strong> dann aus ärztlicher Sicht die<br />

Implikationen dieses <strong>Menschenbild</strong>es für<br />

das diagnostische Erkennen <strong>und</strong> therapeutische<br />

Handeln.<br />

Auf dem Boden e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>gehenden<br />

<strong>und</strong> differenzierten Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

mit den Begriffen „<strong>Menschenbild</strong>“ <strong>und</strong><br />

„<strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“, die Jörg<br />

Melzer <strong>und</strong> Re<strong>in</strong>hard Saller ihrer weiteren<br />

Darstellung vorausschicken, zeigen die<br />

Autoren auf, dass heute die Existenz e<strong>in</strong>er<br />

Pluralität von <strong>Menschenbild</strong>ern Realität<br />

ist. Dies auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, die durch<br />

e<strong>in</strong>e Integration naturwissenschaftlicher<br />

<strong>und</strong> psychosomatischer Aspekte sowie<br />

solcher des bio-psycho-sozialen Modells<br />

<strong>und</strong> des Arzt-Patient-Angehörigen-Modells<br />

ihr Menschenverständnis entscheidend<br />

erweitern konnte. Diese Aspekte berücksichtigend,<br />

bietet die naturheilk<strong>und</strong>liche<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> ergänzende Sichtweisen<br />

h<strong>in</strong>sichtlich Patientenerwartung, Therapieansätzen<br />

<strong>und</strong> Therapiegestaltung.<br />

Obwohl <strong>in</strong> ihren Wurzeln bis <strong>in</strong> die<br />

vorchristliche Zeit zurückreichend, erweist<br />

sich, wie Ananda Chopra aufzeigt,<br />

die Ayurvedische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> ke<strong>in</strong>eswegs als<br />

5


6<br />

e<strong>in</strong> abgeschlossenes <strong>und</strong> lediglich tradiertes<br />

System, son<strong>der</strong>n bis <strong>in</strong> die Gegenwart<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Weiterentwicklung<br />

begriffene Heilk<strong>und</strong>e. Dies gilt nach<br />

Chopra auch für <strong>der</strong>en Welt- <strong>und</strong> Menschenverständnis,<br />

wobei hier e<strong>in</strong>e Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie<br />

leitend<br />

ist. Dementsprechend kommt sowohl für<br />

die Diagnose als auch die Therapiewahl<br />

<strong>der</strong> Umwelt <strong>und</strong> ihren <strong>in</strong>nermenschlichen<br />

Entsprechungen e<strong>in</strong>e zentrale Bedeutung<br />

zu, wobei konstitutionelle <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong>dividuelle Faktoren e<strong>in</strong>e differenzierte<br />

Berücksichtigung f<strong>in</strong>den. Chopra weist<br />

darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>der</strong> <strong>in</strong> Indien praktizierte<br />

Ayurveda ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> westlichen<br />

Län<strong>der</strong>n kopiert werden kann, son<strong>der</strong>n<br />

e<strong>in</strong>er „<strong>in</strong>telligenten Übersetzungsarbeit“<br />

bedarf.<br />

Schließlich zeigt Stefan Kirchhoff,<br />

dass auch die Traditionelle Ch<strong>in</strong>esische<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> (TCM) <strong>und</strong> ebenso die ihr eigenen<br />

Auffassungen von Mensch <strong>und</strong> Natur<br />

bzw. Kosmos trotz ihrer mehrtausendjährigen<br />

Historie nicht e<strong>in</strong> monolithisches<br />

<strong>und</strong> abgeschlossenes Gebilde darstellen.<br />

Der Begriff selbst wurde erst unter Mao<br />

geprägt. Bei den im Westen gebildeten<br />

Vorstellungen über die TCM handelt es<br />

sich nicht nur um e<strong>in</strong> gefiltertes <strong>und</strong> selegiertes<br />

Importwissen, son<strong>der</strong>n auch um<br />

Ergebnisse von Projektionen <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Befriedigung esoterischer Sehnsüchte. Im<br />

Spannungsfeld zwischen Daoismus <strong>und</strong><br />

Konfuzianismus geformt, ist für das <strong>Menschenbild</strong><br />

<strong>der</strong> TCM e<strong>in</strong> Denken <strong>in</strong> Polaritäten<br />

zwischen diametral entgegengesetzten<br />

Qualitäten leitend, das sich als Pars<br />

pro Toto mit den Begriffen Y<strong>in</strong> <strong>und</strong> Yang<br />

zusammenfassen lässt <strong>und</strong> das bei diag-<br />

E<strong>in</strong>führung<br />

nostischen <strong>und</strong> therapeutischen Überlegungen<br />

e<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielt. Im<br />

Gegensatz zu strukturell-morphologischen<br />

Aspekten <strong>der</strong> restlichen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

dom<strong>in</strong>iert <strong>in</strong> <strong>der</strong> TCM e<strong>in</strong>e funktionelle<br />

<strong>und</strong> energetische Sichtweise.<br />

Wir danken <strong>der</strong> Zukunftsstiftung<br />

Ges<strong>und</strong>heit für die f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung,<br />

die es uns ermöglicht hat, die vorliegende<br />

Monographie zu realisieren. Ferner<br />

danken wir allen Referenten <strong>und</strong> Teilnehmern<br />

des Symposiums für ihre höchst<br />

anregenden Vorträge, Manuskripte <strong>und</strong><br />

Diskussionsbeiträge. Die Diskussionen<br />

waren sehr konstruktiv <strong>und</strong> haben zweifellos<br />

zu e<strong>in</strong>er Verbesserung des gegenseitigen<br />

Verständnisses <strong>und</strong> des gegenseitigen<br />

Respektes beigetragen. Dies ermutigt<br />

uns, den mit <strong>der</strong> Etablierung des <strong>Dialogforum</strong>s<br />

e<strong>in</strong>geschlagenen Weg e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>traprofessionellen<br />

<strong>in</strong>terparadigmatischen<br />

Dialogs mit Elan <strong>und</strong> Zuversicht weiter zu<br />

beschreiten. Für die organisatorische<br />

Gestaltung <strong>der</strong> Veranstaltung danken wir<br />

allen beteiligten Mitarbeitern <strong>der</strong> Ärztekammer<br />

Nordrhe<strong>in</strong> <strong>und</strong> ganz beson<strong>der</strong>s<br />

Frau Dipl.-Ges.Oec. N<strong>in</strong>a Rüttgen, <strong>der</strong>en<br />

Engagement <strong>und</strong> Geduld für die erfolgreiche<br />

Entwicklung des <strong>Dialogforum</strong>s <strong>Pluralismus</strong><br />

höchst wichtig war <strong>und</strong> ist. Mittlerweile<br />

ist vom <strong>Dialogforum</strong> e<strong>in</strong> weiteres<br />

Symposium mit <strong>der</strong> Thematik „<strong>Pluralismus</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – <strong>Pluralismus</strong> <strong>der</strong> Therapieevaluation?“<br />

im November 2004 <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> durchgeführt worden. Auf die<br />

Wi<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong> dort gehaltenen Vorträge<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift für Ärztliche Fortbildung<br />

<strong>und</strong> Qualität im Ges<strong>und</strong>heitswesen [Kiene,<br />

Ollenschläger, Willich 2005] sei <strong>der</strong><br />

Interessierte verwiesen.


Literatur<br />

Der Philosoph Gadamer, <strong>der</strong> über 100<br />

Jahre alt geworden ist, sagte e<strong>in</strong>mal auf<br />

die Frage, was <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em langen philosophischen<br />

Leben se<strong>in</strong>e primäre Lebenserkenntnis<br />

sei, dass er zu <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht<br />

gekommen wäre, dass „<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e recht<br />

haben könne“. Von dieser E<strong>in</strong>schätzung<br />

ausgehend, erhoffen wir uns <strong>in</strong> Zukunft<br />

fruchtbare Erkenntnisse im „<strong>Dialogforum</strong><br />

<strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“. Wir wünschen<br />

Ihnen e<strong>in</strong>en großen Gew<strong>in</strong>n bei<br />

<strong>der</strong> Lektüre dieses Bandes <strong>und</strong> hoffen auf<br />

e<strong>in</strong>e Bereicherung <strong>der</strong> Diskussion, die<br />

auch zum wechselseitigen Verständnis<br />

beitragen <strong>und</strong> damit die Zusammenarbeit<br />

zwischen Ärzt<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Ärzten aller<br />

mediz<strong>in</strong>ischer Richtungen för<strong>der</strong>n kann.<br />

Literatur<br />

Häußermann D, Allensbach-Studie: Wachsendes<br />

Vertrauen <strong>in</strong> Naturheilmittel.<br />

Dtsch Ärzteblatt (1997), 94, A-2466<br />

Härtel U, Volger E, Inanspruchnahme <strong>und</strong><br />

Akzeptanz klassischer Naturheilverfahren<br />

<strong>und</strong> alternativer Heilmethoden<br />

<strong>in</strong> Deutschland – Ergebnisse e<strong>in</strong>er<br />

repräsentativen Bevölkerungsstudie.<br />

Forsch Komplementärmed Klass<br />

Naturheilkd (2004), 11, 327–334<br />

SGB V (2005), 13. Aufl., 11, 39, 158. Deutscher<br />

Taschenbuch Verlag, München<br />

Willich SN, Girke M, Hoppe JD, Kiene H,<br />

Klitzsch W, Matthiesen PF, Meister P,<br />

Ollenschläger G, Heimpel H, Schulmediz<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong>:<br />

Verständnis <strong>und</strong> Zusammenarbeit<br />

müssen vertieft werden. Dtsch Ärzteblatt<br />

(2004), 101, A1314–1319<br />

Kiene H, Ollenschläger G, Willich SN<br />

(Hrsg), <strong>Pluralismus</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – <strong>Pluralismus</strong><br />

<strong>der</strong> Therapieevaluation? Z<br />

Ärztl Fortbild Qual (2005), 99,<br />

261–323<br />

7


<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft –<br />

Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

Wolfgang Wieland<br />

Das <strong>Dialogforum</strong> „<strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ hat zu e<strong>in</strong>em Symposium unter<br />

dem Leittitel „<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />

e<strong>in</strong>geladen. Es verb<strong>in</strong>det damit die<br />

Hoffnung, dass sich das, was die Schulmediz<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> die verschiedenen Richtungen<br />

<strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong> vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

trennt, ebenso aber auch das, was sie mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

verb<strong>in</strong>det, leichter auf den<br />

Begriff br<strong>in</strong>gen lässt, wenn man die <strong>Menschenbild</strong>er<br />

<strong>in</strong>s Visier nimmt, die h<strong>in</strong>ter<br />

den jeweiligen Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Diagnostik<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Therapie stehen, wie sie <strong>in</strong><br />

den unterschiedlichen Richtungen <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> praktiziert werden. Es ist e<strong>in</strong>e<br />

Hoffnung, die sich zugleich darauf richtet,<br />

dass sich Vertreter <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>er<br />

Ebene begegnen, auf <strong>der</strong> sich allfällige<br />

Berührungsängste neutralisieren lassen<br />

<strong>und</strong> auf <strong>der</strong> die Möglichkeiten e<strong>in</strong>er<br />

Kooperation ebenso wie <strong>der</strong>en Grenzen<br />

abgesteckt werden können. Fast überflüssig<br />

ist es, darauf aufmerksam zu machen,<br />

dass gerade hier Nüchternheit <strong>und</strong> Achtsamkeit<br />

angesagt ist. Denn <strong>der</strong> Begriff des<br />

<strong>Menschenbild</strong>es ist nun e<strong>in</strong>mal auch <strong>in</strong><br />

beson<strong>der</strong>er Weise festredenträchtig. Gewiss<br />

kann die Orientierung an ihm von<br />

Nutzen se<strong>in</strong>, wenn es darum geht, Verständnisbarrieren<br />

zu beseitigen <strong>und</strong> polemische<br />

Verhärtungen vom Typus „Wissenschaft<br />

contra Aberglauben“ aufzulö-<br />

sen. Dabei darf man aber nicht bl<strong>in</strong>d se<strong>in</strong><br />

für die Gefahr, dass man die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> die<br />

Sphäre friedlicher <strong>und</strong> kollegialer Unverb<strong>in</strong>dlichkeit<br />

abschiebt <strong>und</strong> sich auf bloße<br />

Formelkompromisse e<strong>in</strong>igt, mit denen die<br />

Probleme nicht gelöst, son<strong>der</strong>n ihre Erörterung<br />

allenfalls vertagt wird.<br />

Ich b<strong>in</strong> gebeten worden, zu den Fragen,<br />

mit denen sich das <strong>Dialogforum</strong><br />

befasst, e<strong>in</strong> Votum nicht aus <strong>der</strong> Sicht des<br />

praktizierenden Arztes, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong><br />

Warte des <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>theoretikers <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>philosophen<br />

aus abzugeben. Hier<br />

braucht man freilich ke<strong>in</strong>e metaphysischen<br />

Höhenflüge auf unkontrollierbar<br />

hochstehendem Niveau zu befürchten.<br />

Die Kompetenz <strong>und</strong> die Aufgaben des<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>theoretikers s<strong>in</strong>d bescheidener:<br />

Von ihm kann man <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie verlangen,<br />

dass er für Ordnung im Haushalt <strong>der</strong><br />

Begriffe sorgt. Manch e<strong>in</strong>em mag e<strong>in</strong>e solche<br />

Aufgabe trivial ersche<strong>in</strong>en, zumal da<br />

Begriffe eigentlich nur mentale Werkzeuge<br />

s<strong>in</strong>d, die wie auch alle an<strong>der</strong>en Werkzeuge<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand des K<strong>und</strong>igen ihre Aufgabe<br />

umso besser erfüllen, je weniger man<br />

sie selbst zum Ziel se<strong>in</strong>es Interesses<br />

macht. Wir pflegen uns mit Hilfe von<br />

Begriffen zu verständigen, <strong>der</strong>en S<strong>in</strong>n sich<br />

von selbst zu verstehen sche<strong>in</strong>t. Nur <strong>in</strong><br />

Ausnahmefällen machen wir sie selbst<br />

zum Gegenstand, dann nämlich, wenn<br />

sie die ihnen zugedachten Aufgaben e<strong>in</strong>-<br />

9


10<br />

mal gerade nicht erfüllen. Dann muss<br />

man sich vergegenwärtigen, dass wir –<br />

entgegen dem ersten Ansche<strong>in</strong> – <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em<br />

<strong>der</strong> Begriffe, mit denen wir <strong>in</strong> unserer<br />

Profession o<strong>der</strong> im alltäglichen Leben<br />

umgehen, e<strong>in</strong> Gebilde sehen dürfen, das<br />

nach se<strong>in</strong>em Inhalt <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em Umfang<br />

e<strong>in</strong> für alle Mal fixiert wäre. Dadurch, dass<br />

man mit Begriffen umgeht, schleifen sie<br />

sich gleichsam ab. Und weil sich dies zumeist<br />

unterhalb <strong>der</strong> Bewusstse<strong>in</strong>sschwelle<br />

abspielt, müssen sie immer wie<strong>der</strong> neu<br />

justiert werden. Das gilt <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em<br />

Maße für jene Begriffe, die den kategorialen<br />

Rahmen unseres Weltverständnisses<br />

wie auch unseres Selbstverständnisses bilden.<br />

Zudem darf man die Spannung nicht<br />

übersehen, die dar<strong>in</strong> liegt, dass auf alte,<br />

überkommene Begriffe gerade auch <strong>der</strong>jenige<br />

zurückgreifen muss, <strong>der</strong> Neues, Innovatives<br />

mitteilen will.<br />

Bevor man die <strong>in</strong>haltsbezogenen<br />

Merkmale <strong>der</strong> <strong>Menschenbild</strong>er betrachtet,<br />

die h<strong>in</strong>ter den e<strong>in</strong>zelnen Richtungen <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> stehen, ist es daher zweckmäßig,<br />

sich zunächst darüber klar zu werden,<br />

welchen S<strong>in</strong>n man mit <strong>der</strong> Rede von <strong>Menschenbild</strong>ern<br />

verb<strong>in</strong>det <strong>und</strong> welche Funktionen<br />

man ihnen abzuverlangen pflegt.<br />

<strong>Menschenbild</strong>er s<strong>in</strong>d nämlich höchstens<br />

<strong>in</strong> Ausnahmefällen Resultate wissenschaftlicher<br />

Forschung. Ihr Ursprung liegt<br />

zumeist vor aller Wissenschaft. Es gehört<br />

zu den anthropologischen Konstanten,<br />

dass die Menschen Lebewesen s<strong>in</strong>d – vermutlich<br />

sogar die e<strong>in</strong>zigen Lebewesen –,<br />

die sich e<strong>in</strong> Bild von sich selbst machen<br />

<strong>und</strong> die ihr Leben an diesem Bild orientieren<br />

können. Solche Bil<strong>der</strong> werden dem<br />

Menschen auf unmittelbare Weise zu-<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

nächst von Sagen, Mythen <strong>und</strong> Religionen<br />

vermittelt, oft <strong>in</strong> bildlicher Rede,<br />

implizit aber auch von dem Umfeld, <strong>in</strong><br />

das er h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geboren wird, <strong>in</strong> dem er aufwächst<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> dem er – mo<strong>der</strong>n ausgedrückt<br />

– se<strong>in</strong>e Sozialisation erfährt. In diesem<br />

S<strong>in</strong>n spricht man beispielsweise vom<br />

christlichen, vom buddhistischen, vom<br />

materialistischen, bis vor kurzem auch<br />

vom marxistischen <strong>Menschenbild</strong> ebenso<br />

wie von manchen an<strong>der</strong>en weltanschaulich<br />

f<strong>und</strong>ierten <strong>Menschenbild</strong>ern. Sie<br />

haben den Status von Symbolen, die<br />

jeweils auf die wesentlichen Inhalte e<strong>in</strong>er<br />

Glaubensüberzeugung verweisen. Deswegen<br />

erheben sie e<strong>in</strong>en universellen<br />

Anspruch: Sie wollen den Menschen<br />

<strong>in</strong>mitten se<strong>in</strong>er Welt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ganzheit<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> allen se<strong>in</strong>en Bezügen erfassen <strong>und</strong><br />

decken deswegen oft auch Bereiche ab,<br />

die vom menschlichen Erkennen, sofern<br />

es auf rationale Begründungen aus ist,<br />

nicht mehr erreicht werden. Es gehört zu<br />

<strong>der</strong> Funktion solcher <strong>Menschenbild</strong>er,<br />

dass sie dem Menschen nicht nur vermitteln<br />

wollen, was er ist <strong>und</strong> was er se<strong>in</strong><br />

kann, son<strong>der</strong>n auch, was er se<strong>in</strong> <strong>und</strong> wie<br />

er leben soll. Leicht übersieht man, dass<br />

jedes <strong>Menschenbild</strong> auch normative Elemente<br />

enthält, die se<strong>in</strong>en Charakter<br />

manchmal stärker prägen als se<strong>in</strong>e<br />

deskriptiven, faktenbezogenen Elemente.<br />

Von <strong>Menschenbild</strong>ern spricht man<br />

aber auch noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz an<strong>der</strong>en<br />

S<strong>in</strong>n. Hier ist an Bil<strong>der</strong> zu denken, die<br />

man besser als Modelle bezeichnet. Sie<br />

symbolisieren ke<strong>in</strong>e Glaubensüberzeugungen,<br />

die das menschliche Leben <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Ganzheit zu erfassen <strong>und</strong> zu normieren<br />

bestimmt s<strong>in</strong>d. Bei ihnen handelt es


<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

sich um artifizielle Gebilde, die durch<br />

mentale Experimente von <strong>der</strong> Art gezielter<br />

Abstraktionen o<strong>der</strong> Konstruktionen<br />

entstehen. Zu diesen Modellen gehören<br />

auch bestimmte Rollen, die e<strong>in</strong> Mensch<br />

übernehmen <strong>und</strong> spielen, aber auch wie<strong>der</strong><br />

abgeben kann. Was hier geme<strong>in</strong>t ist,<br />

kann man sich an dem Beispiel des Homo<br />

oeconomicus klar machen, mit dem die<br />

Wirtschaftswissenschaftler gerne arbeiten.<br />

Bei diesem Homo oeconomicus handelt<br />

es sich um das idealtypische Bild<br />

e<strong>in</strong>es Menschen, <strong>der</strong> sich mit se<strong>in</strong>er ganzen<br />

Existenz <strong>der</strong> Welt des Gew<strong>in</strong>nstrebens<br />

ergeben hat. Se<strong>in</strong> Leben <strong>und</strong> Handeln orientiert<br />

er ausschließlich an dem Ziel, die<br />

Bilanz se<strong>in</strong>es wirtschaftlichen Nutzens zu<br />

maximieren. Zu diesem Zweck ist er auch<br />

ständig darum bemüht, sich die für se<strong>in</strong>e<br />

Handlungsentscheidungen bedeutsamen<br />

Informationen zu verschaffen. Dieser<br />

Homo oeconomicus ist jedoch e<strong>in</strong>e bloße<br />

Konstruktion, e<strong>in</strong>e Konstruktion freilich,<br />

die sich beson<strong>der</strong>s ihres heuristischen<br />

Potentials wegen als em<strong>in</strong>ent fruchtbar<br />

erwiesen hat. Sie leistet den Ökonomen<br />

gute Dienste, wenn sie ihnen <strong>in</strong> Fallstudien<br />

hilft, idealisierte Alternativen <strong>in</strong><br />

Gedankenexperimenten durchzuspielen<br />

<strong>und</strong> zu bewerten. Für den wirklichen<br />

Menschen bleibt <strong>der</strong> Homo oeconomicus<br />

dagegen immer nur e<strong>in</strong>e idealtypische<br />

Rolle. Würde er sich mit ihr so weit identifizieren,<br />

dass es ihm nicht mehr möglich<br />

wäre, auch an<strong>der</strong>e Rollen zu übernehmen,<br />

wäre er allenfalls die Karikatur e<strong>in</strong>es<br />

lebendigen Menschen.<br />

Fragt man nach <strong>der</strong> Tragweite <strong>der</strong><br />

<strong>Menschenbild</strong>er <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> für<br />

die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, so sollte man nicht aus dem<br />

Auge verlieren, dass man <strong>in</strong> diesen beiden<br />

Bedeutungen – Glaubensüberzeugung<br />

o<strong>der</strong> Modellkonstruktion – von ihnen<br />

sprechen kann. Im Rahmen <strong>der</strong> Thematik<br />

unseres Symposiums wird allerd<strong>in</strong>gs nur<br />

die erste dieser beiden Alternativen<br />

bedeutsam. Stellt sich <strong>der</strong> Arzt den mit ihr<br />

verb<strong>und</strong>enen Problemen, so muss er sich<br />

stets vergegenwärtigen, dass nicht nur er<br />

sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausübung se<strong>in</strong>er Profession,<br />

bewusst o<strong>der</strong> unbewusst, an e<strong>in</strong>em <strong>Menschenbild</strong><br />

– nämlich se<strong>in</strong>em eigenen – orientiert,<br />

son<strong>der</strong>n dass sich auch <strong>der</strong><br />

Patient, dem er begegnet, ebenfalls e<strong>in</strong>em<br />

<strong>Menschenbild</strong>, vielleicht ganz an<strong>der</strong>er<br />

Art, verpflichtet weiß. Er muss nur wissen,<br />

dass er sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausübung se<strong>in</strong>es<br />

Berufs nicht auf so etwas wie e<strong>in</strong> „naturwissenschaftliches<br />

<strong>Menschenbild</strong>“ berufen<br />

kann, gleichgültig, welcher mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Richtung er verpflichtet ist. Denn<br />

e<strong>in</strong> naturwissenschaftliches <strong>Menschenbild</strong><br />

<strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, <strong>in</strong> dem <strong>in</strong> unserem<br />

Zusammenhang von <strong>Menschenbild</strong>ern<br />

die Rede ist, gibt es nicht <strong>und</strong> kann es<br />

nicht geben. Denn jede Naturwissenschaft<br />

untersucht immer nur faktische<br />

Sachverhalte, wenn sie danach fragt,<br />

unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> realen<br />

Welt etwas <strong>der</strong> Fall o<strong>der</strong> nicht <strong>der</strong> Fall ist.<br />

E<strong>in</strong>e auch noch so raff<strong>in</strong>iert geplante<br />

naturwissenschaftliche Analyse kann<br />

<strong>in</strong>dessen niemals entdecken, was se<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> was nicht se<strong>in</strong> soll. E<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong>,<br />

das nicht lediglich den Status e<strong>in</strong>es<br />

abstrakten Modells hat, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e<br />

umfassende Glaubensüberzeugung symbolisiert,<br />

muss aber auch die normative<br />

<strong>und</strong> die praktische Dimension abdecken.<br />

Gerade wenn man die Funktion von Men-<br />

11


12<br />

schenbil<strong>der</strong>n im Blick auf den ärztlichen<br />

Auftrag erörtert, kann man nicht darauf<br />

verzichten, das Interesse vornehmlich<br />

<strong>der</strong>en normativem Potenzial zuzuwenden.<br />

Die Erforschung bloßer Fakten liefert<br />

für sich alle<strong>in</strong> niemals e<strong>in</strong>e tragfähige<br />

Basis für die Beantwortung von Legitimationsfragen.<br />

Gegenständliche Naturforschung<br />

alle<strong>in</strong> könnte noch nicht e<strong>in</strong>mal<br />

e<strong>in</strong>e Antwort auf die e<strong>in</strong>fache Frage<br />

begründen „Warum überhaupt <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>?“<br />

Nicht leicht zu beantworten s<strong>in</strong>d Fragen<br />

wie die, ob <strong>Menschenbild</strong>er wahrheitsfähig<br />

s<strong>in</strong>d, unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

man, wenn überhaupt, von richtigen<br />

o<strong>der</strong> von falschen <strong>Menschenbild</strong>ern sprechen<br />

kann <strong>und</strong> <strong>in</strong> welcher Weise <strong>Menschenbild</strong>er<br />

e<strong>in</strong>er Kritik unterzogen werden<br />

können. Dah<strong>in</strong>ter steht die Frage, ob<br />

die Identifizierung mit e<strong>in</strong>em <strong>Menschenbild</strong><br />

entwe<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>er Erkenntnis o<strong>der</strong><br />

auf e<strong>in</strong>em Bekenntnis, auf e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>sicht<br />

o<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>er Entscheidung beruht, mag<br />

e<strong>in</strong>em diese Entscheidung auch von<br />

an<strong>der</strong>en abgenommen worden se<strong>in</strong>. Wer<br />

e<strong>in</strong>e solche Frage stellt, hat aber schon<br />

vorausgesetzt, dass er es mit Glie<strong>der</strong>n<br />

e<strong>in</strong>er Alternative zu tun hat, die e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

ausschließen. Doch bei <strong>der</strong>artigen Erörterungen<br />

darf man nicht übersehen, dass<br />

die Analyse e<strong>in</strong>es <strong>Menschenbild</strong>es e<strong>in</strong>e<br />

Vielheit von heterogenen Elementen<br />

zutage för<strong>der</strong>t, nicht nur Tatsachenannahmen,<br />

son<strong>der</strong>n auch Gebote <strong>und</strong> Verbote,<br />

Werte <strong>und</strong> Normen. Solche Elemente<br />

verlangen unterschiedlich strukturierte<br />

Gestalten <strong>der</strong> Kritik. Zustimmung <strong>und</strong><br />

Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e Norm o<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>e Werteordnung s<strong>in</strong>d von an<strong>der</strong>er<br />

Natur <strong>und</strong> folgen an<strong>der</strong>en Regeln als<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

Annahmen über die Existenz o<strong>der</strong> die<br />

Nichtexistenz von faktischen Sachverhalten.<br />

Die unterschiedliche Struktur dieser<br />

Elemente muss man auch deswegen im<br />

Auge behalten, weil Gebote <strong>und</strong> Werte<br />

oftmals auch <strong>in</strong> maskierter Gestalt auftreten.<br />

Das geschieht beispielsweise dann,<br />

wenn sie die äußere Form von Tatsachenbehauptungen<br />

annehmen, h<strong>in</strong>ter denen<br />

sie ihre wahre Natur gleichsam verstecken.<br />

Weil sich <strong>in</strong> jedem ernst zu nehmenden<br />

<strong>Menschenbild</strong> e<strong>in</strong>e Gemengelage von<br />

faktischen <strong>und</strong> normativen Elementen<br />

ausmachen lässt, kann es als Folge neuer<br />

Erkenntnisse über die reale Welt, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

durch Resultate wissenschaftlicher<br />

Forschung <strong>in</strong> Krisen geraten, die<br />

auch Zweifel <strong>in</strong> Bezug auf die Verb<strong>in</strong>dlichkeit<br />

se<strong>in</strong>es normativen Gehalts nähren.<br />

Sucht man <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht nach<br />

e<strong>in</strong>schlägigen historischen Beispielen, so<br />

braucht man nur an die Namen von Nikolaus<br />

Kopernikus, von Charles Darw<strong>in</strong>,<br />

von Sigm<strong>und</strong> Freud zu er<strong>in</strong>nern. Gerade<br />

die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen <strong>der</strong> christlichen<br />

Religion mit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft<br />

liefern <strong>in</strong>soweit reichhaltiges Material<br />

zu lehrreichen Fallstudien. Sie können<br />

e<strong>in</strong>em zeigen, wie sich <strong>der</strong> normative<br />

Gehalt e<strong>in</strong>es <strong>Menschenbild</strong>es bewahren<br />

lässt, wenn man manches von dem als<br />

bildliche Rede deutet, was man bis dah<strong>in</strong><br />

gemäß se<strong>in</strong>em puren Worts<strong>in</strong>n verstanden<br />

hatte. E<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong> kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Krise aber auch dadurch geraten, dass e<strong>in</strong><br />

Stück se<strong>in</strong>es realen Gehaltes wegbricht.<br />

Das geschieht, wenn die Fakten nicht<br />

mehr dieselben s<strong>in</strong>d, wenn die reale Welt<br />

nicht mehr dieselbe ist wie die Welt, auf


<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

die sich <strong>der</strong> normative Gehalt des <strong>Menschenbild</strong>es<br />

bis dah<strong>in</strong> beziehen ließ. Hier<br />

kann man an die Entwicklungen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

gegenwärtigen Mikrobiologie denken, die<br />

sich anbahnen <strong>und</strong> die Aussicht eröffnen,<br />

e<strong>in</strong>es nicht allzu fernen Tages das Wesen<br />

des Menschen, das man bisher für e<strong>in</strong>e<br />

Konstante gehalten hatte, verän<strong>der</strong>n zu<br />

können, nicht nur <strong>in</strong> Bezug auf se<strong>in</strong>e physische,<br />

son<strong>der</strong>n auch auf se<strong>in</strong>e psychische<br />

Ausstattung, beispielsweise auf se<strong>in</strong>e<br />

Triebstruktur. Sobald dieser Punkt erreicht<br />

ist, geht es nicht mehr lediglich darum,<br />

was für e<strong>in</strong> Bild sich <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt vorf<strong>in</strong>dende<br />

Mensch von sich selbst <strong>und</strong> von<br />

se<strong>in</strong>er Welt macht. Denn <strong>in</strong> diesem Fall<br />

muss auch darüber entschieden werden,<br />

auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage welcher Bil<strong>der</strong>, besser<br />

noch: welcher Blaupausen e<strong>in</strong> neuer<br />

Mensch hergestellt, konstruiert werden<br />

soll. Doch diese Probleme liegen außerhalb<br />

des Themenkreises, mit dem sich<br />

unser Symposium befasst.<br />

Dieses Symposium macht es sich zur<br />

Aufgabe, mittels e<strong>in</strong>er Konfrontation <strong>der</strong><br />

h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> jeweiligen ärztlichen Arbeit stehenden<br />

<strong>Menschenbild</strong>er das Verhältnis<br />

zu bestimmen, <strong>in</strong> dem die Schulmediz<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> die verschiedenen Richtungen <strong>der</strong><br />

Komplementärmediz<strong>in</strong> zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen.<br />

Gerade weil dieses Verhältnis durch<br />

Kontroversen charakterisiert ist, sollte<br />

man den Blick zunächst auf das richten,<br />

wor<strong>in</strong> die unterschiedlichen Schulen <strong>und</strong><br />

Richtungen übere<strong>in</strong>kommen. Zweckmäßig<br />

ist dies auch deswegen, weil das Bewusstse<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Basis dazu<br />

beitragen kann, die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen<br />

zu versachlichen. Im Blick auf diese<br />

Basis müssen alle Beteiligten e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

zugestehen, dass das, was sie praktizieren,<br />

ihrer Intention nach jedenfalls <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

ist – wenn auch vielleicht e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Irrtümern<br />

befangene, auf falschen Pr<strong>in</strong>zipien<br />

beruhende <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, vielleicht e<strong>in</strong>e unvollständige,<br />

ihre Möglichkeiten nicht<br />

ausnutzende o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Bezug auf ihre<br />

Wirksamkeit nicht h<strong>in</strong>reichend geprüfte<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Ohne e<strong>in</strong>en <strong>der</strong>artigen M<strong>in</strong>imalkonsens<br />

wäre jedes Gespräch zum Scheitern<br />

verurteilt. Diese Geme<strong>in</strong>samkeit<br />

zeigt sich dar<strong>in</strong>, dass sich je<strong>der</strong> Arzt, an<br />

welchem <strong>Menschenbild</strong> er se<strong>in</strong>e Arbeit<br />

auch immer orientiert, se<strong>in</strong>em Patienten<br />

verpflichtet weiß. Dieser Patient hat sich<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Obhut begeben, als e<strong>in</strong> Homo<br />

patiens, e<strong>in</strong> leiden<strong>der</strong> Mensch, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Situation geraten ist, <strong>in</strong> <strong>der</strong> se<strong>in</strong> Leben<br />

bedroht o<strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Möglichkeiten<br />

reduziert ist, <strong>der</strong> Heilung o<strong>der</strong> wenigstens<br />

L<strong>in</strong><strong>der</strong>ung se<strong>in</strong>es Leidens verlangt, um<br />

diese Situation bestehen zu können, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> er sich selbst zu helfen nicht mehr<br />

fähig ist [vgl. Wieland 1993]. Nun kann<br />

<strong>der</strong> Mensch von Leid ganz unterschiedlicher<br />

Art betroffen werden. Aber <strong>der</strong> Arzt<br />

weiß, dass er – <strong>in</strong>nerhalb von nicht immer<br />

randscharf markierten Grenzen – nur<br />

für jenes Leid <strong>und</strong> Leiden <strong>der</strong> berufene<br />

Begleiter ist, dessen Ursachen o<strong>der</strong> dessen<br />

Folgen sich auch im Bereich des Körpers<br />

manifestieren.<br />

Man mag e<strong>in</strong>wenden, dass es sich bei<br />

dem eben Gesagten doch nur um e<strong>in</strong>e Trivialität<br />

handelt, <strong>der</strong>en Selbstverständlichkeit<br />

e<strong>in</strong>e Erörterung, selbst e<strong>in</strong>e Erwähnung<br />

erübrigt. Doch gerade die Orientierung<br />

am <strong>Menschenbild</strong> des Homo<br />

patiens, <strong>der</strong> Hilfe begehrt, macht e<strong>in</strong>en<br />

darauf aufmerksam, dass die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

13


14<br />

ihrem formalen Status nach e<strong>in</strong>e praktische<br />

Wissenschaft ist. Wer heute nach dem<br />

Status <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> fragt, erhält freilich<br />

sehr oft nur die Antwort, sie sei angewandte<br />

Naturwissenschaft. Dabei orientiert<br />

man sich an den Wissenschaften von<br />

<strong>der</strong> Natur, wie sie mit ihren spezifisch<br />

neuzeitlichen Fragestellungen <strong>und</strong> Methoden<br />

heute allenthalben betrieben werden.<br />

Das ist immerh<strong>in</strong> verständlich, da<br />

die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> ke<strong>in</strong>er ihrer Wandlungen, die<br />

sie <strong>in</strong> ihrer langen Geschichte erfahren<br />

hat, so große <strong>und</strong> so wirkungsmächtige<br />

Fortschritte verdankt wie <strong>der</strong> Übernahme<br />

von Resultaten <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen naturwissenschaftlichen<br />

Forschung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Anwendung<br />

<strong>der</strong> dort entwickelten Methoden.<br />

So ist es ke<strong>in</strong> Zufall, dass heute<br />

manch e<strong>in</strong> Vertreter gerade <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />

auch sich selbst <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Tätigkeit<br />

e<strong>in</strong>seitig, von <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft<br />

her versteht. Auch im Bereich <strong>der</strong><br />

verschiedenen Richtungen <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

werden schließlich die<br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft entstammenden<br />

Resultate <strong>und</strong> Methoden<br />

nicht überall verschmäht, auch wenn<br />

man dort <strong>in</strong> höherem Maße als <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Schulmediz<strong>in</strong> von Hilfsmitteln Gebrauch<br />

macht, die aus an<strong>der</strong>en Quellen stammen.<br />

Es ist nicht r<strong>und</strong>um verfehlt, den Status<br />

e<strong>in</strong>er Wissenschaft von den Hilfsmitteln<br />

her zu bestimmen, <strong>der</strong>en sie sich<br />

bedient. Dennoch wird die Sachlage dabei<br />

auf unangemessene Weise verzeichnet, da<br />

sie den Blick von dem Ziel ablenkt, das die<br />

Wissenschaft verfolgt. Immerh<strong>in</strong> ist im<br />

Begriff <strong>der</strong> Anwendung das für die sachgerechte<br />

E<strong>in</strong>stufung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als Wissen-<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

schaft zentrale Merkmal enthalten, nämlich<br />

die Ausrichtung auf e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Praxis, auf e<strong>in</strong>e bestimmte Tätigkeit h<strong>in</strong>.<br />

Hier darf man an die alte, ihrem Ursprung<br />

nach aristotelische E<strong>in</strong>teilung <strong>der</strong> Wissenschaften<br />

<strong>in</strong> theoretische <strong>und</strong> praktische<br />

Diszipl<strong>in</strong>en er<strong>in</strong>nern. Sie ist <strong>in</strong> letzter Zeit<br />

fast <strong>in</strong> Vergessenheit geraten, nachdem<br />

sie dem heute beliebten Klassifizierungsschema<br />

Platz gemacht hat, das Naturwissenschaften<br />

<strong>und</strong> Geisteswissenschaften<br />

unterscheidet. Nun lassen sich <strong>in</strong> dieses<br />

Schema gewiss nicht alle wissenschaftlichen<br />

Diszipl<strong>in</strong>en zwanglos e<strong>in</strong>ordnen.<br />

Trotzdem musste sie es sich gefallen lassen,<br />

zu e<strong>in</strong>em Gegensatz von zwei Kulturen<br />

hochstilisiert zu werden, <strong>der</strong>en Vertreter<br />

gr<strong>und</strong>verschiedene Sprachen sprechen<br />

<strong>und</strong> füre<strong>in</strong>an<strong>der</strong> we<strong>der</strong> Interesse noch<br />

Verständnis aufbr<strong>in</strong>gen. Im Vergleich mit<br />

dem Schema von Natur- <strong>und</strong> Geisteswissenschaften,<br />

aber auch mit <strong>der</strong> Unterscheidung<br />

von re<strong>in</strong>en <strong>und</strong> angewandten<br />

Diszipl<strong>in</strong>en erweist sich die alte E<strong>in</strong>teilung<br />

<strong>in</strong> theoretische <strong>und</strong> praktische Wissenschaften<br />

als zwei gleichrangigen <strong>und</strong> vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

unabhängigen Fächergruppen immerh<strong>in</strong><br />

als sachgerechter.<br />

Theoretische Wissenschaften s<strong>in</strong>d<br />

nach dieser E<strong>in</strong>teilung Diszipl<strong>in</strong>en, <strong>in</strong><br />

denen man <strong>der</strong> Idee nach zweckfreie<br />

Erkenntnis, Erkenntnis um ihrer selbst<br />

willen sucht – o<strong>der</strong> die man zum<strong>in</strong>dest so<br />

betreibt, als ob <strong>der</strong> Dienst an <strong>der</strong> Erkenntnis<br />

Selbstzweck wäre. In diesem S<strong>in</strong>n ist<br />

<strong>der</strong> Forscher, mag er Philologe o<strong>der</strong><br />

Mathematiker, Physiker o<strong>der</strong> Historiker<br />

se<strong>in</strong>, nur darauf aus, <strong>in</strong> Freiheit gegenüber<br />

allen Zwecksetzungen <strong>und</strong> Machtansprüchen<br />

von Autoritäten, gleichsam im


<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

Stand <strong>der</strong> wissenschaftlichen Unschuld,<br />

aus <strong>der</strong> Distanz e<strong>in</strong>es ke<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en<br />

Interessen verpflichteten, unbeteiligten<br />

Beobachters Erkenntnisse über die reale<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e ideale Welt zu gew<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> zu<br />

begründen. Frei ist er auch von je<strong>der</strong> Verantwortung<br />

für die Ziele, die von an<strong>der</strong>en<br />

angestrebt <strong>und</strong> mit Hilfe <strong>der</strong> von ihm<br />

erarbeiteten Resultate verwirklicht werden.<br />

Mo<strong>der</strong>ne liberale Staatsverfassungen<br />

garantieren <strong>der</strong> Wissenschaft diese Freiheit,<br />

weil sie <strong>in</strong> ihr e<strong>in</strong> Mittel sehen, das<br />

geeignet ist, den Menschen aus e<strong>in</strong>er<br />

Unmündigkeit zu befreien, <strong>in</strong> <strong>der</strong> ihm<br />

von Autoritäten unterschiedlicher Art<br />

vorgeschrieben wurde, was er als wahr<br />

anzuerkennen hat. Das <strong>Menschenbild</strong>,<br />

das h<strong>in</strong>ter den dem Ideal <strong>der</strong> Freiheit,<br />

auch <strong>der</strong> Zweckfreiheit verpflichteten<br />

theoretischen Wissenschaften steht, ist<br />

demnach das Bild des mündigen Menschen,<br />

<strong>der</strong> die Sache <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Wahrheit selbst <strong>in</strong> die Hand nimmt<br />

<strong>und</strong> damit auf exemplarische Weise e<strong>in</strong><br />

Stück <strong>der</strong> ihm menschenrechtlich zukommenden<br />

Freiheit realisiert.<br />

Praktischen, auf Handeln <strong>und</strong> Tätigkeiten<br />

bezogenen Wissenschaften ist<br />

demgegenüber e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Status eigen.<br />

Ist von ihnen die Rede, so denkt man<br />

heute vielleicht zuerst an die technischen<br />

Diszipl<strong>in</strong>en, die sich die Herstellung o<strong>der</strong><br />

Gestaltung e<strong>in</strong>er Sache o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Zustandes<br />

zum Ziel setzen. Praktische Wissenschaften<br />

im engeren S<strong>in</strong>n – wie die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>,<br />

die Jurisprudenz o<strong>der</strong> die Politologie<br />

– s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>dessen dadurch charakterisiert,<br />

dass es <strong>in</strong> ihnen nicht um irgendwelche<br />

Tätigkeiten geht, son<strong>der</strong>n um jenes Handeln,<br />

das handlungsfähige Personen <strong>in</strong>s<br />

Visier nimmt <strong>und</strong> auf sie zielt. Für sie gelten<br />

an<strong>der</strong>e Gr<strong>und</strong>sätze als für die theoretischen<br />

Fächer. Ihre Eigenart verfehlt man,<br />

wenn man <strong>in</strong> ihnen lediglich angewandte<br />

o<strong>der</strong> anwendende Wissenschaften sieht.<br />

Es charakterisiert nämlich diese Diszipl<strong>in</strong>en,<br />

dass sie sich stets auch selbst als Element<br />

<strong>der</strong> Welt ansehen müssen, mit <strong>der</strong><br />

sie befasst s<strong>in</strong>d. Ihre Vertreter können,<br />

an<strong>der</strong>s als die Theoretiker, <strong>in</strong> Bezug auf<br />

ihren Gegenstand nicht die Position e<strong>in</strong>es<br />

unbeteiligten Beobachters e<strong>in</strong>nehmen.<br />

Zwar erarbeiten auch sie Erkenntnisse,<br />

diese werden von ihnen aber noch nicht<br />

e<strong>in</strong>mal <strong>der</strong> Idee nach um ihrer selbst willen<br />

gesucht, denn diese Diszipl<strong>in</strong>en f<strong>in</strong>den<br />

ihren Zweck <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

zielgerichteten Handeln – wohlgemerkt<br />

<strong>in</strong> diesem Handeln selbst <strong>und</strong> nicht nur <strong>in</strong><br />

Erkenntnissen von ihm. So gesehen, ist<br />

die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> e<strong>in</strong>e Handlungswissenschaft<br />

<strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, dass sie Handlungen nicht<br />

nur zum Gegenstand macht, son<strong>der</strong>n<br />

auch selbst handelt. 1 Ihr von Hause aus<br />

praktischer Charakter wird nicht dadurch<br />

relativiert, dass sie <strong>in</strong> ihrem Handeln zum<br />

1 Es lässt sich zeigen, warum gerade dieser<br />

Unterschied für die Natur e<strong>in</strong>er praktischen,<br />

also handelnden Wissenschaft von zentraler<br />

Bedeutung ist. Das Wissen von e<strong>in</strong>em Sachverhalt,<br />

auch von e<strong>in</strong>er Handlung kann<br />

man durch die Zuordnung e<strong>in</strong>es Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsgrades<br />

relativieren o<strong>der</strong><br />

gleichsam abschwächen. Das Handeln selbst<br />

ist dagegen das, was es ist, stets ganz <strong>und</strong><br />

ungeteilt. E<strong>in</strong>e Handlung wird realisiert o<strong>der</strong><br />

sie wird nicht realisiert. Gr<strong>und</strong>sätzlich kann<br />

man sogar den Grad <strong>der</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />

eruieren, mit dem damit zu rechnen ist, dass<br />

man <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukunft e<strong>in</strong>e bestimmte Handlung<br />

realisieren wird. Ist dies aber geschehen,<br />

so kommt deswegen <strong>der</strong> Handlung<br />

selbst nicht bloß e<strong>in</strong>e gewisse Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />

zu.<br />

15


16<br />

Wohle des Patienten, <strong>in</strong> weitem Umfang<br />

auch von Ergebnissen theoretischer, vorwiegend<br />

naturwissenschaftlicher Fächer<br />

Gebrauch macht.<br />

Nun darf man fragen, was damit<br />

gewonnen ist, wenn man die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

ihrem Status nach als nicht als angewandte<br />

Naturwissenschaft, son<strong>der</strong>n als praktische<br />

Wissenschaft e<strong>in</strong>stuft. E<strong>in</strong> Skeptiker<br />

mag sogar argwöhnen, dass hier letztlich<br />

nur e<strong>in</strong> folgenloses Spiel mit Begriffen<br />

betrieben wird. Doch es lässt sich deutlich<br />

machen, dass dem nicht so ist. Dass die<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong> weitem Umfang von Ergebnissen<br />

<strong>und</strong> Methoden <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen<br />

Forschung Gebrauch macht,<br />

wird freilich niemand ernsthaft bestreiten.<br />

Wer sie jedoch alle<strong>in</strong> auf dieser Basis<br />

def<strong>in</strong>ieren will, entwertet von vornhere<strong>in</strong><br />

alle Möglichkeiten, dem leidenden, vom<br />

Tod bedrohten Menschen auch mit Hilfsmitteln<br />

an<strong>der</strong>er Provenienz beizustehen.<br />

Der Satz „Wer heilt, hat Recht“ mag<br />

Gefahr laufen, die e<strong>in</strong>schlägigen Probleme<br />

zu trivialisieren. Dennoch macht er <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er holzschnittartigen E<strong>in</strong>fachheit<br />

darauf aufmerksam, dass man den Status<br />

<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> nicht von ihren Hilfsmitteln<br />

<strong>und</strong> Werkzeugen, son<strong>der</strong>n ausschließlich<br />

von ihrem Ziel her bestimmen muss – wie<br />

immer sie ihn auch erreicht. Die Ergebnisse<br />

<strong>der</strong> Arbeit des Arztes haben stets Vorrang<br />

vor den Voraussetzungen, unter<br />

denen sie erzielt worden s<strong>in</strong>d. 2<br />

Zur Verdeutlichung <strong>der</strong> Eigenart <strong>der</strong><br />

praktischen Wissenschaften seien e<strong>in</strong>ige<br />

<strong>der</strong> für sie charakteristischen Merkmale<br />

angeführt. So kann e<strong>in</strong>e solche Diszipl<strong>in</strong><br />

gerade deswegen, weil sie ihr Ziel <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em bestimmten Handeln f<strong>in</strong>det, nicht<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

auf das Ideal <strong>der</strong> Wertfreiheit verpflichtet<br />

werden. Denn jedes menschliche Handeln<br />

unterliegt e<strong>in</strong>er Bewertung, mit <strong>der</strong><br />

es als legitim o<strong>der</strong> illegitim, als geboten,<br />

freigestellt o<strong>der</strong> verboten e<strong>in</strong>gestuft wird.<br />

Je<strong>der</strong> handelnde Mensch unterstellt se<strong>in</strong><br />

Tun e<strong>in</strong>er ethischen Normierung, sei es<br />

2 Erwünschte Resultate können gelegentlich<br />

sogar auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage fragwürdiger o<strong>der</strong><br />

gar falscher Voraussetzungen erzielt werden.<br />

Sie lassen sich durch den H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e<br />

<strong>der</strong>artige Entstehung nicht entwerten. Nur<br />

auf den ersten Blick sche<strong>in</strong>t überzeugend zu<br />

argumentieren, wer geltend macht, falsche<br />

Voraussetzungen würden e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> Mühe<br />

entheben, sich mit den Resultaten ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

zu setzen, da aus Falschem niemals Richtiges<br />

folgen könne. Doch Argumentationen,<br />

die diesem Muster folgen, s<strong>in</strong>d selbst<br />

unhaltbar – ihrer verme<strong>in</strong>tlichen Evidenz<br />

zum Trotz. Das ergibt sich bereits aus den<br />

Gesetzen <strong>der</strong> formalen Logik. Hier wird e<strong>in</strong><br />

Lehr<strong>in</strong>halt (die so genannte Paradoxie <strong>der</strong><br />

Implikation) bedeutsam, <strong>der</strong> für manch<br />

e<strong>in</strong>en Anfänger <strong>in</strong> <strong>der</strong> Logik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat wie<br />

e<strong>in</strong> Stolperste<strong>in</strong> wirkt. Es handelt sich um<br />

die Merkwürdigkeit, dass sich aus wahren<br />

Sätzen auf formal logisch korrekte Weise nur<br />

wahre Sätze erschließen lassen, dass es an<strong>der</strong>erseits<br />

jedoch möglich ist, aus falschen Sätzen<br />

nicht nur an<strong>der</strong>e falsche Sätze, son<strong>der</strong>n<br />

gelegentlich auch wahre Sätze abzuleiten,<br />

<strong>und</strong> dies, wohlgemerkt, auf logisch vollkommen<br />

korrekte Weise. Aus diesem Gr<strong>und</strong> lässt<br />

sich e<strong>in</strong> Resultat auch <strong>in</strong>haltlich nicht<br />

schon dadurch ad absurdum führen, dass<br />

man auf falsche Voraussetzungen verweist,<br />

auf <strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong>lage es erzielt worden ist.<br />

Mit an<strong>der</strong>en Worten: Richtige Voraussetzungen<br />

garantieren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Logik, sofern nur<br />

methodisch korrekt gearbeitet wird, auch<br />

richtige Resultate; falsche Voraussetzungen<br />

können dagegen bald zu falschen, bald aber<br />

auch zu richtigen Resultaten führen. Natürlich<br />

will jede Wissenschaft die Resultate<br />

ihrer Arbeit <strong>in</strong> letzter Instanz auch auf richtige<br />

Pr<strong>in</strong>zipien gründen. Dem steht jedoch<br />

nicht entgegen, dass <strong>der</strong> Möglichkeit, zutreffende<br />

Ergebnisse gelegentlich auch auf <strong>der</strong><br />

Basis falscher Voraussetzungen zu erzielen,<br />

e<strong>in</strong> heuristisches Potential <strong>in</strong>newohnt, das<br />

man nicht verachten sollte.


