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Wege zur Kultur - Deutscher Museumsbund

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<strong>Wege</strong> <strong>zur</strong> <strong>Kultur</strong><br />

Barrieren und Barrierefreiheit<br />

in <strong>Kultur</strong>- und Bildungseinrichtungen<br />

Für die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum<br />

und die Klassik Stiftung Weimar<br />

herausgegeben<br />

von<br />

Anja Tervooren und Jürgen Weber<br />

I<br />

2012<br />

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN


Inhalt<br />

Gisela Staupe<br />

Vorwort ................................................................................... 7<br />

A'!ia Tervooren, Jürgen Weber<br />

Einleitung: Barrieren wahrnehmen, verstehen und abbauen ...................... . . 11<br />

Konzepte und Geschichte von Barrieren und Barrierefreiheit<br />

Elsbeth Bösl<br />

Behinderung, Technik und gebaute Umwelt. Zur Geschichte des Barriereabbaus<br />

in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Ende der 1960er Jahre .............. 29<br />

Anne TfOldschmldt.<br />

Normalität - Macht - Barrierefreiheit. Zur Ambivalenz der Normalisierung 52<br />

Felix Welti<br />

Rechtliche Voraussetzungen von Barrierefreiheit in Deutschland 67<br />

Michael Wunder<br />

Behindert sein oder behindert werden? Zu Fragen von Ethik und Behinderung ... 85<br />

Markus Dedench<br />

Ästhetische und ethische Grenzen der Barrierefreiheit .............................. 101<br />

Ruth von Bemuth<br />

Bettler, Monster und Zeichen Gottes. Behinderung in der Frühen Neuzeit 116<br />

Petra Fuchs<br />

"Behinderung" in Deutschland. Aspekte der <strong>Kultur</strong> und Geschichte des Umgangs<br />

mit physischer, psychischer und mentaler Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />

Petra Lutz<br />

Die Wirksamkeit öffentlicher Bilder im Privaten. Angehörige von Opfern der<br />

NS-"Euthanasie" und rassenhygienische Propaganda ................................ 152


Felix Welti<br />

Rechtliche Voraussetzungen von Barrierefreiheit<br />

in Deutschland<br />

Barrierefreiheit fur behinderte Menschen ist ein gesellschaftliches Anliegen, das vielfach<br />

auch rechtlich verankert ist. Gesetzgebung hat in den letzten Jahrzehnten Barrierefreiheit<br />

definiert und allgemeine und besondere Regelungen geschaffen. Barrierefreiheit<br />

ist danach vielfach vorgeschrieben, zusätzlicher AufWand ist jedoch nötig oder<br />

zumindest legitimiert.<br />

1. Rechtliche Grundlagen<br />

1.1 Verfassungsrecht<br />

Die Verantwortung des Staates, behinderte Menschen in die Gesellschaft einzubeziehen,<br />

gründet zuerst auf dem Staatsprinzip des sozialen Rechtsstaats, das nach dem<br />

Grundgesetz fur Bund! und Länder 2 gewährleistet ist und im Rahmen der Europäischen<br />

Integration nicht aufgegeben werden darf. 3 Der soziale Rechtsstaat achtet und<br />

schützt die Menschenwürde und die Grundrechte jedes Menschen. 4 Er ist daher insbesondere<br />

verpflichtet, das Minimum jedes Menschen auch an sozialer und kultureller<br />

Teilhabe zu gewährleistenS, darüber hinaus soziale Sicherung zu organisieren 6 und bei<br />

der Gestaltung des öffentlichen Rechts und des Privatrechts die Interessen aller zu<br />

berücksichtigen. 7 Damit begrenzt das Prinzip des sozialen Rechtsstaats ein nur formelles<br />

Rechtsstaatsverständnis, das die Verwirklichung der Freiheiten der Einzelnen diesen<br />

selbst überlässt. Der soziale Rechtsstaat steht vielmehr in der Verantwortung, alle Bürgerinnen<br />

und Bürger zum tatsächlichen Gebrauch ihrer Grundrechte und Freiheiten<br />

zu befahigen. Weiterhin begrenzt das Prinzip des sozialen Rechtsstaats eine nur nach<br />

1 Art. 20 Abs. 1 GG.<br />

2 Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG.<br />

3 Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG.<br />

4 Art. 1 Abs. 1 und 3 GG.<br />

5 Verdeutlicht insbesondere durch die Entscheidung zum SGB 11: BVerlG v. 9.2.2010, BVerlGE 125,<br />

175.<br />

6 BVerfG v. 18.Juni 1975, BVerfGE 40,121, 133(<br />

7 Vgl. BVerfG v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214; BVerfG v. 7.2.1990, BVerfGE 81, 242; Hermann Heller:<br />

Staatslehre, Leiden: Sijthoff, 1934, S. 121(


68 Fe/ix Welfi<br />

dem Mehrheitsprinzip verstandene Demokratie und gebietet Rücksicht auf die rechtlichen<br />

und sozialen Belange von Minderheiten. Eine allein nach dem Leitbild und den<br />

Interessen einer nichtbehinderten Mehrheit gestaltete Gesellschaft wäre damit nicht<br />

vereinbar. Gleichwohl überlässt das Verfassungsprinzip des sozialen und demokratischen<br />

Rechtsstaats die Konkretisierung - also nicht das Ob, sondern das Wie - einer<br />

behinderte Menschen einbeziehenden Rechtsordnung und Politik weitgehend der<br />

demokratischen Gestaltung durch den einfachen Gesetzgeber in Bund und Ländern.<br />

Verdeutlicht und präzisiert wird der Auftrag des sozialen Rechtsstaats fur behinderte<br />

Menschen durch spezifisches Verfassungsrecht. Nachdem zunächst der am Runden<br />

Tisch der DDR diskutierte VerfassungsentwurfE Gleichheits- und Schutzrechte fur<br />

behinderte Menschen vorgesehen hatte, fand das Thema Eingang in die Verfassungen<br />

der neuen Bundesländer Brandenburg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen,<br />

Sachsen-Anhalt und Thüringen. 9 Auf Grund der nach der deutschen Einheit eingesetzten<br />

Verfassungskommission wurde 1994 der Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung<br />

benachteiligt werden" in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz aufgenommen. Auch<br />

die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und<br />

das Saariand lO haben Gleichheits- und Schutzrechte fur behinderte Menschen in unterschiedlicher<br />

Ausprägung in ihre Verfassungen geschrieben.<br />

Das Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung ist bislang nur in wenigen<br />

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) angewandt und konturiert<br />

worden. In einer Entscheidung <strong>zur</strong> gesonderten Schulpflicht in Sonderschulen hat das'<br />

Gericht grundsätzlich ausgefuhrt: "Eine Benachteiligung kann auch bei einem Ausschluss<br />

von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt<br />

gegeben sein, wenn diese nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme<br />

hinlänglich kompensiert wird." 11<br />

Damit hat das Bundesverfassungsgericht verdeutlicht, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 2<br />

Grundgesetz sich nicht in formaler Rechtsgleichheit behinderter und nichtbehinderter<br />

Menschen 12 erschöpfen kann, sondern eine sozial staatliche Komponente hat. Förderung<br />

kann geboten sein, steht jedoch als Prinzip unter dem Vorbehalt des Möglichen<br />

und der Abwägung mit anderen Zielen. 13 Somit ist das Benachteiligungsverbot fur<br />

weite Teile der Staatstätigkeit Verfahrensgebot: Die Wirkungen von Gesetzgebung und<br />

