Sexuell grenzverletzende Kinder â Praxisansätze und ihre ...
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Störungen des natürlichen oder normalen kindlichen Entwicklungsprozesses<br />
<strong>ihre</strong>n Ausdruck. „Normativ“ oder „angemessen“ sind demgegenüber<br />
Termini, die den Bereichen Soziologie, Sozialarbeit <strong>und</strong> Justiz zuzuordnen<br />
sind. Definiert wird damit eine Norm innerhalb einer Gesellschaft,<br />
Kultur oder Gruppe. Abweichungen werden innerhalb dieser Sinnzusammenhänge<br />
als „deviant“ oder „kriminell“ bezeichnet.<br />
Lamb & Coakley (1993) definieren zwei Bedeutungen des Begriffs<br />
„normal“: Einerseits ist dieser Terminus im Sinne von „typisch“ zu verstehen,<br />
womit eine häufiges Auftreten in der Durchschnittsgesellschaft beschrieben<br />
ist. Die andere Bedeutung ist eher wertbesetzt: Normalität bedeutet<br />
hier, dass ein Verhalten in irgendeiner Weise der Ges<strong>und</strong>heit förderlich<br />
ist oder zumindest dem Wohlbefinden einer Person nicht zuwider läuft.<br />
In eine ähnliche Richtung weist die Einteilung in „statistische Normen“,<br />
„soziale Normen“, „funktionelle Normen“ <strong>und</strong> „Idealnormen“ (Schuhrke,<br />
2002a).<br />
Angesichts der hier eingeführten Unterscheidungen mag es nicht überraschen,<br />
dass (erwachsene) Bewertungen kindlicher sexueller Verhaltensweisen<br />
anfällig sind für Verwechslungen von „normal“ <strong>und</strong> „normativ“. Sie<br />
beinhalten sowohl eine ges<strong>und</strong>heitsbezogene als auch eine moralische<br />
Dimension, wobei sich erstere eher auf das handelnde Kind bezieht <strong>und</strong><br />
letztere auf die Möglichkeit, dass ein anderes Kind durch das Verhalten<br />
dieses Kindes zu Schaden kommen könnte. Genau genommen müssten<br />
Normalitätsdiskurse immer unter der Berücksichtigung der Frage geführt<br />
werden, ob es um „unangemessenes“ Verhalten im Sinne einer Verletzung<br />
einer Rechtsnorm geht oder um „abnormales“ Verhalten im Sinne einer<br />
Abweichung von einer Ges<strong>und</strong>heitsnorm.<br />
Erste theoretische Gr<strong>und</strong>lagen zum Verständnis der kindlichen Sexualentwicklung<br />
hat Sigm<strong>und</strong> Freud erarbeitet, v.a. in den „Drei Abhandlungen<br />
zur Sexualtheorie“ (1905). Bereits im Jahre 1896 begründete er in seinem<br />
berühmten Vortrag „Zur Ätiologie der Hysterie“ (Freud, 1896, zit. n.<br />
Masson, 1995) die Entstehung psychischer Erkrankungen konsequent als<br />
Folge pathogener „infantiler Sexualerlebnisse“. Freud verwies an mehreren<br />
Stellen darauf, dass es sich bei solchen traumatischen Erlebnissen nicht nur<br />
um sexuellen Missbrauch durch Erwachsene handelte sondern auch um<br />
sexuelle Interaktionen zwischen <strong>Kinder</strong>n.<br />
Ryan (2000) erwähnt vereinzelte Studien aus den 1930er, 40er <strong>und</strong> 50er<br />
Jahren, die zu dem Ergebnis kamen, dass sexuelle Erregbarkeit bereits vorgeburtlich<br />
zu beobachten ist. Im Prozess der Entdeckung der eigenen<br />
genitalen Organisation betätigen sich <strong>Kinder</strong> bereits in den ersten Lebensmonaten<br />
in Form von Verhaltensweisen, die als „autoerotisch“ bezeichnet<br />
wurden (vgl. auch Schuhrke, 2002b). Die Rede ist in diesem Zusammenhang<br />
von Selbststimulation, Erregung <strong>und</strong> orgasmischem Abbau von<br />
Spannungszuständen. Einige frühe Studien beschäftigten sich mit masturbatorischem<br />
Verhalten von Säuglingen <strong>und</strong> Vorschulkindern. Diese Aktivitäten<br />
wurden eher als „genital“ <strong>und</strong> weniger als „sexuell“ beschrieben, allerdings<br />
wurde von Verhaltensbeobachtungen bereits auf begleitende<br />
psychische bzw. motivationale Korrelate geschlossen wie Selbstberuhigung<br />
<strong>und</strong> Spannungsabbau (wenn <strong>Kinder</strong> müde oder belastet sind) oder aber<br />
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