<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

auf ausdrückliche o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest auf<br />

latente Weise. Als praktische Wissenschaft<br />

kann sich die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> daher noch<br />

nicht e<strong>in</strong>mal fiktiv von <strong>der</strong> Dimension<br />

<strong>der</strong> Werte distanzieren. Das ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>,<br />

warum die ärztliche Ethik e<strong>in</strong> Zweig dieser<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> nicht lediglich e<strong>in</strong><br />

Superadditum darstellt. Der <strong>in</strong> unserer<br />

Gegenwart stark zunehmende Komplikationsgrad<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>schlägigen Probleme hat<br />

bekanntlich, um die Präsenz <strong>der</strong> Wertdimension<br />

zu sichern, zu <strong>der</strong> Bestellung<br />

von Ethikkommissionen geführt. Jedenfalls<br />

kann sich ke<strong>in</strong> Vertreter e<strong>in</strong>er praktischen<br />

Diszipl<strong>in</strong>, auch nicht <strong>der</strong> handelnde<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> forschende Arzt, auf die Freiheit<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft berufen <strong>und</strong><br />

gegenüber den für alles menschliche Handeln<br />

geltenden ethischen Normen irgendwelche<br />

Son<strong>der</strong>rechte beanspruchen. Das<br />

hatte beispielsweise die Deutsche Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

verkannt, als sie<br />

sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em für die Öffentlichkeit<br />

bestimmten Memorandum für die These<br />

stark machte, <strong>in</strong> bestimmten Fällen könne<br />

das Zurücktreten des – menschenrechtlich<br />

garantierten – Gr<strong>und</strong>rechts auf<br />

Leben gegenüber dem Gr<strong>und</strong>recht auf<br />

Forschungsfreiheit geboten se<strong>in</strong>. 3 Man<br />

erweist <strong>der</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> <strong>der</strong> Forschung<br />

ke<strong>in</strong>en Dienst, wenn man verlangt,<br />

dass für sie notfalls auch das Leben<br />

von Menschen e<strong>in</strong>gesetzt wird.<br />

E<strong>in</strong>e f<strong>und</strong>amentale Differenz zwischen<br />

theoretischen <strong>und</strong> praktischen Diszipl<strong>in</strong>en<br />

zeigt sich <strong>in</strong> ihrem Umgang mit<br />

Hypothesen. Zu dem erstaunlichen Erfolg<br />

<strong>der</strong> neuzeitlichen theoretischen Wissenschaften<br />

hat zu e<strong>in</strong>em guten Teil beigetragen,<br />

dass sie nicht nur <strong>in</strong> weitem Umfang<br />

von Hypothesen Gebrauch gemacht<br />

haben, son<strong>der</strong>n sich auch häufig damit<br />

zufrieden gaben, hypothetisches Wissen<br />

zu erarbeiten. Analysiert man die Resultate<br />

ihrer Arbeit auf ihre logische Struktur<br />

h<strong>in</strong>, so zeigt sich, dass e<strong>in</strong>e große Anzahl<br />

von ihnen die Form von Wenn-Dann-Aussagen<br />

hat. In <strong>der</strong> Regel wird nicht<br />

erforscht, was schlechth<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n was<br />

unter bestimmten Voraussetzungen <strong>der</strong><br />

Fall ist. Nun kann auch e<strong>in</strong>e praktische<br />

Diszipl<strong>in</strong> von Hypothesen Gebrauch<br />

machen. Das geschieht, wenn sie Vorerwägungen<br />

<strong>in</strong> Bezug auf Handlungsalternativen<br />

anstellt. Gleichwohl gibt es zwar e<strong>in</strong><br />

hypothetisches, nur unter bestimmten<br />

Voraussetzungen gültiges Wissen, aber es<br />

gibt ke<strong>in</strong> hypothetisches Handeln, ke<strong>in</strong><br />

wirkliches Handeln auf Probe. Mit jedem<br />

Handeln ist gleichsam <strong>der</strong> „Ernstfall“<br />

gegeben, weil mit ihm Unwi<strong>der</strong>rufliches<br />

<strong>und</strong> Endgültiges gesetzt wird. E<strong>in</strong>e Hypothese<br />

kann man zurücknehmen o<strong>der</strong> austauschen;<br />

e<strong>in</strong>e Handlung kann man zwar<br />

bereuen, aber niemals wi<strong>der</strong>rufen.<br />

Die Fragen, auf die <strong>der</strong> Theoretiker<br />

e<strong>in</strong>e Antwort sucht, hat er sich zum<strong>in</strong>dest<br />

im Pr<strong>in</strong>zip immer selbst gestellt. In dem<br />

von ihm geplanten Experiment kann er<br />

sogar den Gegenstand, auf den er se<strong>in</strong><br />

Interesse richten will, nicht nur selbst<br />

bestimmen, son<strong>der</strong>n sogar auch präparieren<br />

<strong>und</strong> gestalten. Ganz an<strong>der</strong>e Verhältnisse<br />

liegen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> vor. Der Arzt<br />

wählt sich se<strong>in</strong>e Probleme niemals selbst<br />

aus; sie werden ihm vielmehr von se<strong>in</strong>em<br />

Partner, vom Patienten gestellt. Deshalb<br />

3 Vgl. das Memorandum „Forschungsfreiheit“,<br />

We<strong>in</strong>heim 1966.<br />

17


18<br />

steht <strong>der</strong> Praktiker zudem, wie es ohneh<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Eigenart allen Handelns entspricht,<br />

auch immer unter dem Diktat <strong>der</strong> Zeit,<br />

des Hier <strong>und</strong> Jetzt. Der Theoretiker muss<br />

es aushalten können, se<strong>in</strong>e Probleme<br />

e<strong>in</strong>stweilen auch e<strong>in</strong>mal zu suspendieren<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schwebe zu lassen. Der Arzt<br />

kann h<strong>in</strong>gegen die D<strong>in</strong>ge nie auf sich<br />

beruhen lassen. Das von ihm gefor<strong>der</strong>te<br />

Handeln darf er niemals aufschieben.<br />

Der strukturelle Unterschied zwischen<br />

theoretischen <strong>und</strong> praktischen Wissenschaften<br />

zeigt sich auch im Status ihrer<br />

Vertreter. Wer zum<strong>in</strong>dest <strong>der</strong> Idee nach<br />

Erkenntnis um ihrer selbst willen sucht,<br />

kann die Resultate se<strong>in</strong>er Bemühungen <strong>in</strong><br />

Gestalt e<strong>in</strong>es Systems von Sätzen objektivieren<br />

<strong>und</strong> sich mit se<strong>in</strong>er eigenen Person<br />

zugleich davon distanzieren. Se<strong>in</strong>e Position<br />

ist die e<strong>in</strong>es unbeteiligten Beobachters,<br />

<strong>der</strong> die D<strong>in</strong>ge gleichsam von außen<br />

betrachtet. Dagegen kann <strong>der</strong> Handelnde<br />

niemals h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong> Handeln zurücktreten.<br />

In das Gegenstandsfeld, mit dem er<br />

sich befasst, ist er stets auch selbst <strong>in</strong>volviert.<br />

Denn mit se<strong>in</strong>en Handlungen hat<br />

man sich immer schon unwi<strong>der</strong>ruflich<br />

identifiziert, auch wenn e<strong>in</strong>em dies im<br />

E<strong>in</strong>zelfall vielleicht nicht gefällt o<strong>der</strong><br />

wenn man se<strong>in</strong> Handeln später bereut.<br />

Das darf man nicht übersehen, wo nach<br />

dem <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> gefragt<br />

wird. Von ihrer personalen Verankerung<br />

kann man noch nicht e<strong>in</strong>mal fiktiv abstrahieren.<br />

Das ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>, warum es bei<br />

<strong>der</strong> Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong> nicht<br />

nur um das Bild des Homo patiens, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>in</strong> gleicher Weise auch um das Bild<br />

des unter dem Diktat <strong>der</strong> Zeit stehenden<br />

Arztes geht.<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

Achtet man auf den Status <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

als den e<strong>in</strong>er praktischen Wissenschaft,<br />

wird man auch leichter <strong>der</strong> Eigenart<br />

<strong>der</strong> Begriffe gerecht, mit denen sie<br />

umgeht <strong>und</strong> mit denen sie ihr Handeln<br />

begleitet. Ihrem formalen Charakter nach<br />

s<strong>in</strong>d sie nämlich handlungsleitende Begriffe.<br />

Betrachtet man beispielsweise den<br />

Begriff <strong>der</strong> Diagnose auch auf se<strong>in</strong>e Funktion<br />

h<strong>in</strong>, so zeigt sich sofort, dass er allenfalls<br />

beiläufig e<strong>in</strong> Erkenntnisbegriff ist, <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Kern jedoch zu den Handlungselementen<br />

gehört, <strong>der</strong>er sich <strong>der</strong> Arzt<br />

bedient, um die <strong>in</strong> <strong>der</strong> jeweiligen Situation<br />

gebotenen Handlungen nicht nur zu<br />

ermitteln, son<strong>der</strong>n zugleich auch zu normieren.<br />

Deswegen kann es unärztliches<br />

Verhalten se<strong>in</strong>, Diagnostik zu betreiben,<br />

aus <strong>der</strong> nichts weiter folgt. Losgelöst aus<br />

<strong>der</strong> Handlungskette, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie ihre unvertretbare<br />

Funktion erfüllt, kann <strong>der</strong> pure<br />

Erkenntniswert e<strong>in</strong>er Diagnose nur wenig<br />

Interesse erwecken.<br />

Auch <strong>der</strong> Leitbegriff <strong>der</strong> Krankheit<br />

gehört zu den praktischen Begriffen. Er<br />

markiert jenen Teilbereich menschlichen<br />

Lebens <strong>und</strong> Leidens, auf den die ärztliche<br />

Kunst ausgerichtet ist <strong>und</strong> <strong>in</strong> dem sie<br />

aktiv wird. Hier sche<strong>in</strong>t es, als würde sich<br />

die e<strong>in</strong>seitig an den Naturwissenschaften<br />

orientierte Deutung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> schließlich<br />

doch noch bewähren. E<strong>in</strong> Krankheitsprozess<br />

ist e<strong>in</strong> Naturvorgang <strong>und</strong><br />

ke<strong>in</strong> Resultat des E<strong>in</strong>greifens übernatürlicher<br />

Mächte – das ist e<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong>satz, den<br />

man schon <strong>der</strong> griechischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> verdankt.<br />

Die Erforschung <strong>der</strong>artiger Vorgänge<br />

mit den Mitteln <strong>der</strong> neuzeitlichen<br />

Naturwissenschaft hat dann e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />

von Möglichkeiten eröffnet, gezielt <strong>in</strong> sie


<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

e<strong>in</strong>zugreifen. Dennoch bleibt jede Argumentation<br />

lückenhaft, mit <strong>der</strong> man versucht,<br />

auf eben diesen Möglichkeiten<br />

e<strong>in</strong>en natürlichen Krankheitsbegriff zu<br />

gründen. Denn e<strong>in</strong>en natürlichen Krankheitsbegriff<br />

gibt es nicht. Das sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e<br />

reichlich provokante These zu se<strong>in</strong>. Aber<br />

auch wenn Krankheiten Naturprozesse<br />

s<strong>in</strong>d, lässt sich dieser Tatsache alle<strong>in</strong> noch<br />

ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis darauf entnehmen, an welchen<br />

Kriterien man sich orientieren soll,<br />

wenn man aus <strong>der</strong> unüberschaubar großen<br />

Fülle <strong>der</strong> Naturereignisse e<strong>in</strong>e Teilklasse<br />

von Vorgängen e<strong>in</strong>grenzen will,<br />

um sie <strong>und</strong> nur sie als Krankheiten zu<br />

markieren <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihren von <strong>der</strong> Natur<br />

vorgezeichneten Verlauf e<strong>in</strong>zugreifen.<br />

Noch ke<strong>in</strong>er <strong>der</strong> vielen Versuche, e<strong>in</strong>en<br />

Krankheitsbegriff ausschließlich mit Hilfe<br />

natürlicher Kriterien zu def<strong>in</strong>ieren, hat<br />

bislang zu e<strong>in</strong>em Ergebnis geführt, dem es<br />

gelungen wäre, allgeme<strong>in</strong>e Anerkennung<br />

zu f<strong>in</strong>den.<br />

Die Vergeblichkeit dieser Versuche<br />

erhellt sich aus dem e<strong>in</strong>fachen Sachverhalt:<br />

Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit betriebenen<br />

Naturwissenschaften s<strong>in</strong>d mitsamt ihren<br />

Begriffen wertfrei. Ihre Neutralität gegenüber<br />

allen Werten gehört zu den Faktoren,<br />

die zu ihrem beispiellosen Erfolg beigetragen<br />

haben. Der Begriff <strong>der</strong> Krankheit<br />

ist h<strong>in</strong>gegen von Hause aus e<strong>in</strong> Wertbegriff.<br />

Genauer: Er ist e<strong>in</strong> hybri<strong>der</strong> Begriff,<br />

<strong>der</strong> sowohl faktische als vor allem auch<br />

normative Momente enthält. Bedient<br />

man sich se<strong>in</strong>er, so will man bestimmte<br />

Naturvorgänge nicht nur bezeichnen,<br />

son<strong>der</strong>n zugleich auch signalisieren, dass<br />

<strong>in</strong> sie e<strong>in</strong>zugreifen statthaft, vielleicht<br />

sogar geboten ist. Wendet man diesen<br />

Begriff auf e<strong>in</strong>en solchen Vorgang an, so<br />

drückt man also aus, dass er nicht se<strong>in</strong> soll.<br />

Was se<strong>in</strong> soll o<strong>der</strong> nicht se<strong>in</strong> soll, lässt sich<br />

aber, bei Strafe des „naturalistischen Fehlschlusses“,<br />

wie ihn die Ethiker nennen,<br />

auch auf e<strong>in</strong>e noch so genaue Beobachtung<br />

dessen, was ist, also auf Faktisches<br />

alle<strong>in</strong> niemals gründen. Wer die belebte<br />

Natur mit e<strong>in</strong>em konsequent wertfreien<br />

Blick ansieht, entdeckt dort ke<strong>in</strong>e Krankheiten,<br />

son<strong>der</strong>n allenfalls aufbauende<br />

<strong>und</strong> abbauende Prozesse, die sich oft die<br />

Waage halten. Auf diese normativen<br />

Momente im Krankheitsbegriff hat übrigens<br />

auch Karl Jaspers <strong>in</strong> <strong>der</strong> „Allgeme<strong>in</strong>en<br />

Psychopathologie“, <strong>der</strong> bedeutendsten<br />

se<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischen Arbeiten, aufmerksam<br />

gemacht: „In <strong>der</strong> Menge <strong>der</strong><br />

Anwendungen, die <strong>der</strong> Krankheitsbegriff<br />

gef<strong>und</strong>en hat, ... ist das e<strong>in</strong>zig Geme<strong>in</strong>same,<br />

daß damit immer e<strong>in</strong> Werturteil ausgedrückt<br />

wird. Krank heißt unter irgende<strong>in</strong>em,<br />

aber ke<strong>in</strong>eswegs immer gleichen<br />

Gesichtspunkt schädlich, unerwünscht,<br />

m<strong>in</strong><strong>der</strong>wertig ... Mit krank wird zunächst<br />

bezeichnet, daß etwas e<strong>in</strong>en Unwert darstellt“<br />

[Jaspers 1965]. Ohne e<strong>in</strong>e solche<br />

Normierung präsentieren sich Krankheiten<br />

als bloße Naturprozesse wie alle an<strong>der</strong>en<br />

Naturvorgänge auch. Hat man aber<br />

erst e<strong>in</strong>mal bestimmte Prozesse als Krankheiten<br />

normiert, braucht man sich von<br />

niemandem daran h<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu lassen,<br />

ihren Verlauf mit allen Techniken wertneutraler<br />

Naturforschung zu analysieren. 4<br />

4 In <strong>der</strong> Sprache unseres Alltags bedienen wir<br />

uns ständig hybri<strong>der</strong> Begriffe. Ohneh<strong>in</strong> entspricht<br />

es unserer Lebenspraxis, dass wir die<br />

D<strong>in</strong>ge, die uns begegnen <strong>und</strong> mit denen wir<br />

uns befassen, nicht nur bezeichnen, son<strong>der</strong>n<br />

19


20<br />

Wer die normative Basis des Krankheitsbegriffes<br />

im Auge behält, wird sich<br />

schwerlich darüber w<strong>und</strong>ern, dass die<br />

Grenzen se<strong>in</strong>er Anwendung seit eh <strong>und</strong> je<br />

dem Wandel unterworfen s<strong>in</strong>d. Das lässt<br />

sich an Hand von manchen Beispielen<br />

wie mit denen <strong>der</strong> Infertilität o<strong>der</strong> des<br />

Alkoholismus, <strong>der</strong> Migräne o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Adipositas,<br />

<strong>der</strong> Schlaflosigkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Gedeihstörungen <strong>der</strong> frühen K<strong>in</strong>dheit gut<br />

belegen. Lehrreich ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

auch <strong>der</strong> Umgang mit jenen<br />

Geisteskrankheiten, die – an<strong>der</strong>s als heute<br />

– ehedem nicht als eigentliche Krankheiten<br />

anerkannt waren, aber auch <strong>der</strong><br />

Umgang mit psychischen Deviationen<br />

sowie mit Ersche<strong>in</strong>ungsformen <strong>der</strong> Sexualität,<br />

für die <strong>in</strong> früheren Zeiten nicht <strong>der</strong><br />

Arzt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Exorzist, <strong>der</strong> Beichtvater,<br />

wenn nicht sogar <strong>der</strong> Strafrichter zuständig<br />

war. Er<strong>in</strong>nern darf man <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang auch an die Vexierfrage,<br />

ob das Altern als Krankheit anzusehen sei;<br />

es ist e<strong>in</strong>e Frage, die sich mit Hilfe naturwissenschaftlicher<br />

Analysen alle<strong>in</strong> selbst<br />

dann nicht beantworten ließe, wenn<br />

sämtliche mikrobiologisch <strong>und</strong> biochemisch<br />

erfassbaren Elemente des Alterungsprozesses<br />

bereits erforscht wären.<br />

Man hat sich jedenfalls im Lauf <strong>der</strong> Zeit<br />

daran gewöhnt, e<strong>in</strong>em immer größeren<br />

Kreis von Zuständen „Krankheitswert“<br />

zuzusprechen. Das zeigt sich auch daran,<br />

dass das Krankenbett heute nicht mehr<br />

als das generelle <strong>und</strong> zentrale Leitsymbol<br />

für alle ernsthaften Krankheiten gelten<br />

kann. Es ist <strong>in</strong>dessen ke<strong>in</strong> Zufall, dass die<br />

Entwicklung diese Richtung genommen<br />

hat. Denn die mit <strong>der</strong> Krankenrolle verb<strong>und</strong>enen,<br />

nach <strong>und</strong> nach immer weiter<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

ausgedehnten sozialen Privilegien können<br />

e<strong>in</strong>en dazu verführen, diese Rolle<br />

unbewusst, manchmal sogar gezielt anzustreben.<br />

Dann gerät allerd<strong>in</strong>gs leicht <strong>in</strong><br />

Vergessenheit, dass als eigentliche Krankheiten<br />

ursprünglich nur Zustände <strong>und</strong><br />

Prozesse galten, h<strong>in</strong>ter denen, sich selbst<br />

überlassen, <strong>der</strong> Tod droht. Wie immer<br />

aber die Kriterien auch def<strong>in</strong>iert se<strong>in</strong><br />

mögen, gemäß denen man e<strong>in</strong>em Menschen<br />

zugesteht, die Krankenrolle <strong>in</strong><br />

Anspruch zu nehmen – <strong>in</strong> jedem Fall wird<br />

<strong>der</strong> Arzt ebenso wie <strong>der</strong> Patient akzeptieren<br />

müssen, dass Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

nicht durch e<strong>in</strong>e randscharfe Grenze,<br />

son<strong>der</strong>n durch e<strong>in</strong>e breite Grauzone vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

getrennt s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e Grauzone, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> sich die ärztliche Kunst <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em<br />

Maße zu bewähren hat.<br />

Der Wandel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bestimmung des<br />

Krankheitsbegriffes f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Entsprechung<br />

im Bereich <strong>der</strong> Medikamente.<br />

Medikamente s<strong>in</strong>d bekanntlich Stoffe, die<br />

geeignet <strong>und</strong> dazu bestimmt s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong><br />

Krankheitsprozesse e<strong>in</strong>zugreifen. Man<br />

Fortsetzung Fn 4<br />

zugleich auch unter bestimmten, ständig<br />

wechselnden Gesichtspunkten bewerten.<br />

Die randscharfe Unterscheidung normativer<br />

<strong>und</strong> deskriptiver Elemente ist bereits e<strong>in</strong><br />

Ergebnis jener Abstraktion, die zu den<br />

Voraussetzungen je<strong>der</strong> Wissenschaft gehört,<br />

<strong>in</strong>sofern sie sich von <strong>der</strong> lebenspraktischen<br />

E<strong>in</strong>stellung des Alltags abhebt. E<strong>in</strong> triviales<br />

Beispiel für e<strong>in</strong>en solchen hybriden Begriff<br />

ist <strong>der</strong> Begriff „Unkraut“. Wo man ihn verwendet,<br />

will man bewerten, <strong>und</strong> zwar unter<br />

Gesichtspunkten, die sich nicht alle<strong>in</strong> den<br />

botanischen Fakten entnehmen lassen.<br />

Unkraut f<strong>in</strong>det sich daher nur dort, wo<br />

Menschen zielgerichtet aktiv s<strong>in</strong>d. In <strong>der</strong><br />

freien, vom Menschen, se<strong>in</strong>en Plänen <strong>und</strong><br />

Bewertungen noch nicht <strong>in</strong> Besitz genommenen<br />

Natur lässt sich ke<strong>in</strong> Unkraut entdecken.


<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

suchte sie lange Zeit vorwiegend <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Natur; später war die Herstellung solcher<br />

Stoffe Aufgabe gezielter Forschung bis h<strong>in</strong><br />

zur mo<strong>der</strong>nen <strong>in</strong>dustriellen Projektforschung.<br />

Heute kann die Entwicklung von<br />

Lifestyle-„Medikamenten“, also von Stoffen,<br />

von denen ihre Konsumenten e<strong>in</strong>e<br />

Anhebung <strong>der</strong> Bef<strong>in</strong>dlichkeit <strong>und</strong> des<br />

Gefühlslebens erwarten dürfen, Material<br />

zu e<strong>in</strong>er lehrreichen Fallstudie liefern. Es<br />

s<strong>in</strong>d Mechanismen <strong>der</strong> Ökonomie, die<br />

dem Interesse Vorschub leisten, die<br />

Zustände, die sich auf diese Weise <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />

diesem S<strong>in</strong>n modifizieren lassen, unter<br />

gleichsam den „Schutz“ des Krankheitsbegriffes<br />

zu stellen. E<strong>in</strong> erfolgreiches<br />

Sachbuch hat diese D<strong>in</strong>ge mit journalistischen<br />

Mitteln aufzubereiten versucht <strong>und</strong><br />

sie dabei gewiss auch vergröbert [Blech<br />

2003]. Dennoch lässt sich nicht ausschließen,<br />

dass nicht mehr nur zur Bekämpfung<br />

von Krankheiten Medikamente, son<strong>der</strong>n<br />

auch zu potenziellen Medikamenten entsprechende<br />

Krankheiten gesucht werden:<br />

„Jede mediz<strong>in</strong>technische Möglichkeit<br />

führt bei entsprechen<strong>der</strong> sozialpsychologischer<br />

Aufbereitung zur gesellschaftlichen<br />

Nachfrage, die sich als Krankheit<br />

beschreiben lässt“ [Forschner 2001]. E<strong>in</strong><br />

bekannter Journalist formuliert sogar,<br />

leicht übertreibend: „Die demokratische<br />

Zukunft im biotechnischen Zeitalter<br />

hängt von <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition des Wortes<br />

‚Krankheit’ ab. Krankheit ist vieles <strong>und</strong><br />

am Ende das Leben selbst“ [Schirrmacher<br />

2001]. Freilich könnte es se<strong>in</strong>, dass sich<br />

die Tendenz, e<strong>in</strong>e immer größere Anzahl<br />

von Zuständen unter dem Begriff <strong>der</strong><br />

Krankheit zu subsumieren, e<strong>in</strong>es Tages<br />

e<strong>in</strong>mal umkehrt. Dergleichen werden wir<br />

vermutlich von dem Zwang zur Rationierung<br />

im Ges<strong>und</strong>heitswesen zu erwarten<br />

haben, von dem heute erst die Anfänge<br />

spürbar s<strong>in</strong>d.<br />

Den Status <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als den e<strong>in</strong>er<br />

praktischen Wissenschaft <strong>und</strong> den normativen<br />

Kern des Krankheitsbegriffes<br />

habe ich <strong>in</strong> diesem Vortrag deswegen<br />

beson<strong>der</strong>s betont, weil sich so die Umrisse<br />

e<strong>in</strong>es <strong>Menschenbild</strong>es <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> am<br />

besten nachzeichnen lassen. Wer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Krankheit nichts an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong> Naturereignis<br />

sieht, kann auf dieser Basis alle<strong>in</strong><br />

noch nicht legitimieren, dass man <strong>in</strong> sie<br />

e<strong>in</strong>greift, dass man nicht bereit ist, <strong>der</strong><br />

Natur ihren Lauf zu lassen – wozu ihn e<strong>in</strong><br />

Radikalnaturalist durchaus ermutigen<br />

könnte. Die Rede von bloßen Umrissen<br />

e<strong>in</strong>es <strong>Menschenbild</strong>es ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

mit Bedacht gewählt. Denn<br />

die unterschiedlichen Bil<strong>der</strong>, die h<strong>in</strong>ter<br />

den e<strong>in</strong>zelnen Richtungen <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

stehen, weisen e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen<br />

Gr<strong>und</strong>bestand auf. Er eröffnet die Chance,<br />

bestimmte Legitimationsfragen zu<br />

beantworten: „Warum überhaupt <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>?<br />

– Warum lässt man dem Menschen<br />

die Betreuung durch die ärztliche Kunst<br />

angedeihen? – Warum gesteht man ihm<br />

das Recht zu, e<strong>in</strong>e solche Betreuung sogar<br />

zu verlangen?“ Auf dem Boden e<strong>in</strong>er<br />

strikt als Naturwissenschaft verstandenen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> alle<strong>in</strong> lassen sich solche Fragen<br />

jedenfalls nicht beantworten.<br />

Die Antworten f<strong>in</strong>det man im H<strong>in</strong>weis<br />

auf das im Menschen, was <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er natürlichen<br />

Faktizität nicht aufgeht. Man hat es<br />

im Auge, wenn man mit oft missbrauchten,<br />

im Kern aber immer noch unverbrauchten<br />

Ausdrücken von Humanität<br />

21


22<br />

<strong>und</strong> von <strong>der</strong> Würde des Menschen spricht.<br />

Wenn man sie durch Unantastbarkeit auszeichnet,<br />

so bedeutet dies nicht, dass sie<br />

nicht missachtet werden könnte. Dergleichen<br />

geschieht ohneh<strong>in</strong> allenthalben.<br />

Unantastbar ist sie – mitsamt den auf ihr<br />

basierenden Menschenrechten – deswegen,<br />

weil sie jedem Menschen kraft eigenen<br />

Rechts o<strong>der</strong>, wie man auch zu sagen<br />

pflegt, schon von Geburt an zukommt. Sie<br />

wird ihm daher nicht von se<strong>in</strong>esgleichen<br />

verliehen, <strong>und</strong> sie kann ihm deshalb auch<br />

von niemandem entzogen werden. Sie<br />

kommt ihm zu, weil er, unbeschadet se<strong>in</strong>er<br />

physischen Existenz, auch e<strong>in</strong> moralfähiges<br />

Wesen ist, e<strong>in</strong> Wesen, das nicht<br />

nur reagiert, son<strong>der</strong>n auch agiert, weil er<br />

mith<strong>in</strong> das Subjekt se<strong>in</strong>er Handlungen ist,<br />

die er unter Normen stellt, <strong>und</strong> zwar auch<br />

dann, wenn er im E<strong>in</strong>zelfall gegen sie verstößt<br />

– mit an<strong>der</strong>en Worten: weil er e<strong>in</strong><br />

Wesen ist, das für se<strong>in</strong> Handeln verantwortlich<br />

ist <strong>und</strong> deshalb dafür auch zur<br />

Rechenschaft gezogen werden kann. 5<br />

Nur als e<strong>in</strong> so geartetes Wesen kann<br />

e<strong>in</strong> je<strong>der</strong> Mensch von se<strong>in</strong>esgleichen jene<br />

Anerkennung verlangen, mit <strong>der</strong> es nicht<br />

zu vere<strong>in</strong>baren ist, dass man mit ihm ausschließlich<br />

wie mit e<strong>in</strong>em Objekt umgeht.<br />

So spricht <strong>der</strong> Arzt nicht nur über<br />

se<strong>in</strong>en Patienten, son<strong>der</strong>n vor allem auch<br />

mit ihm – er spricht ihn an. Weil er von<br />

je<strong>der</strong>mann for<strong>der</strong>n kann, als moralfähiges<br />

Wesen anerkannt zu werden, darf <strong>der</strong><br />

Patient auch Hilfe beanspruchen, wenn<br />

se<strong>in</strong>e physische Existenz bedroht o<strong>der</strong><br />

ihre Entfaltung durch Leiden beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t<br />

ist. Dabei ist zu bedenken, dass <strong>der</strong><br />

Mensch durch Tod <strong>und</strong> Leiden zwar auch<br />

von außen, vor allem jedoch schon durch<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

se<strong>in</strong>e eigene Natur bedroht ist. Die Bereitschaft<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Wille, die physische<br />

Gr<strong>und</strong>lage des bedrohten menschlichen<br />

Lebens ohne Wenn <strong>und</strong> Aber zu erhalten,<br />

bildet für die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> den Brennpunkt<br />

aller ihrer Aufgaben, auch wenn <strong>der</strong> Arzt<br />

weiß, dass er auf längere Sicht immer<br />

scheitern wird, da auch er niemanden vor<br />

dem Tode bewahren kann. Dieser Gr<strong>und</strong>satz<br />

ist von Christoph Wilhelm Hufeland,<br />

dem Arzt <strong>der</strong> Weimarer Klassiker, auf e<strong>in</strong>prägsame<br />

Weise ausformuliert worden:<br />

Der Arzt „soll <strong>und</strong> darf nichts an<strong>der</strong>es<br />

tun, als Leben erhalten; ob es e<strong>in</strong> Glück<br />

o<strong>der</strong> Unglück sei, ob es Wert habe o<strong>der</strong><br />

nicht, dies geht ihn nichts an, <strong>und</strong> maßt<br />

er sich e<strong>in</strong>mal an, diese Rücksicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />

Geschäft mit aufzunehmen, so s<strong>in</strong>d die<br />

Folgen unabsehbar, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Arzt wird <strong>der</strong><br />

gefährlichste Mensch im Staate; denn ist<br />

e<strong>in</strong>mal die L<strong>in</strong>ie überschritten, glaubt<br />

sich <strong>der</strong> Arzt e<strong>in</strong>mal berechtigt, über die<br />

Notwendigkeit e<strong>in</strong>es Lebens zu entscheiden,<br />

so braucht es nur stufenweise Progressionen,<br />

um den Unwert, <strong>und</strong> folglich<br />

die Unnötigkeit e<strong>in</strong>es Menschenlebens<br />

auch auf an<strong>der</strong>e Fälle anzuwenden“<br />

5 Daran än<strong>der</strong>t auch die Tatsache nichts, dass<br />

zu den notwendigen, wenngleich nicht h<strong>in</strong>reichenden<br />

Voraussetzungen <strong>der</strong> Moralfähigkeit<br />

<strong>und</strong> des Moralbewusstse<strong>in</strong>s des Menschen<br />

die Ergebnisse se<strong>in</strong>er neuronalen Entwicklung<br />

gehören. Auch wenn sich das<br />

Zentralnervensystem als e<strong>in</strong> System von<br />

schlechth<strong>in</strong> lückenlosen Kausalrelationen<br />

erweisen sollte, bliebe das von diesem System<br />

gestützte Moralbewusstse<strong>in</strong> nicht nur<br />

e<strong>in</strong> Faktum, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong> Faktor des<br />

menschlichen Selbstbewusstse<strong>in</strong>s, dessen<br />

Herkunft durch die Ergebnisse <strong>der</strong> Gehirnforschung<br />

zwar e<strong>in</strong>e bestimmte Deutung<br />

erfahren, dadurch aber nicht entwertet <strong>und</strong><br />

schon gar nicht unwirksam gemacht werden<br />

kann.


<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

[Hufeland 1816]. Dieser Satz verdient<br />

beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit gerade <strong>in</strong><br />

unserer Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> beispielsweise von<br />

Holland aus, e<strong>in</strong>em für viele von uns<br />

mental fremd gewordenen Land, Bewegungen<br />

<strong>in</strong> Gang gekommen s<strong>in</strong>d, <strong>der</strong>en<br />

Konsequenzen e<strong>in</strong>stweilen noch niemand<br />

absehen kann. 6<br />

Die condicio humana als die e<strong>in</strong>es<br />

moralfähigen, schon auf Gr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />

eigenen Natur vom Tod bedrohten Wesens<br />

verkennt, wer nicht berücksichtigt,<br />

dass <strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong> Wesen ist, vielleicht<br />

das e<strong>in</strong>zige Wesen überhaupt, das von se<strong>in</strong>er<br />

Sterblichkeit weiß. Dieses Bewusstse<strong>in</strong><br />

prägt auch die Existenzweise dessen, <strong>der</strong><br />

se<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> diesseitigen Welt nur<br />

als e<strong>in</strong>e Phase e<strong>in</strong>es umfassen<strong>der</strong>en<br />

Lebens ansieht. Gleichwohl pflegt <strong>der</strong><br />

Mensch unter den Bed<strong>in</strong>gungen des Alltags<br />

das Bewusstse<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sterblichkeit<br />

zu verdrängen. Aber jede ernsthafte<br />

Krankheit konfrontiert ihn mit <strong>der</strong> Tatsache,<br />

dass er unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong><br />

vita brevis, des durch se<strong>in</strong>e Kürze geprägten<br />

Lebens existiert, wie es dem Arzt<br />

schon von alters her von dem berühmten<br />

ersten hippokratischen Aphorismus e<strong>in</strong>geprägt<br />

wurde. Zu dieser condicio humana<br />

gehört freilich auch, dass <strong>der</strong> Mensch<br />

die St<strong>und</strong>e se<strong>in</strong>es Todes gerade nicht<br />

kennt. So gehört zu jedem bewussten<br />

Leben des Menschen stets <strong>der</strong> Ausblick <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Zukunft, die für ihn noch offen ist.<br />

Es gehört zu den Aufgaben des auf die<br />

Erhaltung des Lebens verpflichteten Arztes,<br />

mit allen Mitteln se<strong>in</strong>em Patienten<br />

diese Zukunft offen zu halten.<br />

Damit s<strong>in</strong>d schon die wichtigsten Elemente<br />

genannt, die das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> konstituieren. Es ist das Bild<br />

e<strong>in</strong>es Menschen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> moralfähiges,<br />

durch se<strong>in</strong>e unantastbare Würde ausgezeichnetes<br />

Wesen ist, das unter den Bed<strong>in</strong>gungen<br />

se<strong>in</strong>er von <strong>der</strong> Natur gegebenen<br />

biologischen Ausstattung se<strong>in</strong> Leben<br />

führt, <strong>in</strong> dieser Natürlichkeit aber nicht<br />

aufgeht. Er ist e<strong>in</strong> Wesen, das auf die<br />

humane Anerkennung durch se<strong>in</strong>esgleichen<br />

angewiesen ist, die es auch verlangen<br />

kann; er ist e<strong>in</strong> dem Leiden ausgesetztes<br />

Wesen, das von den Gefährdungen<br />

se<strong>in</strong>es Dase<strong>in</strong>s <strong>und</strong> von se<strong>in</strong>er Sterblichkeit<br />

weiß <strong>und</strong> das von se<strong>in</strong>esgleichen Hilfe<br />

zur Erhaltung se<strong>in</strong>es physischen Lebens<br />

erwarten <strong>und</strong> sogar verlangen darf. Damit<br />

s<strong>in</strong>d freilich zunächst nur M<strong>in</strong>imalbed<strong>in</strong>gungen<br />

skizziert, denen e<strong>in</strong> solches <strong>Menschenbild</strong><br />

genügen muss. Darauf sollten<br />

sich freilich alle e<strong>in</strong>igen können, die sich,<br />

auf dem Boden welcher mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Richtung auch immer, mit Hilfe <strong>der</strong> ärztlichen<br />

Kunst um die Erhaltung menschlichen<br />

Lebens sorgen. H<strong>in</strong>gegen ist e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiges<br />

<strong>Menschenbild</strong> dort nicht mehr<br />

6 Dem Arzt wird zugemutet, sich an gezielten<br />

Tötungen von Menschen zu beteiligen. Wie<br />

weit die Entwicklung schon gediehen ist,<br />

zeigt sich auch daran, dass e<strong>in</strong>ige Bioethiker<br />

mittlerweile bereit s<strong>in</strong>d, bei Morbus Alzheimer<br />

im Frühstadium e<strong>in</strong>e Indikation zur<br />

Euthanasie zu stellen, so dass überdies auch<br />

die unfreiwillige Euthanasie bereits statistikfähig<br />

geworden ist. Mit <strong>der</strong> Perversion <strong>der</strong><br />

Arztrolle hat sich offenbar manch e<strong>in</strong>er<br />

schon abgef<strong>und</strong>en. Im Gegensatz zur herkömmlichen,<br />

auf unbed<strong>in</strong>gte Lebenserhaltung<br />

zielende Ausrichtung dieser Rolle wird<br />

dem Arzt nunmehr das gezielte Töten von<br />

Menschen nicht nur erlaubt, son<strong>der</strong>n er ist<br />

sogar <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige, dem es gestattet ist, Euthanasie<br />

zu exekutieren. Man darf fragen, welche<br />

Eigenschaft o<strong>der</strong> welche Kompetenz<br />

gerade den Arzt zu diesem Tötungsamt qualifizieren<br />

soll.<br />

23


24<br />

maßgebend, wo man dem Arzt e<strong>in</strong>e Lizenz<br />

zur gezielten Tötung ausstellt <strong>und</strong><br />

damit e<strong>in</strong>e Entwicklung beför<strong>der</strong>t, an dessen<br />

Ende <strong>der</strong> zur Tötung freigegebene<br />

Mensch, grobschlächtig ausgedrückt, zu<br />

e<strong>in</strong>em Stück hom<strong>in</strong>i<strong>der</strong> Biomasse degradiert<br />

ist.<br />

Es sche<strong>in</strong>t, als könnte man es, was die<br />

Gr<strong>und</strong>züge des <strong>Menschenbild</strong>es <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> anbelangt, mit dieser Skizze<br />

e<strong>in</strong>stweilen bewenden lassen. Es gibt<br />

<strong>in</strong>dessen e<strong>in</strong>e Dimension des Problems,<br />

die hier noch nicht zur Sprache gekommen<br />

ist. Bisher stand die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong><br />

Gestalt <strong>der</strong> kurativen Individualmediz<strong>in</strong><br />

im Blickfeld, wie sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Interaktion<br />

von Arzt <strong>und</strong> Patient praktiziert wird, die<br />

sich beide mit Namen ansprechen können.<br />

An<strong>der</strong>e, heute immer wichtiger werdende<br />

Zweige <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, so das öffentliche<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> die Epidemiologie,<br />

blieben ausgeklammert. Gewiss<br />

s<strong>in</strong>d auch von dem, was <strong>in</strong> diesen Bereichen<br />

erkannt <strong>und</strong> entschieden wird, am<br />

Ende immer <strong>in</strong>dividuelle Menschen<br />

betroffen. Doch unmittelbar geht es dort<br />

nicht um identifizierte Individuen, son<strong>der</strong>n<br />

um statistische Gesamtheiten. Ähnliches<br />

gilt für die kl<strong>in</strong>ische Forschung, die<br />

zwar von <strong>in</strong>dividuellen Patienten ausgeht<br />

<strong>und</strong> bei ihnen ansetzt, jedoch auf Ergebnisse<br />

zielt, die sich auf statistische Kollektive<br />

beziehen. Hier reicht die E<strong>in</strong>stellung<br />

nicht aus, die <strong>der</strong> ausschließlich kurativ<br />

tätige Arzt angesichts des <strong>in</strong>dividuellen<br />

Patienten kultiviert. Schon mit je<strong>der</strong> Randomisierung<br />

wird e<strong>in</strong> Stück personaler<br />

Individualität des an e<strong>in</strong>er kl<strong>in</strong>ischen Studie<br />

beteiligten Patienten gleichsam ausgeklammert.<br />

Die unübersehbaren Erfolge,<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

die <strong>in</strong> diesen Bereichen erzielt werden,<br />

sollten e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dessen davon abhalten, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>stellung, die personal ansprechbare<br />

Individuen zu Elementen von statistischen<br />

Gesamtheiten nivelliert, lediglich<br />

e<strong>in</strong> Defizit zu sehen.<br />

Die Orientierung an nur statistisch<br />

erfassten Gesamtheiten steht auch im<br />

Rücken <strong>der</strong> vom kurativ tätigen Arzt praktizierten<br />

Individualmediz<strong>in</strong>. Nicht immer<br />

macht man sich klar, dass die fachliche<br />

Kompetenz des Individualarztes zu e<strong>in</strong>em<br />

guten Teil auch auf e<strong>in</strong>em Wissen von<br />

probabilistischem Charakter beruht. Freilich<br />

wusste man von je her, dass es für die<br />

ärztliche Praxis kaum e<strong>in</strong>e Regel gibt, die<br />

ohne Ausnahme nahtlos auf alle wirklichen<br />

o<strong>der</strong> gar auf alle denkbaren Fälle<br />

passt. Je<strong>der</strong> Arzt ist sich zudem dessen<br />

bewusst, dass er die Situation, mit <strong>der</strong> er<br />

konfrontiert wird, niemals <strong>in</strong> allen E<strong>in</strong>zelheiten<br />

durchschaut, dass er immer auf<br />

Zufälle gefasst se<strong>in</strong> <strong>und</strong> daher fähig se<strong>in</strong><br />

muss, die daraus folgende Unsicherheit<br />

auszuhalten. Schon längst gehört es zum<br />

Erfahrungsschatz des Arztes, dass er im<br />

Raum des nur Wahrsche<strong>in</strong>lichen tätig<br />

werden muss, <strong>in</strong> dem er sich nur noch an<br />

se<strong>in</strong>e Urteilskraft halten kann.<br />

Heute hat man längst gelernt, Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />

zu quantifizieren <strong>und</strong><br />

mit eigens zu diesem Zweck entwickelten<br />

mathematischen Methoden zu behandeln.<br />

Stehen e<strong>in</strong>em diese Methoden zur<br />

Verfügung, muss man sich nicht mehr<br />

damit begnügen, im Zufall nur e<strong>in</strong>e gelegentliche<br />

Ausnahme von <strong>der</strong> Regel zu<br />

sehen, weil man mit ihrer Hilfe jetzt auch<br />

gezielt nach Regeln des Zufalls suchen<br />

kann. Nun beruht das se<strong>in</strong>er Struktur


<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

nach probabilistische Wissen, das <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>ne Arzt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Tätigkeit umsetzt,<br />

auf e<strong>in</strong>er Unzahl von kl<strong>in</strong>ischen Studien,<br />

die er <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vielfalt ihrer Fragestellungen<br />