8 Blätter rur deutsche und internationale Politik 1990, 731fT.<br />

9 Art. 11 Verfassung von Berlin; Art. 26 Abs. 1, 29 Abs. 3, 45 Abs. 1 und 3, 48 Abs. 4 Verfassung des<br />

Landes Brandenburg; Art. 17a Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern; Art. 7 Verfassung<br />

des Freistaates Sachsen; Art. 38 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt; Art. 2 Abs. 4 Verfassung des<br />

Freistaats Thüringen.<br />

10 Art. 2a Verfassung des Landes Baden-Württemberg; Art. 118a Verfassung des Freistaates Bayern; Art.<br />

2 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen; Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Niedersächsische Verfassung;<br />

Art. 64 Verfassung rur Rheinland-Pfalz; Art. 12 Abs. 4 Verfassung des Saarlandes.<br />

11 BVerfG v. 8. Oktober 1997, BVerfGE 96, 288, 303.<br />

12 Dazu BVerfG v. 19.Januar 1999, BVerfGE 99, 341.<br />

13 BVerfG v. 18.Z1972, BVerfGE 33, 303, 330f; vgl. Felix Welti: Behinderung und Rehabilitation im<br />

sozialen Rechtsstaat, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, S. 535ff


Rechtliche Voraussetzungen von Barnerifret"helt 69<br />

Politik auf behinderte Menschen sind zu beachten. Das BVerfG weist mit seinen Ausführungen<br />

voraus auf das Konzept der angemessenen Vorkehrungen, die hier noch als<br />

»hin längliche Förderung" bezeichnet werden. Dem liegen letztlich ältere gleichheitsrechtliche<br />

Erkenntnisse zu Grunde: Eine nur formelle Gleichbehandlung kann eine<br />

verbotene Ungleichbehandlung sein, wenn sie auf ungleiche Vorbedingungen stößt.<br />

Dies spiegelt sich in der ständigen Formel des Bundesverfassungsgerichts, der Gleichheitssatz<br />

gebiete Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.!4<br />

Wie das BVerfG bereits im Kontext des Mietrechts festgestellt hat, kann eine barrierefreie<br />

Gestaltung auch im Rahmen eines privaten Rechtsverhältnisses geboten sein.!5<br />

Der Staat wird insoweit durch das Benachteiligungsverbot gebunden, das Zivilrecht<br />

entsprechend zu gestalten, sei es durch Schaffung entsprechender Rechtsnormen, sei<br />

es durch die Auslegung geltenden Rechts durch Verwaltung und Gerichte.<br />

1.2 Europäisches Recht<br />

Auch im Europäischen Recht ist die Gleichstellung behinderter Menschen verankert<br />

worden. Durch den Vertrag von Amsterdam wurde die Gemeinschaft 1997 ermächtigt,<br />

rechtliche Maßnahmen gegen die Diskriminierung wegen einer Behinderung zu unternehmen<br />

(Art. 13 EG-Vertrag, jetzt Art. 19 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU).<br />

Von dieser Ermächtigung machte sie durch die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie für<br />

Beschäftigung und Beruf (RL 2000/ 78/ EG) 16 Gebrauch, in der das Prinzip angemessener<br />

Vorkehrungen in Art. 5 als Verpflichtung der Arbeitgeber behinderter Beschäftigter<br />

positiviert wurde.<br />

In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurden Nichtdiskriminierungwegen<br />

einer Behinderung (Art. 21) sowie der Anspruch von Menschen mit Behinderung<br />

auf Maßnahmen <strong>zur</strong> Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und<br />

beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft (Art. 26)<br />

verankert. In der Fassung der Europäischen Verträge durch den Vertrag von Lissabon<br />

ist die Charta als verbindlicher Teil des Primärrechts in Bezug genommen. Weiterhin<br />

ist die Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen einer Behinderung als Querschnittsaufgabe<br />

der Union ausgewiesen und hervorgehoben worden (Art. 10 Vertrag<br />

über die Arbeitsweise der EU). Daher werden auch sektorale Regelungskompetenzen<br />

rur verschiedene Bereiche des Binnenmarktes, fur transeuropäische Verkehrswege!7<br />

14 Zuletzt BVerfG v. 12.10.2010, ZFSH/SGB 2010, 727.<br />

15 BVerfG v. 28.3.2000, NJW 2000, 2658.<br />

16 Richtlinie 2000/78/ EG des Rates v. 27. November 2000 <strong>zur</strong> Verwirklichung eines allgemeinen Rahmens<br />

rur die Verwirklichung von Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (AbI. Nr. L 303<br />

S.16).<br />

17 VO (EG) Nr. 1107/ 2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit<br />

eingeschränkter Mobilität.


70 Felix Welfi<br />

und Kommunikationsnetze, im Vergaberecht 18 sowie in der Färderpolitik 19 verstärkt<br />

genutzt, um dieses Ziel zu erreichen. Sie enthalten zum Teil klare Vorgaben im Hinblick<br />

auf Barrierefreiheit.<br />

1.3 Behindertenrechtskonvention<br />

Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (BRK)20 konkretisiert die<br />

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 21 sowie die Pakte der Vereinten<br />

Nationen über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschafdiche, soziale<br />

und kulturelle Rechte von 1966. Diese sind seit 1973 in Deutschland geltendes Recht. 22<br />

Damit wird deutlich, dass soziale Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland<br />

kein politisches Desiderat, sondern Teil der Rechtsordnung sind, wenn sie auch bislang<br />

keinen erheblichen Niederschlag in der Rechtsprechung gefunden haben. Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat fur die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)<br />

entschieden, dass die in Deutschland im Rang einfachen Bundesrechts geltenden Menschenrechtsübereinkommen<br />

auch bei der Auslegung und Anwendung des deutschen<br />

Rechts einschließlich des Verfassungsrechts zu beachten sind. 23<br />

Die Behindertenrechtskonvention wurde aus der Erkenntnis heraus erarbeitet, dass<br />

die universellen Menschenrechte einer Bekräftigung und Konkretisierung für benachteiligte<br />

und verletzbare Gruppen bedürfen und steht damit in einer Linie mit der Frauenrechtskonvention<br />

24 , der Kinderrechtskonvention 25 und der - fur Deutschland bislang<br />

nicht ratifizierten - Wanderarbeitnehmerkonvention. An der Erarbeitung der BRK waren<br />

die Organisationen behinderter Menschen auf globaler Ebene beteiligt. Nach Beschluss<br />

durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen wurde sie bereits von zahlreichen<br />

Staaten ratifiziert. Für die Bundesrepublik Deutschland haben Bundestag und Bundesrat<br />

zugestimmt, so dass die BRK am 26.3.2009 als einfaches Bundesgesetz in Kraft<br />

18 Art. 23 Abs. 1 RL 2004/18 EG über die Koordinierung der Verfahren <strong>zur</strong> Vergabe öffentlicher Bauaufträge,<br />

Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge.<br />

19 Art. 16 VO (EG) Nr. 1083/2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds rur<br />

regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds.<br />

20 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) v. 13.12.2006 (BGBI.<br />

II 2008, 1419).<br />

21 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verkündet von der Generalversammlung der Vereinten<br />

Nationen am 10. Dezember 1948.<br />

22 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) v. 19. Dezember 1966 (BGBI.<br />

II 1973, 1534); Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) v.<br />

19. Dezember 1966 (BGBI. II 1973, 1570).<br />

23 BVertG v. 14. Oktober 2004, Az. 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111,307; BVertG v. 5.4.2005, NJW 2005,<br />

1765.<br />

24 Übereinkommen <strong>zur</strong> Beseitigungjeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) v. 18. Dezember<br />

1979 (BGBI. II 1985,647).<br />

25 Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) v. 20. November 1989 (BGBI. II 1992, 121).


Rechtliche Voraussetzungen von Banierifrelheit 71<br />

getreten ist. 26 Die Bundesregierung hat hierzu eine Denkschrift veröffentlicht 27 , aus der<br />

hervorgeht, dass die Bundesregierung zum Zeitpunkt der Beratung und Ratifizierung<br />

keinen Änderungsbedarf fur das deutsche Recht gesehen hat. Dies kann als Anhaltspunkt<br />

dafur gesehen werden, dass das geltende Recht im Lichte der BRK auszulegen ist. Die<br />

Einschätzung der Bundesregierung kann sich aber auch auf Grund neuerer Erkenntnisse<br />

zumindest fur die Zukunft als falsch herausstellen.<br />

Die Behindertenrechtskonvention gilt als Bundesgesetz, hat jedoch auch fur die<br />

Länder und Kommunen im Bereich ihrer Gesetzgebung und Selbstverwaltungsrechte<br />

Bedeutung. Die BRK selbst gilt ohne Einschränkung in allen Teilen eines Bundesstaates.<br />

Weder international durch die Bundesregierung noch innerstaatlich im Rahmen<br />

des Ratifikationsprozesses sind hiergegen Vorbehalte eingelegt worden. Die Behindertenrechtskonvention<br />

ist - entgegen einzelnen Gerichtsentscheidungen 28 - also auch<br />

bei der Anwendung und Auslegung des Rechts der deutschen Länder zu beachten, da<br />

diese durch den Grundsatz der Bundestreue verpflichtet sind, den Bund bei seinen völkerrechtlich<br />

eingegangenen Pflichten zu unterstützen. 29 Auch die Europäische Union<br />

hat mittlerweile die BRK ratifiziert, was auf die Auslegung und Anwendung europäischen<br />

Rechts und deutschen Rechts wirkt.<br />

Für die Barrierefreiheit ist insbesondere von Bedeutung, dass die Zugänglichkeit in<br />

Art. 3 fBRK als ein Grundprinzip ausgewiesen ist. Die Verpflichtung der Vertragsstaaten<br />

<strong>zur</strong> Zugänglichkeit (in der englischen Fassung: accessibility, französisch: accessibilite)<br />

wird dabei in Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BRK umfassend definiert als Pflicht, geeignete<br />

Maßnahmen zu treffen mit dem Ziel, fur Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten<br />

Zugang <strong>zur</strong> physischen Umwelt, zu Transportmitteln, InFormation und<br />

Kommunikation, einschließlich InFormations- und Kommunikationstechnologien und<br />

-systemen sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in<br />

städtischen und ländlichen Gebieten bereitgestellt werden, zu gewährleisten. Diese<br />

Verpflichtung wird in Art. 9 BRK sowie in anderen spezifischen Artikeln der Behindertenrechtskonvention<br />

näher konkretisiert. Dabei zeigt sich, dass der Ansatz der vollen<br />

und wirksamen Teilhabe (englisch und französisch: participation) an der Gesellschaft<br />

und der Einbeziehung (englisch: inclusion, französisch: integration) in die Gesellschaft<br />

(Art. 3 c BRK) zu einem erheblichen Teil durch die Zugänglichkeit operationalisiert<br />

wird. Dies gründet sich auf die Erkenntnis, wie wichtig es ist, dass Menschen mit<br />

Behinderungen vollen Zugang <strong>zur</strong> physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen<br />

Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation<br />

haben, damit sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll genießen können<br />

26 BGB!. II 2008, S. 1420.<br />

27 BT-Drucks. 16/10808, S. 45ff<br />

28 OVG Lüneburg v. 16.9.2010, Az. 2 ME 278/10; VGH Hessen v. 12.11.2009, NVwZ-RR 2010, S. 602.<br />

29 Dazu Eibe Riedei, Michael Arend: Im Zweifel Inklusion. Zuweisung an eine Förderschule nach Inkrafttreten<br />

der Behindertenrechtskonvention, in: Neue Zeitschrift rur Verwaltungsrecht 29, 2010,<br />

H. 21, S. 1346; Markus Krajewski: Ein Menschenrecht auf integrativen Schulunterricht, in: Juristen­<br />

Zeitung 65, 2010, H. 3, S. 120.


72 Felix Wellt'<br />

(Begründungserwägung V), und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen<br />

Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren<br />

entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der<br />

Gesellschaft hindern (Begründungserwägung E).<br />

2. Konkretisierung<br />

Wie gezeigt, kann das Prinzip der Barrierefreiheit und Zugänglichkeit aus den allgemeinen<br />

Grundlagen des Verfassungsrechts, des Europarechts und der Menschenrechte<br />

abgeleitet werden. Damit kann entsprechende Staatstätigkeit legitimiert und eingefordert<br />

werden. Es bedarf jedoch einer Konkretisierung im einfachen Recht, um die<br />

Verantwortlichkeiten fur Barrierefreiheit zu regeln und öffentliche Ressourcen bereitzustellen.<br />

2.1 Rechtsquellen im einfachen Recht<br />

Wichtigste allgemeine Rechtsquelle fur Pflichten <strong>zur</strong> Barrierefreiheit in der Bundesrepublik<br />

Deutschland sind die Behindertengleichstellungsgesetze (BGG). Mittlerweile<br />

bestehen im Bund (seit 1.5.2002) sowie in allen Ländern solche Gesetze, in denen<br />

insbesondere die Begriffe "Behinderung" und "Barrierefreiheit" definiert sind, Träger<br />

der öffentlichen Verwaltung <strong>zur</strong> Barrierefreiheit verpflichtet werden und Regelungen<br />

insbesondere fur die Bereiche der Verwaltungsdokumente, des Gebrauchs von Kommunikationshilfen<br />

und der barrierefreien Informationstechnik enthalten sind, welche<br />

durch Verordnungen weiter konkretisiert werden. 30 Weiterhin werden die Klagerechte<br />

30 Behindertengleichstellungsgesetz v. 27.4.2002 (BGBI. I, S. 1468). Niedersächsisches Gesetz <strong>zur</strong><br />

Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen v. 25.11.2007 (Nds. GVBI. S. 661); Gesetz über die<br />

Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderung, Art. 1 des Gesetzes zu Art. 11 der<br />

Verfassung von Berlin (Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne<br />

Behinderung) v. 17.5.1999 (GVBI. 179); Gesetz <strong>zur</strong> Gleichstellung behinderter und nichtbehinderter<br />

Menschen in Sachsen-Anhalt v. 20.11.2001 (GVBI. 457); Gesetz <strong>zur</strong> Gleichstellung behinderter Menschen<br />

des Landes Schleswig-Holstein und <strong>zur</strong> Änderung anderer Rechtsvorschriften v. 16.12.2002<br />

(GVBI. 264); Landesgesetz Rheinland-Pfalz <strong>zur</strong> Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen<br />

fur Menschen mit Behinderungen v. 16.12.2002 (GVBI. 481); Gesetz <strong>zur</strong> Gleichstellung behinderter<br />

Menschen und <strong>zur</strong> Änderung anderer Gesetze des Landes Brandenburg v. 20.3.2003 (GVBI. 42);<br />

Bayerisches Gesetz <strong>zur</strong> Gleichstellung, Integration und Teilhabe von Menschen mit Behinderung<br />

und <strong>zur</strong> Änderung anderer Gesetze v. 9.7.2003 (GVBI. 419); Gesetz Nr. 1541 <strong>zur</strong> Gleichstellung von<br />

Menschen mit Behinderungen im Saarland v. 26.11.2003 (AbI. 2987); Gesetz des Landes Nordrhein­<br />