<strong>und</strong> Methoden selbst kaum mehr überblicken<br />

<strong>und</strong> auswerten kann. Auf <strong>der</strong> Basis<br />

von relativen Häufigkeiten <strong>und</strong> von konventionell<br />

festgesetzten, den Zufall m<strong>in</strong>imierenden<br />

Signifikanzgrenzen werden<br />

dort die Werte von Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />

erarbeitet, mit denen Wirkungen <strong>der</strong> jeweils<br />

untersuchten Maßnahme zu erwarten<br />

s<strong>in</strong>d. Vom mo<strong>der</strong>nen Arzt erwartet<br />

man denn auch, dass er mit den Gr<strong>und</strong>lagen<br />

<strong>der</strong> Biometrie vertraut <strong>und</strong> fähig ist,<br />

mit quantifizierten Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />

umzugehen. Trotzdem kann er dem<br />

Dilemma nicht ausweichen, <strong>in</strong> den ihn<br />

das probabilistische Wissen führt. Er hat<br />

gelernt, dass es aus pr<strong>in</strong>zipiellen Gründen<br />

nicht möglich ist, aus <strong>der</strong> Statistik sichere<br />

Urteile o<strong>der</strong> gar Voraussagen über e<strong>in</strong>en<br />

konkreten E<strong>in</strong>zelfall abzuleiten. Der unverwechselbare,<br />

zudem durch den Besitz<br />

von Menschenrechten ausgezeichnete <strong>in</strong>dividuelle<br />

Patient kommt <strong>in</strong> ihr nicht vor.<br />

Dennoch wird vom kurativ tätigen Arzt<br />

etwas verlangt, was er, streng genommen,<br />

gar nicht leisten kann: Er soll auf <strong>der</strong><br />

Gr<strong>und</strong>lage probabilistischen Wissens Entscheidungen<br />

fällen, die jeweils e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen<br />

Patienten <strong>und</strong> gerade nicht<br />

e<strong>in</strong> statistisches Kollektiv betreffen.<br />

Um dem Arzt im Labyr<strong>in</strong>th <strong>der</strong> Probabilistik<br />

zu Hilfe zu kommen, hat man ihm<br />

<strong>in</strong> Gestalt <strong>der</strong> Evidenzbasierten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

(EbM) e<strong>in</strong> Hilfsmittel an die Hand gegeben,<br />

das die weit verzweigten <strong>und</strong> ihn<br />

manchmal auch verwirrenden Massen<br />

statistischer Informationen aufarbeitet<br />

<strong>und</strong> es ihm erleichtert, sich <strong>in</strong> diesem<br />

schwer zu überschauenden Bereich verlässlich<br />

zu orientieren. Man sollte sich<br />

gewiss davor hüten, den Nutzen kle<strong>in</strong>zureden,<br />

<strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> EbM ziehen lässt.<br />

Doch auch für sie gilt, wie für viele Neuerungen,<br />

die anfangs überschätzt werden,<br />

dass sich die mit ihr verknüpften Hoffnungen<br />

nicht ganz erfüllt haben. Ohne<br />

Zweifel kann sie dem Arzt bei se<strong>in</strong>en Entscheidungen<br />

zu Hilfe kommen. Ihm diese<br />

Entscheidungen im E<strong>in</strong>zelfall abnehmen<br />

o<strong>der</strong> gar se<strong>in</strong>e Urteilskraft überflüssig<br />

machen, kann sie nicht. Im Gegenteil:<br />

Gerade umgekehrt bedarf es <strong>der</strong> Urteilskraft,<br />

um mit <strong>der</strong> EbM sachgerecht umgehen<br />

zu können. 7<br />

Im Übrigen hat das Denken <strong>in</strong> statistischen<br />

Kategorien <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zwar<br />

nicht zu e<strong>in</strong>er Entwertung des strikten<br />

Kausalitätsbegriffes, wohl aber zu e<strong>in</strong>er<br />

Relativierung <strong>der</strong> an ihm orientierten E<strong>in</strong>stellung<br />

geführt. Nach wie vor muss sich<br />

auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Krankheit immer noch jedes Ereignis als<br />

Wirkung e<strong>in</strong>er Ursache o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Ursachenkomplexes<br />

deuten lassen. Die Strukturen<br />

im Reich des Lebendigen s<strong>in</strong>d<br />

7 Wie sich immer wie<strong>der</strong> zeigt, hat <strong>der</strong><br />

Mensch, obwohl schon im Alltag ständig<br />

mit relativen Häufigkeiten <strong>und</strong> mit nur qualitativ<br />

bestimmten Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />

konfrontiert, oftmals beträchtliche Schwierigkeiten,<br />

mit quantifizierten Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />

sachgerecht umzugehen. So ist es<br />

ke<strong>in</strong> Zufall, dass die Belehrung, die <strong>der</strong> Arzt<br />

den Resultaten <strong>der</strong> EbM entnehmen kann,<br />

weniger mit den ihm von ihr vermittelten<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten, als mit den aus<br />

ihnen abgeleiteten, <strong>der</strong> Anschauung näheren<br />

NNT-Werten (number needed to treat)<br />

<strong>und</strong> NNH-Werten (number needed to harm)<br />

verb<strong>und</strong>en ist.<br />

25


26<br />

<strong>in</strong>dessen so vielschichtig <strong>und</strong> so vielfältig<br />

vernetzt, dass für die ärztliche Praxis ke<strong>in</strong>e<br />

wirkliche Chance besteht, nach dem<br />

Vorbild <strong>der</strong> experimentellen Forschungsmethoden<br />

für jedes Ereignis die vollständigen<br />

<strong>und</strong> lückenlosen Kausalketten zu<br />

ermitteln, die es hervorgebracht haben.<br />

Die Orientierung an statistischen Gesetzlichkeiten<br />

mit ihren relativen Häufigkeiten<br />

<strong>und</strong> ihren Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />

kann hier Hilfe leisten, wenn auch um<br />

den Preis, dass die Individualität des E<strong>in</strong>zelfalles<br />

unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen niemals<br />

ganz erreicht wird. Die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> hat<br />

jedenfalls die Chancen des statistischen<br />

Denkens ergriffen <strong>und</strong> für ihre Arbeit<br />

fruchtbar gemacht. Die Pathologie <strong>der</strong><br />

Krankheitsursachen kann mit <strong>der</strong> Pathologie<br />

<strong>der</strong> Risikofaktoren <strong>und</strong> <strong>der</strong> auf<br />

Gr<strong>und</strong> quantifizierter Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />

zu erwartenden Nebenwirkungen<br />

durchaus koexistieren. Jede statistische<br />

Signifikanz rechtfertigt zum<strong>in</strong>dest den<br />

Verdacht auf das Vorliegen e<strong>in</strong>er Kausalbeziehung<br />

auch dann, wenn sie die Elemente<br />

<strong>der</strong> vermuteten ursächlichen<br />

Beziehung nicht namhaft machen <strong>und</strong><br />

nicht vor Augen stellen kann.<br />

Was haben diese D<strong>in</strong>ge, was hat das<br />

Denken <strong>in</strong> statistischen Kategorien mit<br />

dem Problemkreis des <strong>Menschenbild</strong>es zu<br />

tun? Sie berühren ihn deswegen, weil <strong>der</strong><br />

Patient als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle, identifizierbare<br />

Person e<strong>in</strong>em Arzt gegenübersteht,<br />

<strong>der</strong> für ihn e<strong>in</strong> Wissen fruchtbar macht,<br />

das sich se<strong>in</strong>er Natur nach zu e<strong>in</strong>em großen<br />

Teil auf Kollektive bezieht, <strong>der</strong>en Elemente<br />

aus pr<strong>in</strong>zipiellen Gründen anonym<br />

bleiben. Als statistisches Wissen<br />

„funktioniert“ es, solange diese Elemente<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem <strong>Menschenbild</strong><br />

nicht identifiziert werden <strong>und</strong> daher auch<br />

nicht als unverwechselbare, <strong>in</strong>dividuelle<br />

Personen begegnen. Deswegen ist im<br />

Recht, wer dem Statistiker e<strong>in</strong> eigenes<br />

<strong>Menschenbild</strong>, wenn auch vielleicht nur<br />

die Schw<strong>und</strong>stufe e<strong>in</strong>es solchen Bildes<br />

zugesteht. So bleibt die Frage, wie <strong>der</strong> Arzt<br />

den Hiatus überbrückt, <strong>der</strong> zwischen se<strong>in</strong>em<br />

personalen Zugang zum Patienten<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Anonymität <strong>der</strong> Welt des Statistikers<br />

liegt, von dessen Resultaten er dennoch<br />

ständig Gebrauch machen muss.<br />

Vielleicht ist die gegenwärtige Begegnung<br />

von Vertretern verschiedener mediz<strong>in</strong>ischer<br />

Richtungen nicht die schlechteste<br />

Gelegenheit, diese Vermittlung durchschaubar<br />

zu machen, die <strong>der</strong> Arzt tagtäglich<br />

praktiziert.<br />

Damit komme ich zum Schluss. Ohne<br />

Zweifel lohnt es die Mühe, die Unterschiede<br />

<strong>der</strong> verschiedenen Richtungen<br />

<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong> Diagnose <strong>und</strong> Therapie<br />

mit Differenzen <strong>der</strong> zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

<strong>Menschenbild</strong>er zu korrelieren, Vere<strong>in</strong>bares<br />

von Unvere<strong>in</strong>barem abzugrenzen, um<br />

damit zugleich Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen<br />

e<strong>in</strong>er Kooperation zu ermitteln. Man<br />

sollte aber nicht übersehen, dass <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Frage des <strong>Menschenbild</strong>es <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

das größere Gewicht dem zukommt, was<br />

diesen Richtungen geme<strong>in</strong>sam ist. Dies<br />

muss deswegen betont werden, weil die<br />

„heißen“ Kontroversen <strong>der</strong> heutigen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> auf e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Ebene geführt<br />

werden. Es s<strong>in</strong>d die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen<br />

um das Klonen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das<br />

reproduktive Klonen <strong>und</strong> die Präimplantationsdiagnostik,<br />

um die Menschenzüchtung<br />

<strong>und</strong> das Designerbaby, vor<br />

allem aber um die freiwillige <strong>und</strong> mittler-


Literatur<br />

weile auch die unfreiwillige Euthanasie<br />

mitsamt <strong>der</strong> e<strong>in</strong>schlägigen Ökonomie.<br />

Hier prallen <strong>Menschenbild</strong>er von e<strong>in</strong>er<br />

Unvere<strong>in</strong>barkeit aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, im Vergleich<br />

zu <strong>der</strong> die Differenzen zwischen<br />

den <strong>Menschenbild</strong>ern <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong> kle<strong>in</strong><br />

ersche<strong>in</strong>en.<br />

Literatur<br />

Blech J (2003) Die Krankheitsf<strong>in</strong><strong>der</strong>. Wie<br />

wir zu Patienten gemacht werden.<br />

Fischer, Frankfurt<br />

Forschner M, Philosophie: Technischer<br />

Fortschritt <strong>und</strong> menschliche Würde.<br />

Dtsch Ärztebl (2001), 98, A 1039–1042<br />

Hufeland CW (1816) Die Verhältnisse des<br />

Arztes, 15f. Berl<strong>in</strong>. Zitiert nach: Neumann<br />

JN (2000) <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> im Zeitalter<br />

<strong>der</strong> Aufklärung. In: von Engelhardt D,<br />

Gierer A (Hrsg.), Georg Ernst Stahl<br />

(1659–1734) <strong>in</strong> wissenschaftshistorischer<br />

Sicht. 27. Deutsche Akademie<br />

<strong>der</strong> Naturforscher Leopold<strong>in</strong>a, Halle/<br />

Saale<br />

Jaspers K (1965) Allgeme<strong>in</strong>e Psychopathologie,<br />

8. unverän<strong>der</strong>te Aufl., 652f.<br />

Spr<strong>in</strong>ger, Berl<strong>in</strong> u.a.<br />

Schirrmacher F, Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e<br />

Zeitung (6. 6. 2001)<br />

Wieland W (1993) Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heitspolitik. In: Vogel H-R<br />

(Hrsg.), Illusionen <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heitspolitik,<br />

7–23. Urban & Fischer, Stuttgart<br />

27


<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />

Wolfgang Schad<br />

Der Methodenkontext<br />

Der Zoologe Otto Köhler sprach e<strong>in</strong>mal<br />

vom unbenannten Denken <strong>der</strong> Tiere, denn<br />

auch sie wählen aus <strong>der</strong> Flut <strong>der</strong> S<strong>in</strong>nesreize<br />

ausschnitthaft aus <strong>und</strong> geben ihnen<br />

Bedeutungen, auf die sie sich fokussieren.<br />

Für die Haustauben als Abkömml<strong>in</strong>ge <strong>der</strong><br />

wilden Felsentaube ist so <strong>der</strong> Kölner Dom<br />

e<strong>in</strong>e bevorzugte Felsenlandschaft. Für<br />

e<strong>in</strong>en H<strong>und</strong> ist e<strong>in</strong>e warme, duftende<br />

Wurst ebenso rasch mit e<strong>in</strong>er zu ihm passenden<br />

Bedeutung belegt. Das f<strong>in</strong>det auch<br />

unentwegt beim Menschen statt, aber auffällig<br />

freigestellter. E<strong>in</strong> Metzgermeister, e<strong>in</strong><br />

Lebensmittelchemiker, e<strong>in</strong> Stilllebenmaler<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Vegetarier können die Wurst noch<br />

an<strong>der</strong>s mit Bedeutungen belegen, als dass<br />

sie nur zum Essen verwendbar ist. Und was<br />

den Kölner Dom betrifft, werden e<strong>in</strong><br />

Kunsthistoriker, e<strong>in</strong> katholischer Priester,<br />

e<strong>in</strong> Sightsee<strong>in</strong>g-Tourist o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Flechtenforscher<br />

das gleiche Objekt auch sehr<br />

unterschiedlich beachten <strong>und</strong> bewerten.<br />

Wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bedeutungsvergabe gerade<br />

nicht festgelegt, denn dadurch nur ist Wissenschaft<br />

möglich. Das heißt, sie ist immer<br />

multiperspektivisch <strong>und</strong> sollte so auch ihre<br />

sozio-kulturelle Bed<strong>in</strong>gtheit wie ihre Historizität<br />

gerade auch <strong>in</strong> den Naturwissenschaften<br />

nie aus dem Auge lassen. Sonst<br />

funktionieren unsere Begriffsmuster auch<br />

nur reflexartig.<br />

Innerhalb dieses freigestellten Bezugsrahmens<br />

gibt es immerh<strong>in</strong> auffällige anthropologische<br />

Konstanten wissenschaftlichen<br />

Verhaltens. Wie gehen wir mit den<br />

Entscheidungsfreiheiten <strong>der</strong> Bedeutungsvergabe<br />

an die empirischen Gegebenheiten<br />

vielfach um? Dazu brauchen wir e<strong>in</strong>gangs<br />

e<strong>in</strong>e kurze Bestandsaufnahme.<br />

Wir s<strong>in</strong>d z.B. nie mit dem bloßen<br />

Anblick des Status quo zufrieden, son<strong>der</strong>n<br />

brechen bald aus <strong>der</strong> Gegenwart aus: Wir<br />

fragen z.B. nach den bestimmenden<br />

Bed<strong>in</strong>gungen aus <strong>der</strong> vorausgegangenen<br />

Vergangenheit <strong>und</strong> suchen dort die „Ur“-<br />

Sachen. Das ist die durchgängige Methode<br />

aller Kausalforschung.<br />

Wir können ebenso <strong>in</strong> die Zukunft<br />

aussteigen <strong>und</strong> fragen dann vielmehr<br />

danach, wozu die Gegenwart e<strong>in</strong>mal zu<br />

gebrauchen se<strong>in</strong> wird, urteilen teleologisch,<br />

suchen den Zweckaspekt. Wir<br />

sehen die gerade gegebenen Verhältnisse<br />

dann nicht mehr als Auswirkungen von<br />

Ursachen, son<strong>der</strong>n vorwiegend als Mittel<br />

zum Zweck. Diesen Zweckmäßigkeitsaspekt<br />

verfolgen alle angewandten Wissenschaften,<br />

z.B. die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Dabei setzt<br />

sie oft die zukünftigen Abläufe mit e<strong>in</strong>er<br />

fortrollenden Vergangenheit gleich <strong>und</strong><br />

versucht, <strong>in</strong> sie kausal e<strong>in</strong>zugreifen.<br />

Zukunft ist aber oftmals mehr als weiterrollende<br />

Vergangenheit – schon weil von<br />

subjektiven Erwartungen <strong>und</strong> ihrer „self-<br />

29


30<br />

fullfill<strong>in</strong>g prophecy“ [Watzlawick 1985,<br />

Ludwig 1991] durchkreuzt. Wir s<strong>in</strong>d dann<br />

verw<strong>und</strong>ert über die Grenzen an Prognostizität.<br />

Das gehört zur Determ<strong>in</strong>ismus/Indeterm<strong>in</strong>ismus-Debatte.<br />

Wir dehnen beide Male das Beobachtbare<br />

zeitlich – eben auf se<strong>in</strong>e Gründe <strong>und</strong><br />

Zwecke – aus, überspr<strong>in</strong>gen die Gegenwart<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong>tegrieren im Zeitpanorama<br />

methodologisch über Vergangenheit <strong>und</strong><br />

Zukunft. Beide Methoden, <strong>der</strong> Kausalismus<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> F<strong>in</strong>alismus, haben trotz ihrer<br />

polaren, sich oft geradezu polarisierenden<br />

Haltungen aber e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>sam. Sie verlieren<br />

allzu leicht die Gegenwart <strong>und</strong> vernachlässigen<br />

dann die ausführliche Zuwendung<br />

an das Gegebene. Wir sehen<br />

nicht mehr h<strong>in</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong>terpretieren eben<br />

alle<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Retrospektive o<strong>der</strong> eben <strong>der</strong><br />

konstruierten Zukunft. Die Phänomene<br />

kommen zu kurz, denn sie <strong>in</strong>teressieren<br />

dann nur noch als bestätigendes Resultat<br />

o<strong>der</strong> als bloße, zu verwendende Ressource.<br />

Aber beide „Aussteiger“-Methoden<br />

s<strong>in</strong>d s<strong>in</strong>nlos, wenn sie nicht auf <strong>der</strong> Empirik<br />

des Jetzt <strong>und</strong> Hier fußen. Das Vorf<strong>in</strong>dbare<br />

hat sogar se<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>en eigenen<br />

Erklärungswert, wo mit Hilfe des Gestalts<strong>in</strong>nes<br />

das erfasste Syndrom sich zur Physiognomie<br />

verdichtet, <strong>in</strong>dem es sich<br />

schon selbst „ausspricht“. Das gibt <strong>der</strong><br />

Kasuistik ihren Wert, die – wenn sie gut<br />

gemacht wird – mehr ist als bloße<br />

Deskription, wenn auch dann immer<br />

noch oft nur als solche bezeichnet. Den<br />

Erklärungswert <strong>in</strong>nerhalb des Gegenwärtig-Vorf<strong>in</strong>dbaren<br />

sah auch schon Ernst<br />

Mayr [1989] <strong>in</strong> dessen Simultanverursachung.<br />

Wir ziehen e<strong>in</strong>e erste Bilanz: E<strong>in</strong><br />

Aspekt alle<strong>in</strong> reicht letztlich nie. Kausalis-<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />

mus, Phänomenalismus <strong>und</strong> F<strong>in</strong>alismus<br />

gehören durch ihre sich gegenseitig ergänzenden<br />

Zeitaspekte zwar plural, aber<br />

dennoch <strong>in</strong>sgesamt methodisch zusammen<br />

<strong>und</strong> s<strong>in</strong>d es ja bei guter Arbeit auch<br />

oft.<br />

Was s<strong>in</strong>d Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Krankheit?<br />

Oft hört man heute davon, dass im ärztlichen<br />

Feld <strong>der</strong> aufgeklärte, an se<strong>in</strong>er Therapie<br />

mitarbeitende Patient geschätzt<br />

wird. Also habe ich mich als Nichtmediz<strong>in</strong>er<br />

darüber aufzuklären versucht, was im<br />

Berufsfeld <strong>der</strong> Ärzte unter Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Krankheit verstanden wird. Es war<br />

dann doch überraschend, dass es davon<br />

ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigen Begriffe gibt. Gerhard<br />

Kienle hatte schon 1974 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch<br />

Arzneimittelsicherheit <strong>und</strong> Gesellschaft darauf<br />

h<strong>in</strong>gewiesen; <strong>und</strong> <strong>in</strong> dem Standardwerk<br />

von Gross <strong>und</strong> Löffler Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> [1997] f<strong>in</strong>det sich auch nach<br />

langseitigen Aufzählungen von Def<strong>in</strong>itionsversuchen<br />

ke<strong>in</strong> tragfähiges Ergebnis.<br />

Schon die WHO-Def<strong>in</strong>ition von 1957,<br />

Ges<strong>und</strong>heit sei „<strong>der</strong> Zustand völligen körperlichen,<br />

seelischen <strong>und</strong> sozialen Wohlbef<strong>in</strong>dens“,<br />

auf die je<strong>der</strong>mann e<strong>in</strong> Recht<br />

habe – ja sogar e<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong>recht, ist nicht<br />

e<strong>in</strong>lösbar. Dann „wären u.a. schwere<br />

Arbeit, Erkenntnisr<strong>in</strong>gen, aber auch das<br />

Vertreten nicht opportunistischer Auffassungen<br />

Krankheiten“ [Kienle 1974]. E<strong>in</strong><br />

Leben ohne Angst gibt es nicht. Das nur<br />

dem Menschen zugängliche Wissen, e<strong>in</strong>mal<br />

sterben zu müssen, macht lebenslang<br />

ke<strong>in</strong> Wohlbef<strong>in</strong>den, denn auch die Ver-


Was s<strong>in</strong>d Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit?<br />

drängung dieser e<strong>in</strong>zig sicheren Tatsache<br />

<strong>der</strong> biografischen Zukunft befreit uns<br />

nicht von diesem Wissen. Parson hat deshalb<br />

versucht, den Ges<strong>und</strong>heitsbegriff<br />

mit <strong>der</strong> persönlichen, subjektbezogenen<br />

Wertesetzung zu verknüpfen. Er def<strong>in</strong>ierte<br />

Ges<strong>und</strong>heit als den „Zustand optimaler<br />

Fähigkeiten zur wirksamen Erfüllung von<br />

für wertvoll gehaltenen Aufgaben“ [Parson<br />

1967]. Was aber, wenn die persönliche<br />

Wertsetzung von Asozialität, Drogenmissbrauch<br />

o<strong>der</strong> gar Selbstzerstörung<br />

dem Lebenskonzept entspricht?<br />

Aber bietet nicht das ärztliche Inventarium<br />

diagnostischer Maßnahmen genügend<br />

Klarheit, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit<br />

zu unterscheiden? Durchaus nicht, denn<br />

<strong>der</strong> als völlig ges<strong>und</strong> geltende Mensch<br />

besitzt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er normalen Genausstattung<br />

Protoonkogene <strong>und</strong> damit immer<br />

schon die erbliche Potenz zu Neoplasmen.<br />

Wohl tra<strong>in</strong>iert er damit se<strong>in</strong>e Immunlage<br />

gegen krebsig entartete Körperzellen,<br />

aber eben nicht immer erfolgreich:<br />

Die künftige Krankheit ist immer schon<br />

angelegt – auch beim „völlig Ges<strong>und</strong>en“.<br />

Gerade die Immunologie zeigt, dass z.B.<br />

gut durchgemachte Infektionskrankheiten<br />

zu e<strong>in</strong>er stabileren Ges<strong>und</strong>heitslage<br />

führen als vorher. Es gibt eben Ges<strong>und</strong>heit<br />

mit Krankheit <strong>und</strong> Krankheit zu<br />

mehr Ges<strong>und</strong>heit.<br />

Diese Bilanz führt zum e<strong>in</strong>en dazu,<br />

den Begriffen von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit<br />

e<strong>in</strong>e naturwissenschaftlich fassbare<br />

Aussage abzusprechen. Wenn es schon<br />

ke<strong>in</strong>e völlig objektivierbaren Krankheiten<br />

gibt, so aber doch subjekthaft leidende<br />

Kranke. Dann s<strong>in</strong>d Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Krankheit am Leiden bewertete Anthro-<br />

pomorphismen. Der Homo patiens erwartet<br />

vom Therapeuten Heilung vom Leid.<br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit s<strong>in</strong>d Wertungen,<br />

die danach an <strong>der</strong> psychischen Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />

abgenommen werden. Der<br />

Patient erwartet nicht nur den diagnostischen,<br />

son<strong>der</strong>n auch den therapeutischen<br />

Arzt. Der aber muss wissen, wie er handeln<br />

soll. In <strong>der</strong> Naturwissenschaft aber<br />

gibt es ke<strong>in</strong> Sollen, son<strong>der</strong>n nur e<strong>in</strong> Konstatieren.<br />

Demnach gibt es auch ke<strong>in</strong>e<br />

„naturwissenschaftliche <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“, weil<br />

sie ke<strong>in</strong>e Sollensanweisung geben kann.<br />

So überraschend diese Aussage ist, so<br />

ist sie doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> ökologischen Diskussion<br />

noch sehr viel deutlicher. Gibt es<br />

ges<strong>und</strong>e o<strong>der</strong> kranke Landschaften, Wetterverhältnisse<br />

o<strong>der</strong> Wassersysteme? Der<br />

Biologe Hans Mohr konstatierte dazu<br />

ganz nüchtern, dass e<strong>in</strong> st<strong>in</strong>ken<strong>der</strong>, verjauchter<br />

Fluss für die Fische als krank gelten<br />

mag, für die Bakterien dar<strong>in</strong> aber ke<strong>in</strong>eswegs:<br />

Ihnen bekommt das faulige<br />

Wasser beson<strong>der</strong>s gut. – E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> naturwissenschaftliche<br />

E<strong>in</strong>stellung wird e<strong>in</strong>en<br />

Fieberkranken auch nur als e<strong>in</strong>en bevorzugten<br />

Biotop <strong>in</strong>fektiöser Mikroben betrachten,<br />

<strong>der</strong> ohne E<strong>in</strong>greifen wegen geschwächter<br />

Immunlage von <strong>der</strong> natürlichen<br />

Selektion aus <strong>der</strong> Population <strong>der</strong><br />

Ges<strong>und</strong>en ausgeschlossen wird. E<strong>in</strong> Vorgang,<br />

wie ihn eben die außermenschliche<br />

Natur überall praktiziert.<br />

Charles Darw<strong>in</strong> sah das Problem<br />

schon deutlich, ohne sich zu e<strong>in</strong>er begrifflichen<br />

Abklärung entscheiden zu können.<br />

Der mit ihm eng befre<strong>und</strong>ete Alfred Russel<br />

Wallace, <strong>der</strong> eigenständig parallel zu<br />

Darw<strong>in</strong> die evolutiven Wirkungen <strong>der</strong><br />

Selektion ebenfalls entdeckt hatte <strong>und</strong> sie<br />

31


32<br />

sogar konsequenter als Darw<strong>in</strong> für Pflanze<br />

<strong>und</strong> Tier vertrat, legte ihm persönlich<br />

nahe, die Selektionstheorie bitte nicht auf<br />

den Menschen anzuwenden; sonst begänne<br />

<strong>der</strong> Untergang <strong>der</strong> Kultur. Darw<strong>in</strong> h<strong>in</strong>gegen<br />

wollte für se<strong>in</strong>e Theorie ke<strong>in</strong>e Ausnahme<br />

zulassen. Dabei sah er klar die<br />

antiselektionistische Rolle <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>:<br />

„Es ist Gr<strong>und</strong> vorhanden anzunehmen,<br />

daß die Impfung Tausende erhalten<br />

hat, welche <strong>in</strong> Folge ihrer schwachen<br />

Konstitution früher den Pocken erlegen<br />

wären. Hierdurch geschieht es, daß auch<br />

die schwächeren Glie<strong>der</strong> <strong>der</strong> zivilisierten<br />

Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand,<br />

welcher <strong>der</strong> Zucht domestizierter<br />

Tiere se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit gewidmet<br />

hat, wird daran zweifeln, dass dies für das<br />

Menschengeschlecht im höchsten Grade<br />

schädlich se<strong>in</strong> muß.“<br />

Sogleich aber zau<strong>der</strong>te Darw<strong>in</strong> angesichts<br />

<strong>der</strong> Folgen dieser naturwissenschaftlichen<br />

Gedankengänge, <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Mischung von Trieb, Inst<strong>in</strong>kt, Sympathie,<br />

Verstand <strong>und</strong> „edelstem Teil unserer<br />

Natur“ – was das auch immer bei ihm<br />

begrifflich war – plädiert er dafür, die<br />

mediz<strong>in</strong>ische Hilfestellung zu „ertragen“:<br />

„Die Hilfe, welche wir dem Hilflosen<br />

zu widmen uns getrieben fühlen, ist<br />

hauptsächlich das Resultat des Inst<strong>in</strong>ktes<br />

<strong>der</strong> Sympathie, welcher ursprünglich als<br />

e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> sozialen Inst<strong>in</strong>kte erlangt,<br />

aber später <strong>in</strong> <strong>der</strong> oben bezeichneten Art<br />

<strong>und</strong> Weise zarter gemacht <strong>und</strong> weiter verbreitet<br />

wurde. Auch können wir unsere<br />

Sympathie, wenn sie durch den Verstand<br />

hart bedrängt würde, nicht hemmen,<br />

ohne den edelsten Teil unserer Natur<br />

herabzusetzen. [...] Wir müssen daher die<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />

ganz zweifellos schlechte Wirkung des<br />

Lebenbleibens <strong>und</strong> <strong>der</strong> Vermehrung <strong>der</strong><br />

Schwachen ertragen“ [Darw<strong>in</strong> 1871].<br />

Dabei lässt Darw<strong>in</strong> unbesprochen, wie<br />

die harte Selektion uns die edlen, sozialen<br />

Inst<strong>in</strong>kte anzüchten konnte. Zwei Konsequenzen<br />

haben die gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse daraus gezogen: Entwe<strong>der</strong><br />

die Selektion aller Hilfsbedürftigen im<br />

Zuge des Sozialdarw<strong>in</strong>ismus – o<strong>der</strong> die<br />

strikte Trennung von naturwissenschaftlicher<br />

Konstatierung des Seienden <strong>und</strong> des<br />

moralisch relevanten Sollens unserer mitmenschlichen<br />

Handlungen. Heute beruft<br />

man sich <strong>in</strong> unserer Gesellschaft zumeist<br />

auf die zweite E<strong>in</strong>stellung. Dann aber gibt<br />

es auch ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> naturwissenschaftliche<br />

Begründung von <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>.<br />

Nun gibt es noch e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Ausweg<br />

aus dem begrifflichen Dilemma <strong>der</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heits-/Krankheits-Debatte als nur<br />

den <strong>der</strong> dualistischen Trennung objektiver<br />

Sachbezogenheit <strong>und</strong> subjektiver Bedürftigkeit.<br />

Der Organismus selbst lebt<br />

e<strong>in</strong>en solchen Ausweg schon immer gekonnt<br />

vor, <strong>in</strong>dem gerade er zwischen <strong>der</strong><br />

gegenständlichen <strong>und</strong> <strong>der</strong> psychischen<br />

Natur des Menschen qua se<strong>in</strong>er Physiologie<br />

vermittelt. Diese vermittelnde Leistung<br />

kann nach allem bisher Gesagten<br />

we<strong>der</strong> objektiviert noch subjektiviert werden,<br />

son<strong>der</strong>n ist dort zu suchen, wo sich<br />

die Kluft zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt<br />

aufhebt. Es ist zwar recht ungewohnt, diese<br />

Überbrückungsfunktion <strong>in</strong> Betracht zu<br />

ziehen, <strong>und</strong> doch ist sie klar beschreibbar.<br />

Sie f<strong>in</strong>det sich nicht gegenständlichräumlich<br />

vor, noch im Überräumlichen<br />

<strong>der</strong> Bewusstse<strong>in</strong>s<strong>in</strong>halte, son<strong>der</strong>n im Element<br />

<strong>der</strong> Zeit: ke<strong>in</strong> physiologischer Vor-


Was s<strong>in</strong>d Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit?<br />

gang ohne se<strong>in</strong> spezifisches Zeitmuster.<br />

Leben besteht geradezu <strong>in</strong> rhythmischen<br />

Oszillationen um prägnante Sollwerte. Sie<br />

laufen ebenso unbewusst ab, wie an<strong>der</strong>erseits<br />

Zeit nicht gegenständlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Flasche<br />

aufgehoben werden kann. Rhythmus<br />

besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung von<br />

schon Gewesenem <strong>und</strong> vergegenwärtigt<br />

damit unaufhörlich gelebte Vergangenheit.<br />

Da er aber nie starrer Takt ist, son<strong>der</strong>n<br />

adaptiv verän<strong>der</strong>lich bleibt, <strong>in</strong>tegriert<br />

er <strong>in</strong> jedem Moment die noch nicht<br />

festgelegte Zukunftsoffenheit ihrerseits <strong>in</strong><br />

den gegenwärtigen Vollzug. Variabler<br />

Rhythmus ist immer belastbar, weil er<br />

zum Ausgleich tendiert, ohne ihn je im<br />

Leben zu erreichen. Er <strong>in</strong>tegriert faktisch<br />

<strong>in</strong> je<strong>der</strong> Periode gelebte Vergangenheit<br />

<strong>und</strong> zu lebende Zukunft <strong>in</strong> die gegenwärtige<br />

Dynamik jedes Lebensvollzugs. Zeit<strong>in</strong>tegration<br />

ist das Kennzeichen gelebter<br />

Physiologie.<br />

Unter dem Aspekt <strong>der</strong> Zeit<strong>in</strong>tegration<br />

nimmt nun auch die Ges<strong>und</strong>heits-/<br />

Krankheits-Debatte e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Lösungsweg.<br />

Wir müssen ja davon ausgehen,<br />

dass Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit nur<br />

annähernd diagnostiziert werden können,<br />

nie völlig. Ja, auch <strong>der</strong> als völlig<br />

ges<strong>und</strong> Geltende kann objektiv wie subjektiv<br />

unbemerkt schon von e<strong>in</strong>em beg<strong>in</strong>nenden<br />

Primärtumor befallen se<strong>in</strong>. Trotzdem<br />

hat es S<strong>in</strong>n, beide Begriffe weiter zu<br />

verwenden, wenn wir <strong>in</strong> ihnen nicht so<br />

sehr das Ergebnis <strong>der</strong> Diagnose sehen,<br />

son<strong>der</strong>n vorwiegend e<strong>in</strong>e Option auf die<br />

Zukunft. Dann ist das Urteil „Ges<strong>und</strong>heit“<br />

die Prognose auf lang währende<br />

Zukunft, „Krankheit“ die <strong>der</strong> potenziell<br />

verkürzten Zukunft. Und <strong>in</strong> eben diesem<br />

S<strong>in</strong>ne gebrauchen wir nämlich auch bei<br />

näherem Zusehen diese Bezeichnungen.<br />

E<strong>in</strong>e Hilfe für unsere E<strong>in</strong>schätzung von<br />

Zukunft ist zusätzlich die Aufnahme <strong>der</strong><br />

bisherigen Ges<strong>und</strong>heits- bzw. Krankheitsbiografie,<br />

ohne dass sie alles für die Zukunft<br />

voraussagen kann. Immerh<strong>in</strong> bedarf<br />

es für die Abschätzung, wie viel an<br />

Ges<strong>und</strong>heitslage bzw. Krankheitslage des<br />

Probanden bzw. Patienten vorliegt, aller<br />

drei Zeitaspekte: <strong>der</strong> Anamnese, <strong>der</strong> Diagnose<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Prognose. Es geht also letztlich<br />

immer bei e<strong>in</strong>er genügend umfassenden<br />

Beurteilung durch den Therapeuten<br />

<strong>der</strong> Blick über den gegenwärtigen Zustand<br />

h<strong>in</strong>aus auf die Vergangenheit <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

die Zukunft h<strong>in</strong> <strong>und</strong> leistet <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>schätzung von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Krankheit die Zeit<strong>in</strong>tegration im eigenen<br />

Urteil. Bisherige Erfahrung, jetzige Wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> prognostischer Blick zusammen<br />

ermöglichen erst die s<strong>in</strong>nvolle<br />

Verwendung <strong>der</strong> Bezeichnungen von Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Krankheit, nie <strong>der</strong> Status<br />

quo alle<strong>in</strong>.<br />

Natürlich können sich die Schwerpunkte<br />

verschieben. In <strong>der</strong> Akutmediz<strong>in</strong><br />

steht das rasche Handeln im Hier <strong>und</strong><br />

Jetzt im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>. Bei den chronischen<br />

Erkrankungen ist die Anamnese<br />

weit auszudehnen. In <strong>der</strong> prophylaktischen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e durch Psychohygiene<br />

steht die Zukunftssicherung<br />

im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>. Und doch müssen<br />

immer alle drei Zeitausrichtungen e<strong>in</strong>bezogen<br />

werden. Das gilt ja, wie wir e<strong>in</strong>gangs<br />

gesehen haben, für die dreifache<br />

Multiperspektivität gerade von Wissenschaft<br />

sowieso, sollte also <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

Reflexion nicht fremd se<strong>in</strong>.<br />

33


34<br />

Auch ihre Verfahren zielen primär auf<br />

Zeit<strong>in</strong>tegration aller Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> Vergangenheit,<br />

Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft<br />

[Schad 1998].<br />

Zur Goetheanistik<br />

E<strong>in</strong>ige wenige Bemerkungen zur Goetheanistik.<br />

In dem Mehrautorenbeitrag zum<br />

Verhältnis von Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

[Willich 2004] wird<br />

auf e<strong>in</strong>e goetheanistische Erkenntnistheorie<br />

verwiesen, die von Frankenberg<br />

[2004] <strong>in</strong> den Goethe-Biografien von Friedenthal<br />

[1936] <strong>und</strong> Conrady [1985] nicht<br />

f<strong>in</strong>det. Wieso auch dort? Zu empfehlen<br />

s<strong>in</strong>d Goethes Aufsätze Der Versuch als Vermittler<br />

zwischen Objekt <strong>und</strong> Subjekt [1792]<br />

<strong>und</strong> Pr<strong>in</strong>cipes de Philosophie Zoologique<br />

[1830/32]. Wenn ihm Ste<strong>in</strong>ers Erstl<strong>in</strong>ge<br />

E<strong>in</strong>leitungen zu den Naturwississenschaftlichen<br />

Schriften <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>l<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>er<br />

Erkenntnistheorie <strong>der</strong> Goetheschen Weltanschauung<br />

[1886] zu suspekt s<strong>in</strong>d, nur weil<br />

sie von Ste<strong>in</strong>er stammen, obgleich sie von<br />

<strong>der</strong> heutigen Germanistik als historische<br />

Leistung weith<strong>in</strong> anerkannt s<strong>in</strong>d [Mandelkow<br />

1998], so ist immer noch Max<br />

Heynachers Herausgabe von Goethes Philosophie<br />

aus se<strong>in</strong>en Werken [1922] empfehlenswert<br />

wie auch Peter Heussers Herausgabe<br />

von Goethes Beitrag zur Erneuerung <strong>der</strong><br />

Naturwissenschaften [2000]. Lei<strong>der</strong> hat<br />

man sich 170 Jahre lang bemüht, Goethe<br />

<strong>in</strong> die Sparte <strong>der</strong> romantischen Naturphilosophie<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zudrängen, ohne sich an<br />

<strong>der</strong> Quelle k<strong>und</strong>ig gemacht zu haben<br />

[Schad 1981]. Franz Nager [1994] hat<br />

Goethes Beitrag für die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> ausführ-<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />

lich recherchiert <strong>und</strong> e<strong>in</strong>drücklich geschil<strong>der</strong>t.<br />

Schon zu se<strong>in</strong>en Lebzeiten<br />

merkte die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ische Fakultät <strong>in</strong> Jena<br />

etwas davon <strong>und</strong> verlieh ihm im Alter<br />

den Dr. med. honoris causa.<br />

Sowohl von den Vertretern wie von<br />

den Ablehnern <strong>der</strong> anthroposophisch<br />

erweiterten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wird Goethe allzu<br />

gerne als Vertreter e<strong>in</strong>er ganzheitlichen<br />

Naturwissenschaft gesehen. Das ist so<br />

wahr, wie es falsch ist. Goethe hat sich<br />

mit e<strong>in</strong>em geradezu ges<strong>und</strong>en Wissenschafts<strong>in</strong>st<strong>in</strong>kt<br />

nie <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Methodenecke von Partikularismus e<strong>in</strong>erseits<br />

<strong>und</strong> Holismus an<strong>der</strong>erseits treiben<br />

lassen:<br />

„Es ist nicht genug, daß wir bei Beobachtung<br />

<strong>der</strong> Natur das analytische Verfahren<br />

anwenden, das heißt, daß wir aus<br />

e<strong>in</strong>em irgend gegebenen Gegenstande so<br />

viel E<strong>in</strong>zelheiten als möglich entwickeln<br />

<strong>und</strong> sie auf diese Weise kennenlernen,<br />

son<strong>der</strong>n wir haben auch eben diese Analyse<br />

auf die vorhandenen Synthesen<br />

anzuwenden, um zu erforschen, ob man<br />

denn auch richtig, ob man <strong>der</strong> wahren<br />

Methode gemäß zu Werke gegangen. [...]<br />

E<strong>in</strong> Jahrh<strong>und</strong>ert, das sich bloß auf die<br />

Analyse verlegt <strong>und</strong> sich von <strong>der</strong> Synthese<br />

gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem<br />

rechten Wege; denn nur beide zusammen,<br />

wie Aus- <strong>und</strong> E<strong>in</strong>atmen, machen<br />

das Leben <strong>der</strong> Wissenschaft“ [Goethe<br />

1829].<br />

„Möge doch je<strong>der</strong> von uns bei dieser<br />

Gelegenheit sagen, daß Son<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Verknüpfen<br />

zwei unzertrennliche Lebensakte<br />

s<strong>in</strong>d. Vielleicht ist es besser gesagt; daß es<br />

unerläßlich ist, man möge wollen o<strong>der</strong><br />

nicht, aus dem Ganzen <strong>in</strong>s E<strong>in</strong>zelne, aus


Wert <strong>und</strong> Grenzen <strong>der</strong> <strong>Menschenbild</strong>er<br />

dem E<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong>s Ganze zu gehen, <strong>und</strong><br />

je lebendiger diese Funktionen des Geistes,<br />

wie Aus- <strong>und</strong> E<strong>in</strong>atmen, sich zusammen<br />

verhalten, desto besser wird für die<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> ihre Fre<strong>und</strong>e gesorgt<br />

se<strong>in</strong>“ [Goethe 1831].<br />

„Um mich zu retten, betrachte ich alle<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen als unabhängig vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> suche sie gewaltsam zu isolieren;<br />

dann betrachte ich sie als Korrelate, <strong>und</strong><br />

sie verb<strong>in</strong>den sich zu e<strong>in</strong>em entschiedenen<br />

Leben. Dies beziehe ich vorzüglich<br />

auf Natur“ [Goethe 1976].<br />

So selbstverständlich diese Aussagen<br />

im Gr<strong>und</strong>e s<strong>in</strong>d, umso rätselhafter ist die<br />

historische Hartnäckigkeit, mit <strong>der</strong> von<br />

beiden Seiten die Polarisierung – oft mit<br />

viel Schmäh – betrieben wurde <strong>und</strong> wird.<br />

Geht man jedoch ohne Fixierungen an<br />

das Phänomen Organismus heran, so gibt<br />

er selbst alle<strong>in</strong> schon biologisch das<br />

methodische Vorbild ab: Wir müssen die<br />

Nahrungsobjekte erst unter den Zähnen<br />

zerkle<strong>in</strong>ern <strong>und</strong> mit den Verdauungsenzymen<br />

molekular abbauen, bis jenseits<br />

<strong>der</strong> Darmwand, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Leber, ja <strong>in</strong> allen<br />

Zellen die aufbauende Phase <strong>der</strong> Substanzsynthesen<br />

e<strong>in</strong>setzt: e<strong>in</strong> ausgezeichnetes<br />

Vorbild je<strong>der</strong> geistigen Ernährung<br />

durch plurale wissenschaftliche Verfahren,<br />

sonst gäbe es nur unverarbeitete<br />

Datenfriedhöfe.<br />

So demonstriert auch je<strong>der</strong> Organismus,<br />

dass er ebenso gliedhafter Teil se<strong>in</strong>es<br />

Lebensraumes ist, wie er auch darüber<br />

h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e Vielzahl von Kennzeichen<br />

ganzheitlicher Integration besitzt. Immer<br />

gehören beide Essentials, se<strong>in</strong>e Heteronomie<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Autonomie, zu se<strong>in</strong>er<br />

Gr<strong>und</strong>ausstattung. Die Totalisierung des<br />

atomistischen Blickes ist ebenso unter<br />

Ideologieverdacht zu stellen wie die des<br />

puren Holismus. Das lehrt uns ja gerade<br />

die ökologische Diskussion. Man solle<br />

endlich mit dem Missbrauch Goethes <strong>in</strong><br />

beiden Lagern, soweit sie sich verfestigt<br />

haben, aufhören. Goethe hat ebenso<br />

Schmetterl<strong>in</strong>gspuppen seziert <strong>und</strong> am<br />

reduzierten Phänomen des Säugetierskelettes<br />

zoologisiert, wie er im Erfassen von<br />

Typus, <strong>der</strong> Metamorphose <strong>und</strong> dem Kompensationspr<strong>in</strong>zip<br />

hohe synthetische<br />

Denkleistungen <strong>in</strong> Vorreiterrolle e<strong>in</strong>gebracht<br />

hat.<br />

Wert <strong>und</strong> Grenzen <strong>der</strong><br />

<strong>Menschenbild</strong>er<br />

E<strong>in</strong> hervorgehobenes Thema dieses Symposiums<br />

ist <strong>der</strong> Umgang mit <strong>Menschenbild</strong>ern.<br />

Der plurale E<strong>in</strong>bezug zeichnet<br />

sich <strong>in</strong>zwischen auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />

ab. Sie vertritt zunehmend e<strong>in</strong> bio-psycho-soziales<br />

<strong>Menschenbild</strong> [Uexküll/Wesiak<br />

1998]; man kann sie deshalb nicht<br />

auf das reduktionistische <strong>Menschenbild</strong><br />

<strong>der</strong> Naturwissenschaft festlegen, schon<br />

weil die Naturwissenschaft ke<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />

haben kann, denn sie möchte<br />

ja wertungsfrei se<strong>in</strong>, was sie allerd<strong>in</strong>gs bei<br />

näherem Zusehen oft nicht ist, z.B. wenn<br />

sie mediz<strong>in</strong>ische Handlungsmotive aufstellen<br />

will.<br />

Der <strong>Pluralismus</strong> von <strong>Menschenbild</strong>ern<br />

ist phänomenaliter im Menschen<br />

selbst vorgegeben. Wir verfügen über e<strong>in</strong>e<br />

physiko-chemische Existenz, leben die<br />

biologische Qualität, s<strong>in</strong>d psychisch begabte<br />

Wesen <strong>und</strong> darüber h<strong>in</strong>aus zur geis-<br />

35


36<br />

tigen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung fähig. Diese<br />

Glie<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> vier Se<strong>in</strong>sschichten ist <strong>in</strong><br />

allen Hochkulturen als anthropologische<br />

Bestandsaufnahme vorzuf<strong>in</strong>den: vom<br />

alten Ägypten über Aristoteles, die Hochscholastik,<br />

die Renaissancephilosophen,<br />

bei Hegel, Ste<strong>in</strong>er, Nicolai Hartmann etc.<br />

Daraus ergeben sich die folgenden <strong>Menschenbild</strong>er:<br />

D <strong>in</strong>dividuelle Geistigkeit<br />

→ Menschenrechtsanerkennung<br />

D psychologische Triebstruktur<br />

→ Triebpsychologie<br />

D biologische Physiologie<br />

→ Biologismus<br />

D physiko-chemische Ausstattung<br />

→ Materialismus<br />

M<strong>in</strong>destens alle vier <strong>Menschenbild</strong>er zusammen<br />

gehören zur anthroposophischen<br />

Anthropologie, ohne dass sie dar<strong>in</strong><br />

begrenzt ist. Vielfach spricht man heute<br />

trotzdem vom „anthroposophischen<br />

<strong>Menschenbild</strong>“. Dem möchte ich als<br />

Anthroposoph massiv wi<strong>der</strong>sprechen. Es<br />

gibt ke<strong>in</strong> „anthroposophisches <strong>Menschenbild</strong>“<br />

– nicht nur deshalb, weil nirgends<br />

<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong>ers Gesamtwerk diese<br />

Bezeichnung zu f<strong>in</strong>den ist, son<strong>der</strong>n weil<br />

sie <strong>in</strong>haltlich nicht greift. Der Term<strong>in</strong>us<br />

<strong>Menschenbild</strong> legt nahe, man habe endgültig<br />

e<strong>in</strong> stimmiges, <strong>in</strong> sich ausgemaltes,<br />

fertiges Bild von dem, was <strong>der</strong> Mensch ist.<br />

Das ist ja schon deshalb nicht möglich,<br />

weil <strong>der</strong> Mensch nie „ist“, son<strong>der</strong>n immer<br />

„wird“. Es gibt nichts, was wir noch<br />

menschlicher machen könnten, <strong>und</strong> was<br />

uns unvorhersagbar verän<strong>der</strong>t. Das hängt<br />

mit se<strong>in</strong>er ansatzweisen Freiheitsphäre<br />

zusammen. Warum sollte es nicht künftig<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />

noch mehr als die vier genannten<br />

Wesensschichten im Menschen geben?<br />

Ste<strong>in</strong>er liebte hier<strong>in</strong> Heraklit zu zitieren<br />

[Ste<strong>in</strong>er GA 58]:<br />

„Der Seele Grenzen kannst du im<br />

Gehen nicht ausf<strong>in</strong>dig machen, <strong>und</strong> ob<br />

du jegliche Straße abschrittest; so tiefen<br />

S<strong>in</strong>n hat sie“ [Diels 1957].<br />

<strong>Menschenbild</strong>er gibt es natürlich sehr<br />

viele <strong>und</strong> immer dort, wo e<strong>in</strong> Paradigma<br />

festgeschrieben wird. Dagegen ist nichts<br />

zu sagen, wenn sie Durchgangsstadien<br />

s<strong>in</strong>d, die nicht Endgültigkeitsanspruch<br />

haben. Nun gibt es den E<strong>in</strong>wurf, dass<br />

doch auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> anthroposophischen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> von e<strong>in</strong>em „anthroposophischen<br />

<strong>Menschenbild</strong>“ gesprochen <strong>und</strong><br />

geschrieben wird. Das Simplifizieren gibt<br />

es eben überall; davor ist niemand geschützt,<br />

auch wenn es nicht im S<strong>in</strong>ne des<br />

Erf<strong>in</strong><strong>der</strong>s ist. Ste<strong>in</strong>er for<strong>der</strong>te massiv die<br />

Multiperspektivität, als er von m<strong>in</strong>destens<br />

12 Weltanschauungen <strong>und</strong> bei je<strong>der</strong><br />

noch von 7 Weltanschauungsstimmungen<br />

sprach, die nötig s<strong>in</strong>d, um e<strong>in</strong>igermaßen<br />

umfänglich e<strong>in</strong>en Sachverhalt zu<br />

erfassen [Ste<strong>in</strong>er GA 151]. Ich wüsste niemanden,<br />

<strong>der</strong> die damit möglichen 7 x 12<br />

= 84 Aspekte methodisch e<strong>in</strong>gesetzt <strong>und</strong><br />

durchgekostet hat. Wir s<strong>in</strong>d ja schon froh,<br />

wenn wir es mit 2, 3 o<strong>der</strong> 4 schaffen <strong>und</strong><br />

halten uns das mit Recht schon zugute. So<br />

akzeptiert die Anthroposophie natürlich<br />

auch den Materialismus als e<strong>in</strong>e von 12<br />

berechtigten Weltanschauungen.<br />

Der Chirurg muss sich auf den organologischen<br />

Gegenstand konzentrieren<br />

<strong>und</strong> kann sich <strong>der</strong>weil nicht mit <strong>der</strong> Biografie<br />

des ansonsten für ihn unsichtbaren,<br />

abgedeckten Patienten beschäftigen.