Westfalen <strong>zur</strong> Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (Behindertengleichstellungsgesetz<br />

NRW) v. 16.12.2003 (GVoBI. 766); Bremisches Gesetz <strong>zur</strong> Gleichstellung von Menschen mit Behinderung<br />

und <strong>zur</strong> Änderung anderer Gesetze v. 18.12.2003 (GBI. 413); Gesetz <strong>zur</strong> Verbesserung<br />

der Integration von Menschen mit Behinderungen im Freistaat Sachsen v. 28.5.2004 (GVoBI. 197);<br />

Hessisches Gesetz <strong>zur</strong> Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und <strong>zur</strong> Änderung an-


Rechtliche Voraussetzungen von BamertjTeiheit 73<br />

der Verbände behinderter Menschen, der Schluss von Zielvereinbarungen sowie die<br />

Institutionalisierung von Behindertenbeauftragten geregelt.<br />

Mit den Behindertengleichstellungsgesetzen von Bund und Ländern 3 ! wurde eine<br />

Vielzahl weiterer Gesetze des öffentlichen Rechts geändert, so das Wahlrecht, das allgemeine<br />

Verwaltungsverfahrensrecht, die Gerichtsordnungen, das allgemeine Sozialrecht,<br />

die Straßen- und <strong>Wege</strong>gesetze, das Personenbeförderungs- und Nahverkehrsrecht, das<br />

Bauordnungsrecht 32 , das Gaststättenrecht, das Schulrecht und das Hochschulrecht. Die<br />

Regelungen in den Ländern unterscheiden sich. In einzelnen Bereichen - etwa dem<br />

Gaststättenrecht und dem Hochschulrecht - hat es durch die Reform der bundesstaatlichen<br />

Ordnung Kompetenzverschiebungen zu den Ländern gegeben, die dort zu<br />

weiterer Gesetzgebung Anlass gegeben haben.<br />

Die Umsetzung des Prinzips der Barrierefreiheit in das Privatrecht und außerhalb<br />

des öffentlichen Sektors ist bislang nur punktuell vorgenommen worden. Art. 9 Abs. 2 b<br />

Behindertenrechtskonvention verpflichtet aber die Vertragsstaaten ausdrücklich zu<br />

geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass private Rechtsträger, die Einrichtungen<br />

und Dienste, die der Öffentlichkeit <strong>zur</strong> Verfügung stehen oder fiir sie bereitgestellt<br />

werden, anbieten, alle Aspekte der Zugänglichkeit berücksichtigen. Damit wird fiir den<br />

Geltungsbereich des Zugänglichkeitsprinzips nicht auf den staatlich-hoheitlichen Sektor<br />

abgestellt, sondern auf eine auch privat vorgenommene Widmung zum öffentlichen<br />

Gebrauch 33 und fiir einen unbestimmten Personenkreis.<br />

Öffentlich-rechtliche Normen der Bauaufsicht oder der Aufsicht über Betreiber von<br />

Verkehrsunternehmen schaffen einen Rahmen auch für private Entscheidungen. Mit<br />

dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 34 ist die Benachteiligung<br />

wegen einer Behinderung im Zivilrecht verboten worden. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz<br />

dient zum Teil - ebenso wie das im Sozialgesetzbuch IX 2001<br />

und 2004 neu gefasste Schwerbehindertenrecht - der Umsetzung der Europäischen<br />

Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie fiir Beschäftigung und Beruf, erfasst aber darüber<br />

derer Gesetze v. 20.12.2004 (GVBl. 492); Hamburgisches Gesetz <strong>zur</strong> Gleichstellung behinderter<br />

Menschen v. 21.3.2005 (GVBl. 75); Baden-Württembergisches Landesgesetz <strong>zur</strong> Gleichstellung von<br />

Menschen mit Behinderungen v. 3.5.2005 (GBl. 2005, 327); Thüringer Gesetz <strong>zur</strong> Gleichstellung und<br />

Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderungen v. 16.12.2005 (GVBl. 383); Gesetz<br />

<strong>zur</strong> Gleichstellung, gleichberechtigten Teilhabe und Integration von Menschen mit Behinderungen<br />

Mecklenburg-Vorpommern v. 10.7.2006 (GVOBl. 539).<br />

31 Umfassende Textsammlung mit Erläuterungen bei Horst Frehe, Felix Welti: Behindertengleichstellungsrecht,<br />

Baden-Baden: Nomos, 2010.<br />

32 § 55 BauONRW; § 42 Abs. 1 BWBauO; Art. 51 Abs. 1 BayBauO; § 51 Abs. 1 BeriBauO; § 45 Abs. 2<br />

und 3 BbgBauO; § 53 Abs. 1 BremLBO; § 52 Abs. 1 HmbBauO; § 73 Abs. 1 HessBO; § 52 Abs. 1<br />

MVLBauO; § 48 Abs. 1 NdsBauO; § 51 Abs. 1 RhPfLBauO; § 54 Abs. 1 SLBauO; § 53 Abs. 1 Sächs­<br />

BauO; § 57 Abs. 1 BauO LSA; § 59 Abs. 1 SHLBauO; § 53 Abs. 2 ThürBauO; dazu Hans-Joachim<br />

Steinbrück: Barrierefreiheit von Wohn- und öffentlich zugänglichen Gebäuden - Regelungsgehalt,<br />

Wirkung und Durchsetzung baurechtlicher Bestimmungen, in: Behindertenrecht 48, 2009, H. 6,<br />

S. 157-165.<br />

33 Zum Bauordnungsrecht: OVG Sachsen-Anhalt v. 16.12.2010, Az. 2 L 246/09.<br />

34 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz v. 14. August 2006 (BGBl. I, S. 1897).


Rechtliche Voraussetzungen von Bamerqreiheit 75<br />

zeigt er auch auf, dass der komplementäre Begriff der Barrierefreiheit umfassend zu<br />

verstehen ist.<br />

2.3 Begriff der Barrierefreiheit<br />

Barrierefreiheit ist in § 4 Behindertengleichstellungsgesetz definiert: "Barrierefrei sind<br />

bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände,<br />

Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen<br />

und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie<br />

fiir behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis<br />

und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind."<br />

Diese Definition ist so oder ähnlich in den Behindertengleichstellungsgesetzen der<br />

Länder erhalten. 36 Sie macht deutlich, dass sich Barrierefreiheit nicht allein auf bauliche<br />

Barrieren fur mobilitätsbehinderte Menschen bezieht, sondern umfassend jede<br />

Art von Barrieren fur behinderte Menschen, unabhängig von den der Behinderung zu<br />

Grunde liegenden Funktions- und Gesundheitseinschränkungen erfasst. Der Anwendungsbereich<br />

umfasst alle gestalteten Lebensbereiche und ist damit jedenfalls in einem<br />

entwickelten Industrie-, Agrar- und <strong>Kultur</strong>land wie der Bundesrepublik Deutschland<br />

sehr umfassend, da kaum noch Lebensbereiche nicht gestaltet sind. Selbst Naturräume<br />

wie Nationalparks oder zugängliche Naturdenkmäler gehen in ihrer Gestaltung auf<br />

menschliche Entscheidungen <strong>zur</strong>ück. Schranken findet die Barrierefreiheit in diesen<br />

Fallen eher darin, dass sie nicht weiter gehen muss als die allgemein übliche Nutzbarkeit.<br />

In Art. 9 Abs. 1 Satz 2 Behindertenrechtskonvention werden - nicht abschließend<br />

- hervorgehoben Gebäude, Straßen, Transportmittel sowie andere Einrichtungen<br />

in Gebäuden und im Freien, einschließlich Schulen, Wohnhäusern, medizinischer Einrichtungen<br />

und Arbeitsstätten, Informations-, Kommunikations- und andere Dienste,<br />

einschließlich elektronischer Dienste und Notdienste.<br />

Barrierefreiheit ist als strukturelle Anforderung formuliert, die eine Zugänglichkeit<br />

und Nutzbarkeit ohne fremde Hilfe ermöglichen soll. Der Rückgriff auf personale<br />

Hilfen kann zwar im Einzelfall richtig und geboten sein, entspricht aber nicht der<br />

Barrierefreiheit, sondern ist eine personenbezogene angemessene Vorkehrung im<br />

Einzelfall.<br />

Es genügt gegen die Forderung nach Barrierefreiheit nicht, geltend zu machen, dass<br />

eine öffentliche Einrichtung bislang noch nicht von behinderten Menschen betreten<br />

worden sei, um sich aus dem Anwendungsbereich der Norm zu retten. Dies hat 2004<br />

der VerwaltungsgerichtshofBaden-Wiürttemberg im Fall eines Fitnessstudios entschiedenY<br />

Wäre es anders, ließen sich mit bisherigen Zugangsproblemen stets Neue recht-<br />

36 § 2 Abs. 3 LBGG SH; § 2 Abs. 3 RhP!LGGBehM; § 4 BbgBGG; Art. 4 BayBGG; § 3 SächslntegrG;<br />

§ 3 Abs. 3 SBGG; § 4 BremBGG; § 3 Abs. 1 HessBGG; § 4 HmbGGbM; § 3 LBGGBW; § 5 Thür­<br />

GIG; § 6 LBGGMV; § 2 Abs. 3 NBGG; § 4a LGBG Berlin; § 4 BGG NRW; § 5 BGG LSA.<br />

37 VGH Baden-Württemberg, NVwZ-RR 2005, 795.


76 Felix Welti<br />

fertigen. Auch die Bereitstellung gesonderter Räume, die fur behinderte Menschen<br />

zugänglich sind, kann nach einem Urteil des Oberverwaltungsgericht Niedersachsen<br />

un<strong>zur</strong>eichend sein. 38<br />

Die Anforderungen an Barrierefreiheit werden durch die Behindertenrechtskonvention,<br />

insbesondere Art. 9 BRK, weiter konkretisiert. Art. 9 Behindertenrechtskonvention<br />

zeigt auf, dass Zugänglichkeit durch ein Bündel von Maßnahmen erreicht<br />

wird, das aus Barrierefreiheit und personenbezogenen angemessenen Vorkehrungen<br />

besteht. Personenbezogene angemessene Vorkehrungen sind insbesondere menschliche<br />

und tierische Hilfe sowie Mittelspersonen, unter anderem Personen zum Führen<br />

und Vorlesen sowie professionelle Gebärdensprachdolmetscher (Art. 9 Abs. 2 e BRK).<br />

Voraussetzungen der Zugänglichkeit werden geschaffen durch Schulungen zu Fragen<br />

der Zugänglichkeit (Art. 9 Abs. 2 c BRK) sowie die Gestaltung, die Entwicklung, die<br />

Herstellung und den Vertrieb zugänglicher Informations- und Kommunikationstechnologien<br />

(Art. 9 Abs. 2 h BRK).<br />

2.4 Bindung im öffentlichen Recht<br />

Das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes bindet die Dienststellen und sonstigen<br />

Einrichtungen des Bundes einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften,<br />

Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts daran, im Rahmen ihres Aufgabenbereichs<br />

die Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen und zu verhindern<br />

sowie die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft möglich zu<br />

machen und eine selbstbestimmte Lebensfuhrung zu ermöglichen sowie sie nicht zu<br />

benachteiligen (§ 7 Abs. 1 BGG) und zivile Neubauten sowie große zivile Um- oder<br />

Erweiterungsbauten entsprechend den allgemein anerkannten Regeln der Technik barrierefrei<br />

zu gestalten (§ 8 Abs. 1 BGG).<br />

Die Landesgesetze binden jeweils unmittelbar die Dienststellen und sonstigen Einrichtungen<br />

des Landes. Der Grad der Bindung ist jedoch unterschiedlich bei den Trägern<br />

der mittelbaren Staatsverwaltung. So sind in Bayern und Hessen die Gemeinden<br />

und Gemeindeverbände 39 , der Bayerische und der Hessische Rundfunk sowie in<br />

Niedersachsen die Sparkassen 40 ausgenommen. In Hessen trifft die Gemeinden und<br />

Gemeindeverbände stattdessen eine PrüfungspflichtY<br />

Während der Grad der Bindung an das Benachteiligungsverbot dadurch kaum verändert<br />

wird, da das Benachteiligungsverbot fur alle Träger der öffentlichen Gewalt<br />

ohnehin gilt, erscheint eine gelockerte Bindung der Gemeinden und Gemeindeverbände<br />

an die Barrierefreiheit bedenklich. Sie kann allenfalls in den Bereichen reiner<br />

Selbstverwaltungsaufgaben akzeptiert werden, während fur die Wahrnehmung von<br />

38 OVG Niedersachsen, BauR 2006, 1285 zu einem Gebäude mit mehreren Arztpraxen.<br />

39 Art. 9 Abs. 1 BayBGG; § 9 Abs. 1 HessBGG.<br />

40 § 2 Abs. 1 Satz 2 NBGG.<br />

41 § 9 Abs. 2 HessBGG.


Rechtliche Voraussetzungen von Bamerifreiheit 77<br />

Staatsaufgaben die Barrierefreiheitsgebote umfassend gelten müssen. Da auch in Bayern<br />

und Hessen die Verwaltungen der Kreise, Städte und Gemeinden in erheblichem Maße<br />

Staatsaufgaben erfullen, sei es als Meldebehörden, Ordnungsbehörden, Schulämter<br />

und Schulträger, Träger der Sozialhilfe, Kinder- oder Jugendhilfe müssen fur alle kommunalen<br />

Gebäude, die diesen Aufgaben dienen, die landesgesetzlichen Standards der<br />

Barrierefreiheit uneingeschränkt gelten.<br />

Für Sozialleistungsträger ist die Barrierefreiheit der Dienstgebäude sowie der<br />

Räume, in denen Sozialleistungen erbracht werden, auch ein Gebot des allgemeinen<br />

Sozialrechts (§ 17 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch I). Damit sind die Träger der Sozialversicherung<br />

und die in den Ländern zu Trägern der Sozialhilfe, Kinder- und Jugendhilfe<br />

bestimmten Gemeindeverbände und Gemeinde gebunden. Somit sind die Sozialleistungsträger<br />

- anders als andere Träger der öffentlichen Verwaltung - auch <strong>zur</strong><br />

Barrierefreiheit im Baubestand verpflichtet. Sie sind weiterhin verpflichtet, in ihrem<br />

Vertragsrecht mit Leistungserbringern wie Vertragsärzten, Krankenhäusern, Diensten<br />

und Einrichtungen der Rehabilitation, Pflegeeinrichtungen oder Kindertagesstätten<br />

Barrierefreiheit zu vereinbaren und durchzusetzen.<br />

Die Gebote der Barrierefreiheit fur die öffentliche Verwaltung im Behindertengleichstellungsrecht<br />

sind Regeln, die einzuhalten sind. Insbesondere im Planungsrecht sind<br />

sie Prinzipien, die mit anderen Prinzipien abzuwägen sind. Dabei haben sie wegen ihrer<br />

verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Fundierung erhebliches Gewicht. Regeln<br />