Wert <strong>und</strong> Grenzen <strong>der</strong> <strong>Menschenbild</strong>er<br />

Schlimm aber, wenn er nur Ersteres kann.<br />

Es ist methodisch voll berechtigt, sich<br />

zeitweise konsequent an das materielle<br />

Substrat zu wenden; gefährlich, weil ideologisch,<br />

wird es nur, wenn totalisiert wird,<br />

dass es nur die Materie gibt. Den methodologischen<br />

Materialismus kann man<br />

befürworten, den ontologischen Materialismus<br />

jedoch nie, weil er totalitär wird.<br />

Gerade zwischen methodologischen <strong>und</strong><br />

ontologischen <strong>Menschenbild</strong>ern ist<br />

scharf zu unterscheiden. Wenn das nicht<br />

geschehen wird, f<strong>in</strong>den die bekannten,<br />

unaufhörlichen Grabenkämpfe statt – gerade<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> –, wogegen dieses<br />

Symposium angehen möchte. S<strong>in</strong>d die<br />

verschiedenen Standpunkte re<strong>in</strong> methodologisch<br />

akzeptiert, so kann das gegenseitige<br />

Lernen h<strong>in</strong> zur Komplementierung<br />

o<strong>der</strong> gar Auflösung <strong>der</strong> abgegrenzten<br />

<strong>Menschenbild</strong>er stattf<strong>in</strong>den. Oft bleiben<br />

dann nur noch Sprachbarrieren, die überw<strong>in</strong>dbar<br />

se<strong>in</strong> sollten. <strong>Menschenbild</strong>er<br />

s<strong>in</strong>d als Zwischenbilanzen anzusehen, um<br />

– wenn sie ihren Dienst zeitweise s<strong>in</strong>nvoll<br />

getan haben – wie<strong>der</strong> aufgebrochen zu<br />

werden.<br />

Ich habe sogar die Frage, ob <strong>der</strong> Ausdruck<br />

„anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“, obgleich<br />

längst e<strong>in</strong>geführt <strong>und</strong> sogar <strong>in</strong><br />

Gesetzestexten festgeschrieben, nicht<br />

auch e<strong>in</strong> unzulänglicher Reduktionismus<br />

ist. Verlangte doch Ste<strong>in</strong>er von jedem<br />

anthroposophischen Arzt die volle Beherrschung<br />

<strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong>, zu <strong>der</strong> die<br />

anthroposophische Menschenkenntnis<br />

<strong>und</strong> -erkenntnis ergänzend <strong>und</strong> damit<br />

erweiternd h<strong>in</strong>zukommt. Nur die Scheu<br />

vor <strong>der</strong> sprachlichen Umständlichkeit,<br />

jedes Mal von „anthroposophisch erwei-<br />

terter bzw. orientierter <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ zu sprechen,<br />

hat die missverständliche Formulierung<br />

<strong>in</strong> Gebrauch gebracht, so als ob es<br />

e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>e, eigene, alternative<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> sei.<br />

Thomas McKeen [1980] hat darauf<br />

e<strong>in</strong>mal h<strong>in</strong>gewiesen: Ebenso wenig wie es<br />

e<strong>in</strong>e „deutsche Physik“ geben kann, gibt<br />

es e<strong>in</strong>e „anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />

etwa im Gegensatz zur Schulmediz<strong>in</strong>. Wir<br />

haben schon e<strong>in</strong>gangs uns <strong>der</strong> Aussage<br />

angeschlossen, dass die Schulmediz<strong>in</strong><br />

nicht die bloße Vertretung e<strong>in</strong>er reduktionistischen<br />

Naturwissenschaft ist, son<strong>der</strong>n<br />

die Vielschichtigkeit des Menschen auch<br />

<strong>in</strong> psychologischer <strong>und</strong> sozialer H<strong>in</strong>sicht<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Lehre e<strong>in</strong>bezieht. Die Schulmediz<strong>in</strong><br />

def<strong>in</strong>iert sich durch das Curriculum, das<br />

im <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>studium vermittelt wird.<br />

Indem an den Universitäten <strong>in</strong> Witten/<br />

Herdecke <strong>und</strong> Bern Begleitstudiengänge<br />

<strong>in</strong> anthroposophischer <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong>zwischen<br />

angeboten werden, ist diese dabei,<br />

sich an <strong>der</strong> hochschulmediz<strong>in</strong>ischen Ausbildung<br />

zu beteiligen. Wenn Hessel<br />

[2004] statt alternativer <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> e<strong>in</strong>e gute<br />

Schulmediz<strong>in</strong> for<strong>der</strong>t, so kann das nur<br />

begrüßt werden. Dann sollte aber, was<br />

zuerst alternativ, dann komplementär<br />

genannt wurde <strong>und</strong> wird, <strong>in</strong> das Hochschulstudium<br />

vermehrt kompetent e<strong>in</strong>gebaut<br />

werden <strong>und</strong> dadurch die Schulmediz<strong>in</strong><br />

zu „guter Schulmediz<strong>in</strong>“ ganz im S<strong>in</strong>ne<br />

Hessels sich entwickeln. Genügend<br />

gute Ansätze <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> anthroposophisch-orientierten<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> gibt es. Nur<br />

was soll sie machen, wenn sie von Vertretern<br />

<strong>der</strong> bisherigen Schulmediz<strong>in</strong> gesagt<br />

bekommt, die Erde noch als Scheibe aufzufassen,<br />

auf dem Standpunkt <strong>der</strong> „prä-<br />

37


38<br />

stabilen Harmonie“ von Leibniz zu stehen<br />

(muss übrigens „prästabiliert“ heißen,<br />

so bei Leibniz) <strong>und</strong> sich mit Goethe<br />

nur zu kaschieren? Wie leicht s<strong>in</strong>d diese<br />

Vertreter emotionalisierbar, um die<br />

Tugenden <strong>der</strong> Aufklärung – die nüchterne<br />

Argumentation – zu vergessen.<br />

Von Franckenberg [2004] verme<strong>in</strong>t,<br />

nur alle<strong>in</strong> schon durch die Nennung <strong>der</strong><br />

Anthroposophie als Geheimwissenschaft<br />

die anthroposophisch orientierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

genügend desavouieren zu können. Da<br />

<strong>der</strong> größte Teil heute unter Esoterik laufenden<br />

Strömungen, die tatsächlich ke<strong>in</strong>en<br />

Wissenschaftsanspruch vertreten<br />

wollen <strong>und</strong> können, auf die Ste<strong>in</strong>ersche<br />

Esoterik projiziert wird, sieht man se<strong>in</strong>e<br />

„Geheimwissenschaft im Umriß“ als anstößig<br />

an. Wissenschaft kann doch nicht<br />

geheim se<strong>in</strong>! Man mache sich wenigstens<br />

im Vorwort k<strong>und</strong>ig, dass sie es nicht ist,<br />

sonst wäre sie ja nicht veröffentlicht, son<strong>der</strong>n<br />

dass sie e<strong>in</strong>e Wissenschaft von dem<br />

für die S<strong>in</strong>ne Unzugänglichen, Geheimen<br />

be<strong>in</strong>haltet. Schon jede Psychologie, die<br />

die Empathie e<strong>in</strong>bezieht, geht mit Erfahrungen<br />

im psychischen Feld um, die ja<br />

nicht s<strong>in</strong>nenfällig s<strong>in</strong>d, womit sie immer<br />

schon <strong>in</strong> eben diesem S<strong>in</strong>ne „Geheim-<br />

Wissenschaft“ ist. Natur-Wissenschaft ist<br />

ja auch nicht e<strong>in</strong>e natürliche Wissenschaft,<br />

son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e solche von <strong>der</strong> Natur.<br />

Auf jenem Gebiet erfahrenere Leute anzutreffen,<br />

als man selbst ist, ist natürlich<br />

immer schmerzlich. Aber wie viel versteht<br />

<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er von Quantenphysik? Hier<br />

geht es alle<strong>in</strong> um e<strong>in</strong> klares Argumentations-Angebot.<br />

Ohne Frage hat man es <strong>in</strong> den anthroposophischen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen mit geistigen<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />

Inhalten zu tun, <strong>der</strong>en Methodik rechenschaftsschuldig,<br />

aber auch rechenschaftsfähig<br />

ist. Nur es muss doch möglich se<strong>in</strong>,<br />

sich methodisch klar zu e<strong>in</strong>igen, immer<br />

S<strong>in</strong>neserfahrung <strong>und</strong> geistige Forschung<br />

sauber ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu halten. Das sollte<br />

immerh<strong>in</strong> für jeden mit e<strong>in</strong>em wissenschaftlichen<br />

Anspruch konsensfähig se<strong>in</strong>.<br />

Ich möchte deshalb mit dem folgenden<br />

Zitat schließen:<br />

„Deshalb muß ich Sie schon heute bitten,<br />

mir e<strong>in</strong>ige Begriffe zu verzeihen.<br />

Wenn jemand etwa glauben wollte: Nun,<br />

es ist uns<strong>in</strong>nig, s<strong>in</strong>nenfällige Empirie <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Physiologie, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Biologie zu treiben,<br />

wozu braucht man die spezielle<br />

Fachwissenschaft, man entwickelt sich<br />

geistige Fähigkeiten, schaut <strong>in</strong> die geistige<br />

Welt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, kommt dann zu e<strong>in</strong>er<br />

Anschauung über den Menschen, über<br />

den ges<strong>und</strong>en, über den kranken Menschen,<br />

<strong>und</strong> kann gewissermaßen e<strong>in</strong>e<br />

geistige <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> begründen, – so wäre das<br />

e<strong>in</strong> großer Irrtum. Es tun ja das manche<br />

auch, aber es kommt nichts dabei heraus.<br />

Höchstens das, daß sie wacker schimpfen<br />

auf die empirische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, aber sie<br />

schimpfen eben dann über etwas, was sie<br />

nicht kennen. Also darum kann es sich<br />

nicht handeln, daß wir etwa e<strong>in</strong>en Strich<br />

machen gegenüber <strong>der</strong> gewöhnlichen s<strong>in</strong>nenfälligen<br />

empirischen Wissenschaft. So<br />

ist es gar nicht. Sie können zum Beispiel,<br />

wenn Sie geisteswissenschaftlich forschen,<br />

nicht etwa auf dasselbe kommen,<br />

was Sie mit dem Mikroskop erforschen.<br />

Sie können ruhig jemanden, <strong>der</strong> Ihnen<br />

den Glauben beibr<strong>in</strong>gen will, daß er aus<br />

<strong>der</strong> Geisteswissenschaft heraus dasselbe<br />

f<strong>in</strong>den kann, was man unter dem Mikro-


Literatur<br />

skop f<strong>in</strong>det, als e<strong>in</strong>en Scharlatan auffassen.<br />

Das ist nicht so. Dasjenige, was empirische<br />

Forschung im heutigen S<strong>in</strong>ne gibt,<br />

besteht. Und um die Wissenschaft auch<br />

im S<strong>in</strong>ne geisteswissenschaftlicher Anthroposophie<br />

vollständig zu machen auf<br />

irgende<strong>in</strong>em Gebiete, dazu ist nicht etwa<br />

e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>wegräumen des s<strong>in</strong>nenfällig Empirischen<br />

statthaft, son<strong>der</strong>n es ist durchaus<br />

e<strong>in</strong> Rechnen mit dieser s<strong>in</strong>nenfälligen<br />

Empirie notwendig“ [Ste<strong>in</strong>er GA 314].<br />

Literatur<br />

Conrady KO (1985) Goethe, Leben <strong>und</strong><br />

Werk., Neuauflage (1994): Artemis &<br />

W<strong>in</strong>kler<br />

Darw<strong>in</strong> C (1871) The descent of man, and<br />

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London, Deutsch: Die Abstammung<br />

des Menschen. Wiesbaden (1992)<br />

Diels H (1957) Die Fragmente <strong>der</strong> Vorsokratiker,<br />

26. rororo, Re<strong>in</strong>beck<br />

Frankenberg Dv, Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

– Verständnis <strong>und</strong><br />

Zusammenarbeit müssen vertieft werden:<br />

Goetheanistik. Dtsch Ärztebl<br />

(2004), 101, A 2313<br />

Friedenthal R (1936) Goethe, Leben <strong>und</strong><br />

Werk, Neuauflage (1994): Artemis &<br />

W<strong>in</strong>kler, Düsseldorf<br />

Goethe JW (1976) Maximen <strong>und</strong> Reflexionen,<br />

561. Insel, Frankfurt/Ma<strong>in</strong><br />

Goethe JW (1830) Pr<strong>in</strong>cipes de Philosophie<br />

Zoologique. Werke, Hamburger<br />

Ausgabe Bd. 13, 219. dtv München<br />

1988<br />

Goethe JW (1829) Analyse <strong>und</strong> Synthese.<br />

Werke, Hamburger Ausgabe Bd. 13,<br />

49. dtv München 1988<br />

Goethe JW (1792) Der Versuch als Vermittler<br />

zwischen Objekt <strong>und</strong> Subjekt.<br />

Werke, Hamburger Ausgabe Bd. 13,<br />

10. dtv München 1988<br />

Gross R, Löffler M (1997) Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. E<strong>in</strong>e Übersicht ihrer Gr<strong>und</strong>lagen<br />

<strong>und</strong> Methoden. Spr<strong>in</strong>ger, Berl<strong>in</strong>,<br />

Heidelberg, NewYork<br />

Hessel W, Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

– Verständnis <strong>und</strong> Zusammenarbeit<br />

müssen vertieft werden:<br />

Alternative: gute Schulmediz<strong>in</strong>.<br />

Dtsch Ärztebl (2004), 101, A 2313<br />

Heusser P (Hrsg.) (2000) Goethes Beitrag<br />

zur Erneuerung <strong>der</strong> Naturwissenschaften.<br />

Haupt, Bern, Stuttgart,<br />

Wien<br />

Heynacher M (Hrsg.) (1922) Goethes Philosophie<br />

aus se<strong>in</strong>en Werken, 2. Aufl.<br />

Me<strong>in</strong>er, Leipzig<br />

Kienle G (1974) Arzneimittelsicherheit<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft, 255. Schattauer,<br />

Stuttgart, New York<br />

Köhler O, Vom unbenannten Denken.<br />

Journal für Ornithologie (1953), Bd.<br />

94<br />

Ludwig PH (1991) Sich selbst erfüllende<br />

Prophezeiungen im Alltagsleben. Verlag<br />

für angewandte Psychologie,<br />

Stuttgart<br />

Mandelkow KR (1998) Natur <strong>und</strong> Geschichte<br />

bei Goethe im Spiegel se<strong>in</strong>er<br />

wissenschaftlichen <strong>und</strong> kulturtheoretischen<br />

Rezeption. In: Matussek P,<br />

Goethe <strong>und</strong> die Verzeitlichung <strong>der</strong><br />

Natur, 238. Beck, München, Zürich<br />

Mayr E (1989) Die Darw<strong>in</strong>sche Revolution<br />

<strong>und</strong> die Wi<strong>der</strong>stände gegen die Selektionstheorie.<br />

In: Meier H (Hrsg.), Die<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Evolutionsbiologie,<br />

245. Piper, München<br />

McKeen T (1980) Was heißt „Anthroposophische<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“? Beiträge zur Erweiterung<br />

<strong>der</strong> Heilkunst, Wie<strong>der</strong>abdruck<br />

(1996). In: Wesen <strong>und</strong> Gestalt des<br />

Menschen. Freies Geitesleben, Stuttgart<br />

Nager F (1994) Goethe, Der heilk<strong>und</strong>ige<br />

Dichter. Insel, Frankfurt/Ma<strong>in</strong><br />

Parson T (1967) Def<strong>in</strong>ition von Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Krankheit. Krankheit im<br />

39


40<br />

Lichte <strong>der</strong> Wertbegriffe <strong>und</strong> <strong>der</strong> sozialen<br />

Struktur Amerikas. In: Mitscherlich<br />

A et al., Der Kranke <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Gesellschaft, Kiepenheuer <strong>und</strong><br />

Witsch, Köln u.a.<br />

Schad W, Zeit<strong>in</strong>tegration als Übergangsbereich<br />

zwischen heteronomen <strong>und</strong><br />

autonomen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> Organismen.<br />

Merkurstab (2001) 54, 85–90<br />

Schad W, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit <strong>in</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> Ökologie. Merkurstab<br />

(1998) 51, 193–197<br />

Schad W (1997) Die Zeit<strong>in</strong>tegration als<br />

Evolutionsmodus. Habilitationsschrift,<br />

Universität Witten/Herdecke<br />

Schad W (1981) Die geschichtliche<br />

Voraussetzung <strong>der</strong> Anthroposophie<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit. In: Rieche H, Schuchhardt<br />

W (Hrsg.), Zivilisation <strong>der</strong><br />

Zukunft, Urachhaus, Stuttgart<br />

Ste<strong>in</strong>er R (GA 1) E<strong>in</strong>leitungen zu Goethes<br />

Naturwissenschaftlichen Schriften.<br />

Rudolf Ste<strong>in</strong>er Verlag, Dornach/<br />

Schweiz<br />

Ste<strong>in</strong>er R (GA 2) Gr<strong>und</strong>l<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>er<br />

Erkenntnistheorie <strong>der</strong> Goetheschen<br />

Weltanschauung mit beson<strong>der</strong>er<br />

Rücksicht auf Schiller. Rudolf Ste<strong>in</strong>er<br />

Verlag, Dornach/Schweiz<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – Methodologische Zugänge<br />

Ste<strong>in</strong>er R (GA 58) Metamorphosen des Seelenlebens,<br />

Bd.1, Neun Vorträge, 44,<br />

76, 77. Rudolf Ste<strong>in</strong>er Verlag, Dornach/Schweiz<br />

Ste<strong>in</strong>er R (GA 151) Der menschliche <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> kosmische Gedanke. Rudolf Ste<strong>in</strong>er<br />

Verlag, Dornach/Schweiz<br />

Ste<strong>in</strong>er R (GA 314) Physiologisch-Therapeutisches<br />

auf Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Geisteswissenschaft.<br />

Rudolf Ste<strong>in</strong>er Verlag,<br />

Dornach/Schweiz<br />

Uexküll T, Wesiak W (1998) Theorie <strong>der</strong><br />

Human <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Gr<strong>und</strong>lagen ärztlichen<br />

Denkens <strong>und</strong> Handelns, 3. Aufl.<br />

Urban & Schwarzenberg, München,<br />

Wien, Baltimore<br />

Watzlawick P (1985) Selbsterfüllende Prophezeiungen.<br />

In: Watzlawick P, Die<br />

erf<strong>und</strong>ene Wirklichkeit. Beiträge zum<br />

Konstruktivismus, 91–110. Piper,<br />

München<br />

WHO World Health Organisation (1958)<br />

Constitution. Genf<br />

Willich et al., Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong>:<br />

Verständnis <strong>und</strong><br />

Zusammenarbeit müssen vertieft werden.<br />

Dtsch Ärztebl (2004) 101, A 1317


Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />

Klaus Dörner<br />

Wenn e<strong>in</strong> grünes Männchen vom Mars,<br />

natürlich mit ethnomethodologischem<br />

Blick, das „<strong>Dialogforum</strong> <strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ o<strong>der</strong> dieses Symposium<br />

betrachten würde, stünde es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefahr,<br />

sich totzulachen: Denn wenn die<br />

etablierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> den Kampfbegriff<br />

„Schulmediz<strong>in</strong>“ ihrer Kontrahenten sich<br />

selbst freiwillig aufdrückt – <strong>und</strong> mit diesem<br />

Begriff ist schließlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition<br />

von Hamlets Schulweisheit e<strong>in</strong>seitignaturwissenschaftliche<br />

<strong>und</strong> menschenfe<strong>in</strong>dliche<br />

Borniertheit geme<strong>in</strong>t –, dann<br />

arbeitet die etablierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> offenk<strong>und</strong>ig<br />

an ihrem eigenen Untergang, lässt ke<strong>in</strong>e<br />

Selbstachtung mehr erkennen <strong>und</strong><br />

dürfte kaum noch zu retten se<strong>in</strong>.<br />

Kommt erschwerend h<strong>in</strong>zu, dass <strong>der</strong><br />

Gegenbegriff des „Komplementären“ das<br />

Wesen <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> viel genauer trifft, hat<br />

diese doch von Beg<strong>in</strong>n an betont, nicht<br />

sie, son<strong>der</strong>n die Natur heile den Patienten,<br />

während <strong>der</strong> Arzt <strong>der</strong> Natur nur ergänzend-komplementär<br />

helfe. Und umgekehrt<br />

passt „Schulmediz<strong>in</strong>“ besser auf die<br />

komplementär genannten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen,<br />

da hier doch e<strong>in</strong> jeweils ganzheitliches,<br />

umfassendes <strong>und</strong> daher geschlossenes<br />

Lehrgebäude reklamiert wird, während<br />

die etablierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> sich eher als<br />

e<strong>in</strong>en offenen Fortschrittsprozess versteht.<br />

Obwohl ich nun selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit<br />

me<strong>in</strong>er Lehre an <strong>der</strong> Universität Witten/<br />

Herdecke das dauerhafte Nachdenken <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er über den Menschen – hier nur<br />

am Beispiel des anthroposophischen Modells<br />

– zu för<strong>der</strong>n versucht habe, damit<br />

übrigens am Des<strong>in</strong>teresse <strong>der</strong> kooperierenden<br />

Kl<strong>in</strong>iken <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>studenten<br />

gescheitert b<strong>in</strong>, zähle ich mich zum<br />

Lager <strong>der</strong> etablierten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>.<br />

Schon <strong>der</strong> Chancengleichheit wegen<br />

kann ich nun beim besten Willen me<strong>in</strong>e<br />

etablierte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> nicht „Schulmediz<strong>in</strong>“<br />

nennen, eben weil dies e<strong>in</strong>em sprachlichen<br />

Vorab-Selbstmord gleichkäme. Für<br />

die Zwecke me<strong>in</strong>er Ausführungen werde<br />

ich sie stattdessen „allgeme<strong>in</strong>e <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />

nennen, die komplementäre <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

h<strong>in</strong>gegen die „beson<strong>der</strong>e <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ (nach<br />

den „beson<strong>der</strong>en Therapierichtungen“<br />

des Gesetzestextes), abgekürzt A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

<strong>und</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Das ist nicht optimal,<br />

aber formal vertretbar, macht <strong>in</strong>haltlich<br />

sogar e<strong>in</strong> wenig S<strong>in</strong>n; <strong>und</strong> man muss<br />

nicht Hegel gelesen haben, um zu wissen,<br />

dass das Allgeme<strong>in</strong>e <strong>und</strong> das Beson<strong>der</strong>e <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Entwicklung je<strong>der</strong>zeit <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

umschlagen können.<br />

Ähnliche Bauchschmerzen bestehen<br />

beim Begriff „<strong>Menschenbild</strong>“. Dies ist<br />

we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> philosophischer noch e<strong>in</strong> wissenschaftlicher<br />

Begriff. Er gehört vielmehr<br />

zur ontologischen Sprache <strong>der</strong><br />

Weltanschauungen <strong>und</strong> Glaubenssysteme.<br />

Daher können B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er damit<br />

41


42<br />

besser leben als A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er wie ich. Da<br />

nun gleichwohl allen mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Äußerungen Annahmen über e<strong>in</strong> Menschenverständnis<br />

zugr<strong>und</strong>e liegen, spreche<br />

ich hier lieber von anthropologischen<br />

Annahmen, auch wenn – bezeichnend für<br />

das desolate Ergänzungsbedürfnis <strong>der</strong> A-<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – etwa <strong>der</strong> Pschyrembel we<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ische Anthropologie noch<br />

e<strong>in</strong>e anthropologische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> kennt, e<strong>in</strong><br />

Bef<strong>und</strong>, <strong>der</strong> alle<strong>in</strong> schon alle <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>-Verantwortlichen<br />

schlaflos machen müsste.<br />

Nun habe ich hier den Auftrag, über<br />

die anthropologischen Motive <strong>und</strong> Begründungen<br />

<strong>der</strong> ärztlichen Ethik <strong>und</strong><br />

damit des ärztlichen Handelns nachzudenken.<br />

Schon um hier den naturalistischen<br />

Fehlschluss zu vermeiden, also<br />

unzulässig vom menschlichen Se<strong>in</strong> auf<br />

das Sollen zu schließen, wofür B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er<br />

noch anfälliger als A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er s<strong>in</strong>d,<br />

empfiehlt sich Zurückhaltung bei anthropologischen<br />

Se<strong>in</strong>saussagen. So ist z.B.<br />

schon <strong>der</strong> Satz aus dem „<strong>Dialogforum</strong>“-<br />

Text [Willich 2004] bedenklich, Heilen sei<br />

die „Hilfe bei <strong>der</strong> Realisierung <strong>in</strong>dividueller<br />

Lebensperspektiven“ im Krankheitsfall.<br />

Denn unter heutigen Marktbed<strong>in</strong>gungen<br />

werden tendenziell alle Menschen<br />

als (vor allem psychisch) therapie<strong>und</strong><br />

verbesserungsbedürftig gewertet, was<br />

die Gefahr e<strong>in</strong>er menschenbeglückenden<br />

Medikokratie ebenso erkennen lässt wie<br />

die Tatsache, dass die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>-Verantwortlichen<br />

heute nur noch ungern von<br />

„Krankheit“, dafür aber umso begeisterter<br />

ontologisch von „Ges<strong>und</strong>heit“ <strong>und</strong> ihrer<br />

Steigerungsfähigkeit reden, weshalb sich<br />

auch das Konzept <strong>der</strong> Salutogenese e<strong>in</strong>er<br />

zu h<strong>in</strong>terfragenden Beliebtheit erfreut.<br />

Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />

Wegen solcher Gefährdungen beschränke<br />

ich mich hier auf die Beschreibung des<br />

Wandels anthropologischer Annahmen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> ihrer<br />

Ethik.<br />

Methodisch folge ich damit <strong>der</strong> jungen<br />

kulturwissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> „historischen Anthropologie“, wie sie<br />

Re<strong>in</strong>hard [2004] <strong>in</strong> Freiburg entwickelt<br />

hat.<br />

In diesem S<strong>in</strong>ne zunächst e<strong>in</strong>e kurze,<br />

allgeme<strong>in</strong>-menschliche Rahmenerzählung,<br />

die gleichwohl für unser Thema<br />

nicht bedeutungslos ist: Der Aufbruch zur<br />

europäischen Rationalität als Befreiung<br />

vom Mythos erfolgt im Altertum im Spannungsfeld<br />

zwischen zwei Denktraditionen,<br />

e<strong>in</strong>mal <strong>der</strong> griechischen mit ihrem<br />

Ausgang vom Ich <strong>und</strong> zum an<strong>der</strong>en <strong>der</strong><br />

biblischen mit ihrem Ausgang vom An<strong>der</strong>en,<br />

egal ob vom an<strong>der</strong>en Menschen o<strong>der</strong><br />

von Gott – e<strong>in</strong> bis heute wirksames Spannungsfeld.<br />

Innerhalb dieser sich so rationalisierenden<br />

Kultur Europas ist die erste mediz<strong>in</strong>-relevante<br />

Feststellung trotz ihrer<br />

Schlichtheit die am meisten vergessene:<br />

Da die Ärzte sich nämlich (von Ausnahmen<br />

abgesehen) während <strong>der</strong> vielen Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

des Mittelalters <strong>und</strong> <strong>der</strong> Neuzeit<br />

auf die Behandlung <strong>der</strong> wenigen Besitzenden<br />

beschränkten, war das anthropologisch<br />

bedeutsame Helfen <strong>in</strong> Krankheit<br />

<strong>und</strong> ähnlichen Notlagen <strong>in</strong> dieser langen<br />

Zeit vor allem die Sache <strong>der</strong> Bürger selbst,<br />

ihres recht <strong>und</strong> schlecht funktionierenden<br />

solidarischen Füre<strong>in</strong>an<strong>der</strong>e<strong>in</strong>stehens,<br />

stabilisiert von den drei nahräumigen<br />

Solidaritäts-Institutionen <strong>der</strong> Familie, <strong>der</strong><br />

Nachbarschaft <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de. Auch


Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />

vergessen ist, dass die kle<strong>in</strong>ste tragfähige<br />

soziale E<strong>in</strong>heit bei überdurchschnittlichem<br />

Hilfsbedarf im Regelfall nie die isolierte<br />

Familie, son<strong>der</strong>n immer Familie<br />

<strong>und</strong> Nachbarschaft zusammen waren,<br />

wofür die Hausärzte heute erst wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />

S<strong>in</strong>nesorgan entwickeln. Und die Solidarität<br />

territorialer Kle<strong>in</strong>räume ist <strong>und</strong> bleibt<br />

das basale Steuerungs<strong>in</strong>strument jedes<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesens bis heute. Nur so ist<br />

zu erklären, dass selbst unter den heutigen<br />

ungünstigen Bed<strong>in</strong>gungen 70% <strong>der</strong><br />

Alterspflegebedürftigen familiär betreut<br />

werden.<br />

Aber zwischen den beiden Ebenen<br />

bürgerschaftlicher Solidarität <strong>und</strong> ärztlichen<br />

Handelns gab es – nicht nur für den<br />

mal mehr, mal weniger, aber immer wirksamen<br />

Placebo-Bereich <strong>der</strong> notgeborenen<br />

gläubigen Heilserwartung – ebenso dauerhaft<br />

die Tradition <strong>der</strong> Volksmediz<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

ihren unendlich vielen Schattierungen.<br />

Wo <strong>der</strong>en Vertreter dem Ärztestand zu<br />

nahe kamen, wurden sie oft als „Unehrliche“<br />

abgewehrt, notfalls auch <strong>in</strong> Hexenprozesse<br />

verstrickt. Die heutigen beson<strong>der</strong>en<br />

Therapierichtungen <strong>der</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

haben wirksame Wurzeln <strong>in</strong> dieser Tradition<br />

<strong>der</strong> Volksmediz<strong>in</strong>, sei es <strong>der</strong> eigenen<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er fremden Kultur, teils bis <strong>in</strong> die<br />

Esoterik <strong>und</strong> die para-religiöse Spiritualität<br />

des vor-europäischen Mythos zurückreichend.<br />

Der Rationalisierungsschub <strong>der</strong> Aufklärung<br />

<strong>und</strong> des Beg<strong>in</strong>ns <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

än<strong>der</strong>te im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert fast alles.<br />

E<strong>in</strong>erseits führte die Verwissenschaftlichung<br />

<strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Technik aus <strong>der</strong><br />

Begeisterung über den dadurch erzielten<br />

Wirksamkeitszuwachs nicht nur zum<br />

neuen Leitbild <strong>der</strong> zukünftigen Herstellbarkeit<br />

e<strong>in</strong>er leidensfreien Gesellschaft,<br />

son<strong>der</strong>n auch zur Vernachlässigung <strong>der</strong><br />

Wirksamkeit <strong>der</strong> Person des Arztes <strong>und</strong><br />

se<strong>in</strong>er ethischen Erfahrungsregeln. Es entstand<br />

die Gefahr des Verlustes se<strong>in</strong>er<br />

beruflichen Autorität <strong>und</strong> Identität <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Eigenständigkeit se<strong>in</strong>er Wissenschaft.<br />

Wie die ärztlichen Techniken durch Anwendung<br />

an<strong>der</strong>er Wissenschaften (Physik,<br />

Chemie, Biologie, später Psychologie<br />

<strong>und</strong> Soziologie) effektiviert wurden, so<br />

wurden schließlich auch die ethischen<br />

Normen von außen importiert. Auf diese<br />

Weise wurden nun die Patienten zwar<br />

technisch erreichbar, aber dafür emotional-persönlich<br />

unerreichbar, was wie<strong>der</strong>um<br />

die B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

wichtiger werden ließ.<br />

An<strong>der</strong>erseits führte zwar <strong>der</strong> Universalismus-Anspruch<br />

<strong>der</strong> neuen Rationalität<br />

dazu, dass die Ärzte nun erstmals <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>geschichte für alle Menschen da<br />

se<strong>in</strong>, sich mit allen solidarisieren wollten,<br />

abzulesen etwa an den vielen kommunalen<br />

Ärztevere<strong>in</strong>en im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Auf diese Tradition greift die heutige<br />

„<strong>in</strong>tegrierte Versorgung“ zurück, wenn es<br />

ihr um die Versorgung e<strong>in</strong>es erlebnisfähigen<br />

kommunalen Nahraums geht; hier ist<br />

territoriale Verantwortung endlich die<br />

Basis ärztlicher Sorge-Ethik. Doch wählte<br />

<strong>der</strong> Staat mit den Sozialgesetzen ab 1880<br />

e<strong>in</strong>e eher entsolidarisierende Problemlösung<br />

top-down, von oben herunter – mit<br />

<strong>der</strong> Botschaft an die Bürger, dass sie sich<br />

nun von ihrer Solidarität des Helfens<br />

zugunsten eigener Freiheit durch Geld<br />

(Steuern/Beiträge) freikaufen könnten –<br />

mit <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong> seitherigen Schwächung<br />

43


44<br />

<strong>der</strong> drei Solidaritäts<strong>in</strong>stitutionen Familie,<br />

Nachbarschaft <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>de <strong>und</strong> des<br />

Irrglaubens <strong>der</strong> Bürger, sie hätten sich<br />

jetzt nicht mehr an ihrer Bedeutung für<br />

An<strong>der</strong>e, son<strong>der</strong>n nur noch an ihrer eigenen<br />

Selbsterhaltung <strong>und</strong> Selbstbestimmung<br />

zu orientieren. Dies war passend<br />

zur zunehmenden Bedeutung des Marktes,<br />

<strong>der</strong> nun gegenüber <strong>der</strong> Solidarität,<br />

wenn auch schrittweise, das immer stärkere<br />

Steuerungs<strong>in</strong>strument des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

werden konnte, bis heute<br />

nach dem Willen von WTO <strong>und</strong> EU das<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen dem globalen Dienstleistungshandel<br />

allmählich freigegeben<br />

wird, was den Arztberuf zum Gewerbe<br />

<strong>und</strong> den Arzt zum Wunscherfüller von<br />

Dienstleistungsk<strong>und</strong>en macht, den besseren<br />

hofierend <strong>und</strong> melkend, den schlechteren<br />

an die Konkurrenz abdrückend. In<br />

dem Maße, wie sich dieser Prozess, zu<br />

dem sich auch Deutschland verpflichtet<br />

hat, realisiert, könnten A- <strong>und</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er<br />

dann nur noch im schlechten <strong>Pluralismus</strong><br />

postmo<strong>der</strong>ner Beliebigkeit um die<br />

profitableren Marktanteile konkurrieren.<br />

Wer hier resignieren will, sei auf die<br />

zur Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> historischen Anthropologie<br />

diskutierte Hypothese [Re<strong>in</strong>hard 2004,<br />

S. 276] verwiesen, dass die zu beobachtende<br />

postmo<strong>der</strong>ne Wie<strong>der</strong>zuwendung <strong>der</strong><br />

Menschen zu den vormo<strong>der</strong>nen Nahräumen<br />

<strong>und</strong> Kle<strong>in</strong>gruppen damit zu tun<br />

haben könnte, dass die durch die Befreiung<br />

von den B<strong>in</strong>dungen <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>gruppen<br />

e<strong>in</strong>gehandelte Diszipl<strong>in</strong>ierung durch<br />

die dadurch gestärkten Groß<strong>in</strong>stitutionen<br />

– nache<strong>in</strong>an<strong>der</strong> Kirche, Staat <strong>und</strong> Markt –<br />

zunehmend umfassen<strong>der</strong> <strong>und</strong> drücken<strong>der</strong><br />

erlebt wurde. Da die Menschen so vom<br />

Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />

Regen <strong>in</strong> die Traufe gekommen seien, versuchten<br />

sie, dies durch e<strong>in</strong>e Reorientierung<br />

an den durch die Mo<strong>der</strong>ne überholt<br />

geglaubten Kle<strong>in</strong>gruppen (Familie, Nachbarschaft,<br />

Geme<strong>in</strong>de, auch Fre<strong>und</strong>schaft)<br />

zu kompensieren. In dem Maße, wie das<br />

zutrifft, wäre es für die Ärzte geboten, sich<br />

ihrerseits wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Dienst dieser<br />

Kle<strong>in</strong>gruppen <strong>und</strong> damit <strong>der</strong> bürgerschaftlichen<br />

Solidarität des Helfens zu<br />

stellen, um diese gegenüber dem an<strong>der</strong>en<br />

Steuerungs<strong>in</strong>strument des Ges<strong>und</strong>heitswesens,<br />

dem Markt, zu stärken. Wie das<br />

geht, wie z.B. <strong>der</strong> Hausarzt Geme<strong>in</strong>dearzt<br />

werden kann, habe ich <strong>in</strong> Der gute Arzt<br />

[2003] <strong>und</strong> Das Ges<strong>und</strong>heitsdilemma<br />

[2004] zu zeigen versucht.<br />

Nach dieser historischen Analyse nun<br />

e<strong>in</strong> paar systematische Aspekte zur Frage<br />

<strong>der</strong> Technik-Moral-Balance, des Ethik-Ausgleichs,<br />

nachdem wir uns darüber vermutlich<br />

e<strong>in</strong>ig s<strong>in</strong>d, dass die Verwissenschaftlichung<br />

<strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Techniken zwischenzeitlich<br />

zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>strumentellen<br />

Verkürzung <strong>der</strong> anzustrebenden vollständigen<br />

Rationalität gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>,<br />

vermeidbar o<strong>der</strong> nicht, geführt hat.<br />

Auch auf diesem Weg kommen wir zu<br />

ähnlichen Ergebnissen:<br />

D Der Verallgeme<strong>in</strong>erbarkeit <strong>und</strong> Wie<strong>der</strong>holbarkeit<br />

als Wirkungskriterium<br />

e<strong>in</strong>es Experimentes, e<strong>in</strong>er ärztlichen<br />

Maßnahme o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Medikamentes<br />

entspricht ethisch am ehesten die<br />

Gerechtigkeits-Norm. Deren Formalismus<br />

(alle haben dasselbe Recht, unter<br />

Brücken zu schlafen) bedarf des Ausgleichs<br />

durch E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> die<br />

eigentlich ärztliche Ethik <strong>der</strong> Sorge,<br />

wie <strong>der</strong> amerikanische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>-Ethi-


Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />

ker Warren T. Reich [1997] gezeigt hat.<br />

Dies konkretisiert me<strong>in</strong> kategorischer<br />

Imperativ <strong>der</strong> Solidarität: „Handle <strong>in</strong><br />

de<strong>in</strong>em Verantwortungsbereich so,<br />

dass du mit dem E<strong>in</strong>satz all de<strong>in</strong>er<br />

Ressourcen beim jeweils Letzten beg<strong>in</strong>nst,<br />

bei dem es sich am wenigsten<br />

lohnt.“ Damit ist unschwer zu erkennen,<br />

dass <strong>der</strong> Markt e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en,<br />

umgekehrten ethischen Imperativ<br />

folgt (beg<strong>in</strong>nen, wo es sich am meisten<br />

lohnt).<br />

D Die Adressierung e<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Maßnahme an e<strong>in</strong> krankes, isoliertes<br />

Individuum bedarf des kompensatorischen<br />

Ausgleichs <strong>der</strong> Aufmerksamkeit<br />

für se<strong>in</strong>en Kontext, se<strong>in</strong>e Lebenswelt.<br />

Daher ist ärztliche Verantwortung, im<br />

Dienst des bürgerschaftlichen Solidarsystems,<br />

immer zuerst territorial zu<br />

def<strong>in</strong>ieren. Und daher ist die Arzt-Patienten-Beziehung<br />

immer zuerst e<strong>in</strong>e<br />

Arzt-Patienten-Angehörigen-Beziehung,<br />

wenn sie vollständig rational<br />

se<strong>in</strong> will.<br />

D Die Fokussierung ärztlichen Handelns<br />

auf die technische Endstrecke verlangt<br />

als Ausgleich die E<strong>in</strong>bettung des<br />

Handelns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e beziehungsmediz<strong>in</strong>ische<br />

Kultur, wie dies u.a. Uexküll<br />

[1994] beschreibt.<br />

D Die ethische Reflexion <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als<br />

Beziehungswissenschaft unterscheidet<br />

<strong>in</strong> je<strong>der</strong> Beziehung zwischen zwei<br />

asymmetrischen Dimensionen: Dies<br />

ist e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e aktiv-asymmetrische<br />