<strong>zur</strong> Barrierefreiheit können mit anderen Regeln kollidieren, etwa aus dem Denkmalschutz,<br />

Naturschutz oder Brandschutz oder mit der Kunstfreiheit. 42 In vielen Fällen<br />

wird aber vorschnell eine solche Kollision angenommen, während bei hinreichender<br />

Priifimg Lösungen zu finden wären. Liegt tatsächlich eine Kollision vor, ist diese nach<br />

dem Grundsatz des schonenden Ausgleichs aufzulösen.<br />

2.5 Bindung im Zivilrecht<br />

Eine Verpflichtung <strong>zur</strong> Barrierefreiheit in zivilrechtlichen Rechtsverhältnissen ist nur<br />

in einigen Fällen gesetzlich angeordnet. Hier sind § 554a Bürgerliches Gesetzbuch fur<br />

das Wohnraummietrecht 43 und § 3 Abs. 2 Satz 2 Arbeitsstättenverordnung zu nennen.<br />

In anderen zivilrechtlichen Rechtsverhältnissen kann sich Barrierefreiheit als<br />

Nebenpflicht ergeben, insbesondere wenn Waren und Dienste öffentlich angeboten<br />

werden oder Dauerschuldverhältnisse mit behinderten Menschen eingegangen werden.<br />

Dabei verbietet es das Allgemeine Gleichstellungsgesetz ein Dauerschuldverhältnis<br />

mit einem behinderten Menschen zu verweigern, nur weil dieser behindert ist.<br />

Im Einzelnen sind die Auswirkungen von Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz und<br />

42 Dazu VG Berlin v. 30.4.2003, NJW 2003, S. 2927.<br />

43 LG Hamburg v. 29.4.2004, ZMR 2004, S. 914.


78 Felix Welli<br />

Behindertenrechtskonvention auf die zivilrechtlichen Pflichten in Rechtsprechung und<br />

Wissenschaft noch nicht hinreichend aufgearbeitet worden.<br />

Eine weitere Möglichkeit der Bindung im Zivilrecht sind Zielvereinbarungen, die<br />

zwischen Verbänden behinderter Menschen und Unternehmen oder Unternehmensverbänden<br />

geschlossen werden. 44 Sie können Mindestbedingungen darüber enthalten,<br />

wie gestaltete Lebensbereiche im Sinne der Barrierefreiheit zu verändern sind, um dem<br />

Anspruch behinderter Menschen auf Zugang und Nutzung zu genügen. In den Zielvereinbarungen<br />

sind Regelungen über den Geltungsbereich zu treffen. Vertragsstrafen<br />

können vereinbart werden. Zielvereinbarungen und laufende Verhandlungen werden<br />

in einem Zielvereinbarungsregister beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales<br />

publiziert. Bislang sind nur wenige Zielvereinbarungen geschlossen worden, was darauf<br />

hindeutet, dass die Verbände behinderter Menschen nicht über die nötige Verhandlungsmacht<br />

verfugen, um das Konzept mit Leben zu erfullen.<br />

2.6 Konkretisierung durch Rechtsverordnungen<br />

Um den richtigen Inhalt der Regelungen <strong>zur</strong> Barrierefreiheit erkennen zu können, können<br />

detaillierte Regelungen erforderlich sein. Die Behindertengleichstellungsgesetze<br />

ermächtigen daher die Regierungen zu Rechtsverordnungen. Hiervon wurde im Bund<br />

Gebrauch gemacht durch die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV)45,<br />

die Kommunikationshilfenverordnung (KHV), die Verordnung über barrierefreie Dokumente<br />

in der Bundesverwaltung (VBD)46 sowie fur das gerichtliche Verfahren durch die<br />

Zugänglichmachungsverordnung (ZMV) 47. Die Länder haben fur diese Bereiche zum<br />

Teil eigene Verordnungen erlassen, zum Teil nehmen sie auf die Rechtsverordnungen<br />

des Bundes Bezug.<br />

2.7 Konkretisierung durch technische Regelungen<br />

Die Regelungen im BGG nehmen zum Teil ausdrücklich Bezug auf den allgemein<br />

anerkannten Stand der Technik. Auch dort, wo dieser Terminus nicht verwendet wird,<br />

können technische und fachliche Normen in der Rechtsordnung rezipiert werden, um<br />

unbestimmte Rechtsbegriffe wie Barrierefreiheit z.B. fur das Ordnungsrecht oder das<br />

44 § 5 BGG; vgl. auch Hoffmann in diesem Band.<br />

45 Verordnung <strong>zur</strong> Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz<br />

(BITV) v. 17. Juli 2002 (BGBl. I, 2654).<br />

46 Verordnung <strong>zur</strong> Zugänglichmachung von Dokumenten rur blinde und sehbehinderte Menschen im<br />

Verwaltungsverfahren nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (VBD) v. 17. Juli 2002 (BGBl. I,<br />

2652).<br />

47 Verordnung <strong>zur</strong> barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten rur blinde und sehbehinderte<br />

Personen im gerichtlichen Verfahren (ZMV) v. 26.2.2007 (BGBl I, 215).


80 Felix Welfi<br />

fur die Herstellung von Barrierefreiheit <strong>zur</strong> Verfugung zu stellen und die Zweckbindung<br />

von beispielsweise fur Bauvorhaben bestimmten Mitteln hinreichend klarzustellen.<br />

3.2 Aufsichtsbehörden<br />

Für die Körperschaften, Anstalten und Stiftungen öffentlichen Rechts bestehen Aufsichtsbehörden,<br />

die darauf achten, dass diese nur im Rahmen des geltenden Rechts einschließlich<br />

der Behindertengleichstellungsgesetze tätig werden. Für die Sozialversicherungsträger<br />

sind dies das Bundesversicherungsamt oder die obersten Sozialbehörden<br />

der Länder. Für die Gemeinden und die Gemeindeverbände ist es die landesrechtlich<br />

meist bei den Innenministerien angesiedelte Kommunalaufsicht.<br />

3.3 Selbstverwaltung<br />

Innerhalb von Körperschaften öffentlichen Rechts wie Gemeinden und Gemeindeverbänden,<br />

Sozialversicherungsträgern oder Universitäten bestehen Selbstverwaltungsorgane,<br />

die den rechtlichen Rahmen eigenständig ausfullen. Sie sind auch den<br />

gesetzlichen Zielen der Barrierefreiheit verpflichtet und haben bei der Kontrolle der<br />

Verwaltungstätigkeit sowie der Aufstellung der Haushalte darauf zu achten, dass diese<br />

eingehalten werden. Die Selbstverwaltungsorgane können - oder müssen auf Grund<br />

gesetzlicher Vorgaben - dazu Verbände behinderter Menschen in ihrem Wirkungskreis<br />

konsultieren oder zu diesem Zweck Beiräte einsetzen bzw. Beauftragte berufen.<br />

3.4 Konsultation der Verbände; Beauftragte und Beiräte<br />

Barrierefreiheit und Zugänglichkeit können auch von einer routinierten und sachkundigen<br />

Verwaltung besser erkannt und beurteilt werden, wenn behinderte Menschen<br />

mit ihrer Alltagserfahrung und Expertise in eigener Sache beteiligt werden. Die Vertragsstaaten<br />

der Behindertenrechtskonvention haben sich in Art. 4 Abs. 3 Behindertenrechtskonvention<br />

verpflichtet, bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften<br />

<strong>zur</strong> Durchfuhrung der BRK und bei anderen Entscheidungsprozessen, die<br />

behinderte Menschen betreffen, mit diesen über die sie vertretenden Organisationen<br />

enge Konsultationen zu fuhren und sie einzubeziehen.<br />

Die Bundesgleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder regeln die Tätigkeit<br />

von Beauftragten oder Beiräten auf der jeweiligen Ebene. Sie haben die Aufgabe, bei<br />

den jeweiligen Regierungen ressortübergreifend darauf zu achten, dass die Verantwortung<br />

des Staates, fur gleichwertige Lebensbedingungen, behinderter Menschen zu sorgen,<br />

erfullt wird. Bei ihnen sind zumeist auch individuelle Beschwerden möglich. Sie


Rtchtliche Voraussetzungen von BOlTl'erifTeihezi 81<br />

erfiillen kommunikative Aufgaben zwischen den Verbänden behinderter Menschen<br />

und den jeweiligen Regierungen und können somit auch die Konsultationen im Sinne<br />

der Behindertenrechtskonvention organisieren. Für die Aufstellung der Nahverkehrspläne<br />

ist eine Konsultationspflicht gesetzlich festgeschrieben. 50<br />

Aber auch ohne institutionelle Beauftragte und Beiräte können und müssen Regierungen,<br />

Behörden, Körperschaften und Anstalten behinderte Menschen konsultieren,<br />

wenn sie den Regelungen <strong>zur</strong> Barrierefreiheit effektiv genügen wollen. Insoweit könnte<br />

zum Beispiel eine unterbliebene Beteiligung der Verbände behinderter Menschen bei<br />

der Bauleitplanung51 als Abwägungsmangel gelten.<br />

3.5 Evaluation und Berichterstattung<br />

Um zu beurteilen, ob und wieweit die gesetzlichen Pflichten eingehalten werden, bedarf<br />

es der Evaluation und transparenten Berichterstattung über den erreichten Stand von<br />

Barrierefreiheit und Zugänglichkeit. Die Bundesregierung ist nach § 66 Sozialgesetzbuch<br />

IX verpflichtet, die gesetzgebenden Körperschaften über die Lage behinderter<br />

Frauen und Männer sowie die Entwicklung ihrer Teilhabe einschließlich der nach dem<br />

BGG getroffenen Maßnahmen und die Gleichstellung behinderter Menschen abzugeben<br />

und zu möglichen weiteren Maßnahmen der Gleichstellung zu äußern. Bislang<br />

ist diese Berichtspflicht in Bezug aufBarrierefreiheit nur un<strong>zur</strong>eichend erfullt worden.<br />

Nach Art. 31 Behindertenrechtskonvention sind die Vertragsstaaten verpflichtet,<br />

geeignete Informationen, einschließlich statistischer Angaben und Forschungsdaten<br />

zu sammeln, die ihnen ermöglichen, politische Konzepte <strong>zur</strong> Durchfuhrung der BRK<br />

auszuarbeiten und umzusetzen. Die gesammelten Informationen sollen dazu verwendet<br />

werden, die Umsetzung der Verpflichtungen aus der BRK zu beurteilen und die<br />

Hindernisse behinderter Menschen bei der Ausübung ihrer Rechte zu ermitteln und<br />

anzugehen. Die Vertragsstaaten übernehmen dabei die Verantwortung fur die Verbreitung<br />

der Statistiken und sorgen dafur, dass sie behinderten Menschen und anderen<br />

zugänglich sind.<br />

Die Umsetzung der Pflichten <strong>zur</strong> Barrierefreiheit wird auch Evaluation und Berichterstattung<br />

auf der Ebene der Länder und Kommunen erfordern, die möglichst nach<br />

einheitlichen Kriterien vorgenommen wird.<br />

3.6 Verbandsklagen<br />

Mit den Behindertengleichstellungsgesetzen sind im Bund und in den Ländern - außer<br />

in Thüringen - eigene Klagerechte der Verbände behinderter Menschen eingefuhrt<br />

50 § 8 Abs. 3 Satz 4 PBefG.<br />

51 § lAbs. 5 Satz 2 Nr. 3 BauGB.


82 Felix Weih'<br />

worden, die sich gegen die Verletzung von Pflichten <strong>zur</strong> Barrierefreiheit wenden können.<br />

52 Grund dafur ist, dass sich bei Verstößen gegen diese Pflicht oft keine individuell<br />

klageberechtigten Personen finden lassen, gleichwohl ein öffentliches Interesse daran<br />

besteht, dass diese Verstöße beseitigt werden.<br />

Die Verbandsklage setzt eine Anerkennung des klagenden Verbandes durch das<br />

Bundesministerium fur Arbeit und Soziales voraus. In den Ländern wird zum Teil auf<br />

dieses Anerkennungsverfahren Bezug genommen, teilweise werden eigene Kriterien<br />

aufgestellt. Die verbandsklageHihigen Rechte sind in den Gesetzen aufgezählt, wobei<br />

die Verpflichtung der öffentlichen Verwaltung <strong>zur</strong> Barrierefreiheit stets dazu gehärt.<br />

Es hat bislang nur wenige Verbandsklagen gegeben, die zudem nicht erfolgreich<br />

waren. Allerdings hat wohl in einigen Fällen die Drohung mit einer Verbandsklage<br />

bereits das erwünschte Ergebnis erreichen können. Insgesamt ist aber festzustellen,<br />

dass die klageberechtigten Verbände auch nach knapp zehn Jahren noch nicht die<br />

nötige Sachkenntnis und Routine fur den Umgang mit diesem von ihnen zuvor eingeforderten<br />

Instrument haben erreichen können.<br />

3.7 Individualklagen<br />

Individuelle Klagen auf Herstellung von Barrierefreiheit setzen voraus, dass eine individuelle<br />

Beschwer- und Klagebefugnis besteht. 53 Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren<br />

wären hierfur noch Kriterien zu entwickeln, die sich an der bisherigen Rechtsdogmatik<br />

orientieren. So sind im Bauordnungsrecht, Bauplanungsrecht und Straßen- und <strong>Wege</strong>recht<br />

Kriterien der individuellen Betroffenheit zu entwickeln, die zum Beispiel behinderten<br />

Menschen, die im Nahbereich öffentlicher Einrichtungen wohnen, einen Nutzerschutz<br />

mit daraus folgender Klagebefugnis vermitteln. 54 Die barrierefreie Zugänglichkeit<br />

von Verwaltungsgebäuden und Verwaltungsverfahren, öffentlichen Diensten und Internetangeboten<br />

der Verwaltung müsste jeweils fur diejenigen Bürgerinnen und Bürger<br />

klagefähig sein, die dem entsprechenden Hoheitsträger unterstehen.<br />

Im zivilrechtlichen Kontext könnte die Frage der Barrierefreiheit auch bei Klagen<br />

auf der Grundlage des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes thematisiert werden,<br />

wenn Verträge mit behinderten Menschen über Waren und Dienstleistungen<br />

auf Grund mangelnder Barrierefreiheit nicht zustande kommen oder nicht vollzogen<br />

werden können, obwohl der Vertragspartner <strong>zur</strong> Barrierefreiheit zum Beispiel seiner<br />

52 Art. 16 BayBGG; § 15 BerlLGBG; § 10 BbgBGG; § 12 BremBGG; § 10 RhPfLGGBehM; § 9 Abs. 2<br />

SächslntegrG; § 17 Abs. 1 BGStG LSA; § 3 SHLBGG; § 17 HessBGG; § 12 HmbGGbM; § 12 LB­<br />

GGBW; § 20 ThürGIG; § 15 LBGGMV; § 13 NBGG; Steinbrück (Anm. 32) S. 157, 161ff.; Sabine<br />

Schlacke: Verbandsklagerechte im Behindertenrecht, in: Beiträge zum Recht der sozialen Dienste<br />

und Einrichtungen, 2003, H. 52, S. 60ff.<br />

53 VGH Baden-Württemberg v. 24.3.2010, ESVGH 60, 225; VG Aachen v. 19.5.2009, Az. 2 K 1903/08.<br />

54 UweJürgens: Barriere- und diskriminierungsfreier Zugang zu öffentlichen Gaststätten, Frankfurt/M.:<br />

Peter Lang, 2008, S. 141ff.