Subjekt-Objekt-Dimension, <strong>in</strong> <strong>der</strong> ich<br />

mich dazu bekenne, den <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Not<br />

eher nicht selbstbestimmten, son<strong>der</strong>n<br />

real-fremdbestimmten Patienten zur<br />

Anwendung e<strong>in</strong>er kunstgerecht <strong>in</strong>dizierten<br />

Technik führen zu wollen.<br />

Dies ist verantwortungs-ethisch nur<br />

gerechtfertigt, wenn diese Dimension<br />

zum an<strong>der</strong>en als Ausgleich e<strong>in</strong>gebettet<br />

ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e umgekehrte passivasymmetrischeObjekt-Subjekt-Dimension,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> ich mich ebenso<br />

vorbehaltlos dem Dienst an dem Patienten<br />

aussetze, den sprechenden<br />

Augen se<strong>in</strong>es schutzlosen Antlitzes<br />

ohne Hörigkeit gehorsam b<strong>in</strong>, wie<br />

Lev<strong>in</strong>as [1992] den Vorrang <strong>der</strong> Ethik<br />

vor <strong>der</strong> Ontologie auch allgeme<strong>in</strong><br />

begründet. Nur über diesen Umweg<br />

<strong>der</strong> „Kunst des Indirekten“ [Schernus<br />

2003] kann die Beziehung gelegentlich<br />

auch als wechselseitig <strong>in</strong> ihrer<br />

Subjekt-Subjekt-Dimension erlebnisfähig<br />

werden. Hier wird deutlich, dass<br />

„Dienst“ das Gegenteil von „Dienstleistung“<br />

ist.<br />

D In <strong>der</strong> Balance zwischen nomothetischer<br />

<strong>und</strong> idiopathischer Ausrichtung<br />

<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> hat <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die A-<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> sich über 200 Jahre vor allem<br />

naturwissenschaftlich-nomothetisch<br />

weitergebildet, während die humanwissenschaftlich-idiopathischeOrientierung<br />

überholt zu se<strong>in</strong> schien. Heute<br />

können wir wissen, dass zur nicht<br />

<strong>in</strong>strumentell verkürzten, vollständigen<br />

Rationalität <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

mediz<strong>in</strong>ischen Anthropologie die E<strong>in</strong>bettung<br />

<strong>der</strong> naturwissenschaftlichen<br />

<strong>in</strong> die humanwissenschaftliche Orientierung<br />

geboten ist, ähnlich wie<br />

Newtons mechanische Physik sich<br />

nur als Son<strong>der</strong>fall <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>eren<br />

Quantenphysik als gültig erwiesen<br />

45


46<br />

hat. Wir tun also gut daran, für die<br />

nächsten 100 Jahre unsere S<strong>in</strong>nesorgane<br />

für das Idiopathische nachzuentwickeln,<br />

unsere Befähigung zum biographisch-hermeneutischen<br />

Denken<br />

<strong>und</strong> zur phänomenologischen Erfahrung,<br />

die <strong>in</strong> <strong>der</strong> konkreten Situation<br />

die evidence-basierten Leitl<strong>in</strong>ien<br />

nicht e<strong>in</strong>fach befolgt, son<strong>der</strong>n sie souverän<br />

<strong>in</strong> ihren Dienst zu nehmen versteht.<br />

Dem entspricht durchaus die<br />

Wie<strong>der</strong>entdeckung unserer S<strong>in</strong>nesorgane<br />

für die überholt geglaubten<br />

Kle<strong>in</strong>gruppen <strong>der</strong> Menschen, die solidaritätsstabilisierenden<br />

Institutionen<br />

Familie, Nachbarschaft, Geme<strong>in</strong>de,<br />

damit für die territoriale Def<strong>in</strong>ition<br />

unserer Verantwortung, vor allem die<br />

des Hausarztes. Auch Habermas’<br />

[2001] postsäkulare Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>beziehung<br />

<strong>der</strong> biblischen neben <strong>der</strong><br />

gewohnten griechischen Denktradition<br />

zu e<strong>in</strong>em vollständigen Rationalitätsbegriff<br />

ist hier e<strong>in</strong>schlägig,<br />

schließlich auch die Wahrnehmung<br />

des Spannungsfeldes zwischen den<br />

beiden anthropologischen Gr<strong>und</strong>bedürfnissen<br />

jedes Menschen, e<strong>in</strong>erseits<br />

nach ges<strong>und</strong>-egoistischer Selbsterhaltung/Selbstbestimmung<br />

<strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits<br />

nach Auslastung durch Bedeutung<br />

für An<strong>der</strong>e; dann nämlich habe<br />

ich mich als Arzt bei <strong>der</strong> Entlassung<br />

e<strong>in</strong>es Patienten aus dem Krankenhaus<br />

nicht nur zu fragen, ob er selbstständig<br />

genug sei, son<strong>der</strong>n auch, ob er<br />

h<strong>in</strong>reichend mit Bedeutung für An<strong>der</strong>e<br />

ausgelastet sei. Von Viktor von<br />

Weizsäcker [1987] kann man das lernen.<br />

Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />

Folgende Schlussfolgerungen lassen sich<br />

aus den historischen <strong>und</strong> systematischen<br />

Überlegungen ziehen:<br />

1. A- <strong>und</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> haben zum<strong>in</strong>dest<br />

zwei geme<strong>in</strong>same Interessen. E<strong>in</strong>mal die<br />

Rückbes<strong>in</strong>nung darauf, dass die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

selbst e<strong>in</strong>e eigenständige, zwar nicht<br />

naturwissenschaftliche, wohl aber humanwissenschaftliche<br />

Wissenschaft ist.<br />

Sie <strong>in</strong>tegriert zwar die Ergebnisse vieler<br />

an<strong>der</strong>er Wissenschaften, entwickelt aber<br />

eigene Theorien <strong>und</strong> folgt e<strong>in</strong>er eigenen<br />

Philosophie, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch Ethik,<br />

wofür ich e<strong>in</strong>ige Beispiele genannt habe.<br />

Die resignierten Ärzte an <strong>der</strong> Basis hoffen<br />

kaum noch, aber erwarten dennoch, dass<br />

ihre Selbstverwaltungs-Repräsentanten<br />

sich zu diesem Anspruch, auch Machtanspruch<br />

bekennen, um dem ärztlichen Alltagshandeln<br />

se<strong>in</strong>e früher wegen e<strong>in</strong>seitiger<br />

Hypertrophie teils zurecht aberkannte<br />

Autorität <strong>in</strong> dieser an<strong>der</strong>en Form wie<strong>der</strong>zugeben,<br />

ohne die es nicht h<strong>in</strong>reichend<br />

wirken kann.<br />

Das an<strong>der</strong>e geme<strong>in</strong>same Interesse<br />

besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rückbes<strong>in</strong>nung darauf,<br />

dass das professionelle <strong>und</strong> bezahlte Hilfesystem<br />

<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> das unbezahlte bürgerschaftliche<br />

Hilfesystem nicht etwa<br />

ersetzt o<strong>der</strong> allenfalls ergänzend <strong>in</strong> Form<br />

von Ehrenamtlichen zulässt, wie wir dies<br />

über 200 Jahre Mo<strong>der</strong>ne praktiziert haben.<br />

Dieses Verhältnis ist nun wie<strong>der</strong> vom<br />

Kopf auf die Füße zu stellen: Das professionelle<br />

Hilfesystem <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, so potent es<br />

auch se<strong>in</strong> mag, steht nämlich nach wie<br />

vor nur im Dienst des Solidaritätshilfesystems<br />

<strong>der</strong> Bürger, ergänzt es nur; die Bürger<br />

bezahlen die Profis dafür, dass sie ergänzend,<br />

komplementär nur dort tätig wer-


Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />

den, wo die Bürger dies mangels Kompetenz<br />

nicht können.<br />

Dies entspricht nicht nur <strong>der</strong> historischen<br />

Wahrheit, ist nicht nur arzt-ethisch<br />

geboten <strong>und</strong> auch nicht nur ökonomisch<br />

notwendig, um Steuern <strong>und</strong> Beiträge <strong>in</strong><br />

Grenzen zu halten. Vielmehr ist diese organisatorische<br />

<strong>und</strong> persönliche Indienstnahme<br />

<strong>der</strong> Ärzte durch das Solidaritätssystem<br />

<strong>der</strong> bürgerschaftlichen Kle<strong>in</strong>gruppen<br />

(Familie, Nachbarschaft, Geme<strong>in</strong>de)<br />

buchstäblich die e<strong>in</strong>zige Chance, um zu<br />

verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, dass das professionelle <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>system<br />

restlos vom zweiten Steuerungs<strong>in</strong>strument<br />

Markt geschluckt <strong>und</strong><br />

dem global-freien Handel als Dienstleistung<br />

ausgesetzt wird – mit <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong><br />

Verwandlung <strong>der</strong> Patienten <strong>in</strong> K<strong>und</strong>en<br />

o<strong>der</strong> Waren <strong>und</strong> <strong>der</strong> endgültigen Auflösung<br />

ärztlicher Identität. Die resignierten<br />

Ärzte an <strong>der</strong> Basis hoffen kaum noch, aber<br />

erwarten dennoch, dass die Ärztestandverantwortlichen<br />

die Realisierung <strong>der</strong> Indienstnahme<br />

<strong>der</strong> Ärzte durch die Bürger-<br />

Solidarität zu ihrer vornehmsten Pflicht<br />

machen, den Vorrang <strong>der</strong> Steuerung<br />

durch die Solidarität vor <strong>der</strong> Steuerung<br />

durch den Markt durchsetzen. Dann<br />

nämlich wäre jedem klar, dass die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

im Kern nicht marktfähig ist. Soweit<br />

die B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er die Erben <strong>der</strong> Volksmediz<strong>in</strong><br />

s<strong>in</strong>d, liegt es nahe, dass hier die Aeher<br />

von <strong>der</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> lernen kann.<br />

2. Von den B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ern ist aber<br />

noch mehr zu lernen. So ist für sie etwa<br />

die E<strong>in</strong>bettung mediz<strong>in</strong>ischer Techniken<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Beziehungskultur selbstverständlicher<br />

geblieben. Auch <strong>der</strong> durch die Technik-Fasz<strong>in</strong>ation<br />

bed<strong>in</strong>gte Irrglaube des<br />

mo<strong>der</strong>nisierten Arztes, er selbst sei es, <strong>der</strong><br />

heilen könne, ist ihr eher fremd. Vor allem<br />

aber ist es heute von existenzieller Bedeutung,<br />

dass die eher somato-psycho-sozialen<br />

(<strong>und</strong> nur damit biologischen) ganzheitlichen<br />

Wahrnehmungsmethoden <strong>der</strong><br />

B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>er eher gegen das A-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>-<br />

Übel immunisieren, den Patienten zu fragmentisieren<br />

<strong>und</strong> für se<strong>in</strong>e psychischen<br />

getrennt von se<strong>in</strong>en somatischen Leidensäußerungen<br />

arbeitsteilig <strong>und</strong> kostentreibend<br />

zwei getrennte Spezialistensysteme<br />

mit marktförmig unendlicher Expansionstendenz<br />

zu schaffen. Dies begünstigt,<br />

dass <strong>der</strong> Arzt überflüssig wird; denn<br />

wenn die psychische o<strong>der</strong> Personwirkung<br />

dem Psycho-Spezialisten zugeschrieben<br />

wird, ist die Somato-Technik beim Ingenieur<br />

besser aufgehoben. Wenn nun <strong>der</strong><br />

heutige A-B-Dialog genauso läuft wie <strong>der</strong><br />

frühere Somato-Psycho-Dialog, dann werden<br />

wir <strong>in</strong> 30 Jahren – Market<strong>in</strong>g-gesteuert<br />

– für jede Behandlung nicht zwei, son<strong>der</strong>n<br />

drei Spezialistensysteme haben:<br />

Je<strong>der</strong> Patient (z.B. je<strong>der</strong> Diabetiker) wird<br />

als Behandlungs-Gr<strong>und</strong>ausstattung den<br />

Technik-Spezialisten o<strong>der</strong> Ingenieur, den<br />

Psycho-Spezialisten <strong>und</strong> den Komplementär-Arzt<br />

o<strong>der</strong> Geistheiler wünschen –<br />

<strong>und</strong> nur se<strong>in</strong> Wunsch zählt am Markt; er<br />

wird dies notfalls gerichtlich e<strong>in</strong>klagen.<br />

Obwohl wir mit diesem A-mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Irrweg <strong>der</strong> Verdoppelung des somatischen<br />

durch e<strong>in</strong> psychisches Hilfesystem erst<br />

begonnen haben, f<strong>in</strong>det man <strong>in</strong> den<br />

Branchenverzeichnissen „besserer“ Stadtteile<br />

heute schon mehr Psycho-Anbieter<br />

als Körpermediz<strong>in</strong>er. Wie dies wie<strong>der</strong><br />

zusammenzuführen (lei<strong>der</strong> weniger: wie<br />

dies auf die wirklich kranken Patienten<br />

wie<strong>der</strong> ges<strong>und</strong>zuschrumpfen) ist, ist eher<br />

47


48<br />

von <strong>der</strong> B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zu lernen. Im Übrigen<br />

ist <strong>der</strong> Lernprozess zwischen den A- <strong>und</strong><br />

den B-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ern schon seit langem im<br />

Gange.<br />

3. Umgekehrt haben die B- von den A-<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ern gnadenlos die Wirksamkeitsnachweise<br />

ihrer Verfahren zu lernen,<br />

auch wenn es dabei Fehler aufzudecken<br />

gibt. Die „B<strong>in</strong>nenanerkennung“ <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

heutigen Form politischer Gefälligkeit<br />

kann jedenfalls ke<strong>in</strong>en Bestand haben,<br />

wollen wir die Zeiten des Kulturkampfes<br />

h<strong>in</strong>ter uns br<strong>in</strong>gen. Und was die schulhaften,<br />

geschlossenen Weltanschauungsgebäude<br />

angeht, so sollte trotz aller Lebensperspektiven-S<strong>in</strong>nstiftungsbedürfnisse<br />

–<br />

am europäischen Vollständigkeitsideal<br />

<strong>der</strong> Rationalität festhaltend – nicht h<strong>in</strong>ter<br />

den Stand <strong>der</strong> Erkenntnistheorie Kants<br />

zurückgegangen werden. Wo <strong>der</strong> Rückgriff<br />

noch h<strong>in</strong>ter die griechischen <strong>und</strong><br />

biblischen Denktraditionen zurückreicht<br />

<strong>und</strong> sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Esoterik <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Spiritualität<br />

mythologischen Wähnens verwurzelt,<br />

sollte e<strong>in</strong>e Grenze gezogen se<strong>in</strong>,<br />

damit e<strong>in</strong> solcher nicht mehr weltoffener<br />

Holismus nicht Menschen kolonisiert<br />

<strong>und</strong> so imperialistisch wird. Wer Gläubige<br />

rekrutieren will, mag das tun, aber nicht<br />

durch Missbrauch zwangsläufiger Suggestibilität<br />

notleiden<strong>der</strong> Kranker, also getrennt<br />

von <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, die geme<strong>in</strong>nützig<br />

dem solidarischen Hilfesystem aller Bürger<br />

dient, worüber die ärztliche Selbstverwaltung<br />

zu wachen hat – für ihre Glaubwürdigkeit<br />

<strong>und</strong> Autorität Nachteile <strong>in</strong><br />

Kauf nehmend.<br />

4. Alle Gesprächsteilnehmer sollten<br />

sich unter dem Anspruch versammeln,<br />

den Markt-<strong>Pluralismus</strong> <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen<br />

Ärztliche Ethik <strong>und</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />

Beliebigkeit, <strong>der</strong> für jeden e<strong>in</strong>e dauerhafte<br />

Nischenexistenz toleriert, abzulehnen<br />

<strong>und</strong> stattdessen das rationale Ziel anzustreben,<br />

dass es auf Dauer nur e<strong>in</strong>e <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

als Praxis <strong>und</strong> Wissenschaft geben<br />

kann, egal, wer wen wie bereichert <strong>und</strong><br />

wie lange <strong>der</strong> lernende Austausch dauert.<br />

Die seriöseste Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e solche<br />

Entwicklung ist für mich nach wie vor die<br />

anthropologische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> von Weizsäckers<br />

[1987], durch Kant <strong>der</strong> Rationalität<br />

verpflichtet, durch se<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>schaft<br />

mit Mart<strong>in</strong> Buber dialogphilosophisch<br />

weltoffen gehalten <strong>und</strong> natürlich für<br />

unsere heutige Situation weiterentwickelt,<br />

wofür Asmus F<strong>in</strong>zen [2002] mit se<strong>in</strong>em<br />

Buch Warum werden unsere Kranken<br />

eigentlich wie<strong>der</strong> ges<strong>und</strong>? Räsonieren über<br />

das Heilen uns e<strong>in</strong> Füllhorn von Anregungen<br />

gibt.<br />

Abschließen will ich mit dem Lebensbericht<br />

e<strong>in</strong>es alten, engagierten Landarztes:<br />

Er habe im schon fortgeschrittenen<br />

Erfahrungsstadium sich e<strong>in</strong>er kompletten<br />

homöopathischen Ausbildung unterzogen,<br />

weil er auf ke<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Weg vollständiger<br />

die Wahrnehmung des Gesamtorganismus<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Biographie des je e<strong>in</strong>maligen<br />

Patienten habe lernen können.<br />

Die auf dieser Gr<strong>und</strong>lage höchst <strong>in</strong>dividuell<br />

verordneten Kügelchen seien ihm nur<br />

als Beziehungssymbol wichtig gewesen,<br />

worauf er <strong>in</strong> dem Maße habe verzichten<br />

können, wie es ihm gelungen sei, den<br />

jeweils <strong>in</strong>dizierten technischen Maßnahmen<br />

durch das Wirken se<strong>in</strong>er Person e<strong>in</strong>e<br />

tragfähige Basis zu geben.


Literatur<br />

Literatur<br />

Dörner K (2003) Der gute Arzt. Deutscher<br />

Ärzte-Verlag, Köln<br />

Dörner K (2004) Das Ges<strong>und</strong>heitsdilemma.<br />

Ullste<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong><br />

F<strong>in</strong>zen A (2002) Warum werden unsere<br />

Kranken eigentlich wie<strong>der</strong> ges<strong>und</strong>?<br />

Psychiatrie-Verlag, Bonn<br />

Habermas J (2001) Friedenspreisrede. Frankfurter<br />

R<strong>und</strong>schau vom 16.10.2001<br />

Lev<strong>in</strong>as E (1992) Jenseits des Se<strong>in</strong> o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>s als Se<strong>in</strong> geschieht. Alber, Freiburg<br />

Reich WT (1997) Verrat an <strong>der</strong> Fürsorge,<br />

unveröffentlichter Text <strong>der</strong> Freiburger<br />

Tagung vom 12.10.1997 <strong>der</strong> Akademie<br />

für Ethik <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Re<strong>in</strong>hard W (2004) Lebensformen Europas,<br />

e<strong>in</strong>e historische Kulturanthropologie.<br />

Beck, München<br />

Schernus R (2003) Die Kunst des Indirekten.<br />

Paranus, Münster<br />

Uexküll T (1994) Rückmeldung als Modell<br />

<strong>in</strong>terpersonaler Beziehungen. Psychosomatische<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> als Beziehungsmediz<strong>in</strong>.<br />

In: Hahn PH (Hrsg.), Modell<br />

<strong>und</strong> Methode <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychosomatik.<br />

Beltz, We<strong>in</strong>heim<br />

Weizsäcker Vv (1987) Der Arzt <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Kranke. In: Weizsäcker Vv et al. (Hrsg.),<br />

Gesammelte Schriften. Suhrkamp,<br />

Frankfurt/Ma<strong>in</strong><br />

Willich SN, Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong>.<br />

Dtsch Ärztebl (2004)<br />

101, A 1314–1319<br />

49


Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong>:<br />

se<strong>in</strong>e Bedeutung für das ärztliche Handeln<br />

Hermann Heimpel<br />

Auch wenn es uns im ärztlichen Alltag<br />

nicht immer bewusst ist, bestimmt unser<br />

<strong>Menschenbild</strong> letztlich jede Entscheidung,<br />

die wir für unsere Patienten <strong>und</strong><br />

mit unseren Patienten treffen. Wenn <strong>in</strong><br />

diesem Symposium des <strong>Dialogforum</strong>s<br />

„<strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ e<strong>in</strong> Kl<strong>in</strong>iker<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong> Humangenetiker die Aufgaben<br />

übernommen haben, die Bedeutung des<br />

<strong>Menschenbild</strong>es für das ärztliche Handeln<br />

aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> darzulegen<br />

<strong>und</strong> damit den Vorstellungen an<strong>der</strong>er,<br />

„nicht schulmediz<strong>in</strong>ischer“ <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen<br />

gegenüberzustellen, s<strong>in</strong>d<br />

zunächst e<strong>in</strong>ige Vorbemerkungen notwendig.<br />

E<strong>in</strong>e erste Vorbemerkung betrifft den<br />

Begriff <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong>, wie er <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Vorstellung des <strong>Dialogforum</strong>s <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

ersten Veröffentlichung verwendet wurde<br />

[Willich 2004]. Dabei wurde zunächst<br />

darauf verzichtet, den Worts<strong>in</strong>n dieses<br />

Begriffes zu h<strong>in</strong>terfragen. Er entspricht<br />

vielmehr dem üblichen Sprachgebrauch<br />

<strong>und</strong> bezeichnet im Kontext dieser Darstellung<br />

die dem heutigen Lehrgebäude <strong>der</strong><br />

Humanmediz<strong>in</strong> entsprechenden Denkweisen<br />

<strong>und</strong> Verfahren, die an den Universitäten<br />

<strong>der</strong> hoch entwickelten westlichen<br />

Län<strong>der</strong> erforscht <strong>und</strong> gelehrt <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

naturwissenschaftlich orientierten mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Praxis verwendet werden.<br />

Dabei ist nicht zu übersehen, dass er von<br />

Seiten <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong>er mit dem positiven<br />

Beiklang e<strong>in</strong>er wissenschaftlich f<strong>und</strong>ierten<br />

Schule, von Vertretern komplementärer<br />

<strong>und</strong> alternativer <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen<br />

(im <strong>Dialogforum</strong> verengt auf den<br />

Begriff <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong>) häufig<br />

mit dem negativen Beiklang e<strong>in</strong>er reduktionistischen<br />

anthropologischen Sicht<br />

gebraucht wird. Es ist bemerkenswert,<br />

dass Schulmediz<strong>in</strong>er, die sich mit alternativen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen <strong>und</strong> ihren Verfahren<br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> setzen, fast immer<br />

darauf verzichten, ihre eigene <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

term<strong>in</strong>ologisch zu def<strong>in</strong>ieren. E<strong>in</strong>e Ausnahme<br />

bildet die Stellungnahme von<br />

Bock, <strong>der</strong> die hier als Schulmediz<strong>in</strong> bezeichnete<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtung als „wissenschaftliche<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ <strong>der</strong> alternativen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> gegenüberstellt [Bock 1993].<br />

Dagegen betrifft Bleulers Kritik an <strong>der</strong><br />

Inkonsequenz des Denkens <strong>in</strong> <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Praxis gleichermaßen die Schulmediz<strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Zeit wie alternative <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen<br />

[Bleuler 1962].<br />

Unbeschadet <strong>der</strong> Problematik des<br />

Wissenschaftsbegriffes wurde im Kontext<br />

des Verständigungsversuches des <strong>Dialogforum</strong>s<br />

darauf verzichtet, den zweifellos<br />

richtigen Term<strong>in</strong>us <strong>der</strong> „wissenschaftlichen“<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> für die heutige Schulmediz<strong>in</strong><br />

zu verwenden <strong>und</strong> damit allen an<strong>der</strong>en<br />

<strong>in</strong> diesem Symposium vertretenen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen <strong>und</strong> ihren Protagonis-<br />

51


52<br />

ten wissenschaftliche Reflexion <strong>und</strong> wissenschaftliche<br />

Argumentation von vornehere<strong>in</strong><br />

abzusprechen. Wir s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht bereit, unsere <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> auf den Begriff<br />

<strong>der</strong> „naturwissenschaftlichen“ <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

zu reduzieren; denn unbeschadet <strong>der</strong><br />

entscheidenden Rolle <strong>der</strong> exakten Naturwissenschaften<br />

für die heute weltumspannende<br />

„allgeme<strong>in</strong>e“ <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> im S<strong>in</strong>ne<br />

Dörners haben nicht naturwissenschaftliche<br />

Fächer wie die allgeme<strong>in</strong>e Wissenschaftstheorie,<br />

die Psychologie <strong>und</strong> die<br />

Soziologie die heutige Schulmediz<strong>in</strong> mitgeformt<br />

<strong>und</strong> s<strong>in</strong>d bei <strong>der</strong> Sozialisation des<br />

Laien zum Arzt wesentlich beteiligt. Der<br />

viel zitierte Ausspruch Naunyns lautet<br />

eben nicht „die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wird Naturwissenschaft<br />

se<strong>in</strong> o<strong>der</strong> sie wird nicht se<strong>in</strong>“,<br />

son<strong>der</strong>n „… wird Wissenschaft se<strong>in</strong> o<strong>der</strong><br />

sie wird nicht se<strong>in</strong>“ [Raspe 2001].<br />

Der Begriff <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />

bedeutet zunächst die Absetzung von <strong>der</strong><br />

scholastischen Schulmediz<strong>in</strong> des Mittelalters<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Renaissance, die auf dem<br />

über 1.000 Jahre konservierten humoralpathologischen<br />

Modell <strong>der</strong> Biologie des<br />

Menschen beruhte, das sich als für den<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Fortschritt untaugliches<br />

Modell erwiesen hat. Dabei war die Schulmediz<strong>in</strong><br />

für den Kranken oft gefährlicher<br />

<strong>und</strong> weniger nützlich als die Tätigkeit<br />

nicht anerkannter Außenseiter wie<br />

W<strong>und</strong>ärzte, Wasserheiler o<strong>der</strong> Kräuterfrauen.<br />

Reste des humoralpathologischen<br />

Modells waren selbst nach se<strong>in</strong>er wissenschaftlichen<br />

Ablösung – für die Namen<br />

wie William Harvey o<strong>der</strong> Rudolph Virchow<br />

stehen – noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Hälfte<br />

des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>in</strong> <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Praxis zu f<strong>in</strong>den, wäh-<br />

Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />

rend heute die so genannten ausleitenden<br />

Verfahren – E<strong>in</strong>läufe, Schropfköpfe o<strong>der</strong><br />

Blutegel – nur noch von e<strong>in</strong>igen alternativmediz<strong>in</strong>ischen<br />

Richtungen propagiert<br />

werden. Dazu gehören nicht die anthroposophische<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Rudolf Ste<strong>in</strong>ers<br />

<strong>und</strong> die klassische Homöopathie Samuel<br />

Hahnemanns, obwohl sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis<br />

<strong>der</strong> so genannten Naturheilk<strong>und</strong>e homöopathische<br />

o<strong>der</strong> anthroposophisch begründete<br />

Medikamentenanwendung <strong>und</strong><br />

auf humoralpathologischen Vorstellungen<br />

beruhende Verfahren häufig vermischen.<br />

Der Begriff <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />

weist darüber h<strong>in</strong>aus darauf h<strong>in</strong>, dass das<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> <strong>in</strong> ständigem<br />

evolutionären Wandel begriffen<br />

ist, bed<strong>in</strong>gt durch Erkenntnisse <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

selber, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> im Wesentlichen<br />

durch die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> getriebenen humanbiologischen,<br />

speziell <strong>der</strong> molekulargenetischen<br />

Forschung, aber auch durch<br />

die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aufklärung angestoßenen Verän<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlichen Wertvorstellungen,<br />

die unter an<strong>der</strong>em die mediz<strong>in</strong>ische<br />

Ethik <strong>und</strong> die Arzt-Patienten-<br />

Beziehung prägen. Dagegen ersche<strong>in</strong>t das<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> komplementären <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen<br />

stärker konserviert, wie<br />

die häufige Berufung europäischer Schulen<br />

wie Homöopathie o<strong>der</strong> anthroposophische<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> auf die kaum h<strong>in</strong>terfragte<br />

Theorie ihrer Grün<strong>der</strong> <strong>und</strong> die <strong>der</strong> asiatischen<br />

traditionellen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> auf ihre<br />

jahrtausendjährige Tradition deutlich<br />

machen.<br />

Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen<br />

Schulmediz<strong>in</strong> wird aber nicht nur durch<br />

den wissenschaftlichen Fortschritt <strong>und</strong>


Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />

den gesellschaftlichen Wandel geprägt,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> zeitgleicher Betrachtung<br />

durch unterschiedliche kulturelle Bed<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong>dividuelle E<strong>in</strong>stellungen<br />

modifiziert. Als Kl<strong>in</strong>iker, dessen Erlebniswelt<br />

vorwiegend von <strong>der</strong> Beschäftigung<br />

mit schweren somatischen <strong>und</strong> psychosomatischen<br />

Erkrankungen bestimmt ist,<br />

werde ich drei Hypothesen zur im Titel<br />

gestellten Frage auswählen, die we<strong>der</strong> den<br />

unangemessenen Anspruch auf Vollständigkeit<br />

erheben noch erwarten lassen,<br />

dass ihre Bedeutung von allen schulmediz<strong>in</strong>isch<br />

ausgerichteten Ärzten geteilt wird.<br />

Sie wurden ausgewählt, weil sie de facto<br />

das praktische Handeln <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> weitem Maße <strong>und</strong> <strong>in</strong> vielen Situationen<br />

erfolgreich bestimmen. Sie ersche<strong>in</strong>en<br />

darüber h<strong>in</strong>aus geeignet zu prüfen,<br />

<strong>in</strong>wieweit die gr<strong>und</strong>sätzliche Basis ärztlicher<br />

Entscheidungen <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />

mit an<strong>der</strong>en <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen übere<strong>in</strong>stimmt<br />

<strong>und</strong> ggf. mit welchen <strong>der</strong> vielen<br />

außerhalb <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> stehenden<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen <strong>und</strong> Protagonisten<br />

alternativer Verfahren e<strong>in</strong> weiterführendes<br />

Gespräch vertretbar <strong>und</strong> aussichtsreich<br />

ist.<br />

Die erste Hypothese sieht die Biologie<br />

des Menschen als Ergebnis <strong>der</strong> Evolution,<br />

die e<strong>in</strong>e höchst erfolgreiche Spezies<br />

mit gr<strong>und</strong>sätzlich gleichen f<strong>und</strong>amentalen<br />

Mechanismen <strong>der</strong> Immunkontrolle,<br />

<strong>der</strong> Regeneration <strong>und</strong> <strong>der</strong> Alterungsprozesse<br />

geschaffen hat. Dies wi<strong>der</strong>spricht<br />

nicht <strong>der</strong> Erkenntnis, dass selbstverständlich<br />

je<strong>der</strong> Mensch aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />

Genetik [Iafrate et al. 2004] <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />

biologischen Biografie (z.B. Immunisierung,<br />

Ernährung) auch biologisch<br />

e<strong>in</strong>zigartig ist. Für das ärztliche Handeln<br />

ergeben sich daraus u.a. zwei Teilhypothesen.<br />

Die erste Teilhypothese lautet: In<br />

H<strong>in</strong>sicht auf die Natur <strong>der</strong> Krankheiten<br />

<strong>und</strong> den Nutzen therapeutischer Interventionen<br />

s<strong>in</strong>d die Menschen gleichartig,<br />

aber nicht gleich.<br />

Auf <strong>der</strong> Annahme <strong>der</strong> Gleichartigkeit<br />

beruht nicht nur die Def<strong>in</strong>ition diskreter<br />

Krankheiten, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Glaube an die<br />

Übertragbarkeit von Krankheitsabläufen,<br />

die von an<strong>der</strong>en Beobachtern bei an<strong>der</strong>en<br />

Patienten beschrieben wurden <strong>und</strong> die<br />

<strong>der</strong> Arzt mit zunehmen<strong>der</strong> Erfahrung<br />

häufiger erlebt hat, auf den aktuellen<br />

Patienten. Die Diagnose <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong><br />

ist daher primär – wenn auch ke<strong>in</strong>eswegs<br />

ausschließlich – e<strong>in</strong>e Krankheitsdiagnose,<br />

die immer gleichzeitig die Prognose<br />

e<strong>in</strong>schließt. Sie ist damit die erste<br />

Handlungsanweisung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e wesentliche<br />

Gr<strong>und</strong>lage ärztlicher Entscheidungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> schulmediz<strong>in</strong>ischen Praxis.<br />

Nehmen wir uns als erstes Beispiel<br />

e<strong>in</strong>e Infektionskrankheit, die Malaria tropica,<br />

vor, die nach wie vor zu den großen<br />

Krankheitsproblemen dieser Welt gehört.<br />

Wird Plasmodium falciparum auf e<strong>in</strong>en<br />

Menschen übertragen, so erkrankt je<strong>der</strong><br />

nicht immune Europäer <strong>in</strong> typischer Weise<br />

mit hohem Fieber, Kopfschmerzen,<br />

Schweißausbrüchen <strong>und</strong> schwerem<br />

Krankheitsgefühl, also zunächst mit wenigen<br />

spezifischen Ersche<strong>in</strong>ungen, die<br />

durch persönliche Faktoren wie Alter,<br />

Konstitution <strong>und</strong> vorbestehende chronische<br />

Krankheiten modifiziert s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>heitlich<br />

ist allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> zugr<strong>und</strong>e liegende<br />

Lebenszyklus <strong>der</strong> Plasmodien im Wirtsorganismus<br />

Mensch, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>heitlich ist<br />

53


54<br />

auch <strong>der</strong> Verlauf <strong>der</strong> unbehandelten<br />

Erkrankung mit immer spezifischer werden<strong>der</strong><br />

Symptomatik <strong>und</strong> schließlich dem<br />

Tod. Aufgabe des Arztes ist es also, das<br />

Geme<strong>in</strong>same <strong>der</strong> Krankheit Malaria tropica<br />

zu erkennen <strong>und</strong> im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> „evidence<br />

based medic<strong>in</strong>e“ nach Leitl<strong>in</strong>ien zu<br />

behandeln, die auf <strong>der</strong> Erfahrung „Infektion<br />

mit Plasmodium falciparum“ bei vergleichbaren<br />

Populationen beruhen. Dies<br />

gilt nicht nur für die Kernkrankheit Malaria,<br />

son<strong>der</strong>n auch für ihre Komplikationen<br />

wie drohendes Nierenversagen o<strong>der</strong> Herzrythmusstörungen,<br />

die im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong><br />

schulmediz<strong>in</strong>ischen Krankheitslehre als<br />

eigene Krankheiten angesehen werden<br />

können. Ihre erfolgreiche Erkennung <strong>und</strong><br />

Behandlung beruht wie<strong>der</strong>um auf <strong>der</strong><br />

Erfahrung gleichartiger Abläufe bei an<strong>der</strong>en<br />

Menschen, die bei uns ganz überwiegend<br />

häufigere Gr<strong>und</strong>erkrankungen als<br />

e<strong>in</strong>e Malaria haben. Es würde uns <strong>in</strong>teressieren,<br />

ob z.B. e<strong>in</strong> Homöopath glaubt, dass<br />

für ärztliche Entscheidungen <strong>in</strong> dieser<br />

Situation das Arzneimittelbild entscheidungsrelevant<br />

ist, o<strong>der</strong> ob se<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong><br />

es erlaubt, die Behandlung e<strong>in</strong>er solchen<br />

lebensbedrohlichen organischen<br />

Erkrankung mit Homöopathika von vornehere<strong>in</strong><br />

auszuschließen. Ebenso <strong>in</strong>teressant<br />

wäre es, von den Kennern <strong>der</strong> traditionellen<br />

<strong>in</strong>dischen <strong>und</strong> ch<strong>in</strong>esischen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zu erfahren, ob nach Entdeckung<br />

des Erregers <strong>und</strong> <strong>der</strong> wirksamen Chemotherapie<br />

die Klassifikationen <strong>und</strong> Verfahren<br />

dieser Jahrtausende alten Erfahrungsmediz<strong>in</strong>,<br />

<strong>der</strong>en Herkunftslän<strong>der</strong> ebenfalls<br />

seit Jahrtausenden zu den endemischen<br />

Malariagebieten gehörten, noch e<strong>in</strong>e<br />

Bedeutung haben.<br />

Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />

Das Beispiel <strong>der</strong> Malaria würde also<br />

mit unserer These durchaus vere<strong>in</strong>bar<br />

se<strong>in</strong>. Man könnte e<strong>in</strong>wenden, dass es sich<br />

hier um den Son<strong>der</strong>fall e<strong>in</strong>er monokausalen<br />

Erkrankung mit e<strong>in</strong>deutiger externer<br />

Ursache handelt, bei <strong>der</strong> Gleichartigkeit<br />

resultieren<strong>der</strong> schulmediz<strong>in</strong>ischer Krankheitsdef<strong>in</strong>ition<br />

die relevante Handlungsbasis<br />

ist, dass dies aber für die Mehrzahl<br />

<strong>der</strong> Erkrankungen mit une<strong>in</strong>heitlicher,<br />

nur teilweise bekannter Ätiologie <strong>und</strong><br />

Pathogenese nicht zutrifft. Dieser E<strong>in</strong>wand<br />

ist aber zum<strong>in</strong>dest für Erkrankungen<br />

mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>deutigen pathologischanatomischen<br />

Substrat nicht relevant.<br />

Nehmen wir wie<strong>der</strong>um als konkretes Beispiel<br />

die Erkrankungen des Dickdarms:<br />

Nicht nur beim Coloncarc<strong>in</strong>om, son<strong>der</strong>n<br />

auch bei <strong>der</strong> Colitis ulcerosa <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ileitis<br />

term<strong>in</strong>alis, dem Morbus Crohn, zeigen<br />

sich im Langzeitverlauf e<strong>in</strong>deutig krankheitstypische<br />

Verläufe. Dies wird beson<strong>der</strong>s<br />

deutlich bei den bis vor etwa 10 Jahren<br />

bezweifelten Unterschieden <strong>der</strong> beiden<br />

letztgenannten Erkrankungen. Hier<br />

zeigt sich, dass das Ausmaß <strong>der</strong> Gleichartigkeit<br />

von den Fortschritten <strong>der</strong> Differenzierung<br />

<strong>und</strong> ggf. <strong>der</strong> Neuordnung von<br />

Krankheitsbegriffen abhängt <strong>und</strong> dass e<strong>in</strong><br />

Teil <strong>der</strong> früher als <strong>in</strong>dividuell angenommenen<br />

Unterschiede mit <strong>der</strong> naturwissenschaftlich<br />

str<strong>in</strong>genteren Krankheitsdef<strong>in</strong>ition<br />

verschw<strong>in</strong>det. Gerade beim Morbus<br />

Crohn zeigt sich allerd<strong>in</strong>gs ebenso<br />

deutlich die Modifikation <strong>der</strong> kl<strong>in</strong>ischen<br />

Symptomatik <strong>und</strong> ihrer Bedeutung für<br />

den Erkrankten durch psychische Faktoren.<br />

Trotzdem beruhen die Fortschritte<br />

<strong>der</strong> Diagnostik <strong>und</strong> <strong>der</strong> Basistherapie im<br />

Wesentlichen auf <strong>der</strong> Übertragung <strong>der</strong>


Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />

durch Langzeitbeobachtung bei an<strong>der</strong>en<br />

Menschen gemachten Erfahrungen <strong>und</strong><br />

unterstützen unsere Hypothese.<br />

Die am Beispiel <strong>der</strong> entzündlichen<br />

Darmerkrankungen beschriebene Neuordnung<br />

<strong>der</strong> bisher weitgehend auf dem<br />

Phänotyp beruhenden Krankheitsbegriffe<br />

ist <strong>in</strong> vielen Bereichen, beispielsweise auf<br />

me<strong>in</strong>em früheren Arbeitsgebiet <strong>der</strong> hämatologischen<br />

Neoplasien, <strong>in</strong> jüngster Zeit<br />

rasch fortgeschritten. Bei <strong>der</strong> bis vor 15<br />

Jahren unbestrittenen Krankheitse<strong>in</strong>heit<br />

„akute myeloische Leukämie“ schien die<br />

Übertragbarkeit früherer Erfahrungen nur<br />

e<strong>in</strong>geschränkt nützlich zu se<strong>in</strong>, da die lange<br />

Zeit bei etwa 30% stagnierende Heilungschance<br />

nur statistisch für e<strong>in</strong>e ausreichend<br />

große Patientengruppe, nicht<br />

aber für den e<strong>in</strong>zelnen Patienten vorhersagbar<br />

war. Inzwischen hat sich die<br />

Krankheit <strong>in</strong> genomisch unterschiedliche<br />

Gruppen aufteilen lassen, die prognostisch<br />

weit homogener s<strong>in</strong>d als die frühere<br />

Krankheit akute myeloische Leukämie.<br />

Ob die verbleibende Inhomogenität auf<br />

e<strong>in</strong>er verbleibenden genomischen Inhomogenität<br />

<strong>der</strong> klonalen Zellpopulation<br />

o<strong>der</strong> auf dem <strong>in</strong>dividuellen prämorbiden<br />

genetischen Sett<strong>in</strong>g des Krankheitsträgers<br />

beruht, ist bei den hier als Beispiele angeführten<br />

Erkrankungen nicht bekannt.<br />

Wie steht es mit dem zweiten Teilsatz<br />

unserer Behauptung „<strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht auf den<br />

Nutzen therapeutischer Interventionen<br />

s<strong>in</strong>d die Menschen gleichartig, aber nicht<br />

gleich“? Dabei geht es wie<strong>der</strong>um nicht<br />

darum, ihre im Wesen des Menschen<br />

begründete Gültigkeit zu beweisen, son<strong>der</strong>n<br />

zu zeigen, dass sie das therapeutische<br />

Handeln <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> weitge-<br />

hend bestimmt. Dies ist unbestritten <strong>und</strong><br />

im Allgeme<strong>in</strong>en erfolgreich beim Handeln<br />

nach Mustererkennung. Dabei werden<br />

e<strong>in</strong>deutige eigene o<strong>der</strong> berichtete<br />

Er<strong>in</strong>nerungen an Therapieerfolge bei gut<br />

def<strong>in</strong>ierbaren Krankheitszuständen bei<br />

an<strong>der</strong>en Menschen zugr<strong>und</strong>e gelegt. Beispiele<br />

s<strong>in</strong>d die Behandlung mit Vitam<strong>in</strong><br />

B12, die immer <strong>und</strong> nur bei Vitam<strong>in</strong> B12-<br />

Mangel erfolgreich ist, die bereits 1747<br />

durch e<strong>in</strong>e randomisierte Studie bewiesene<br />

Prävention von Skorbut durch Vitam<strong>in</strong><br />

C [L<strong>in</strong>d 1983], die lebenslang notwendige<br />

Cortisonbehandlung beim Morbus Addison<br />

o<strong>der</strong> die für jeden Arzt unvergessliche<br />

Wirksamkeit von Morph<strong>in</strong> bei schwerem<br />

Tumorschmerz. Hier ist die Dosisanpassung<br />

allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong>dividuell, von somatischen<br />

<strong>und</strong> psychischen Faktoren <strong>und</strong> Präferenzen<br />

des Patienten abhängig <strong>und</strong> mit<br />

e<strong>in</strong>em wenn auch ger<strong>in</strong>gen Suchtrisiko<br />

belastet, so dass wir unter Unsicherheit<br />

handeln <strong>und</strong> im E<strong>in</strong>zelfall nicht vorhersagen<br />

können, ob e<strong>in</strong>e Sucht e<strong>in</strong>treten wird.<br />

Der weit häufigere Fall ist die Behandlungsentscheidung<br />

nach statistisch def<strong>in</strong>ierten<br />

Erfolgs- <strong>und</strong> Misserfolgswahrsche<strong>in</strong>lichkeiten.<br />

Da zum<strong>in</strong>dest bei<br />

schweren organischen <strong>und</strong> psychischen<br />

Erkrankungen die Zahl <strong>der</strong> selbsterlebten<br />

vergleichbaren Situationen für e<strong>in</strong>e kritische<br />

Analyse zu ger<strong>in</strong>g ist, beruht die Entscheidung<br />

fast ausschließlich auf externer<br />

Evidenz im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> „evidence based<br />

medic<strong>in</strong>e“. Für die Übertragbarkeit von<br />

Prognose <strong>und</strong> Therapieentscheidung auf<br />

den e<strong>in</strong>zelnen Patienten reicht hier allerd<strong>in</strong>gs<br />

<strong>der</strong> noch so differenzierte Krankheitsbegriff<br />

alle<strong>in</strong> nicht aus. Zu berücksichtigen<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Vielzahl weiterer Va-<br />

55


56<br />

riablen, so Alter, Vorerkrankungen <strong>und</strong><br />

Vortherapie, die sich mit den Verfahren<br />

<strong>der</strong> Entscheidungsanalyse abbilden lassen<br />

[We<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>, F<strong>in</strong>eberg 1980].<br />

Aus dem Bild <strong>der</strong> optimierten extrem<br />

komplexen Regulationsvorgänge <strong>der</strong> höheren<br />

Organismen, <strong>und</strong> damit auch des<br />

Menschen, als Ergebnis <strong>der</strong> Evolution ergibt<br />

sich e<strong>in</strong>e zweite Teilhypothese: <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ische<br />

E<strong>in</strong>griffe, seien sie mechanisch<br />

wie ausleitende Verfahren o<strong>der</strong> Operationen,<br />

physikalisch wie Strahlenexposition<br />

o<strong>der</strong> unnatürliche Wärmeapplikation, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

aber chemisch wie die Gabe<br />

von Medikamenten, s<strong>in</strong>d a priori als<br />

schädlich zu betrachten <strong>und</strong> haben ihren<br />

Nutzen durch wissenschaftlich e<strong>in</strong>wandfrei<br />

erfasste Erfahrung zu beweisen. Nicht<br />

die Unterlassung, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> therapeutische<br />

Nutzen jedes E<strong>in</strong>griffs ist zu beweisen.<br />

Der aus den hippokratischen Schriften<br />

stammende Leitsatz des „primum nil<br />

nocere“ ist <strong>in</strong> das Bild <strong>der</strong> menschlichen<br />

Biologie als Ergebnis <strong>der</strong> Evolution ohne<br />

Schwierigkeiten e<strong>in</strong>zupassen. Die For<strong>der</strong>ung<br />

e<strong>in</strong>er „evidence base“ ist damit als<br />

Warnung vor <strong>der</strong> Missachtung des Leitsatzes<br />

zu verstehen, welche die Schulmediz<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Scholastik, die Argumentation alternativer<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen, aber auch die<br />

Praxis <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong> durchzieht.<br />

Dies gilt auch für E<strong>in</strong>griffe, die auf<br />

pathophysiologischen Konstrukten beruhen.<br />

In <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> f<strong>in</strong>den wir dies<br />

z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Intensivmediz<strong>in</strong>, die heute e<strong>in</strong>e<br />

Vielzahl von E<strong>in</strong>zelfunktionen wie Blutdruck,<br />

Zeitvolumen, Sauerstofftransport<br />

o<strong>der</strong> Elektrolytkonzentrationen fortlaufend<br />

misst. Die Prämisse, dass Normalisierung<br />

<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelfunktion nützlich ist, ist<br />

Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />

beispielsweise bei Schockzuständen <strong>in</strong> vielen<br />

Fällen richtig, <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en aber falsch.<br />

Die Ursache liegt sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> prämorbiden<br />

Individualität des Patienten als auch<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> Störung, die e<strong>in</strong>e<br />

Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> Patientengruppen, zwischen<br />

denen Übertragung <strong>der</strong> Erfahrung<br />

gerechtfertigt ist, bisher nicht zulassen.<br />

Ges<strong>und</strong>heitsschäden durch mediz<strong>in</strong>ische<br />

E<strong>in</strong>griffe s<strong>in</strong>d im Bereich <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> vielfach dokumentiert,<br />

unabhängig davon, ob sie als „schulmediz<strong>in</strong>isch“,<br />

„alternativ“, „sanft“, „naturgemäß“<br />

o<strong>der</strong> „ganzheitlich“ etikettiert werden<br />

o<strong>der</strong> nicht. Als Nebenwirkungen therapeutisch<br />

notwendiger <strong>und</strong> nützlicher<br />

Verfahren s<strong>in</strong>d sie oft unvermeidlich <strong>und</strong><br />

nach sorgfältiger Nutzen-Schadens-Abwägung<br />

mit dem E<strong>in</strong>verständnis des Patienten<br />

zu tolerieren. Voraussetzung ist die<br />

kont<strong>in</strong>uierliche Bewertung des therapeutischen<br />

Nutzens im Licht epidemiologischer<br />

Beobachtungen <strong>und</strong> im Vergleich<br />

mit neueren konkurrierenden Verfahren.<br />

Die zweite Hypothese ergibt sich aus<br />

<strong>der</strong> Ablehnung <strong>der</strong> reduktionistischen<br />

Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> als naturwissenschaftliche<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. Ke<strong>in</strong>e Überlegung<br />

zum <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

kann e<strong>in</strong>er Stellungnahme zum Leib-Seele<br />

Problem ausweichen, auch wenn gerade<br />

hier <strong>in</strong>dividuelle <strong>und</strong> transkulturelle Unterschiede<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />

unübersehbar s<strong>in</strong>d. Unabhängig<br />

von <strong>der</strong> religiösen o<strong>der</strong> weltanschaulichen<br />

Stellung des e<strong>in</strong>zelnen Arztes überwiegt<br />

heute e<strong>in</strong> monistisches Modell, das<br />

von dem amerikanischen Psychiater<br />

George Engel als bio-psycho-soziales Modell<br />

bezeichnet worden ist [Engel 1982].


Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />

Dabei wird allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> Teilterm<strong>in</strong>us<br />

„bio“ auf den mit naturwissenschaftlichen<br />

Methoden erfassbaren Bereich reduziert,<br />

so dass, wie Dörner richtig anmerkt,<br />

die deutsche Übersetzung besser „somatopsycho-soziales<br />

Modell“ lauten müsste.<br />

Damit werden nicht getrennte Bereiche<br />

<strong>der</strong> Natur des Menschen bezeichnet, son<strong>der</strong>n<br />

Betrachtungsweisen, <strong>der</strong>en Trennung<br />

für die mediz<strong>in</strong>ische Forschung <strong>und</strong><br />

die Tätigkeit mediz<strong>in</strong>ischer Spezialisten<br />

s<strong>in</strong>nvoll ist, die bei <strong>der</strong> ärztlichen Betreuung<br />

e<strong>in</strong>es Patienten aber gleichwertig<br />

beachtet werden müssen. Die Ablösung<br />

des von den Schülern Johannes Müllers<br />

propagierten Masch<strong>in</strong>enmodells durch<br />

die Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Seele <strong>in</strong> die<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> durch Siegm<strong>und</strong> Freud hat nach<br />

dem Verständnis <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong> nicht<br />

zu e<strong>in</strong>em neuen dualistischen Modell<br />

o<strong>der</strong> zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aufklärung überw<strong>und</strong>enen<br />

Vitalismus o<strong>der</strong> Animismus<br />

geführt, auch wenn die Zusammenführung<br />

<strong>der</strong> Tätigkeit <strong>der</strong> somatischen mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Fächer mit <strong>der</strong> Psychotherapie<br />

erst <strong>der</strong> Psychosomatik gelungen ist [Uexküll<br />

2004].<br />

Als Beispiel für die Handlungsrelevanz<br />

des somato-psycho-sozialen Modells mag<br />

die Alkoholkrankheit dienen, die von<br />

höchster sozialmediz<strong>in</strong>ischer <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitsökonomischer<br />

Bedeutung ist<br />

<strong>und</strong> durch die Schädigung vitaler Funktionen<br />

des Herzens, <strong>der</strong> Leber <strong>und</strong> des<br />

Gehirns unbee<strong>in</strong>flusst <strong>in</strong>nerhalb von<br />

5–15 Jahren zum Tode führt. Die somatische<br />

Betrachtung des Phänomens „Alkoholkrankheit“<br />

alle<strong>in</strong> führt we<strong>der</strong> zur<br />

Diagnose (welche erst im Stadium <strong>der</strong><br />

Organschädigung aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong>en mess-<br />

barer Auswirkungen vermutet werden<br />

kann) noch zur wirksamen Therapie. Entscheidend<br />

ist vielmehr die Interaktion des<br />

Arztes mit dem Betroffenen als e<strong>in</strong>em von<br />

se<strong>in</strong>er Biografie <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Umwelt geprägten<br />

Individuum, <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht auf die<br />

Therapie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e unter E<strong>in</strong>beziehung<br />

<strong>der</strong> Familie o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>er Bezugspersonen.<br />

De facto wird e<strong>in</strong>e solche aus dem<br />

<strong>Menschenbild</strong> resultierende ganzheitliche,<br />

<strong>in</strong>tegrative Therapie e<strong>in</strong>es Alkoholkranken<br />

allerd<strong>in</strong>gs häufig versäumt; hier,<br />

wie <strong>in</strong> zahlreichen an<strong>der</strong>en Situationen,<br />

löst also die Schulmediz<strong>in</strong> ihr aus ihrem<br />

<strong>Menschenbild</strong> resultierendes Handlungsversprechen<br />

allzu häufig nicht e<strong>in</strong>.<br />

Dualistische Modelle <strong>und</strong> vitalistische<br />

<strong>und</strong> animistische Vorstellungen spielen<br />

heute noch <strong>in</strong> vielen komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />

Richtungen, so <strong>in</strong> <strong>der</strong> anthroposophischen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, e<strong>in</strong>e Rolle [Willich<br />

et al. 2004]; sie dürften für unterschiedliche<br />

Handlungsmuster durchaus<br />

bedeutsam se<strong>in</strong>.<br />

Die dritte <strong>und</strong> mediz<strong>in</strong>geschichtlich<br />

jüngste Hypothese zur Bedeutung<br />

des <strong>Menschenbild</strong>es für das ärztliche Handeln<br />

betrifft die Anerkennung <strong>der</strong> Autonomie<br />

o<strong>der</strong> des Selbstbestimmungsrechtes<br />

des Patienten. Obwohl das Selbstbestimmungsrecht<br />

aller Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Zeit <strong>der</strong> französischen Revolution, also <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

formuliert wurde <strong>und</strong> nach dem Vorbild<br />

<strong>der</strong> Verfassung <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>igten Staaten<br />

von Amerika E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> Gesetzgebung<br />

<strong>und</strong> Rechtsprechung <strong>in</strong> den westlichen<br />

Demokratien gef<strong>und</strong>en hat, hat es etwa<br />

150 Jahre gedauert, bis dieses Recht dem<br />

Kranken im Verhältnis zu se<strong>in</strong>en Ärzten<br />

57


58<br />

zugebilligt wurde. Diese späte Entwicklung<br />

belegen zahlreiche Schil<strong>der</strong>ungen<br />

des Arzt-Patienten-Verhältnisses <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Literatur <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. <strong>und</strong><br />

des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts, angefangen bei<br />

Leo Tolstoi <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er erschütternden<br />

Novelle Der Tod des Iwan Ijitsch (1886)<br />

über Thomas Manns Zauberberg (1924) bis<br />

zur Krebsstation von Alexan<strong>der</strong> Solschenizyn<br />

(1968). Diese Krankengeschichten<br />

zeigen darüber h<strong>in</strong>aus, dass auf <strong>der</strong> Seite<br />

<strong>der</strong> Patienten, entgegen den noch heute<br />

gelegentlich zu hörenden Schutzbehauptungen<br />

von Ärzten, Selbstbestimmung <strong>in</strong><br />

schwerer Krankheit gewünscht, wenn<br />

auch selten offen gefor<strong>der</strong>t wurde. Ältere<br />

Ärzte wie <strong>der</strong> Verfasser dieser Stellungnahme<br />

er<strong>in</strong>nern sich, dass <strong>der</strong> Wunsch<br />

nach Selbstbestimmung noch <strong>in</strong> den 70er<br />

Jahren des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts von Seiten<br />

<strong>der</strong> Ärzte <strong>und</strong> <strong>der</strong> Versicherungsträger<br />

ke<strong>in</strong>eswegs allgeme<strong>in</strong> akzeptiert wurde.<br />

„Therapieverweigerer“ wurden ausgegrenzt<br />

<strong>und</strong> psychiatrisiert, e<strong>in</strong>e vom Patienten<br />

gewünschte (aus heutiger Sicht<br />

auch mediz<strong>in</strong>isch oft s<strong>in</strong>nvolle) „vorzeitige“<br />

Entlassung führte zu heftigen emotionalen<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen, Fragen<br />

„schwieriger“ Patienten nach <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />

<strong>und</strong> den Risiken bestimmter<br />

Verordnungen wurden nicht o<strong>der</strong> ungern<br />

beantwortet, kaum an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> Tolstois<br />

Novelle geschil<strong>der</strong>t.<br />

Aus <strong>der</strong> Anerkennung des Rechts <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Fähigkeit zur Selbstbestimmung des<br />

Bürgers auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rolle des Patienten<br />

folgt unmittelbar se<strong>in</strong> Recht auf relevante,<br />

verständliche <strong>und</strong> ehrliche Information<br />

<strong>und</strong> daraus unmittelbar die heute <strong>in</strong><br />

unserem Kulturkreis nicht mehr bestritte-<br />

Das <strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> heutigen Schulmediz<strong>in</strong><br />

ne Verpflichtung zur Information <strong>und</strong><br />

Beratung als wesentliches Merkmal ärztlichen<br />

Handelns. Bewusst wurde im Kontext<br />

dieses Symposiums das häufig gebrauchte<br />

Adjektiv „wahrhaftig“ durch<br />

„ehrlich“ ersetzt. „Ehrlich“ deutet <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang auf die Überzeugung<br />

des Arztes über die Prognose, <strong>und</strong> darauf<br />

aufbauend die Notwendigkeit <strong>und</strong> den<br />

Nutzen <strong>der</strong> von ihm vorgeschlagenen<br />

Maßnahmen. Die Information nach eigener<br />

Überzeugung sollte beispielsweise<br />

dem homöopathisch orientierten Arzt zugestanden<br />

<strong>und</strong> von ihm <strong>in</strong> gleicher Weise<br />

gefor<strong>der</strong>t werden, auch wenn die heutige<br />

Schulmediz<strong>in</strong> mit guter Begründung<br />

pharmakologische Wirksamkeit <strong>und</strong> Nutzen<br />

homöopathischer Arzneimittel bezweifelt<br />

[Bock 1993; Hoppf, Prokop<br />

1992]. Dass sich dabei <strong>der</strong> homöopathisch<br />

orientierte Arzt ebenso wie Vertreter<br />

an<strong>der</strong>er am Rande o<strong>der</strong> außerhalb <strong>der</strong><br />

Schulmediz<strong>in</strong> stehenden <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen<br />

bei allen Zuständen, welche die Integrität<br />

<strong>und</strong> das Leben des Patienten bedrohen,<br />

an den evidenzbasierten Leitl<strong>in</strong>ien<br />

zu Diagnostik <strong>und</strong> Therapie zu orientieren<br />

haben, ist unbestritten. Nur unter dieser<br />

Voraussetzung ist <strong>der</strong> hier begonnene<br />

Dialog mit den tatsächlich „komplementären“<br />

unter den zahlreichen nicht schulmediz<strong>in</strong>ischen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>richtungen zu verantworten.<br />

Wahrung <strong>der</strong> Autonomie des<br />

Patienten bedeutet eben auch Beachtung<br />

<strong>der</strong> eigenen Grenzen.<br />

Um häufigen Missverständnissen vorzubeugen,<br />

s<strong>in</strong>d zwei zusätzliche Bemerkungen<br />

angebracht:<br />

Information als Voraussetzung zur<br />

Wahrnehmung <strong>der</strong> Autonomie des Pa-


Literatur<br />

tienten darf nicht dazu führen, dass dem<br />

Patienten Entscheidungen überlassen<br />

werden, die er aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>es trotz aller<br />

Informationsmöglichkeiten beschränkten<br />

Verständnisses <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er emotionalen<br />

Situation nicht treffen kann. „Relevant“<br />

bedeutet nicht naturwissenschaftliche<br />

Vollständigkeit, son<strong>der</strong>n Auswahl <strong>der</strong> für<br />

se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuellen Perspektiven bedeutsamen<br />

realisierbaren Alternativen. Empathie<br />

<strong>und</strong> Kommunikationsfähigkeit des<br />

Arztes bleiben Gr<strong>und</strong>lage im Arzt-Patienten-Verhältnis,<br />

auch <strong>und</strong> gerade im Umgang<br />

mit dem selbstbestimmenden Patienten.<br />

Autonomie umfasst auch die Annahme<br />

e<strong>in</strong>er Delegation geme<strong>in</strong>samer<br />

Entscheidungen auf die Entscheidung des<br />

Arztes nach dem Wunsch se<strong>in</strong>es Patienten.<br />

Schließlich betrifft das Recht <strong>der</strong><br />

Selbstbestimmung nicht nur den Patienten,<br />

son<strong>der</strong>n auch den Arzt. Geme<strong>in</strong>same<br />

Entscheidung o<strong>der</strong> „shared decision<br />

mak<strong>in</strong>g“ [Floer et al. 2004] beruht auf <strong>der</strong><br />

Handlungsentscheidung bei<strong>der</strong> Partner.<br />

Gerade angesichts <strong>der</strong> Information, <strong>und</strong><br />

damit auch nicht selten <strong>der</strong> Verführung<br />

<strong>der</strong> als Patienten auftretenden Bürger<br />

durch die Medien, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> kaum<br />

kontrollierbaren Information im Internet<br />

kann <strong>der</strong> Arzt nicht zu je<strong>der</strong> Leistung verpflichtet<br />

werden. Dies gilt nicht nur <strong>in</strong><br />

den Grenzbereichen <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Ethik, son<strong>der</strong>n auch für die unterschiedlichen<br />

Auffassungen <strong>in</strong> Bezug auf schulmediz<strong>in</strong>ische<br />

<strong>und</strong> komplementäre Verfahren.<br />

Literatur<br />

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59


Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e komplementärmediz<strong>in</strong>ische<br />

Therapie – Naturheilk<strong>und</strong>e? 1<br />

Jörg Melzer, Re<strong>in</strong>hard Saller<br />

<strong>Menschenbild</strong> – <strong>Menschenbild</strong>er<br />

Der Begriff <strong>Menschenbild</strong> ist vermutlich<br />

e<strong>in</strong> spezifisch deutschsprachiger Term<strong>in</strong>us,<br />

<strong>der</strong> im englischsprachigen Raum ke<strong>in</strong>e<br />

direkte Entsprechung besitzt. Se<strong>in</strong> etymologischer<br />

Ursprung ist bislang nicht<br />

näher beschrieben [Kluge, Seebold 2004;<br />

Pfeifer 1993]. Vor dem 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

[Zedler 1739; Meyers Großes Konversations-Lexikon<br />

1906] <strong>und</strong> auch heute f<strong>in</strong>det<br />

sich <strong>der</strong> Begriff nicht immer <strong>in</strong> Lexika, ist<br />

aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Enzyklopädien enthalten<br />

[Korff, Beck, Mikat 2000; Prechtl, Burkhard<br />

1999].<br />

E<strong>in</strong>e grobe Orientierung zur lange vorherrschenden<br />

Auffassung zum Begriff <strong>Menschenbild</strong><br />

bietet die über zwei Jahrzehnte<br />

wortwörtlich gleiche Def<strong>in</strong>ition <strong>in</strong> den<br />

Enzyklopädien von Meyer <strong>und</strong> Brockhaus:<br />

„E<strong>in</strong>e von bestimmten Fakten <strong>und</strong>/o<strong>der</strong><br />

Vorstellungen ausgehende bzw. <strong>in</strong> den Rahmen<br />

bestimmter wissenschaftl. o<strong>der</strong> weltanschaul.<br />

Methoden- o<strong>der</strong> Denksysteme<br />

gefügte Betrachtung o<strong>der</strong> Abhandlung über<br />

den Menschen. E<strong>in</strong> biolog. M. beispielsweise<br />

wird weitgehend mit Orientierung auf<br />

die naturwissenschaftliche Forschung am<br />

Menschen gezeichnet. Es unterscheidet<br />

sich <strong>in</strong>folgedessen wesentl. von M.ern etwa<br />

<strong>der</strong> Philosophie o<strong>der</strong> Theologie“ [Meyers<br />

enzyklopädisches Lexikon 1976; Brockhaus<br />

1998; Kuhn 1990].<br />

Diese Def<strong>in</strong>ition beschreibt vor allem<br />

die biologische Sichtweise des <strong>Menschenbild</strong>es,<br />

wenngleich sie an<strong>der</strong>e mögliche<br />

Aspekte je nach Fach e<strong>in</strong>räumt. Po<strong>in</strong>tiert<br />

formuliert weist Hartmann auf die solchen<br />

Aussagen <strong>in</strong>härente Betonung partikulärer<br />

Charakteristiken von <strong>Menschenbild</strong>ern<br />

h<strong>in</strong>: „<strong>der</strong> Mensch als Endglied<br />

e<strong>in</strong>er tierischen Entwicklungsreihe, <strong>der</strong><br />

Mensch als Retorte o<strong>der</strong> als physikalischer<br />

Versuchsaufbau, <strong>der</strong> Mensch als Zellhaufen<br />

o<strong>der</strong> als Mitglied e<strong>in</strong>es Staates, e<strong>in</strong>er<br />

Nation, e<strong>in</strong>er Rasse, e<strong>in</strong>er Klasse – all diese<br />

Fiktionen hatten den Blick für den Menschen,<br />

<strong>der</strong> zwar alles dieses zusammen,<br />

aber noch mehr <strong>und</strong> an<strong>der</strong>s ist, verstellt“<br />

[Hartmann 1973]. Dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger s<strong>in</strong>gulär nach<br />

e<strong>in</strong>em konkreten <strong>Menschenbild</strong> gefragt<br />

wurde, hängt vielleicht damit zusammen,<br />

dass die Frage oft von e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Fachdiszipl<strong>in</strong> gestellt wurde (z.B. Biologie,<br />

Pädagogik, Soziologie, Theologie) [Bonk<br />

1986; Schwidetzky 1972; Imfeld-Stiftung<br />

1992] <strong>und</strong> damit zum<strong>in</strong>dest unbewusst<br />

teilweise e<strong>in</strong>e Wertung für e<strong>in</strong> korrektes<br />

<strong>Menschenbild</strong> verb<strong>und</strong>en war. In diesem<br />

Zusammenhang formulierte <strong>und</strong> for<strong>der</strong>te<br />

1 Themenstellung des Referats anlässlich des<br />

Symposiums „<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />

des <strong>Dialogforum</strong>s „<strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“<br />

vom 15.09.2004 bei <strong>der</strong> Ärztekammer<br />

Düsseldorf.<br />

61


62<br />

bereits Gadamer: „E<strong>in</strong> ‚richtiges <strong>Menschenbild</strong>’,<br />

das ist vor allem e<strong>in</strong> durch<br />

Naturwissenschaft, Verhaltensforschung,<br />

Ethnologie wie durch die Vielfalt geschichtlicher<br />

Erfahrung entdogmatisiertes<br />

<strong>Menschenbild</strong>“ [Gadamer 1972].<br />

Dieser For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>em „entdogmatisierten<br />

<strong>Menschenbild</strong>“ kommt<br />

e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e, realitätsnahe Def<strong>in</strong>ition des<br />

Begriffes nahe, die mehr auf das subjektiv<br />

konstruierende Moment e<strong>in</strong>geht: „Zum<br />

Mensch-Se<strong>in</strong> gehört es offenbar, dass wir<br />

e<strong>in</strong>e Vorstellung davon haben, was ‚den<br />

Menschen‘ – <strong>und</strong> damit auch uns – ‚eigentlich‘<br />

kennzeichnet. Die Vorstellung,<br />

die wir von uns haben – unser <strong>Menschenbild</strong><br />

–, ist e<strong>in</strong>e f<strong>und</strong>amentale Gr<strong>und</strong>lage<br />

unseres Selbstverständnisses <strong>und</strong> je<strong>der</strong><br />

bewussten Gestaltung unseres Soziallebens.“<br />

Damit bestimmen wir, „was wir als<br />

unsere f<strong>und</strong>amentalen Eigenschaften annehmen,<br />

d.h. vor allem, welche Bedürfnisse<br />

<strong>und</strong> Handlungstendenzen wir uns<br />

zuschreiben, evtl. auch, wor<strong>in</strong> die Ziele<br />

menschlichen Lebens bestehen <strong>und</strong> welche<br />

Werte Menschen als f<strong>und</strong>amental ansehen“<br />

[Barsch, Hejl 2000]. Diese Gedanken<br />

verorten den Begriff <strong>Menschenbild</strong><br />

neben den allgeme<strong>in</strong>en Erkenntnissen zu<br />

e<strong>in</strong>er bestimmten Zeit auch <strong>in</strong> den Bereich<br />

eigener Erfahrungen <strong>und</strong> tragen damit<br />

dem dynamischen Wandel Rechnung, <strong>der</strong><br />

auch knapp <strong>in</strong> dem Satz ausgedrückt werden<br />

könnte: „… jede Zeit hat ihr eigenes<br />

<strong>Menschenbild</strong>“ [Brockhaus 1999].<br />

Aber nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> zeitlichen Abfolge<br />

s<strong>in</strong>d wir mit mehreren <strong>Menschenbild</strong>ern<br />

konfrontiert. Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> gesellschafts- <strong>und</strong> wirtschaftspolitischen<br />

Entwicklung <strong>in</strong> Mitteleuropa von<br />

Menschenverständnis – Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

1850–1910 analysieren Barsch <strong>und</strong> Hejl,<br />

wie angesichts von Industrialisierung,<br />

Verstädterung, Verwissenschaftlichung<br />

<strong>und</strong> Säkularisierung neue Beschreibungen<br />

<strong>und</strong> Erkenntnisse über den Menschen<br />

entstanden. Sie stellen die These von <strong>der</strong><br />

Pluralität neuer, verweltlichter <strong>Menschenbild</strong>er<br />

auf. Für sie legen die historischen,<br />

gesellschaftlichen, kulturellen <strong>und</strong><br />

wissenschaftlichen Entwicklungen nahe,<br />

dass e<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong> heute nicht aus<br />

e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Annahme über das, was <strong>der</strong><br />

Mensch ist, bestehen kann. Vielmehr sollte<br />

im Plural von <strong>Menschenbild</strong>ern als<br />

„Wirklichkeitskonstrukten“ [Grimm, Rafael<br />

2002] gesprochen werden, die im kulturellen<br />

Prozess erprobt <strong>und</strong> verän<strong>der</strong>t<br />

werden <strong>und</strong> so jeweils e<strong>in</strong> „konzeptuelles<br />

Netzwerk mit mehr o<strong>der</strong> weniger scharfen<br />

Grenzen“ darstellen [Barsch, Hejl 2000].<br />

Ab den 1990er Jahren spiegelt sich diese<br />

These <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe von neueren Forschungsarbeiten<br />

wi<strong>der</strong>, obwohl schon vorher<br />

die Vielzahl an Arbeiten über das <strong>Menschenbild</strong><br />

<strong>in</strong> unterschiedlichen Diszipl<strong>in</strong>en<br />

<strong>in</strong>direkt e<strong>in</strong> plurales Verständnis über die<br />

Vorstellungen vom Menschen nahe legte<br />

[Barsch, Hejl 2000; Grimm, Capurro 2002;<br />

We<strong>in</strong>ke, Grabner-Hai<strong>der</strong> 1993].<br />

Die Soziologie als „e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tern beson<strong>der</strong>s<br />

stark fragmentierte Diszipl<strong>in</strong>“ [Mayntz<br />

2001] eignet sich hier als gutes Beispiel.<br />

Nach Mayntz besteht <strong>in</strong> diesem Fach<br />

wenigstens E<strong>in</strong>igkeit darüber, e<strong>in</strong> „spezifisch<br />

soziologisches <strong>Menschenbild</strong> müsse<br />

den Menschen als sozial Handelnden, als<br />

Akteur betrachten“ [Mayntz 2001]. Damit<br />

sei klar, dass zwar handlungstheoretische<br />

Konzepte für das <strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Soziologie spezifisch seien, jedoch würden


<strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

nicht alle Soziologen dieselbe Handlungstheorie<br />

vertreten. Dies verdeutlicht sie<br />

anhand dreier markanter <strong>Menschenbild</strong>er:<br />

dem „homo sociologicus“, <strong>der</strong> se<strong>in</strong> Handeln<br />

an sozialen Normen orientiert (nach<br />

Dahrendorf 1960) [Mayntz 2001], dem<br />

„homo oeconomicus“, <strong>der</strong> versucht, se<strong>in</strong>en<br />

eigenen Nutzen zu maximieren (nach<br />

Etzioni 1988) [Mayntz 2001], o<strong>der</strong> dem<br />

„homo rationalis“, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage<br />

subjektiver Erwartungen handele, um e<strong>in</strong><br />

brauchbares Ergebnis zu erlangen (nach<br />

Simon 1986) [Mayntz 2001]. Mayntz resümiert,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Soziologie gebe es also „nicht<br />

nur e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n mehrere <strong>Menschenbild</strong>er<br />

mit durchaus unterschiedlichen Vorstellungen“.<br />

Da e<strong>in</strong> stark selektives <strong>Menschenbild</strong><br />

die soziologische Theorienbildung e<strong>in</strong>enge,<br />

sollte die Möglichkeit unterschiedlicher<br />

Handlungsorientierungen zum Kern<br />

e<strong>in</strong>es soziologischen <strong>Menschenbild</strong>es gehören.<br />

Dies habe schon Weber 1964 berücksichtigt,<br />

als er sich auf vier Formen<br />

menschlichen Handelns bezog: das zweckrationale,<br />

normative, traditionelle <strong>und</strong><br />

emotionale Handeln [Mayntz 2001]. Daher<br />

kommt sie zu dem Schluss, e<strong>in</strong>e komplexere<br />

Argumentation sei notwendig, um <strong>der</strong><br />

Komplexität <strong>der</strong> Wirklichkeit besser gerecht<br />

zu werden [Mayntz 2001].<br />

In mehreren Diszipl<strong>in</strong>en nehmen verschiedene<br />

Autoren heute den Standpunkt<br />

<strong>der</strong> „Pluralität <strong>der</strong> <strong>Menschenbild</strong>er“ [Rafael<br />

2002] e<strong>in</strong>. Für die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> stellt sich<br />

daher die Frage, ob auch sie diese Sichtweise<br />

teilt.<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Seit dem ersten Drittel des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

gibt es e<strong>in</strong>e Tradition, die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

im deutschsprachigen Raum term<strong>in</strong>ologisch<br />

<strong>in</strong> „Schulmediz<strong>in</strong>“ <strong>und</strong> „Naturheilk<strong>und</strong>e“<br />

(<strong>in</strong> den letzten 15 Jahren auch<br />

„Komplementärmediz<strong>in</strong>“) zu unterteilen<br />

[Grote, Brauchle 1935; Hampel 1998; Willich<br />

et al. 2004; Fritschi 2005; Bühr<strong>in</strong>g<br />

1998]. Gelegentliche Modifikationen <strong>der</strong><br />

Begriffe wurden an an<strong>der</strong>er Stelle bereits<br />

erörtert [Saller, Kristof 1998]. Trotz verschiedentlich<br />

dargestellter Unterschiede<br />

<strong>und</strong> Übere<strong>in</strong>stimmungen zwischen Schul<strong>und</strong><br />

Komplementärmediz<strong>in</strong> (s. Abb. 1)<br />

gab es seit Ende <strong>der</strong> 1970er Jahre, etwa<br />

durch das von George Engel beschriebene<br />

„bio-psycho-soziale Modell“, e<strong>in</strong>e weitere<br />

Annäherung bei<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>bereiche. Die<br />

Zuhilfenahme dieser Modellerklärung,<br />

dass Entstehung, Verlauf <strong>und</strong> Bewältigung<br />

von Krankheit e<strong>in</strong> multikonditionaler<br />

Prozess sei, bei dem das Zusammenwirken<br />

biologischer, psychologischer <strong>und</strong><br />

sozialer Faktoren entscheidend ist, gab<br />

e<strong>in</strong>en Rahmen für e<strong>in</strong> <strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, das über die re<strong>in</strong> reduktionistisch-biologische<br />

Sicht h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g.<br />

Solche ergänzenden Sichtweisen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> f<strong>in</strong>den sich im Verlauf <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>geschichte immer wie<strong>der</strong>. Diese<br />

s<strong>in</strong>d oft mit dem Begriff <strong>der</strong> Anthropologie<br />

verb<strong>und</strong>en. E<strong>in</strong> früher Nachweis des<br />

late<strong>in</strong>ischen Wortes „Antropologium“<br />

f<strong>in</strong>det sich bei dem Philosophen, Arzt<br />

63


64<br />

Menschenverständnis – Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

Komplementärmediz<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>er Sammelbegriff für e<strong>in</strong>e heterogene Vielfalt therapeutischer<br />

<strong>und</strong> diagnostischer Methoden <strong>und</strong> Verfahren, die <strong>in</strong> den <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>systemen <strong>in</strong><br />

Mitteleuropa nicht allgeme<strong>in</strong> anerkannt s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> höchstens vere<strong>in</strong>zelt an mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Fakultäten beforscht, gelehrt <strong>und</strong> angewandt werden.<br />

Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Strukturierung kann die Komplementärmediz<strong>in</strong> nach verschiedenen Aspekten<br />

differenziert werden:<br />

D nach umfassenden Richtungen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>zelnen Verfahren: eigenständige Richtungen mit<br />

umfassen<strong>der</strong> Theorie <strong>und</strong> Konzeption (z.B. Homöopathie) o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelverfahren, die nicht<br />

zu den jeweiligen Richtungen gehören (z.B. Fußreflexzonenmassage).<br />

D nach geographischem Ursprung: europäische Richtungen (z.B. anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>)<br />

<strong>und</strong> außereuropäische Richtungen (z.B. Traditionelle Ch<strong>in</strong>esische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>) <strong>und</strong> Verfahren<br />

Diese Unterteilungen sagen nicht zw<strong>in</strong>gend etwas über die Qualität <strong>der</strong> entsprechenden<br />

Methoden <strong>und</strong> Verfahren aus, son<strong>der</strong>n dienen letztlich nur zur Reduktion <strong>der</strong> Komplexität<br />

<strong>der</strong> Vielfalt <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong> durch e<strong>in</strong>fache E<strong>in</strong>teilungen.<br />

Gelegentlich wird die Komplementärmediz<strong>in</strong> auch nach universitärer Vertretung <strong>und</strong> Beforschung<br />

o<strong>der</strong> außeruniversitärer Repräsentation unterschieden, was aber e<strong>in</strong>em dynamischen<br />

Wandel unterliegt. Damit verb<strong>und</strong>en ist oft die Unterscheidung <strong>in</strong> ärztliche <strong>und</strong> nicht<br />

ärztliche Therapeut<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Therapeuten.<br />

Die universitär vertretene Komplementärmediz<strong>in</strong> versteht sich nicht als Alternative zur<br />

sonstigen Hochschulmediz<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n als Ergänzung. Als entscheidende Charakteristika<br />

erweitert sie e<strong>in</strong>erseits für e<strong>in</strong>zelne Indikationen o<strong>der</strong> Behandlungsanlässe das therapeutische<br />

Spektrum <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>. An<strong>der</strong>erseits bietet sie für ÄrztInnen <strong>und</strong> PatientInnen weitere<br />

Facetten <strong>der</strong> Betrachtungsvielfalt vom Verständnis von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit, wobei<br />

zusätzliche Optionen <strong>der</strong> Patientenpräferenz <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> aufgegriffen werden.<br />

Möglichkeit <strong>der</strong> Strukturierung <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong> nach Richtungen <strong>und</strong> Verfahren:<br />

Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

� �<br />

umfassende Richtungen (z.B.) e<strong>in</strong>zelne Verfahren (z.B.)<br />

Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Aromatherapie<br />

Ayurvedische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Bioresonanztherapie<br />

Homöopathie Fußreflexzonenmassage<br />

Traditionelle europ. Naturheilk<strong>und</strong>e K<strong>in</strong>esiologie<br />

Tibetische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Neuraltherapie<br />

Traditionelle Ch<strong>in</strong>esische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Polarity<br />

Abb. 1: Arbeitsdef<strong>in</strong>ition Komplementärmediz<strong>in</strong> [modifiziert nach Melzer, Brignoli, Saller<br />

2004]


<strong>Menschenbild</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

<strong>und</strong> Theologen Magnus H<strong>und</strong>t 2 (1449–<br />

1519) [Bauer 1984]. Das deutsche Wort<br />

f<strong>in</strong>det sich 1772 im Buchtitel Anthropologie<br />

für Aerzte <strong>und</strong> Weltweise des Arztes<br />

Ernst Platner (1744–1818). Auch er führt<br />

aus, <strong>der</strong> Mensch sei „we<strong>der</strong> Körper, noch<br />

Seele alle<strong>in</strong>; er ist die Harmonie von beyden“<br />

[Bauer 1984]. E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Betrachtung<br />

lehnt er ab <strong>und</strong> plädiert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Anthropologie für die Betrachtung<br />

des Verhältnisses bei<strong>der</strong> Elemente: „Der<br />

Mensch ist <strong>in</strong>sofern das ganze von Seele<br />

<strong>und</strong> Körper …“ [Bauer 1984]. Auffallend<br />

ist für den <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>historiker Bauer, dass<br />

bei dieser Auffassung <strong>der</strong> cartesianische<br />

Dualismus erkennbar bleibt, auch wenn<br />

die Än<strong>der</strong>ung dar<strong>in</strong> liegt, dass bei Platner<br />

die Betonung <strong>der</strong> Seele <strong>und</strong> bei Descartes<br />

des Körpers im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> steht. 3 Der<br />

Begriff <strong>der</strong> „mediz<strong>in</strong>ischen Anthropologie“<br />

f<strong>in</strong>det sich u.a. 1806 bei Johann C. A.<br />

He<strong>in</strong>roth (1773–1843). Se<strong>in</strong>e Darstellungen<br />

zeigen e<strong>in</strong>e klare Gegenposition zum<br />

naturwissenschaftlichen Positivismus im<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Er beschreibt den Menschen<br />

als „Person“, bestehend aus Leib<br />

<strong>und</strong> Seele, <strong>und</strong> verwendet sogar den<br />

Begriff des Individuums [Bauer 1984].<br />

Jedoch f<strong>in</strong>det He<strong>in</strong>roth mit se<strong>in</strong>en Ausführungen<br />

ke<strong>in</strong> Echo, <strong>und</strong> erst 1927<br />

spricht Viktor von Weizsäcker wie<strong>der</strong> von<br />

mediz<strong>in</strong>ischer Anthropologie [Weizsäcker<br />

1941]. Ihr Kernelement stellt für ihn aber<br />

das „Verhältnis von Arzt <strong>und</strong> Patient“ dar,<br />

das er über se<strong>in</strong>e Theorie des therapeutischen<br />

Gestaltkreises beschreibt [Weizsäcker<br />

1941]. Damit betont er die Wichtigkeit<br />

<strong>der</strong> Beziehung zwischen Arzt <strong>und</strong><br />

Patient, die ihm so bedeutsam ist, dass er<br />

auch von beiden als „bipersonellem Men-<br />

schen“ spricht [Weizsäcker 1941]. Damit<br />

unterstreicht er die Notwendigkeit <strong>der</strong><br />

Integration des Patienten durch den Arzt<br />

im therapeutischen Gespräch. Erst diese<br />

E<strong>in</strong>heit beschreibt er als die „‚Ganzheit’<br />

<strong>der</strong> ärztlichen Behandlung“, denn es<br />

kommt ihm nicht nur auf die Wahrnehmung<br />

des „ganzen Patienten“ durch den<br />

Arzt an [Weizsäcker 1941]. In <strong>der</strong> Folge<br />

werden die verschiedenen Sichtweisen<br />

<strong>der</strong> Somato- <strong>und</strong> <strong>der</strong> Psychotherapie vor<br />

allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychosomatik vere<strong>in</strong>t <strong>und</strong><br />

bieten für die gesamte <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> e<strong>in</strong>e<br />

Erweiterung <strong>der</strong> therapeutischen Sichtweise,<br />

die <strong>in</strong> den kl<strong>in</strong>ischen Alltag jedes<br />

Faches <strong>in</strong>tegriert werden kann.<br />

Nachdem die Relevanz <strong>der</strong> Arzt-<br />

Patienten-Beziehung erkannt war, wurde<br />

<strong>der</strong> Blick auf die therapeutische Situation<br />

um noch e<strong>in</strong>e weitere Stufe erweitert,<br />

nämlich die Arzt-Patienten-Angehörigen-<br />

Beziehung, die ebenfalls bei <strong>der</strong> Therapieplanung<br />

zu berücksichtigen ist, da sie<br />

e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf das Wohlbef<strong>in</strong>den des<br />

Patienten <strong>und</strong> den Erfolg <strong>der</strong> Therapie<br />

haben kann [Dörner 2001].<br />

Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

ist also e<strong>in</strong> Wandel des Menschenverständnisses<br />

erkennbar, <strong>der</strong> hier nur <strong>in</strong><br />

subjektiv ausgewählten Zügen skizziert<br />

2 Nach Bauer stellt er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch Antropologium<br />

de hom<strong>in</strong>is dignitate, natura et proprietatibus<br />

von 1501 anatomische, physiologische<br />

<strong>und</strong> psychologische Aspekte des Menschen<br />

als E<strong>in</strong>heit dar.<br />

3 Allerd<strong>in</strong>gs sche<strong>in</strong>t diese Auffassung nicht<br />

e<strong>in</strong>heitlich von an<strong>der</strong>en Autoren <strong>der</strong> „mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Anthropologie“ geteilt worden zu<br />

se<strong>in</strong>. Für Just C. Lo<strong>der</strong> (1753–1832) beispielsweise<br />

steht, völlig im Gegensatz zu<br />

Platner, die Betrachtung des Körpers im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>.<br />

Ibid<br />

65


66<br />

wird. Angesichts dieses Wandels des <strong>Menschenbild</strong>es<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> sche<strong>in</strong>t es<br />

nicht verw<strong>und</strong>erlich, dass auch <strong>in</strong> diesem<br />

Fach früh die Stimme für „die Anerkennung<br />

<strong>der</strong> Notwendigkeit e<strong>in</strong>es <strong>Pluralismus</strong><br />

<strong>der</strong> Methoden“ erhoben wird – <strong>und</strong><br />

zwar verb<strong>und</strong>en mit e<strong>in</strong>em notwendigen<br />

„Verzicht auf e<strong>in</strong>e geschlossene Weltsicht“<br />

[Mitscherlich 1948]. In ähnliche<br />

Richtung geht die Bezeichnung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

als e<strong>in</strong> „plurales System von Wissenschaften“,<br />

da ihr etwa naturwissenschaftliche,<br />

psychotherapeutische, humanökologische<br />

<strong>und</strong> soziologische Erkenntnisse<br />

zugr<strong>und</strong>e liegen [Schipperges 1975]. In<br />

jüngster Zeit hat dann auch Roelcke expli-<br />

Abb. 2: Arbeitsdef<strong>in</strong>ition Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

Menschenverständnis – Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

zit ausgesprochen, dass es „nicht um das<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> schlechth<strong>in</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n um die <strong>Menschenbild</strong>er – im Plural<br />

– gehe, die den verschiedenen Formen<br />

mediz<strong>in</strong>ischer Angebote zu Gr<strong>und</strong>e liegen“<br />

[Roelcke 2000].<br />

<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong><br />

Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

Sowohl Anwen<strong>der</strong> als auch Nutzer <strong>der</strong><br />

Naturheilk<strong>und</strong>e (s. Abb. 2) rekurrieren<br />

darauf, dass e<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>lage ihres Handelns<br />

die Annahme e<strong>in</strong>es so genannten<br />

ganzheitlichen <strong>Menschenbild</strong>es o<strong>der</strong><br />

Naturheilk<strong>und</strong>e ist die Lehre von <strong>der</strong> Vorbeugung <strong>und</strong> Behandlung von Krankheiten unter<br />

Verwendung von Mitteln („Naturheilmittel“), die <strong>der</strong> Natur entstammen, weitgehend<br />

naturbelassen, <strong>der</strong> Natur nachempf<strong>und</strong>en, bzw. <strong>der</strong> Natur (u.a. <strong>der</strong> Biologie) des Menschen<br />

angemessen s<strong>in</strong>d. Hierzu zählen:<br />

spezielle Ernährungsformen, pflanzliche, tierische <strong>und</strong> m<strong>in</strong>eralische Arzneistoffe o<strong>der</strong> physikalische<br />

Reize wie Licht, Wasser, Sonne, Kälte, Wärme, Bewegung, Ruhe, sowie psychosoziale<br />

E<strong>in</strong>flussfaktoren, wie etwa Gespräch <strong>und</strong> Beratung [modifiziert nach Pschyrembel<br />

1998, 2000].<br />

Historische gewachsene Strukturierung <strong>der</strong> Naturheilk<strong>und</strong>e [modifiziert nach Melchart<br />

2002, Bühr<strong>in</strong>g 1993]:<br />

Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

� �<br />

klassische Naturheilverfahren: erweiterte Naturheilverfahren (Auswahl):<br />

Bewegungstherapie ausleitende Verfahren (z.B. A<strong>der</strong>lass,<br />

Ernährungstherapie Schröpfen, Blutegel)<br />

Hydropathie Neuraltherapie<br />

„Ordnungstherapie“ Symbioselenkung<br />

Phytotherapie Thalassotherapie


<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

Menschenverständnisses sei, bei dem <strong>der</strong><br />

„ganze Mensch ohne Trennl<strong>in</strong>ie zwischen<br />

Körper, Geist <strong>und</strong> Seele“ behandelt werde<br />

[Coward 1995]. 4 In diesem Kontext stößt<br />

man auf die Begriffe ganzheitliche <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

o<strong>der</strong> Ganzheitsmediz<strong>in</strong>, die heute<br />

weitgehend durch die Bezeichnung Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

ersetzt s<strong>in</strong>d, aber noch<br />

Verwendung f<strong>in</strong>den. 5<br />

Über die zeitliche E<strong>in</strong>ordnung des<br />

Begriffes schreibt Jütte, die Ära <strong>der</strong> Ganzheitsmediz<strong>in</strong><br />

habe 1945 begonnen, als die<br />

Vertreter naturheilk<strong>und</strong>licher Therapien<br />

auf <strong>der</strong> Suche nach e<strong>in</strong>em neuen Wort<br />

waren, „mit dem man e<strong>in</strong>e desavouierte<br />

Strömung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wie<strong>der</strong> salonfähig<br />

zu machen hoffte“ [Jütte 1996].<br />

Gleichwohl diskutierten aber schon <strong>in</strong><br />

den 1930er Jahren Ärzte über „ganzheitliche<br />

Bestrebungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ [Harr<strong>in</strong>gton<br />

2002] 6 , <strong>und</strong> Begriffe wie Ganzheitlichkeit<br />

o<strong>der</strong> Ganzheit f<strong>in</strong>den sich<br />

bereits seit 1900 im wissenschaftlichen<br />

Diskurs im deutschsprachigen Raum<br />

[Harr<strong>in</strong>gton 2002], auch wenn sie damals<br />

noch nicht <strong>in</strong> Lexika zu f<strong>in</strong>den waren<br />

[Zedler 1735, 1994; Meyers Großes Konversations-Lexikon<br />

1906].<br />

Der Brockhaus verweist 1978 unter<br />

Ganzheitsmediz<strong>in</strong> [Brockhaus 1978] auf<br />

die Psychosomatik als: „ganzheitliche,<br />

seelisch-körperl. Betrachtungs- <strong>und</strong> Heilweise,<br />

welche bei psychogenen Erkrankungen<br />

neben Organschädigungen <strong>und</strong><br />

Organfunktionsstörungen auch die emotionalen<br />

<strong>und</strong> sozialen Ursachen sowie die<br />

gesamte Persönlichkeit <strong>und</strong> das Lebensschicksal<br />

berücksichtigt … <strong>der</strong> Begriff<br />

‚Psychosomatische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>‘ wurde erst<br />

von F. Deutsch (1922) e<strong>in</strong>geführt“ [Brock-<br />

haus 1978]. In den 1990er Jahren gibt es<br />

neben diesem Verweis auch e<strong>in</strong>e eigene<br />

Def<strong>in</strong>ition, die im <strong>in</strong>haltlichen Kern mit<br />

<strong>der</strong> vorherigen übere<strong>in</strong>stimmt: „Ganzheitsmediz<strong>in</strong>;<br />

mediz<strong>in</strong>. Richtung, die den<br />

Kranken nicht nur nach e<strong>in</strong>zelnen Krankheitsbil<strong>der</strong>n<br />

<strong>und</strong> E<strong>in</strong>zelbef<strong>und</strong>en, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em physisch-psychischen<br />

Gesamtzustand erfassen <strong>und</strong> ärztlich<br />

behandeln will“ [Brockhaus 1997]. 7 Ähnliche<br />

Def<strong>in</strong>itionen f<strong>in</strong>den sich bei e<strong>in</strong>er<br />

Reihe weiterer Autoren [Pschyrembel<br />

2000; Meyer 1966; Koch 1996], wobei mal<br />

mehr von e<strong>in</strong>er Leib-Seele-E<strong>in</strong>heit [Nie<strong>der</strong>meyer<br />

1955], e<strong>in</strong>em Leib-Seele-Problem<br />

[Mitscherlich 1969] o<strong>der</strong> dem Gan-<br />

4 E<strong>in</strong> Umstand, den von Uexküll ablehnte: „Als<br />

‚Ganzheitsmediz<strong>in</strong>’ habe sie [die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>]<br />

auch die Notwendigkeit überw<strong>und</strong>en, zwischen<br />

seelischen <strong>und</strong> körperlichen Ersche<strong>in</strong>ungen<br />

<strong>und</strong> Vorgängen zu unterscheiden. Ich<br />

b<strong>in</strong> nicht dieser Ansicht. Ich glaube im Gegenteil,<br />

dass die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> auf diese Unterscheidungen<br />

nicht verzichten kann, ohne die Orientierung<br />

zu verlieren“ [Uexküll 1968].<br />

5 Beispielsweise <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz vertreten<br />

durch die seit 1989 ersche<strong>in</strong>ende Schweizerische<br />

Zeitschrift für Ganzheitsmediz<strong>in</strong> o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

Österreich seit 1988 durch die Ärztegesellschaft<br />

„Wiener <strong>in</strong>ternationale Akademie für<br />

Ganzheitsmediz<strong>in</strong>“.<br />

6 So auf dem „Kongress zur För<strong>der</strong>ung <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>ischer<br />

Synthese <strong>und</strong> Ärztlicher Weltanschauung“<br />

1932 <strong>in</strong> Marienbad. Die von<br />

Theodor Brugsch unter dem Titel E<strong>in</strong>heitsstrebungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> herausgegebenen<br />

Beiträge <strong>der</strong> Tagung erhalten den Artikel<br />

„Die ganzheitlichen Betrachtung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>“ des Neurologen Kurt Goldste<strong>in</strong>s<br />

(1878–1965). E<strong>in</strong> Jahr später gelang ihm,<br />

SPD-Mitglied <strong>und</strong> jüdischer Konfession,<br />

nach zeitweiliger Haft die Emigration [Harr<strong>in</strong>gton<br />

2000]. Brugsch veröffentlichte 1936<br />

das Buch Ganzheitsproblematik <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>.<br />

7 E<strong>in</strong>e neuere ähnliche Def<strong>in</strong>ition: „Ganzheitsmediz<strong>in</strong>:<br />

Richtung <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, die den<br />

Kranken <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er leib-seelischen Gesamtverfassung<br />

zu erfassen u. zu behandeln sucht“<br />

[Brockhaus 1999].<br />

67


68<br />

zen als Summe <strong>der</strong> Teile [Stacher 1993]<br />

gesprochen wird. 8<br />

Die Betrachtung physischer, psychischer<br />

<strong>und</strong> sozialer Aspekte des Menschen<br />

können <strong>in</strong> <strong>der</strong> Naturheilk<strong>und</strong>e als traditionell<br />

europäischer Teil <strong>der</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

ebenso beachtet werden, wie im<br />

bio-psycho-sozialen Modell o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Psychosomatik.<br />

Hier f<strong>in</strong>den sich also Parallelen<br />

zwischen den e<strong>in</strong>zelnen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>bereichen.<br />

Auch wenn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit die<br />

e<strong>in</strong>zelnen komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />

Methoden tendenziell getrennt vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

operierten, so bed<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> zunehmende<br />

<strong>und</strong> selbstverständliche Gebrauch verschiedener<br />

Methoden durch PatientInnen,<br />

auch <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit <strong>der</strong> Schulmediz<strong>in</strong>,<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Information o<strong>der</strong> Zusammenarbeit<br />

<strong>der</strong> TherapeutInnen. Gerade am<br />

Arznei- <strong>und</strong><br />

Heilpflanzen<br />

als Rohstoff<br />

(afrikanisch,<br />

amerikanisch,<br />

asiatisch,<br />

australisch,<br />

europäisch)<br />

Menschenverständnis – Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

Traditionelle Ch<strong>in</strong>esische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Arzneimittel Arzneimittel<br />

Ayurvedische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Arzneimittel<br />

Tibetische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Arzneimittel<br />

Kampo-<strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Arzneimittel<br />

Arzneimittel<br />

Europäische Phytotherapie<br />

Homöopathie<br />

Urt<strong>in</strong>kturen<br />

Orthomolekulare <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Arzneimittel<br />

Spagyrik<br />

Arzneimittel<br />

Abb. 3: Bezug <strong>der</strong> Phytotherapie zu an<strong>der</strong>en komplementärmediz<strong>in</strong>ischen Richtungen <strong>und</strong><br />

Verfahren über Arznei- <strong>und</strong> Heilpflanzen<br />

Beispiel <strong>der</strong> Phytotherapie (s. Abb. 3) lässt<br />

sich verdeutlichen, welche Vielfalt an Verb<strong>in</strong>dungen<br />

es zu an<strong>der</strong>en komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />

Methoden <strong>und</strong> Gedankenwelten<br />

<strong>der</strong> Patienten geben kann. So kann<br />

es se<strong>in</strong>, dass beispielsweise <strong>in</strong> verschiedenen<br />

komplementärmediz<strong>in</strong>ischen Methoden<br />

e<strong>in</strong>e Heilpflanze bei an<strong>der</strong>en Indikationen<br />

verwendet o<strong>der</strong> unterschiedlich<br />

zubereitet wird. Dies macht es deutlich,<br />

dass Offenheit <strong>und</strong> Informationsaustausch<br />

<strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen komplementärmediz<strong>in</strong>ischen<br />

Methoden zum Wohl <strong>der</strong><br />

PatientInnen notwendig ist. Mitunter<br />

8 Der Begriff <strong>der</strong> Ganzheit f<strong>in</strong>det sich auch <strong>in</strong><br />

modifiziert an<strong>der</strong>er Bedeutung bei C. G.<br />

Jung [Hydwolff 2000] <strong>und</strong> Ganzheitlichkeit<br />

auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gestaltpsychologie [Zabransky<br />

2000].


<strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

kann auch das <strong>Menschenbild</strong> <strong>und</strong> Therapieverständnis<br />

<strong>in</strong> den verschiedenen Methoden<br />

variieren <strong>und</strong> den Therapieverlauf<br />

bee<strong>in</strong>flussen.<br />

Wesentliche Aspekte des Therapie<strong>und</strong><br />

Menschenverständnisses <strong>der</strong> naturheilk<strong>und</strong>lichen<br />

Therapie, die sich aus<br />

unseren Erfahrungen vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

ambulanten Patientenversorgung zeigen<br />

<strong>und</strong> teilweise frühere Annahmen bestätigen,<br />

werden im Folgenden an Aspekten<br />

zu Patientenerwartungen, Therapiegestaltung<br />

<strong>und</strong> -ansätzen verdeutlicht:<br />

D Aspekte <strong>der</strong> Erwartungen <strong>der</strong><br />

PatientInnen<br />

– aktiver E<strong>in</strong>bezug <strong>der</strong> Vorstellung<br />

über die Krankheit <strong>in</strong> die<br />

Behandlung<br />

– aktiver E<strong>in</strong>bezug von Subjektivität<br />

<strong>und</strong> Individualempirie<br />

(auch <strong>der</strong> TherapeutInnen)<br />

– aktiver E<strong>in</strong>bezug persönlicher<br />

Lebensphilosophie<br />

D Aspekte <strong>der</strong> Therapiegestaltung<br />

– freie, subjektive Wahl von<br />

TherapeutInnen, Therapien,<br />

Krankheitssicht<br />

– <strong>in</strong>dividuelle/subjektive Deutungsmöglichkeiten<br />

des<br />

Krankse<strong>in</strong>s<br />

– Mitkonstruktion <strong>der</strong> Sicht des<br />

Ges<strong>und</strong>werdens durch die<br />

PatientInnen (häufig eklektizistisch)<br />

D Aspekte von Therapieansätzen<br />

– therapeutische Wirkungen<br />

über Regulationsvorgänge<br />

– Konstitution als potenzielles<br />

Reaktionsvermögen<br />

– Therapiebeg<strong>in</strong>n an leistungsfähigen<br />

Anteilen des Organismus<br />

– (Selbst)-Heilungspotenz <strong>und</strong><br />

Selbstheilungsvermögen<br />

– Ressourcenaktivierung/Perspektivenbildung<br />

– Stärkung <strong>der</strong> Autonomie <strong>der</strong><br />

PatientInnen<br />

Von den Erwartungen, mit denen PatientInnen<br />

<strong>in</strong> die Beratung zur naturheilk<strong>und</strong>lichen<br />

Therapie kommen, ersche<strong>in</strong>t<br />

es beson<strong>der</strong>s wichtig, dass Elemente ihrer<br />

Vorstellung über die Krankheit aktiv <strong>in</strong><br />

die Behandlung mit e<strong>in</strong>bezogen werden<br />

können. Dies verlangt Wissen, Verständnis<br />

<strong>und</strong> Empathie <strong>der</strong> TherapeutInnen.<br />

Ferner erwarten PatientInnen, dass auch<br />

ihre Subjektivität als Person <strong>und</strong> ihre Individualempirie<br />

im Zusammenhang mit<br />

<strong>der</strong> Erkrankung vom Therapeuten registriert<br />

<strong>und</strong> bei se<strong>in</strong>em Handeln e<strong>in</strong>bezogen<br />

wird. Das kann auch Aspekte <strong>der</strong> persönlichen<br />

Lebensphilosophie betreffen.<br />

Aus den Erwartungen <strong>der</strong> PatientInnen<br />

ergeben sich teilweise auch Aspekte<br />

<strong>der</strong> Therapiegestaltung. Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> persönlichen<br />

Lebense<strong>in</strong>stellung <strong>und</strong> Philosophie<br />

ergeben sich für PatientInnen subjektive<br />

Deutungsmöglichkeiten ihres<br />

Krankse<strong>in</strong>s. Daraus kann sich auch e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>dividuelle <strong>und</strong> subjektive Krankheitssicht<br />

<strong>der</strong> PatientInnen ergeben, die<br />

durchaus im Gegensatz zum Kenntnisstand<br />

des Arztes stehen kann <strong>und</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />

Prozess des Vermittelns folgen muss.<br />

Ebenso entstehen je nach Krankheitssicht<br />

Ansprüche an die freie Wahl von Thera-<br />

69


70<br />

peutInnen <strong>und</strong> Therapie. Aus den Deutungsmöglichkeiten<br />

<strong>der</strong> PatientInnen<br />

über ihr Krankse<strong>in</strong> können die TherapeutInnen<br />

<strong>der</strong>en Situation <strong>und</strong> Erwartungen<br />

besser verstehen. Schließlich können die<br />

PatientInnen bei <strong>der</strong> Mitkonstruktion <strong>der</strong><br />

Planung ihres Ges<strong>und</strong>werdens mitteilen,<br />

die Reduktion (o<strong>der</strong> Behebung) welcher<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen für sie erste Priorität<br />

haben. Das kann von den Vorstellungen<br />

<strong>der</strong> TherapeutInnen, ggf. orientiert an kl<strong>in</strong>ischen<br />

Bef<strong>und</strong>en, Laborwerten, Ergebnissen<br />

bildgeben<strong>der</strong> Verfahren o<strong>der</strong> Surrogatparametern,<br />

abweichen.<br />

Von den Therapieansätzen, die im<br />

Rahmen e<strong>in</strong>er naturheilk<strong>und</strong>lichen Therapie<br />

zur Verfügung stehen, kann es em<strong>in</strong>ent<br />

wichtig se<strong>in</strong>, die Therapie an leistungsfähigen<br />

Anteilen des Organismus zu<br />

beg<strong>in</strong>nen, damit <strong>der</strong> eventuell lange o<strong>der</strong><br />

chronisch Kranke bemerkt, dass se<strong>in</strong><br />

Organismus auch ges<strong>und</strong>e Anteile besitzt.<br />

Die therapeutische Wirkung kann dabei<br />

auch über Regulationsvorgänge ausgelöst<br />

werden, die von E<strong>in</strong>wirkungen an an<strong>der</strong>en<br />

Körperstellen ausgehen als <strong>der</strong> eigentlich<br />

betroffenen. Die Konstitution <strong>der</strong><br />

PatientInnen kann unter Umständen für<br />

e<strong>in</strong> potenzielles Reaktionsvermögen des<br />

Organismus genutzt werden, wobei die<br />

Möglichkeit <strong>der</strong> (Selbst-)Heilungspotenz<br />

abzuwägen bzw. zu unterstützen ist. Hierzu<br />

kann es hilfreich se<strong>in</strong>, zu erkennen,<br />

welche Ressourcen aktiviert werden können,<br />

die auch zu e<strong>in</strong>er persönlich wirksamen<br />

Perspektivenbildung beitragen.<br />

Durch den möglichen Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Therapie<br />

an ges<strong>und</strong>en Anteilen des Organismus<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e realistische Perspektivenbildung<br />

kann die Autonomie <strong>der</strong> PatientInnen<br />

ebenso gestärkt werden wie auch durch<br />

den aktiven E<strong>in</strong>bezug <strong>in</strong> therapeutische<br />

Maßnahmen.<br />

E<strong>in</strong>zelne <strong>der</strong> hier vorgestellten Aspekte<br />

werden natürlich auch <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Bereichen <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> angewandt o<strong>der</strong><br />

könnten dort Verwendung f<strong>in</strong>den. Sie<br />

s<strong>in</strong>d unseres Erachtens nach konstitutiv<br />

für e<strong>in</strong>e naturheilk<strong>und</strong>liche Therapie. Für<br />

e<strong>in</strong>e befriedigende o<strong>der</strong> erfolgreiche Therapie<br />

o<strong>der</strong> Behandlung wird es notwendig<br />

se<strong>in</strong>, dass Arzt <strong>und</strong> Patient die genannten<br />

Punkte offen kommunizieren <strong>und</strong> teilweise<br />

an<strong>der</strong>e Therapeuten <strong>und</strong> Familienangehörige<br />

mit e<strong>in</strong>beziehen.<br />

Ergebnis<br />

Menschenverständnis – Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

Der Blick über die verschiedenen Zeiten<br />

<strong>und</strong> Fächer zeigt, dass heute die Existenz<br />

pluraler <strong>Menschenbild</strong>er Realität ist. Dies<br />

gilt auch für die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>, die neben<br />

naturwissenschaftlichen Erkenntnissen<br />

durch psychosomatische Erkenntnisse,<br />

das bio-psycho-soziale Modell <strong>und</strong> über<br />

Aspekte <strong>der</strong> Arzt-Patienten-Angehörigen-<br />

Beziehung ihr Menschenverständnis <strong>und</strong><br />

<strong>Menschenbild</strong> entscheidend erweitern<br />

konnte. Die naturheilk<strong>und</strong>liche <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

greift diese Aspekte auf <strong>und</strong> bietet <strong>der</strong><br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zusätzliche Sichtweisen h<strong>in</strong>sichtlich<br />

Patientenerwartung, Therapiegestaltung<br />

<strong>und</strong> Therapieansätzen.<br />

Diskussion<br />

Die heutige ausdifferenzierte, pluralistische<br />

mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft muss sich fra-


Literatur<br />

gen, wie sie ihr <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>system <strong>in</strong> Zukunft<br />

gestalten will. Bisher konnte die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

durch die Integration neuer Erkenntnisse<br />

den Bedürfnissen des Menschen näher<br />

kommen. Aspekte <strong>der</strong> naturheilk<strong>und</strong>lichen<br />

Therapie <strong>und</strong> Vorgehensweise könnten<br />

hier e<strong>in</strong>en weiteren Beitrag leisten<br />

<strong>und</strong> unter <strong>der</strong> Sichtweise von Naturheilk<strong>und</strong>e<br />

als Querschnittsfach <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Fächern <strong>in</strong>tegriert werden.<br />

In <strong>der</strong> Diskussion um das Verhältnis von<br />

Schulmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

weisen e<strong>in</strong>ige Autoren auf wichtige<br />

Aspekte im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> möglichen Weiterentwicklung<br />

e<strong>in</strong>es pluralistischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>systems<br />

h<strong>in</strong>, die vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

des Menschenverständnisses <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

relevant ersche<strong>in</strong>en.<br />

Kaptchuk <strong>und</strong> Eisenberg erachten es<br />

angesichts des Gebrauchs von Komplementärmediz<strong>in</strong><br />

als notwendig, dass Ärzte<br />

verstehen, warum Patienten diese Methoden<br />

anwenden, um die „relationship-centered<br />

care“ nicht zu gefährden. Dies sollte<br />

angesichts von „Gr<strong>und</strong>werten <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>,<br />

wie dem Respekt gegenüber den<br />

Patienten <strong>und</strong> dem Dienst am Patienten“,<br />

bedacht werden [Kaptchuk, Eisenberg<br />

2001]. „Die gegenwärtig erhöhte Aufmerksamkeit<br />

gegenüber Alternativmediz<strong>in</strong><br />

zeigt zweierlei, die Fortsetzung des<br />

mediz<strong>in</strong>ischen <strong>Pluralismus</strong> <strong>in</strong> den USA<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e dramatische Neuordnung, weg<br />

vom Antagonismus <strong>und</strong> h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er<br />

postmo<strong>der</strong>nen Kenntnisnahme <strong>der</strong> Diversität“<br />

[Kaptchuk, Eisenberg 2001]. Kirmayer<br />

argumentiert, dass durch die Globalisierung<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong>systeme, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Tradition e<strong>in</strong>er Kultur verankert<br />

waren, nun global verfügbar s<strong>in</strong>d.<br />

Deshalb seien Modelle „notwendig, um<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt des permanenten Flusses,<br />

<strong>der</strong> Transformation <strong>und</strong> Hybridisierung<br />

den potentiellen Nutzen von kulturell<br />

verankerten Heilsystemen zu verstehen.<br />

… Ironischerweise führt die Unzufriedenheit<br />

mit den momentanen Institutionen<br />

zu e<strong>in</strong>er romantischen Idealisierung des<br />

Exotischen als ‚traditionell‘ <strong>und</strong> ‚ganzheitlich‘<br />

<strong>und</strong> als Möglichkeit, verlorene<br />

Werte wie Harmonie <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>schaft<br />

wie<strong>der</strong> herzustellen.“ Öffentliche Informationen<br />

über komplementärmediz<strong>in</strong>ische<br />

<strong>und</strong> traditionelle Heilmethoden<br />

müssten zur Debatte um e<strong>in</strong> pluralistisches<br />

Ges<strong>und</strong>heitssystem zur Verfügung<br />

stehen, <strong>und</strong> die Wahrnehmung <strong>der</strong> Vielfalt<br />

<strong>der</strong> Heilmethoden sollte Kl<strong>in</strong>iker ermuntern,<br />

die Patienten nach dem Gebrauch<br />

komplementärmediz<strong>in</strong>ischer Methoden<br />

zu fragen [Kirmayer 2004].<br />

Danksagungen<br />

Helmut Siefert herzlichen Dank für H<strong>in</strong>weise<br />

zur mediz<strong>in</strong>ischen Anthropologie<br />

<strong>und</strong> Angela Störl für die Hilfe beim Erstellen<br />

des Literaturverzeichnisses.<br />

Literatur<br />

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Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e komplementärmediz<strong>in</strong>ische<br />

Therapie? – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Matthias Girke<br />

E<strong>in</strong>leitung<br />

Das jeweilige Bild vom Menschen prägt<br />

<strong>und</strong> bestimmt die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong> Diagnostik<br />

<strong>und</strong> Therapie. Im Unterschied zu zurückliegenden<br />

Formen <strong>der</strong> Heilkunst erfährt<br />

das ke<strong>in</strong>eswegs als <strong>in</strong>variat anzusehende<br />

Bild vom Menschen e<strong>in</strong>e erstaunlich<br />

ger<strong>in</strong>ge Reflexion. Häufig werden sogar<br />

angesichts e<strong>in</strong>er als diesbezüglich voraussetzungslos<br />

e<strong>in</strong>gestuften „ma<strong>in</strong> stream<br />

medic<strong>in</strong>e“ diese von alltäglichen Entscheidungen<br />

bis h<strong>in</strong> zu den ethischen<br />

Grenzfragen <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> reichenden Fragestellungen<br />

weitgehend ausgeklammert.<br />

Der Begriff <strong>Menschenbild</strong> kann als e<strong>in</strong>e<br />

Frage nach e<strong>in</strong>er das komplexe Se<strong>in</strong> des<br />

Menschen umschreibenden Modellvorstellung<br />

begriffen werden. Diese Ebene ist<br />

mit den folgenden Ausführungen nicht<br />

geme<strong>in</strong>t. Vielmehr geht es um e<strong>in</strong>en „perspektivischen<br />

Ansatz“ <strong>und</strong> damit um die<br />

Fragestellung, welche Ebenen <strong>der</strong> menschlichen<br />

Existenz <strong>in</strong> die Betrachtung aufgenommen<br />

werden sollen. Hier hat die im<br />

19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert sich entwickelnde<br />

„Schulmediz<strong>in</strong>“ e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Festlegung<br />

getroffen: Du Bois-Reymond sprach<br />

von e<strong>in</strong>em heiligen Eid, nur noch die biochemisch<br />

<strong>und</strong> physiologisch beschreibbare<br />

Dimension zu berücksichtigen. Es wurde<br />

<strong>der</strong> Ausgangspunkt für die heutige<br />

Schulmediz<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong> reduktionistisches<br />

<strong>Menschenbild</strong> fokussiert. Obgleich mit<br />

dem „bio-psycho-sozialen Modell“ weitere<br />

Ebenen <strong>der</strong> menschlichen Existenz angesprochen<br />

werden, so handelt es sich<br />

letztlich nur um unterschiedliche Betrachtungsarten,<br />

ohne e<strong>in</strong>em lebendigen,<br />

seelischen <strong>und</strong> geistigen Wesen des Menschen<br />

e<strong>in</strong>e Se<strong>in</strong>sdimension zuzuweisen.<br />

Karl Friedrich von Weizsäcker beschreibt<br />

vor e<strong>in</strong>em vergleichbaren H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>e „kulturgeb<strong>und</strong>ene Blickbeschränkung“<br />

letztlich auf die somatische Ebene<br />

<strong>und</strong> mahnt e<strong>in</strong>e Erweiterung des perspektivisch<br />

e<strong>in</strong>geengt ersche<strong>in</strong>enden Menschenverständnisses<br />

an, <strong>in</strong>dem er bezüglich<br />

<strong>der</strong> „Subjektivität <strong>der</strong> Natur“ bemerkt:<br />

„Die Naturwissenschaft ist heute außerstande,<br />

etwas dazu zu sagen, <strong>und</strong> zwar,<br />

wie ich me<strong>in</strong>en möchte, nicht aus pr<strong>in</strong>zipieller<br />

Unmöglichkeit, aber wegen ihrer<br />

kulturgeb<strong>und</strong>enen Blickbeschränkung.<br />

Sie arbeitet ausschließlich <strong>in</strong> objektiver<br />

E<strong>in</strong>stellung, d.h. sie beschreibt Objekte,<br />

wie sie menschlichen Subjekten ersche<strong>in</strong>en,<br />

aber sie reflektiert nicht auf die Subjektivität<br />

<strong>der</strong> Subjekte“ [Weizsäcker 1975].<br />

Die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> ist aufgefor<strong>der</strong>t, e<strong>in</strong>en<br />

diesen unterschiedlichen Bereichen<br />

menschlicher Existenz jeweils angemessenen<br />

methodologischen Zugang zu f<strong>in</strong>den.<br />

Die Fragen nach e<strong>in</strong>em <strong>Menschenbild</strong><br />

beantworten sich nicht durch auswech-<br />

75


76<br />

selbare Modellvorstellungen, die als Gedankenkonstrukte<br />

Teilbereiche e<strong>in</strong>er<br />

komplexen Phänomenologie abbilden.<br />

Vielmehr wird e<strong>in</strong>e Methodologie <strong>der</strong><br />

Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung e<strong>in</strong>gefor<strong>der</strong>t, die<br />

dem jeweiligen Se<strong>in</strong>sbereich des Menschen<br />

möglichst entspricht <strong>und</strong> se<strong>in</strong><br />

komplexes Wesen nicht auf die kausal<br />

analytisch beschreibbare Ebene reduziert.<br />

In mancher Beziehung gleicht die gegenwärtige<br />

Forschungspraxis <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

e<strong>in</strong>em Konzertbesucher, <strong>der</strong> die „somatische<br />

Dimension“ durch Registrierung von<br />

Vibrationen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Instrumente<br />

<strong>und</strong> ihrer jeweiligen „Anatomie“ beschreibt<br />

<strong>und</strong> durch diese Betrachtungsart<br />

niemals auf die eigentliche musikalische<br />

Aussage <strong>und</strong> immaterielle Wirklichkeit<br />

<strong>der</strong> Musik kommt. Es ist e<strong>in</strong>e Erweiterung<br />

des Menschenverständnisses erfor<strong>der</strong>lich;<br />

<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne haben Rudolf Ste<strong>in</strong>er <strong>und</strong><br />

Ita Wegman Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

die Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> charakterisiert.<br />

Es handelt sich nicht um e<strong>in</strong>e<br />

„Alternativmediz<strong>in</strong>“, <strong>und</strong> auch <strong>der</strong> Term<strong>in</strong>us<br />

„beson<strong>der</strong>e Therapierichtung“ wird<br />

ihr demzufolge nur unzureichend gerecht.<br />

Sie versteht sich als e<strong>in</strong>e Methodologie<br />

für e<strong>in</strong> Menschenverständnis, das<br />

über die somatische Dimension h<strong>in</strong>ausweisend<br />

den lebendigen, seelischen <strong>und</strong><br />

geistigen Se<strong>in</strong>sbereich e<strong>in</strong>schließen will.<br />

Vier Kategorien von<br />

Patientenfragen<br />

In <strong>der</strong> alltäglichen Begegnung mit den<br />

Patienten lassen sich vier verschiedene<br />

Kategorien von Fragekomplexen unter-<br />

Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

scheiden, die auf e<strong>in</strong> erweitertes Menschenverständnis<br />

zielen.<br />

E<strong>in</strong>e erste Kategorie bezieht sich auf<br />

die Ebene <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Bef<strong>und</strong>e.<br />

Wird e<strong>in</strong> Gallenste<strong>in</strong>leiden diagnostiziert,<br />

so konzentriert sich die bef<strong>und</strong>orientierte<br />

Fragestellung auf die möglichen therapeutischen<br />

Verfahren, die geeignet s<strong>in</strong>d,<br />

diesen Bef<strong>und</strong> zu korrigieren. Ähnliche<br />

Fragestellungen ergeben sich beispielsweise<br />

im Zusammenhang mit <strong>der</strong> koronaren<br />

Herzerkrankung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er möglicherweise<br />

erfor<strong>der</strong>lichen Angioplastie des<br />

verengten Gefäßes. Neben diesen bef<strong>und</strong>orientierten<br />

Fragestellungen beziehen<br />

sich weitere auf den Prozess des Erkrankens.<br />

Beispielsweise bemerkt <strong>der</strong> rheumaerkrankte<br />

Patient bald, wie die Kortikoidgabe<br />

o<strong>der</strong> auch die E<strong>in</strong>leitung e<strong>in</strong>er<br />

Basistherapie e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>drückliche Symptomverbesserung<br />

br<strong>in</strong>gen kann, ohne<br />

allerd<strong>in</strong>gs den zugr<strong>und</strong>e liegenden Krankheitsprozess<br />

se<strong>in</strong>er Qualität nach zu bee<strong>in</strong>flussen.<br />

Das Absetzen <strong>der</strong> entsprechenden<br />

Medikation führt, von wenigen Ausnahmen<br />

abgesehen, zur erneuten<br />

Krankheitsmanifestation. Die prozessorientierten<br />

Patientenfragen beziehen sich<br />

auf therapeutische Möglichkeiten, die<br />

Krankheitsdynamik selber zu bee<strong>in</strong>flussen.<br />

Ihnen liegt häufig die Suche nach<br />

e<strong>in</strong>er <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> zugr<strong>und</strong>e, die e<strong>in</strong> salutogenetisches<br />

Behandlungskonzept verfolgt.<br />

Ges<strong>und</strong>heit ersche<strong>in</strong>t vor <strong>der</strong>en H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

nicht als das Gegenteil von Krankheit.<br />

Vielmehr ergibt sie sich durch die<br />

Wirksamkeit „ges<strong>und</strong>en<strong>der</strong> Kräfte“ im<br />

Organismus, die sich den krankheitserzeugenden<br />

gegenüberstellen. In diesem<br />

S<strong>in</strong>ne begreift sich die Entzündung, die


Vier Kategorien von Patientenfragen<br />

im Zusammenhang mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>gezogenen<br />

Splitter <strong>in</strong> <strong>der</strong> Haut als Reaktion des<br />

Organismus auftritt, trotz ihrer Schmerzhaftigkeit<br />

<strong>und</strong> Bee<strong>in</strong>trächtigung des Bef<strong>in</strong>dens<br />

als ges<strong>und</strong>ende Reaktion, die<br />

darauf angelegt ist, die Integrität des Organismus<br />

wie<strong>der</strong> herzustellen. Unter diesem<br />

Aspekt ersche<strong>in</strong>t Ges<strong>und</strong>heit als e<strong>in</strong>e<br />

mittlere Qualität im Spannungsfeld von<br />

pathogenetisch <strong>und</strong> salutogenetisch wirkenden<br />

Faktoren.<br />

E<strong>in</strong>e dritte Kategorie von Patientenfragen<br />

bezieht sich auf die seelische<br />

Dimension, ist demzufolge nicht mehr<br />

am Bef<strong>und</strong>, son<strong>der</strong>n am Bef<strong>in</strong>den des Patienten<br />

orientiert. Patienten fragen nach<br />

<strong>der</strong> Beziehung ihres seelischen Erlebens<br />

zum Krankheitsprozess. Der Neuro<strong>der</strong>mitis-Kranke<br />

erlebt mitunter e<strong>in</strong>drücklich<br />

die Verän<strong>der</strong>ung se<strong>in</strong>es Hautbef<strong>und</strong>es <strong>in</strong><br />

Abhängigkeit von <strong>der</strong> <strong>in</strong> unterschiedlichem<br />

Grade stressbeladenen Lebensweise.<br />

Die Haut ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>mal mehr auch<br />

<strong>in</strong> ihrer Erkrankung als <strong>der</strong> Spiegel <strong>der</strong><br />

Seele. In entsprechenden Patientenfragen<br />

wird das E<strong>in</strong>beziehen dieser seelischen<br />

Ebene <strong>in</strong> den Behandlungsprozess e<strong>in</strong>gefor<strong>der</strong>t.<br />

Schließlich weist e<strong>in</strong>e vierte Ebene auf<br />

die S<strong>in</strong>nhaftigkeit von Erkrankung. Hierher<br />

gehört das Beispiel e<strong>in</strong>es krebserkrankten<br />

Menschen, <strong>der</strong> die Arztkonsultation<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise beg<strong>in</strong>nt, dass er sich<br />

bereits gut <strong>in</strong>formiert <strong>und</strong> unterrichtet<br />

habe über viele mögliche Therapiekonzepte<br />

<strong>in</strong> konventionellen <strong>und</strong> komplementären<br />

Bereichen, aber nun wissen<br />

wolle, welchen S<strong>in</strong>n diese Erkrankung für<br />

ihn habe. E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s ausgewiesener<br />

Autor dieser Kategorie von Patientenfra-<br />

gen ist <strong>der</strong> langjährig an e<strong>in</strong>er Tuberkulose<br />

erkrankte Christian Morgenstern, <strong>der</strong><br />

hierzu die folgenden Worte fand:<br />

„Jede Krankheit hat ihren beson<strong>der</strong>en<br />

S<strong>in</strong>n; denn jede Krankheit ist e<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>igung:<br />

man muß nur herausbekommen,<br />

wovon <strong>und</strong> wozu. – Es gibt darüber annähernd<br />

sichere Aufschlüsse; aber die Menschen<br />

ziehen es vor, über h<strong>und</strong>erte <strong>und</strong><br />

tausende frem<strong>der</strong> Angelegenheiten zu<br />

lesen <strong>und</strong> zu denken, statt über ihre eigenen.<br />

Sie wollen die tiefen Hieroglyphen<br />

ihrer Krankheit nicht lesen lernen, sie<br />

<strong>in</strong>teressieren sich … noch weit mehr für<br />

das Spielzeug des Lebens als für se<strong>in</strong>en<br />

Ernst, als für ihren Ernst. – Hier<strong>in</strong> liegt die<br />

wahre Unheilbarkeit ihrer Krankheiten,<br />

im Mangel an <strong>und</strong> im Wi<strong>der</strong>willen gegen<br />

Erkenntnis, hier<strong>in</strong>, nicht im Bakteriologischen.“<br />

In diesen vier Fragen, die verbal o<strong>der</strong><br />

auch nonverbal <strong>in</strong> den Patientenkontakten<br />

aufleben können, f<strong>in</strong>den sich vier<br />

Ebenen wie<strong>der</strong>, die auf das Menschenverständnis<br />

<strong>der</strong> Anthroposophischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

weisen. Für den Patienten ist es dabei<br />

wesentlich, nicht nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche<br />

Beantwortung o<strong>der</strong> Kommentierung auf<br />

diese vier Kategorien von Fragestellungen<br />

zu bekommen. Vielmehr geht es ihm<br />

darum, <strong>in</strong> diesen verschiedenen Anliegen<br />

<strong>und</strong> Ebenen se<strong>in</strong>es Wesens wahrgenommen<br />

<strong>und</strong> angesprochen zu werden.<br />

Vier Kategorien von Patientenfragen:<br />

D am S<strong>in</strong>n orientiert<br />

D am Bef<strong>in</strong>den orientiert<br />

D prozessual orientiert<br />

D am Bef<strong>und</strong> orientiert<br />

77


78<br />

Gr<strong>und</strong>l<strong>in</strong>ien des Menschenverständnisses<br />

<strong>der</strong> Anthroposophischen<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Die e<strong>in</strong>drucksvolle Plastik „Der Buchleser“<br />

von Barlach (s. Abb. 4) weist <strong>in</strong> ihrer<br />

gegenständlichen Dimension auf den<br />

physischen Körper des Menschen. Es ist<br />

e<strong>in</strong> Bereich, <strong>der</strong> durch Maß, Zahl <strong>und</strong><br />

Gewicht beschreibbar ist <strong>und</strong> im Unter-<br />

Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

schied zu an<strong>der</strong>en Bereichen des menschlichen<br />

Wesens <strong>der</strong> Räumlichkeit angehört.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs weist bereits se<strong>in</strong>e Gestalt<br />

über die s<strong>in</strong>nenfällige, materielle Ebene<br />

h<strong>in</strong>aus. Barlach hätte die Gesichtsform<br />

sowohl <strong>in</strong> Gips, Ton, Bronze <strong>und</strong> vielen<br />

an<strong>der</strong>en Materialien herstellen können.<br />

Form ersche<strong>in</strong>t demzufolge als e<strong>in</strong> immaterielles<br />

Pr<strong>in</strong>zip, das lediglich für se<strong>in</strong>e<br />

Abb. 4: Ernst Barlach,<br />

Der Buchleser<br />

(1936) © Ernst BarlachL<strong>in</strong>zenzverwaltung<br />

Ratzeburg


Gr<strong>und</strong>l<strong>in</strong>ien des Menschenverständnisses <strong>der</strong> Anthroposophischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Ersche<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> materiellen Substanzausfüllung<br />

bedarf. Der Pathologe Wilhelm<br />

Doerr hat auf den Organismus bezogen<br />

diesen Tatbestand <strong>in</strong> den folgenden Worten<br />

zusammengefasst:<br />

„Der Organismus ist kausal unerklärbar,<br />

nicht weil er e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s verwickeltes<br />

chemisches Problem ist, ebensowenig<br />

weil er etwas metaphysisches wäre, son<strong>der</strong>n<br />

e<strong>in</strong>fach darum, weil an <strong>und</strong> für sich<br />

<strong>der</strong> Organismus ‚selber e<strong>in</strong>e eigenartige<br />

Denkform, e<strong>in</strong> Urbegriff ist, welche weitere<br />

Auflösung we<strong>der</strong> zuläßt noch bed<strong>in</strong>gt.‘<br />

… Denn Ordnung ist we<strong>der</strong> Kraft, noch<br />

Energie, noch Stoff. Sie bedarf aber dieser,<br />

um sich zu manifestieren …“ [Doerr<br />

1992].<br />

Im lebenden Organismus kennen wir<br />

im Unterschied zu <strong>der</strong> leblosen Welt primär<br />

ke<strong>in</strong>e fertige, unabän<strong>der</strong>liche Form<br />

o<strong>der</strong> Gestalt. Vielmehr herrscht hier<br />

Formverwandlung. Bezieht man <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

die embryonalen morphogenetischen,<br />

gestaltbildenden Prozesse mit e<strong>in</strong>,<br />

so ist die <strong>in</strong> ständigen Bildeprozessen<br />

bef<strong>in</strong>dliche Gestaltwerdung beson<strong>der</strong>s<br />

e<strong>in</strong>drücklich. Goethe unterscheidet <strong>in</strong><br />

diesem Zusammenhang zwischen Gestaltung<br />

als dem räumlich Gewordenen <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Bildung als den gestaltverän<strong>der</strong>nden<br />

<strong>und</strong> -hervorbr<strong>in</strong>genden Prozessen:<br />

„… Der Deutsche hat für den Komplex<br />

des Dase<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>es wirklichen Wesens<br />

das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem<br />

Ausdruck von dem Beweglichen, er<br />

nimmt an, dass e<strong>in</strong> Zusammengehöriges<br />

festgestellt, abgeschlossen <strong>und</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Charakter fixiert sei. Betrachten wir aber<br />

alle Gestalten, beson<strong>der</strong>s die organischen,<br />

so f<strong>in</strong>den wir, daß nirgend e<strong>in</strong> Bestehen-<br />

des, nirgend e<strong>in</strong> Ruhendes, e<strong>in</strong> Abgeschlossenes<br />

vorkommt, son<strong>der</strong>n daß vielmehr<br />

alles <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er steten Bewegung<br />

schwanke. Daher unsere Sprache das<br />

Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten<br />

als auch von dem Hervorgebrachtwerdenden<br />

gehörig genug zu brauchen<br />

pflegt. Wollen wir also e<strong>in</strong>e Morphologie<br />

e<strong>in</strong>leiten, so dürfen wir nicht<br />

von Gestalt sprechen, son<strong>der</strong>n, wenn wir<br />

das Wort brauchen, uns allenfalls dabei<br />

nur die Idee, den Begriff o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes<br />

denken. Das Gebildete wird<br />

zugleich wie<strong>der</strong> umgebildet, <strong>und</strong> wir<br />

haben uns, wenn wir e<strong>in</strong>igermassen zum<br />

lebendigen Anschauen <strong>der</strong> Natur gelangen<br />

wollen, selbst so beweglich <strong>und</strong> bildsam<br />

zu erhalten, nach dem Beispiele, mit<br />

dem sie uns vorgeht …“ [Ste<strong>in</strong>er 1982].<br />

Ste<strong>in</strong>er entwickelt h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong><br />

aufbauenden, <strong>in</strong> die Gestaltung führenden<br />

Prozesse des Organismus den Begriff<br />

<strong>der</strong> Bildekräfteorganisation. Dieser ist von<br />

e<strong>in</strong>er vitalistischen o<strong>der</strong> neovitalistischen<br />

Lebenskraftdef<strong>in</strong>ition klar zu unterscheiden.<br />

Es handelt sich gegenüber <strong>der</strong> Raumesdimension<br />

des physischen Körpers<br />

um se<strong>in</strong>e gestalthaft zusammenhängenden<br />

Bildeprozesse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitdimension.<br />

E<strong>in</strong>e dritte Ebene wird deutlich durch<br />

den Gesichtsausdruck des Menschen. In<br />

Mimik <strong>und</strong> Gestik verwirklicht sich e<strong>in</strong><br />

s<strong>in</strong>nfälliges Bild seelischen Erlebens. Es ist<br />

e<strong>in</strong>e unhörbare, wenngleich <strong>in</strong> je<strong>der</strong><br />

Menschenbegegnung deutlich vernehmbare<br />

Sprache <strong>der</strong> Seele, die sich <strong>in</strong> den<br />

Zügen <strong>und</strong> verän<strong>der</strong>lichen Ausdrucksformen<br />

des menschlichen Antlitzes wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>det.<br />

Die körperliche Ersche<strong>in</strong>ung des<br />

79


80<br />

Menschen weist somit nicht nur auf ihren<br />

anatomischen Aspekt o<strong>der</strong> ihre zurückliegenden<br />

Bildeprozesse, denen sie ihr So-<br />

Se<strong>in</strong> verdankt, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> jedem<br />

Augenblick auf die Offenbarung des Seelischen,<br />

das im Falle des „Buchlesers“ als<br />

kontemplativ nachdenkliche Seelenhaltung<br />

Bild geworden ist.<br />

Schließlich wird man im Erspüren des<br />

seelischen Wesens auf e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tentionales<br />

Moment aufmerksam. Der Blick kann sich<br />

wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Barlachschen Plastik mehr<br />

nach <strong>in</strong>nen wenden <strong>und</strong> den Augen<br />

e<strong>in</strong>en gedankenverlorenen Ausdruck geben,<br />

o<strong>der</strong> er kann sich aktiv fokussierend<br />

dem gegenüber bef<strong>in</strong>dlichen an<strong>der</strong>en<br />

Menschen zuwenden. Diese <strong>in</strong>nere lenkende<br />

Instanz, die fähig ist, Gedanken zu<br />

lenken, im Gefühlsleben zu erleben <strong>und</strong><br />

schließlich sich <strong>in</strong> Willensimpulsen zu<br />

verwirklichen, ist die Individualität, das<br />

Ich des Menschen. Es weist sich e<strong>in</strong>erseits<br />

durch Beständigkeit aus, <strong>in</strong>dem es den<br />

wechselnden Alltagsereignissen <strong>und</strong> auch<br />

Bef<strong>in</strong>dlichkeiten des Körpers als Zentrum<br />

des menschlichen Wesens erlebend gegenübersteht<br />

<strong>und</strong> auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

als entwicklungsbereit <strong>und</strong> -fähig, <strong>in</strong>dem<br />

es als zukunftsoffenes, neue Fähigkeiten<br />

eroberndes Ich o<strong>der</strong> Persönlichkeit des<br />

Menschen ersche<strong>in</strong>t.<br />

Drei Schwellenmomente<br />

Wenn man das Schicksalsgeschenk hat,<br />

e<strong>in</strong>en Menschen im Sterben zu begleiten,<br />

so bleibt e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er E<strong>in</strong>druck <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Er<strong>in</strong>nerung. Es ist <strong>der</strong> Übergang des noch<br />

lebenden Organismus, <strong>der</strong> das seelisch-<br />

Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

geistige Wesen des Menschen trägt, <strong>in</strong> die<br />

sche<strong>in</strong>bar unverän<strong>der</strong>liche <strong>und</strong> erstarrende<br />

Formwirklichkeit des Leichnams. An<br />

dieser Grenze wird e<strong>in</strong>drücklich erfahrbar,<br />

welcher Unterschied besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit des physischen Körpers, <strong>der</strong><br />

von <strong>der</strong> Lebensprozessualität verlassen<br />

worden ist, <strong>und</strong> dem lebendigen, von <strong>der</strong><br />

Lebensorganisation ergriffenen Leib.<br />

E<strong>in</strong>e ähnliche Erfahrung kann sich<br />

auf an<strong>der</strong>er Ebene im Zusammenhang<br />

mit dem Schlaf, dem kle<strong>in</strong>en Bru<strong>der</strong> des<br />

Todes, e<strong>in</strong>stellen. Begleitet man e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d<br />

beim E<strong>in</strong>schlafen, so beobachtet man, wie<br />

die von vielen Tagesereignissen <strong>und</strong> Erlebnissen<br />

erfüllte Seelenhaftigkeit langsam<br />

<strong>in</strong> das bewusstse<strong>in</strong>sferne Dunkel des<br />

Schlafes e<strong>in</strong>tritt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en lebenden Organismus<br />

zurücklässt. Mit jedem Erwachen<br />

ereignet sich das umgekehrte: Das<br />

Seelisch-Geistige ergreift se<strong>in</strong>en Leib. E<strong>in</strong>schlafen<br />

o<strong>der</strong> auch das Aufwachen markieren<br />

<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne die Grenze zwischen<br />

dem seelisch-geistigen Wesen <strong>und</strong><br />

dem lebendigen Organismus.<br />

Schließlich gibt es e<strong>in</strong> noch kle<strong>in</strong>eres<br />

seelisch-geistiges E<strong>in</strong>schlafen <strong>und</strong> Aufwachen:<br />

Der uns gegenübertretende Mensch<br />

kann geistesanwesend o<strong>der</strong> auch geistesabwesend<br />

wirken. Trotzdem er augensche<strong>in</strong>lich<br />

wach ersche<strong>in</strong>t, muss er nicht<br />

<strong>in</strong> demselben S<strong>in</strong>ne als geistig anwesend<br />

erlebt werden. E<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne „geistesabwesen<strong>der</strong>“<br />

Mensch kann augenblicklich<br />

bei entsprechen<strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

se<strong>in</strong>e unmittelbare Präsenz <strong>und</strong> Geistesgegenwart<br />

entwickeln. Dieses kle<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schlafen<br />

o<strong>der</strong> auch Aufwachen unserer<br />

geistigen Persönlichkeit weist als Schwellenerlebnis<br />

auf die Differenzierung zwi-


Vier Ebenen im Krankheitsbegriff am Beispiel <strong>der</strong> koronaren Herzerkrankung<br />

schen dem seelischen Wesen des Menschen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> geistigen Individualität.<br />

Vier Ebenen im Krankheitsbegriff<br />

am Beispiel <strong>der</strong><br />

koronaren Herzerkrankung<br />

Aus dem beschriebenen Menschenverständnis<br />

lassen sich die Aspekte h<strong>in</strong>sichtlich<br />

des Krankheitsbegriffes entwickeln.<br />

Die Koronare Herzerkrankung (KHK)<br />

wird <strong>in</strong> ihrer typischen kl<strong>in</strong>ischen Symptomatik<br />

auf e<strong>in</strong>en koronar-morphologischen<br />

Bef<strong>und</strong> bezogen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stenosierung<br />

<strong>der</strong> Koronargefäße bestehen kann<br />

<strong>und</strong> durch die Koronarangiographie objektivierbar<br />

ist. Es handelt sich hier um<br />

die <strong>in</strong> die Räumlichkeit projizierte Manifestation<br />

<strong>der</strong> KHK, um die Ebene des<br />

quantifizierbaren Bef<strong>und</strong>es. Von dieser<br />

räumlichen Gestalt <strong>der</strong> Erkrankung ist als<br />

zweite Ebene ihre zeitliche Dimension,<br />

zeitliche Gestalt abzugrenzen. Je<strong>der</strong> augenblicksartig<br />

feststellbare koronarmorphologische<br />

Bef<strong>und</strong> ist Ergebnis e<strong>in</strong>es verursachenden<br />

Krankheitsprozesses, <strong>der</strong><br />

sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit entwickelt <strong>und</strong> demzufolge<br />

nicht durch den augenblicksartig herausgegriffenen,<br />

momentanen Krankheitsbef<strong>und</strong><br />

beschrieben werden kann.<br />

Im Falle <strong>der</strong> KHK lassen sich e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />

von Phänomenen dieses Krankheitsprozesses<br />

zusammenfassen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er chronischen,<br />

zur Atherosklerose führenden Entzündung.<br />

Dabei handelt es sich nicht um<br />

das akute fiebrig-durchwärmende entzündliche<br />

Geschehen, son<strong>der</strong>n um den<br />

hierzu polaren, <strong>in</strong> die Sklerose führenden<br />

Krankheitsprozess.<br />

Für e<strong>in</strong>e umfassende Beschreibung <strong>der</strong><br />

Erkrankung ist die dritte, seelische Ebene<br />

e<strong>in</strong>zubeziehen. E<strong>in</strong>e Vielzahl seelischer<br />

E<strong>in</strong>flussfaktoren ist hier für die KHK<br />

herausgearbeitet worden [Rozanski et al.<br />

2004; Rosengren et al. 2004]. Angst, Depressivität<br />

gehen genauso mit e<strong>in</strong>er Risikoerhöhung<br />

e<strong>in</strong>her wie soziale Isolation<br />

<strong>und</strong> biografische Perspektivlosigkeit. Therapeutische<br />

Verfahren, die sich schwerpunktmäßig<br />

nicht auf e<strong>in</strong>e pharmakologische<br />

Intervention im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er pathogenetischen<br />

Vorstellungsweise beziehen,<br />

son<strong>der</strong>n salutogenetische Ressourcen des<br />

Erkrankten mobilisieren im S<strong>in</strong>ne von<br />

Verän<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> Verwandlung dieses seelischen<br />

Feldes, führen – zwischenzeitlich<br />

gut dokumentiert – zu e<strong>in</strong>er annähernd<br />

vergleichbaren Wirksamkeit [Kolenda<br />

2003]. In den Schwerpunktsetzungen <strong>und</strong><br />

den therapeutischen „Strategien“ bezüglich<br />

<strong>der</strong> KHK wird gegenwärtig sowohl auf<br />

<strong>der</strong> Angebotsseite wie auch h<strong>in</strong>sichtlich<br />

<strong>der</strong> Erstattung e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong> pathogenetisch<br />

orientierter Therapieansatz <strong>und</strong><br />

nicht <strong>in</strong> vergleichbarem Ausmaß e<strong>in</strong> salutogenetisch<br />

orientierter favorisiert.<br />

Medikamentöse Therapiestrategien<br />

können e<strong>in</strong>e Regression <strong>der</strong> Erkrankung<br />

<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gere Ausprägungsgrade erreichen.<br />