Rechtliche Voraussetzungen von Bamenfteiheit 83<br />

Geschäfts- oder Veranstaltungs räume oder eines Mietobjekts verpflichtet war. Führt<br />

mangelnde Barrierefreiheit zu Schäden, könnte das Thema auch in Haftungsprozessen<br />

angesprochen werden. Auch hier liegt bislang keine einschlägige Rechtsprechung vor.<br />

Im arbeitsgerichtlichen Verfahren könnte die mangelnde Barriererreiheit von<br />

Arbeitsstätten in Kündigungsschutzverfahren thematisiert werden, wenn eine Weiterbeschäftigung<br />

nur unter barrierefreien Umständen möglich erschiene. Insbesondere in<br />

diesem Kontext kann die Einhaltung arbeitsschutzrechtlicher Verpflichtungen weitreichende<br />

Folgen haben. Im Übrigen ist hier schon im Vorfeld das Wächteramt der<br />

Sicherheitsbeauftragten, der Berufsgenossenschaften, des Betriebs- oder Personalrats<br />

und der Schwerbehindertenvertretung zu aktivieren, auch um barrierefreie Arbeitsstätten<br />

als Teil des Gesundheitsschutzes durchzusetzen. 55<br />

Auf verfassungsrechtlicher Ebene könnten un<strong>zur</strong>eichende gesetzliche Grundlagen<br />

der Barrierefreiheit als Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot angesehen werden<br />

und zum Beispiel im abstrakten Normenkontrollverfahren des Bundesverfassungsgerichts<br />

oder der Landesverfassungsgerichte überprüft werden. Da das Kernproblem aber<br />

weniger die gesetzlichen Grundlagen als vielmehr deren Vollzugsdefizite zu sein scheinen<br />

und auch in den Fällen, in denen Barrierefreiheit nicht ausdrücklich als gesetzliches<br />

Ziel genannt ist, eine verfassungskonforme Anwendung des Rechts in Betracht kommt,<br />

sind verfassungsgerichtliche Verfahren wohl nicht das vorrangige Forum fur rechtliche<br />

Auseinandersetzungen auf diesem Gebiet.<br />

3.8 Durchfuhrung und Überwachung der Behindertenrechtskonvention<br />

Die Vertragsstaaten der Behindertenrechtskonvention haben sich verpflichtet, innerstaatlich<br />

AnlaufsteIlen fur die Durchfuhrung der Konvention zu schaffen (Art. 31 Abs. 1<br />

Behindertenrechtskonvention). Hier ist das Bundesministerium fur Arbeit und Soziales<br />

benannt worden. Weiterhin ist auch ein unabhängiger Mechanismus <strong>zur</strong> Beobachtung<br />

geschaffen worden (Art. 31 Abs. 2 BRK). Diese Monitoring-Stelle ist beim Deutschen<br />

Institut fur Menschenrechte angesiedelt worden. Die Vereinten Nationen haben einen<br />

Ausschuss fur die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei der Hohen Kommission<br />

fur Menschenrechte in Genf eingerichtet (Art. 34 BRK). Die Bundesrepublik<br />

Deutschland wird diesem Ausschuss im Abstand von zwei Jahren berichten (Art. 35<br />

BRK), erstmals 2011.<br />

3.9 Internationale Überwachung<br />

Nach dem von der Bundesrepublik Deutschland ohne Vorbehalte ratifizierten Fakultativprotokoll<br />

<strong>zur</strong> Behindertenrechtskonvention können Einzelpersonen und Perso-<br />

55 LAG Hamburg v. 17.8.2007, AiB 2008, S. 101.


84 Felix Welfz'<br />

nengruppen Mitteilungen an den Ausschuss fur die Rechte von Menschen mit Behinderungen<br />

richten, wenn sie behaupten, Opfer einer Verletzung des Übereinkommens<br />

durch den betreffenden Vertragsstaat zu sein. Voraussetzung ist, dass die innerstaatlichen<br />

Rechtsbehelfe erschöpft worden sind, es sei denn, dass das Verfahren unangemessen<br />

lange dauert. Der Ausschuss kann den Vertragsstaat in dem Verfahren auffordern,<br />

Stellung zu beziehen und weitere Untersuchungen veranlassen. Die Ergebnisse werden<br />

dem Vertragsstaat mitgeteilt. Unmittelbare Sanktionen oder Rechtswirkungen sind<br />

mit dem Verfahren nicht verbunden. Es ist aber zu vermuten, dass die Bundesrepublik<br />

Deutschland sich anstrengen würde, dass keine Menschenrechtsverletzungen durch<br />

den Ausschuss festgestellt werden.<br />

4. Schluss<br />

Die Zugänglichkeit öffentlicher Verwaltungen, Dienste und Einrichtungen ist eine<br />

Voraussetzung dafur, dass behinderte Menschen gleichberechtigt mit anderen an der<br />

Gesellschaft, am Arbeitsleben, an Bildung, <strong>Kultur</strong> und Wirtschaftsleben teilhaben und<br />

von ihren Grund- und Menschenrechten Gebrauch machen können. Die barrierefreie<br />

Gestaltung und Planung sind eine wesentliche Voraussetzung der Zugänglichkeit, insbesondere,<br />

soweit diese nicht über teure, nicht immer erreichbare und im Fürsorgesystem<br />

verortete Assistenzleistungen erreicht werden soll. Es kommt teurer und ist weniger<br />

effektiv, wenn behinderte Menschen einen gesonderten Fahrdienst benötigen, weil<br />

sie öffentliche Verkehresmittel nicht benutzen können oder wenn sie eine Vorlesekrafi:<br />

brauchen, weil Internetseiten nicht auf sehbehinderte Menschen eingerichtet sind.<br />

Obwohl die Barrierefreiheit in der deutschen Rechtsordnung seit 2002 gesetzlich<br />

fur weite Bereiche des öffentlichen Lebens verankert ist, steht die faktische Rezeption<br />

in großen Teilen der Verwaltung und der Wirtschaft noch aus. Auch die Verbände<br />

behinderter Menschen und andere sozialpolitisch relevante Organisationen - wie Sozialverbände,<br />

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände - scheinen die Relevanz des<br />

Themas noch nicht erkannt zu haben. Die demografische Entwicklung sorgt dafur,<br />

dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung aufBarrierefteiheit angewiesen ist. Staat,<br />

Bildungswesen und Wirtschaft dürfen und können es sich nicht mehr leisten, schon<br />

durch ihre Gestaltung viele Bürgerinnen und Bürger auszuschließen. Das Recht hält die<br />

Instrumente vor, um die nötigen Entscheidungen zu treffen und Konflikte zu fuhren.<br />

Bund, Länder, Städte, Gemeinden, Kreise, Sozialversicherungsträger, Stiftungen und<br />

Anstalten sollten in Aktionsplänen den Weg <strong>zur</strong> Zugänglichkeit öffentlicher Dienste<br />

und Einrichtungen skizzieren und dabei die Verbände behinderter Menschen einbeziehen.<br />

Diese sollten konfliktbereit bleiben und notwendige Änderungen auch durch<br />

öffentlichen Druck und auf dem Klageweg einfordern.

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