Sie führen damit die Krankheit vergleichsweise<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> vergangenes, <strong>der</strong> jetzigen<br />

Manifestation vorausgehendes Erkrankungsstadium<br />

zurück. Der pathogenetisch<br />

orientierte Therapieansatz ersche<strong>in</strong>t<br />

unter diesem Aspekt „vergangenheitsorientiert“.<br />

Ihm steht <strong>der</strong> salutogenetische<br />

Therapieansatz gegenüber, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwandlung<br />

des Lebensstils <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren<br />

seelisch-geistigen Konstitution den<br />

81


82<br />

Patienten zum aktiven Mitgestalter im<br />

Ges<strong>und</strong>ungsprozess werden lässt <strong>und</strong> ihn<br />

als sich entwickelndes, zukunftsfähiges<br />

Wesen e<strong>in</strong>bezieht. Bei kaum e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en<br />

Erkrankung ist es nach <strong>der</strong> vorliegenden<br />

Studienlage gelungen, die durchaus<br />

vergleichbare Wirksamkeit bei<strong>der</strong> therapeutischer<br />

Vorgehensweisen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sek<strong>und</strong>ärprävention<br />

zu dokumentieren [Kolenda<br />

2003]. Die pathogenetisch orientierte<br />

Therapie fokussiert E<strong>in</strong>flussgrößen<br />

<strong>und</strong> Risikofaktoren <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> ihrer<br />

Wirkung als kausal e<strong>in</strong>gestufte „causa<br />

externa“ [Virchow]. Das salutogenetische<br />

Therapiekonzept setzt demgegenüber an<br />

denjenigen Kräften <strong>und</strong> Ressourcen des<br />

Menschen an, die als krankheits-überw<strong>in</strong>dende,<br />

heilende Kräfte gekennzeichnet<br />

werden können. „Das Heilen besteht<br />

eben dar<strong>in</strong>, dass man dasjenige, was im<br />

Organismus als ursprüngliche Heilkraft<br />

schon vorhanden ist, durch äußere Mittel<br />

unterstützt“ [Ste<strong>in</strong>er 1998].<br />

Durch die <strong>in</strong>nere Aktivität, die im S<strong>in</strong>ne<br />

<strong>der</strong> Mitgestaltung am Ges<strong>und</strong>ungsprozess<br />

von dem Erkrankten aufgerufen werden<br />

kann, wird auf die vierte Ebene<br />

gewiesen. Es ist diejenige <strong>der</strong> Individualität,<br />

des geistigen Wesens des Menschen.<br />

Je mehr <strong>der</strong>en Wirksamkeit sich nicht<br />

entfalten kann, je mehr e<strong>in</strong>e stressbeladene<br />

Lebensgestaltung e<strong>in</strong> von äußeren Faktoren<br />

gestaltetes, rollenartiges Funktionieren<br />

anstelle e<strong>in</strong>er durch die Persönlichkeit<br />

aktiv ergriffenen Lebensführung<br />

tritt, um so mehr kann sich <strong>in</strong> vieler<br />

Beziehung Krankheit entwickeln. Diese<br />

wird damit als e<strong>in</strong>geschränkte Zukunftsperspektive<br />

des Menschen charakterisierbar,<br />

Heilung im umgekehrten S<strong>in</strong>ne <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Eroberung e<strong>in</strong>er erneuten Zukunftsoffenheit<br />

(s. Beitrag Schad <strong>in</strong> diesem Heft). Zu<br />

e<strong>in</strong>em umfassenden Verständnis <strong>der</strong><br />

Krankheit gehört somit <strong>der</strong> Blick auf die<br />

Individualität des Erkrankten. Dieser<br />

kann sich durch die charakterisierten vier<br />

Aspekte se<strong>in</strong>es Erkrankens als gesamthaft<br />

wahrgenommen erfahren. Es entsteht<br />

hierdurch e<strong>in</strong>e vertiefte Qualität im Zusammenwirken<br />

von Patient <strong>und</strong> Arzt, die<br />

ausgehend von e<strong>in</strong>er Begegnung zu e<strong>in</strong>er<br />

therapeutischen Beziehung gestaltet werden<br />

kann.<br />

Vier Ebenen im Therapiekonzept<br />

am Beispiel <strong>der</strong><br />

Krebserkrankung<br />

Die charakterisierten vier Ebenen im<br />

Krankheitsverständnis begründen e<strong>in</strong>en<br />

vierfachen therapeutischen Zugang zum<br />

erkrankten Menschen. E<strong>in</strong> für die anthroposophische<br />

<strong>Mediz<strong>in</strong></strong> wesentliches Beispiel<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Zusammenhang die<br />

onkologischen Erkrankungen.<br />

Ergibt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> bildgebenden Diagnostik<br />

<strong>und</strong> nachfolgenden Stanzbiopsie<br />

die Diagnose e<strong>in</strong>es Mammakarz<strong>in</strong>oms, so<br />

ist damit die erste bef<strong>und</strong>orientierte <strong>und</strong><br />

auf die räumliche Ebene bezogene Krankheitsmanifestation<br />

beschrieben. Sie kann<br />

entsprechend <strong>der</strong> operativen Intervention<br />

zugeführt werden.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus stellt sich diese Manifestation<br />

e<strong>in</strong>es Mammakarz<strong>in</strong>oms <strong>in</strong> die<br />

zeitliche Dimension des Krankheitsprozesses.<br />

Nimmt man e<strong>in</strong>e Tumorgröße von<br />

1 cm an, so ergibt sich bei e<strong>in</strong>er modellartig<br />

vorausgesetzten durchschnittlichen


Vier Ebenen im Therapiekonzept am Beispiel <strong>der</strong> Krebserkrankung<br />

Tumorverdoppelungszeit von 100 Tagen<br />

(die diesbezüglichen Grenzwerte werden<br />

mit 23 <strong>und</strong> 209 Tagen beschrieben [Meuret<br />

1995]) e<strong>in</strong>e Entwicklungszeit dieses<br />

Tumors von ca. 10 Jahren. E<strong>in</strong> langer Abschnitt<br />

menschlicher Biografie mit vielen<br />

letztlich noch unbekannten E<strong>in</strong>flussfaktoren<br />

h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Tumorerkrankung<br />

hat sich <strong>in</strong> den Organismus e<strong>in</strong>geschrieben.<br />

E<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Bedeutung sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong><br />

diesem Zusammenhang den entzündlichen<br />

Erkrankungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anamnese<br />

zuzukommen. Seit ca. 100 Jahren wird<br />

verschiedentlich – so auch von Ste<strong>in</strong>er –<br />

auf die Gegenläufigkeit von Entzündung<br />

<strong>und</strong> maligner Erkrankung h<strong>in</strong>gewiesen<br />

[Albonico 1998; Becker et al.]. Auch die<br />

kürzlich beschriebene Assoziation <strong>der</strong><br />

antibiotischen Therapie mit dem Mammakarz<strong>in</strong>om-Risiko<br />

sche<strong>in</strong>t auf diesen<br />

Zusammenhang zu weisen [Velicier et al.<br />

2004]. Diesen Gedanken zugr<strong>und</strong>e gelegt,<br />

ersche<strong>in</strong>en die Erkrankungen des Patienten<br />

nicht als e<strong>in</strong>e akzidentelle <strong>und</strong> zufällig<br />

entstandene Reihe von korrekturbedürftigen<br />

„Fehlfunktionen“, son<strong>der</strong>n<br />

sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren, die Biografie<br />

des Menschen zeitlich umfassenden<br />

Zusammenhang zu stehen. Offenbar ist es<br />

nicht gleichgültig, wie fieberhafte Erkrankungen<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheit <strong>und</strong><br />

ersten Lebenshälfte durchgemacht werden<br />

h<strong>in</strong>sichtlich des Auftretens von malignen<br />

Erkrankungen im späteren Leben.<br />

Auch hier sche<strong>in</strong>t die zweifelsohne lästige<br />

<strong>und</strong> z.T. auch durch mögliche Komplikationen<br />

belastete febril-entzündliche Erkrankung<br />

ihren salutogenetischen Aspekt<br />

zu dokumentieren. Wirksame Maßnahmen<br />

<strong>der</strong> Infekt-„Bekämpfung“ müssen<br />

vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> nicht gleichermaßen<br />

die nachhaltig wirksamen therapeutischen<br />

Vorgehensweisen se<strong>in</strong>. Kienle<br />

hat vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> schon früh<br />

zwischen Wirkung im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es akut<br />

e<strong>in</strong>tretenden Effektes <strong>und</strong> <strong>der</strong> längerfristigen<br />

Wirksamkeit unterschieden [Kienle<br />

1974].<br />

Die Gegenläufigkeit von Entzündung<br />

<strong>und</strong> maligner Erkrankung erschließt sich<br />

dem prozessualen Krankheitsverständnis.<br />

Das Karz<strong>in</strong>om als epitheliale Neoplasie<br />

entwickelt sich an Oberflächenstrukturen<br />

des Organismus. Diese können selbstverständlich<br />

als e<strong>in</strong>gestülpte Oberflächen<br />

wie beispielsweise <strong>in</strong> den exokr<strong>in</strong>en Drüsen<br />

<strong>der</strong> Mamma o<strong>der</strong> auch des Gastro<strong>in</strong>test<strong>in</strong>altraktes<br />

ersche<strong>in</strong>en. Von diesen<br />

oberflächlichen Strukturen ausgehend,<br />

entwickelt sich das Karz<strong>in</strong>om im S<strong>in</strong>ne<br />

<strong>der</strong> malignen Infiltration mit Durchbrechung<br />

<strong>der</strong> Basalmembran <strong>und</strong> Infiltration<br />

<strong>in</strong> das umgebende Gewebe <strong>und</strong> schließlich<br />

lymphogener als auch hämatogener<br />

Metastasierung vergleichsweise nach<br />

<strong>in</strong>nen, nach zentripetal. Die umgekehrte<br />

Krankheitsausrichtung f<strong>in</strong>det sich bei <strong>der</strong><br />

Entzündung. Kommt es hier zu e<strong>in</strong>em<br />

ebenfalls an <strong>der</strong> Oberfläche des menschlichen<br />

Organismus sich ausbildenden<br />

Entzündungsprozesses, so weist dessen<br />

Dynamik zentrifugal nach außen, <strong>in</strong>dem<br />

beispielsweise e<strong>in</strong> Fremdkörper dieser Dynamik<br />

folgend den Weg nach außen f<strong>in</strong>den<br />

kann. Im Falle e<strong>in</strong>es ungenügenden<br />

zentrifugalen Krankheitsprozesses kommt<br />

es zu e<strong>in</strong>er Abgrenzung vom Organismus<br />

durch die E<strong>in</strong>kapselung im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong><br />

Fremdkörperreaktion. Auch an diesem<br />

Beispiel prozessualer Krankheitsbetrach-<br />

83


84<br />

tung zeigt sich <strong>der</strong> Gegensatz von Entzündung<br />

<strong>und</strong> Karz<strong>in</strong>om. Hier setzt nun e<strong>in</strong><br />

weiteres Therapiepr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>. Rudolf Ste<strong>in</strong>er<br />

hat für die Therapie onkologischer<br />

Erkrankungen die Anwendung von Mistelextrakten<br />

<strong>in</strong> spezieller Zubereitung<br />

empfohlen. Therapeutische Zielsetzung<br />

ist bei dieser Vorgehensweise die Unterstützung<br />

<strong>der</strong> entzündungsverwandten,<br />

salutogenetischen Reaktionsweise des<br />

Menschen. Die zwischenzeitlich verschiedentlich<br />

dokumentierten <strong>in</strong>flammatorischen,<br />

immunstimulierenden o<strong>der</strong> auch<br />

immunmodulierenden Wirkungen wie<br />

auch die Möglichkeit <strong>der</strong> Apoptose<strong>in</strong>duktion<br />

<strong>und</strong> Hemmung <strong>der</strong> Neoangiogenese<br />

ordnen sich als Detailphänomene dem<br />

gesamthaft begriffenen Wirkungsspektrum<br />

<strong>der</strong> Mistel e<strong>in</strong> [Kienle et al. 2003].<br />

Die zu dieser Therapieform vorliegende<br />

Studienlage ist entsprechend <strong>der</strong> Metaanalyse<br />

von Kienle <strong>und</strong> Kiene nachstehend<br />

aufgeführt (s. Tab. 1).<br />

Der Krankheitsprozess kann selbstverständlich<br />

auch <strong>in</strong>hibitorisch supprimiert<br />

werden. Dieser Therapieansatz liegt <strong>der</strong><br />

Anwendung <strong>der</strong> zytotoxischen Substanzen<br />

im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> <strong>in</strong> neoadjuvanter, adjuvanter<br />

o<strong>der</strong> palliativer Indikation e<strong>in</strong>gesetzten<br />

Chemotherapie zugr<strong>und</strong>e. Auf die<br />

Bewertung dieser Therapieform beziehen<br />

sich zahlreiche Patientenfragen. Ähnlich<br />

wie es für die Misteltherapie gilt, ist auch<br />

hier e<strong>in</strong>e klare Bewertung von Grenzen<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten, die sich vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

unterschiedlicher Tumorentitäten<br />

ganz verschieden darstellen, erfor<strong>der</strong>lich.<br />

Der Patient hat das Recht auf die<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen ärztlichen<br />

Urteilskraft, die aus e<strong>in</strong>er leitl<strong>in</strong>ien-<br />

Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

geführten <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> mit ihm zusammen<br />

die Individualisierung <strong>der</strong> therapeutischen<br />

Maßnahme entwickelt. Vor diesem<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> können Verbesserungen des<br />

„over all survivals“ nach 10 Jahren bei<br />

adjuvanter Therapie bei Mammakarz<strong>in</strong>om<br />

bei unter 50-jährigen Patient<strong>in</strong>nen<br />

zwischen 7% <strong>und</strong> 11% <strong>und</strong> über 50-jährigen<br />

Patient<strong>in</strong>nen zwischen 2% <strong>und</strong> 3%<br />

e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e beachtliche Zahl von geretteten<br />

Menschenleben (von 100 erkrankten<br />

<strong>und</strong> behandelten Frauen s<strong>in</strong>d es z.B.<br />

11) bedeuten, an<strong>der</strong>erseits aber auch die<br />

große Anzahl vergeblich behandelter<br />

Patient<strong>in</strong>nen verdeutlichen, die nahezu<br />

90% erreicht (Multi-agent chemotherapie<br />

for early breast cancer) [Cochrane Review<br />

2002]. Der pathogenetisch orientierte<br />

Therapieansatz wird auch unter dem<br />

anthroposophischen Menschenverständnis<br />

nicht abgelehnt. Die chemotherapieassoziierten<br />

Nebenwirkungen <strong>und</strong> auch<br />

das Cancer fatigue-Syndrom können, wie<br />

kürzlich gezeigt, positiv durch die ergänzend<br />

durchgeführte Misteltherapie bee<strong>in</strong>flusst<br />

werden [Piao et al. 2004].<br />

Die seelische Ebene <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erkrankung<br />

leitet auf e<strong>in</strong>en dritten therapeutischen<br />

Schwerpunkt über. Obgleich es nicht<br />

möglich ist, vere<strong>in</strong>fachend <strong>und</strong> über die<br />

verschiedensten Tumorentitäten h<strong>in</strong>weg<br />

verallgeme<strong>in</strong>ernd von e<strong>in</strong>er „Krebspsyche“<br />

zu sprechen, so werden doch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

täglichen Begegnung mit onkologischen<br />

Patienten Beson<strong>der</strong>heiten <strong>in</strong> ihrem seelischen<br />

Wesen beobachtbar. Sicher ist es<br />

schwer, zwischen reaktiven Verän<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong><br />

Tumorerkrankung <strong>und</strong> vorbestehenden<br />

Beson<strong>der</strong>heiten im Seelischen des Men-


Vier Ebenen im Therapiekonzept am Beispiel <strong>der</strong> Krebserkrankung<br />

Tab. 1: Kl<strong>in</strong>ische Studien zur Misteltherapie [nach: Kienle GS, Berr<strong>in</strong>o F, Buss<strong>in</strong>g A, Portalupi<br />

E, Rosenzweig S, Kiene H. Mistletoe <strong>in</strong> cancer – a systematic review on controlled cl<strong>in</strong>ical<br />

trials. Eur J Med Res (2003) 8, 109–119]<br />

Autor Ergebnis Qualitätskriterien erfüllt<br />

Studien mit anthroposophischen Mistelpräparaten<br />

A) B) C) D) E) F) G) H) I) J) K) Pat.zahl<br />

Grossarth 2001 signifikant + + - (-) + + + (-) + + - 34 0%<br />

Dold 1991 trend, trend,<br />

signifikant<br />

+ + - - + (-) + (+) + + (-) 337 17%<br />

Grossarth 2001 signifikant + + - (-) + (-) + (-) + + - 78 20%<br />

Salzer 1991 trend + (+) - (-) (+) (-) + (+) (+) + - 210 16%<br />

Douwes 1986 trend + - - (-) + + + + - (+) - 60 0%<br />

Gutsch 1988 signifikant + - - (-) + (-) + + (+) + - 677 20%<br />

Jach 1999 trend + - - (-) + + + (+) (-) (-) - 60 0%<br />

Salzer 1979, 1983 signifikant + - - (-) + - + + (+) (+) - 137 57%<br />

Salzer 1987 trend + (+) - (-) + - + - - - - 50 48%<br />

Eggermont 2001 trend + - - (-) (-) (-) (+) - - - (+) k.A. 3 k.A. 4<br />

(1:21)<br />

Studien mit nicht-anthroposophischen Mistelpräparaten<br />

Steuer-Vogt 2001 ke<strong>in</strong> Effekt + (+) - + + (-) + + + (+) (+) 477 29%<br />

Goebell 2002 ke<strong>in</strong> Effekt + - - (+) + + + (+) + + - 45 2%<br />

He<strong>in</strong>y 1991 signifikant + - (-) (-) + (+) + (+) + + - 40 13%<br />

He<strong>in</strong>y 1997 signifikant,<br />

ke<strong>in</strong> Effekt<br />

+ - - (-) + - + + (+) (+) - 79 26%<br />

Lenartz 1996, signifikant + - - (-) + - + - (+) (+) - 35 26%<br />

2000<br />

(38)<br />

Br<strong>in</strong>kmann 2000 ke<strong>in</strong> Effekt2 + k.A. - k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. 176 k.A.<br />

A: Schutz vor Selektionsbias, vor allem durch adäquate Randomisation<br />

B: M<strong>in</strong>imierung <strong>der</strong> Heterogenität durch Prästratifikation o<strong>der</strong> Match<strong>in</strong>g<br />

C: Schutz vor Beobachterbias durch Verbl<strong>in</strong>dung des Patienten, Arztes <strong>und</strong> Untersuchers<br />

D: Schutz vor Behandlungsbias durch Standardisierung des Behandlungsprotokolls, Dokumentation aller Ko-Interventionen, Verbl<strong>in</strong>dung<br />

von Patient <strong>und</strong> Arzt<br />

E: Schutz vor Untersuchungs(detection)bias durch Standardisierung <strong>der</strong> Untersuchung<br />

F: Schutz vor Attrition Bias: (Verlustbias) verlorenen Patienten


86<br />

schen zu unterscheiden, die e<strong>in</strong>e zur<br />

Erkrankung h<strong>in</strong>führende Bedeutung haben.<br />

Die Bedeutung seelischer Faktoren<br />

für die Krebskrankheit wird seit langer<br />

Zeit immer wie<strong>der</strong> erwähnt. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

fasste es <strong>der</strong> Londoner Chirurg<br />

Sir James Paget <strong>in</strong> die folgenden Worte:<br />

„Die Fälle, bei denen es nach tiefen Ängsten,<br />

unerfüllten Hoffnungen <strong>und</strong> großen<br />

Enttäuschungen zum Auftreten o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Verschlimmerung e<strong>in</strong>er Krebserkrankung<br />

kommt, s<strong>in</strong>d so häufig, dass wir kaum<br />

Zweifel hegen können, dass die seelische<br />

Depression zu jenen E<strong>in</strong>flüssen gehört,<br />

die das Entstehen des Krebszustandes för<strong>der</strong>n“<br />

[LeShan 2000]. Wesentliche weitere<br />

Beobachtungen stammen von Lawrence<br />

LeShan. Von den zahlreichen nachfolgenden<br />

Arbeiten sei <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die von<br />

Brenda et al. [1998] herausgehoben, die<br />

bei prospektivem Studiendesign e<strong>in</strong>e<br />

erhöhte Inzidenz von Krebserkrankungen<br />

bei alten Menschen mit zurückliegen<strong>der</strong>,<br />

mehrjähriger depressiver Stimmungslage<br />

gef<strong>und</strong>en hat.<br />

Das seelische Erleben des Menschen<br />

kann im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Atmungsprozesses<br />

verstanden werden. Die rezeptive Seelenhaltung<br />

entspricht dabei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>atmenden<br />

Geste, während die expressive, sich<br />

nach außen wendende seelische Aktivität<br />

durch e<strong>in</strong>e seelische „Ausatmung“ charakterisiert<br />

ist. Für jeden <strong>in</strong>dividuellen<br />

Menschen sche<strong>in</strong>t es e<strong>in</strong>e unterschiedliche<br />

„Atemmittellage“ zu geben, die e<strong>in</strong>mal<br />

mehr die E<strong>in</strong>atmung, das an<strong>der</strong>e Mal<br />

die Ausatmung betont. In manchen<br />

Patientenbegegnungen kann <strong>der</strong> oftmals<br />

<strong>und</strong> von Erkrankten bestätigte E<strong>in</strong>druck<br />

e<strong>in</strong>er vermehrten seelischen E<strong>in</strong>atmung<br />

Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

entstehen. Vieles wird seelisch aufgenommen<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> das Innere geführt <strong>und</strong> nur<br />

weniges <strong>in</strong> die emotional expressive Ausatmung<br />

geleitet. Auch hier sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong><br />

krebserkrankte Mensch e<strong>in</strong>e dem Krankheitsprozess<br />

entsprechende nach <strong>in</strong>nen<br />

<strong>und</strong> zentripetal weisende Geste zu entwickeln,<br />

<strong>der</strong> die seelische „Enzündungsfähigkeit“<br />

als zentrifugale Qualität nicht <strong>in</strong><br />

gleicher Weise gegenübersteht. In diesem<br />

S<strong>in</strong>ne lässt sich auf mehreren Ebenen <strong>der</strong><br />

konstitutionellen Charakterisierung die<br />

aufnehmende, wahrnehmende <strong>und</strong> hier<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>nesorgan vergleichbare<br />

Qualität f<strong>in</strong>den. Ste<strong>in</strong>er charakterisiert die<br />

Krebserkrankung als „S<strong>in</strong>nesorganbildetendenz<br />

am falschen Ort“ [Ste<strong>in</strong>er 1994]<br />

<strong>und</strong> damit als e<strong>in</strong>en Prozess, <strong>der</strong> mit dem<br />

Dargestellten <strong>in</strong> Zusammenhang steht.<br />

Die künstlerischen Therapien <strong>der</strong><br />

Anthroposophischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> die<br />

Bewegungstherapie <strong>der</strong> Heileurythmie<br />

können auch auf dieser <strong>in</strong>neren Ebene<br />

<strong>der</strong> Krebserkrankung ansetzen <strong>und</strong> den<br />

Erkrankten zum Mitgestalter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Therapieverlauf e<strong>in</strong>beziehen. Besteht beispielsweise<br />

e<strong>in</strong>e wie hüllenlos imponierende<br />

Seelengeste, so können hüllebildende<br />

<strong>und</strong> den Patienten zu se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren<br />

Wesen führende therapeutische<br />

Bewegungen <strong>der</strong> Heileurythmie als Hilfestellung<br />

erlebt werden. Viele weitere Indikationen<br />

schließen sich gerade auf diese<br />

Therapieform bezogen für die Krebserkrankung<br />

an. Als e<strong>in</strong>drucksvoll <strong>und</strong> von<br />

den Patienten als ausgesprochen hilfreich<br />

e<strong>in</strong>gestuft wird die Maltherapie erlebt. In<br />

dem diagnostischen Erstbild (s. Abb. 5)<br />

zeigen sich <strong>in</strong> verschiedener Gestaltung<br />

die Dynamik e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>nerlich erschütter-


Vier Ebenen im Therapiekonzept am Beispiel <strong>der</strong> Krebserkrankung<br />

Abb. 5: AnthroposophischeKunsttherapie<br />

(Maltherapie):<br />

Erstbild e<strong>in</strong>er<br />

Patient<strong>in</strong> mit Mammakarz<strong>in</strong>om<br />

ten Seelenlebens. Durch e<strong>in</strong>en längeren,<br />

therapiebegleitenden Prozess können hier<br />

neue, Perspektiven öffnende Ebenen<br />

erobert werden, die – wie <strong>in</strong> Abbildung 6<br />

<strong>der</strong> gleichen Patient<strong>in</strong> mit Mammakarz<strong>in</strong>om<br />

erkennbar – zu e<strong>in</strong>er aufkeimenden<br />

pflanzenähnlichen Gestaltung führen,<br />

die sich dem lichterfüllten Umraum<br />

zuwendet. Die Wirksamkeit anthroposophischer<br />

Kunsttherapie bei unterschiedlichen<br />

Erkrankungen konnte <strong>in</strong> <strong>der</strong> sog.<br />

Amos-Studie dokumentiert werden [Hamre<br />

et al. 2004].<br />

Die vierte Therapieebene bezieht sich<br />

auf die unmittelbare Begegnung im<br />

Gespräch mit dem erkrankten Menschen.<br />

Unterschiedliche Themenschwerpunkte<br />

können hier <strong>in</strong>haltlich aufgegriffen werden.<br />

Zu ihnen gehören die Stellung <strong>der</strong><br />

Erkrankung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Biografie <strong>und</strong> ebenso<br />

die Möglichkeiten, die sich als „Ergebnis“<br />

<strong>und</strong> „Frucht“ <strong>der</strong> Erkrankung entwickeln.<br />

87


88<br />

Krankheit kann nicht nur als Ergebnis<br />

e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> die Vergangenheit weisenden<br />

Prozesses verstanden werden, son<strong>der</strong>n<br />

ebenso im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er „Geburtswehe“,<br />

die den Menschen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Entwicklung<br />

auf e<strong>in</strong>e neue Stufe <strong>und</strong> Entfaltungsmöglichkeit<br />

hebt. In diesem Zusammenhang<br />

s<strong>in</strong>d diejenigen Äußerungen von bereits<br />

schwer erkrankten Patienten e<strong>in</strong>drücklich,<br />

die von e<strong>in</strong>em Dank gegenüber ihrer<br />

Erkrankung berichten. In <strong>der</strong>artigen Ge-<br />

Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

Abb. 6: Bild <strong>der</strong><br />

Patient<strong>in</strong> im weiteren<br />

Therapieverlauf<br />

sprächen kann versucht werden, nicht<br />

nur auf die Schattenseiten <strong>der</strong> Krankheit<br />

zu blicken, son<strong>der</strong>n auch auf dasjenige<br />

Licht, auf das je<strong>der</strong> Schatten weist. Von<br />

manchen Patienten wird <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

die Frage nach e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren,<br />

meditativen Arbeit gestellt. Die <strong>in</strong>nere<br />

Stimmung, die <strong>in</strong> dem folgenden Gedicht<br />

von Christian Morgenstern als<br />

langjährig erkrankten Menschen beschrieben<br />

wird, kann zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren


Vier Ebenen im Therapiekonzept am Beispiel <strong>der</strong> Krebserkrankung<br />

Kraftquelle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewältigung mancher<br />

<strong>in</strong>nerer Herausfor<strong>der</strong>ung werden:<br />

Du Weisheit me<strong>in</strong>es höher’n Ich,<br />

Die über mir den Fittich spreitet<br />

Und mich von Anfang her geleitet<br />

Wie es am besten war für mich.<br />

Wenn Unmut oft mich anfocht – nun<br />

Es war <strong>der</strong> Unmut e<strong>in</strong>es Knaben,<br />

Des Mannes reife Blicke haben<br />

Die Kraft voll Dank auf Dir zu ruh’n.<br />

Durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Tätigkeit kann das<br />

ständige Grübeln <strong>und</strong> Kreisen <strong>der</strong> Gedanken<br />

um die immer wie<strong>der</strong>kehrenden Sorgen<br />

gelöst <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er tieferen Bes<strong>in</strong>nung<br />

zugeführt werden.<br />

Neben dieser meditativen Denktätigkeit<br />

kann e<strong>in</strong>e weitere Übung h<strong>in</strong>sichtlich<br />

<strong>der</strong> Willensentfaltung besprochen werden.<br />

Jedem Arzt ist die Bedeutung des<br />

<strong>in</strong>neren, positiven Willens für das Ges<strong>und</strong>en<br />

deutlich <strong>und</strong> vielfach erfahren worden.<br />

Nur zu gut er<strong>in</strong>nert man sich an diejenigen<br />

Augenblicke, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong> Patient<br />

die Entscheidung trifft, sich „aus dem<br />

Kämpfen zurückzuziehen“ mit <strong>der</strong> Folge<br />

rascher Verschlechterung <strong>und</strong> schließlich<br />

des Todesaugenblicks. Wesentlich ist e<strong>in</strong>e<br />

perspektivenerschließende, aber auch illusionsbefreite<br />

Gr<strong>und</strong>stimmung, die die<br />

weiteren Schritte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankheitsbewältigung<br />

begleitet.<br />

E<strong>in</strong> nächster Übungsschritt bezieht<br />

sich auf das Fühlen. Das Leben des krebserkrankten<br />

Menschen ist durch e<strong>in</strong>e meist<br />

<strong>in</strong>tensive Dynamik <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dungen<br />

<strong>und</strong> Gefühle gekennzeichnet, die zwischen<br />

Angst <strong>und</strong> Sorge, z.B. vor e<strong>in</strong>er<br />

nächst anstehenden Untersuchung e<strong>in</strong>es<br />

Restag<strong>in</strong>gs <strong>und</strong> Erleichterung <strong>und</strong> Hoffnung<br />

bei unauffälligen <strong>und</strong> erfreulichen<br />

Ergebnissen schwanken. Es ist e<strong>in</strong> ständiges<br />

Stehen an e<strong>in</strong>er Grenze, e<strong>in</strong>er vielfach<br />

als existenziell erlebten Bedrohung <strong>und</strong><br />

erfor<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e starke Kraft, sich die notwendige<br />

Besonnenheit erobern zu können.<br />

E<strong>in</strong> weiteres Übungsthema, das <strong>in</strong><br />

Gesprächen häufiger nachgefragt wird,<br />

bezieht sich auf das durch die Erkrankung<br />

o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erkrankung sich entwickelnde<br />

Positive. Manchmal ist es <strong>der</strong> glückliche<br />

Verlauf, <strong>der</strong> Kraft schenkt, manchmal die<br />

sich vertiefende Beziehung zum unmittelbaren<br />

menschlichen Umkreis, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

vorher nicht vergleichbaren Intensität<br />

entsteht, o<strong>der</strong> es s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>nerlich bemerkbare<br />

Entwicklungsschritte, die sich als<br />

Frucht <strong>der</strong> Erkrankung entwickeln.<br />

Schließlich verlangt die häufig anzutreffende<br />

Frage nach <strong>der</strong> Prognose im<br />

jeweiligen Erkrankungsstadium e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en<br />

Umgang im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er „Unbefangenheit“,<br />

die den <strong>in</strong>dividuellen Verlauf<br />

vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er statistisch<br />

zu erwartenden Lebenserwartung stellen<br />

kann.<br />

Es handelt sich bei diesen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

um „Übungsaufgaben“, die von<br />

Rudolf Ste<strong>in</strong>er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em umfassen<strong>der</strong>en<br />

Kontext als „Sechs Eigenschaften“ beschrieben<br />

worden s<strong>in</strong>d [Ste<strong>in</strong>er 1993].<br />

In diesem Themenkreis stellen sich<br />

selbstverständlich die Fragen von Sterben<br />

<strong>und</strong> Tod. Hier gilt es, an persönliche Auffassungen<br />

<strong>und</strong> Wertevorstellungen des<br />

Patienten anzuschließen <strong>und</strong> sie im geme<strong>in</strong>samen<br />

Gespräch zu reflektieren <strong>und</strong><br />

89


90<br />

ihnen mit den ärztlichen Erfahrungen<br />

e<strong>in</strong>er langjährigen Begleitung onkologisch<br />

erkrankter Patienten zu begegnen.<br />

Themen wie die Nahtod-Erfahrungen, die<br />

<strong>in</strong> mehreren Patientengesprächen patientenseits<br />

berichtet werden konnten o<strong>der</strong><br />

auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> beachtenswerten Studie von<br />

Lommel [Lommel 2001] untersucht worden<br />

s<strong>in</strong>d, helfen, weitere Perspektiven <strong>der</strong><br />

auch hier zukunftsfähigen menschlichen<br />

Individualität zu entwickeln. Vor dem<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> des charakterisierten Menschenverständnisses<br />

ist die ohne Frage<br />

bestehende Endlichkeit des körperlichen<br />

Se<strong>in</strong>s <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Fall zw<strong>in</strong>gend für e<strong>in</strong>e<br />

Endlichkeit des lebendigen, seelischen<br />

<strong>und</strong> geistigen Wesens des Menschen. Derartig<br />

unterschiedliche Se<strong>in</strong>sebenen haben<br />

ihre eigenen Entwicklungshorizonte. Erfasst<br />

man den Körper als Instrument, das<br />

<strong>der</strong> Individualität dient <strong>und</strong> sie zur Ersche<strong>in</strong>ung<br />

br<strong>in</strong>gt, so ist mit Wegfall dieses<br />

Instrumentes nicht von selbst auch se<strong>in</strong><br />

Benutzer aufgelöst. Vielmehr lässt sich<br />

<strong>der</strong> Gedanke e<strong>in</strong>er erneuten Verwirklichungsmöglichkeit<br />

mit e<strong>in</strong>em neuen<br />

Instrument denken, den Benjam<strong>in</strong> Frankl<strong>in</strong><br />

als 23-Jähriger für e<strong>in</strong>e Grab<strong>in</strong>schrift<br />

<strong>in</strong> die folgenden Worte fasst:<br />

„Hier ruht <strong>der</strong> Leib Benjam<strong>in</strong> Frankl<strong>in</strong>s,<br />

e<strong>in</strong>es Buchdruckers, als Speise für die<br />

Würmer, gleich dem Deckel e<strong>in</strong>es alten<br />

Buches, aus dem <strong>der</strong> Inhalt herausgenommen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> se<strong>in</strong>er Inschrift <strong>und</strong> Vergoldung<br />

beraubt ist … Doch wird das Werk<br />

selbst nicht verloren se<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>-<br />

Menschenverständnis – Anthroposophische <strong>Mediz<strong>in</strong></strong><br />

male<strong>in</strong>st wie<strong>der</strong> ersche<strong>in</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neueren<br />

schöneren Ausgabe, durchgesehen<br />

<strong>und</strong> verbessert von dem Verfasser“ [Bock<br />

1981].<br />

Entwicklung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankheit<br />

Barlach hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em „Geisteskämpfer“<br />

(s. Abb. 7) e<strong>in</strong>e Plastik geschaffen, die <strong>in</strong><br />

künstlerischer Form die krankheitsüberw<strong>in</strong>denden<br />

Kräfte des Menschen zum<br />

Ausdruck br<strong>in</strong>gt. Das noch nicht Menschliche,<br />

son<strong>der</strong>n „Tierverwandte“ wird<br />

durch die engelsartige Gestalt nicht<br />

kämpferisch überw<strong>und</strong>en, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er ruhigen Gebärde, <strong>der</strong> jede Gewalt zu<br />

fehlen sche<strong>in</strong>t, verwandelt.<br />

Die <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>der</strong> Gegenwart hat<br />

gelernt, Krankheit zu supprimieren, zu<br />

„blocken“ o<strong>der</strong> auch zu antagonisieren,<br />

aber nicht zu verwandeln. In den salutogenetischen<br />

Kräften <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

mit <strong>der</strong> Krankheit kann <strong>der</strong> Mensch<br />

im Leiblichen, Seelischen <strong>und</strong> Geistigen<br />

verwandelnde Kräfte entfalten <strong>und</strong><br />

dadurch e<strong>in</strong>en neuen Schritt auf dem Entwicklungsweg<br />

<strong>der</strong> Individualität erobern.<br />

Krankheit stellt sich vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en engen Zusammenhang<br />

zur geistigen Wesenheit des Menschen,<br />

se<strong>in</strong>er Entelechie. Auf diesen weist Novalis<br />

mit den Worten: „Das Ideal e<strong>in</strong>er vollkommenen<br />

Ges<strong>und</strong>heit ist nur wissenschaftlich<br />

<strong>in</strong>teressant, Krankheit gehört<br />

zur Individualisierung“ [Novalis 1983].


Literatur<br />

Abb. 7: Ernst Barlach,<br />

Der Geisteskämpfer<br />

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Welches Menschenverständnis leitet e<strong>in</strong>e<br />

komplementärmediz<strong>in</strong>ische Therapie – Homöopathie?<br />

Roland Baur<br />

Vom Veranstalter des Symposiums wurde<br />

zunächst <strong>der</strong> Begriff „<strong>Menschenbild</strong>“<br />

durch den Begriff „Menschenverständnis“<br />

ausgetauscht (Der Begriff <strong>Menschenbild</strong><br />

sei eher irreführend.). Des Weiteren<br />

wurde das Thema enger gefasst dadurch,<br />

dass das Verständnis vom Menschen an<br />

vier Punkten darzustellen sei:<br />

D am Krankheitsverständnis<br />

D an den Konsequenzen für diagnostisches<br />

<strong>und</strong> therapeutisches Handeln<br />

D an den unabd<strong>in</strong>gbaren Gr<strong>und</strong>lagen<br />

für e<strong>in</strong>e Verständigung mit dem<br />

Patienten<br />

D <strong>und</strong> zuletzt an den unabd<strong>in</strong>gbaren<br />

Gr<strong>und</strong>lagen für e<strong>in</strong>en gelungenen<br />

Dialog zwischen unterschiedlichen<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Systemen.<br />

Zunächst sollen – aus guten Gründen –<br />

die Gr<strong>und</strong>lagen für e<strong>in</strong>e Verständigung<br />

mit dem Patienten <strong>und</strong> die Konsequenzen<br />

für diagnostisch-therapeutisches Vorgehen<br />

erörtert werden, bevor e<strong>in</strong>e Annäherung<br />

an das eigentliche Thema – Das<br />

Menschenverständnis <strong>der</strong> Homöopathie –<br />

erfolgt. Die Ausführungen beziehen sich<br />

im Wesentlichen auf Samuel Hahnemann<br />

(1755–1843), James Tyler Kent (1848–<br />

1916) <strong>und</strong> Edward Whitmont, e<strong>in</strong>em<br />

österreichisch-jüdischen homöopathischen<br />

Arzt <strong>und</strong> Psychotherapeuten, <strong>der</strong><br />

vor kurzem <strong>in</strong> Amerika verstarb.<br />

Wie sieht <strong>der</strong> Arzt den Patienten, wie<br />

<strong>der</strong> Patient den Arzt? (Wie <strong>der</strong> Mensch die<br />

Welt ansieht, so sieht die Welt ihn an<br />

[Hegel].) Aus <strong>der</strong> Begegnung des Arztes<br />

mit dem Patienten lassen sich erste Rückschlüsse<br />

auf das zugr<strong>und</strong>e liegende Menschenverständnis<br />

sowohl des Arztes als<br />

auch des Patienten wie auch auf die mediz<strong>in</strong>ische<br />

Methode ziehen. Ist <strong>der</strong> Patient<br />

K<strong>und</strong>e <strong>und</strong> König dazu? Ist <strong>der</strong> Arzt – <strong>in</strong>sgeheim<br />

vielleicht – ganz unbewusst Anhänger<br />

von Naunyn (1839–1925) „Mir ist<br />

sonnenklar, daß da, wo Wissenschaft<br />

(Naturwissenschaft) aufhört, nicht die<br />

Kunst anfängt, son<strong>der</strong>n rohe Empirie <strong>und</strong><br />

das Handwerk“ [Naunyn] o<strong>der</strong> von Virchow<br />

„Lebensersche<strong>in</strong>ungen, diese Tätigkeiten<br />

können nur mechanisch se<strong>in</strong>; vergeblich<br />

bemüht man sich, zwischen<br />

Leben <strong>und</strong> Mechanik e<strong>in</strong>en Gegensatz zu<br />

f<strong>in</strong>den“ (1858)? Sieht <strong>der</strong> Arzt den Menschen<br />

gar als Ebenbild Gottes, e<strong>in</strong>er z.B.<br />

biblischen Sicht folgend? Kommt die<br />

Krankheit von außen o<strong>der</strong> von <strong>in</strong>nen?<br />

O<strong>der</strong> sieht <strong>der</strong> Arzt den Patienten als leidenden<br />

Menschen, als Individuum, <strong>der</strong><br />

se<strong>in</strong>e Beschwerden berichten möchte, <strong>der</strong><br />

nach L<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>und</strong> Heilung sucht?<br />

Hahnemann sieht den Menschen<br />

dreigeglie<strong>der</strong>t. Diese Dreiglie<strong>der</strong>ung zeigt<br />

sich im kranken Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er körperlichen<br />

Symptomatik, e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en<br />

Symptomatik <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Geist- <strong>und</strong><br />

93


94<br />

Gemütssymptomatik. Um nun e<strong>in</strong> vollständiges<br />

Bild des Patienten <strong>und</strong> dessen<br />

Krankheit zu bekommen, s<strong>in</strong>d die Symptome<br />

nach § 7 Organon <strong>in</strong> ihrer Gesamtheit<br />

ausführlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anamnese zu erheben<br />

[Hahnemann]. Dazu gibt Hahnmann<br />

z.B. im § 83 ff. Organon genaue Anleitungen:<br />

„Unbefangenheit <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e S<strong>in</strong>ne,<br />

Aufmerksamkeit im Beobachten <strong>und</strong><br />

Treue im Aufzeichnen des Bildes <strong>der</strong><br />

Krankheit s<strong>in</strong>d vom Arzt gefor<strong>der</strong>t.“<br />

[Hahnemann] Die Anamnese ist die<br />

schwerste Arbeit des Arztes beim „Heben<br />

<strong>der</strong> Krankheit“ <strong>und</strong> gleichzeitig die wichtigste.<br />

Es ist die Kunst des Unterscheidens<br />

<strong>und</strong> für weiteres diagnostisches <strong>und</strong> vor<br />

allem therapeutisches Vorgehen Voraussetzung.<br />

Die Diagnostik, soweit notwendig,<br />

ist selbstverständlich.<br />

Bevor die Ausführungen zur Therapie<br />

erfolgen, die konsequenterweise <strong>in</strong>dividuell<br />

<strong>und</strong> nach Ähnlichkeitsbeziehungen zu<br />

erfolgen hat, sei unbed<strong>in</strong>gt darauf h<strong>in</strong>gewiesen,<br />

dass Hahnemann <strong>der</strong> Geist- <strong>und</strong><br />

Gemütssymptomatik des Kranken bei <strong>der</strong><br />

Arzneiwahl die größere Bedeutung zumaß<br />

[Hahnemann, § 24], wohlwissend, dass<br />

sich diese drei Ebenen berühren <strong>und</strong><br />

durchdr<strong>in</strong>gen (siehe hierzu auch Vortrag<br />

R. Ste<strong>in</strong>er vom 20.08.1911 [Ste<strong>in</strong>er]). Im<br />

Organon § 153 [Hahnemann] weist er daraufh<strong>in</strong>,<br />

dass eben die auffallenden, son<strong>der</strong>lichen,<br />

ungewöhnlichen <strong>und</strong> eigenheitlichen<br />

Zeichen <strong>und</strong> Symptome bei<br />

<strong>der</strong> Arzneiwahl zu beachten seien. Die<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Geist- <strong>und</strong> Gemütssymptomatik<br />

wird durch J.T. Kent nochmals<br />

hervorgehoben. Das ist deshalb erwähnenswert,<br />

weil über das Kentsche Repertorium<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> Deutschland die<br />

Menschenverständnis – Homöopathie<br />

Homöopathie wie<strong>der</strong> wesentlich auf die<br />

Hahnemannsche Ausrichtung zurückgeführt<br />

wurde. Der Gr<strong>und</strong>, weshalb <strong>in</strong> Amerika<br />

über die Svedenborgianer die Homöopathie<br />

so großen Anklang fand, lag<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorstellung, die Ähnlichkeitslehre<br />

Hahnemanns korrespondiere mit <strong>der</strong> Svedenborgschen<br />

Lehre von den Entsprechungen,<br />

dass die geistige Welt sich im<br />

Irdischen abbilde.<br />

Das Hervorheben <strong>der</strong> Geist- <strong>und</strong> Gemütssymptomatik<br />

hat se<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong> im<br />

Krankheitsverständnis <strong>der</strong> Homöopathie.<br />

Krankheiten s<strong>in</strong>d Bef<strong>in</strong>densverän<strong>der</strong>ungen<br />

des Ges<strong>und</strong>en, die sich durch Krankheitszeichen<br />

ausdrücken. Diese Bef<strong>in</strong>densverän<strong>der</strong>ungen<br />

werden durch e<strong>in</strong>e<br />

verstimmte geistige Lebenskraft, e<strong>in</strong> verstimmtes<br />

geistartiges Lebenspr<strong>in</strong>zip, bewirkt.<br />

Arzneien nun besitzen die geistartige<br />

Kraft, das auf Gefühlen, Denken <strong>und</strong><br />

Tätigkeiten beruhende Menschenbef<strong>in</strong>den<br />

umzustimmen; e<strong>in</strong>zig auf dieser Kraft<br />

beruhe ihre Heilkraft. Im Ges<strong>und</strong>en hält<br />

dieses geistartige Lebenspr<strong>in</strong>zip alle Körperteile<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bew<strong>und</strong>ernswürdigen,<br />

harmonischen Lebensganzen zusammen.<br />

„Alles, was den Menschen zusammen<br />

hält, ist geistiger Natur“, schreibt Hegel.<br />

Was nun die Lebenskraft verstimme,<br />

nennt Hahnemann e<strong>in</strong> krankmachendes<br />

Agens. Die Verstimmung zeigt sich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Krankheit von Gefühlen <strong>und</strong> Tätigkeiten.<br />

(Es heißt wohlweislich Verstimmung<br />

<strong>und</strong> nicht Schwächung <strong>der</strong> Lebenskraft.)<br />

Wenn man nun Hahnemanns<br />

umfassenden Äußerungen zur Lebensführung<br />

kennt – Stichwort Heilungsh<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse<br />

–, so sei erlaubt, direkt an die zur<br />

Zeit geltende Neurosenlehre zu er<strong>in</strong>nern:


Menschenverständnis – Homöopathie<br />

Das Abgespaltene schwächt (verstimmt)<br />

<strong>und</strong> somatisiert letztlich. Im ges<strong>und</strong>en<br />

Zustand aber waltet die geistartige, als<br />

Dynam