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Herrmann, Emanuel Naturgeschichte der Kleidung ... - modetheorie.de

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<strong>Herrmann</strong>, <strong>Emanuel</strong><br />

www.<strong>mo<strong>de</strong>theorie</strong>.<strong>de</strong><br />

Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 1 (170)<br />

<strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong><br />

Wien (R. v. Waldheim) 1878, 368 Seiten<br />

INHALT<br />

Vorwort 3<br />

I. 1789 in 1878 5<br />

II. Formen und Constructionen 23<br />

III. Zur Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>sstücke. - Erste Gruppe 54<br />

IV. Zur Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>sstücke. - Zweite Gruppe 79<br />

V. Zur Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>sstücke. - Dritte Gruppe 91<br />

VI. Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Aufbau 112<br />

VII. Metamorphosen 125<br />

VIII. Die Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Arten 160<br />

IX. Oekonomik <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung 182<br />

X. Die Cultur <strong>de</strong>s Leibes und <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinne 204<br />

XI. Physiognomik <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> 232<br />

XII. Aesthetik <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> 258<br />

XIII. Symbolik <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> 279<br />

XIV. Mo<strong>de</strong>, Costüm und Trach 304<br />

XV. Gallerie <strong><strong>de</strong>r</strong> Costüme 316<br />

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VORWORT.<br />

Dieses Büchlein gehört <strong>de</strong>n Frauen, <strong>de</strong>n Schöpferinnen und Kennerinnen im Gebiete<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung. Auf <strong>de</strong>m zierlichen Bücherbrette <strong>de</strong>s jungen Mädchens fin<strong>de</strong><br />

es neben „Blüthen und Perlen“ ein beschei<strong>de</strong>n Plätzchen, und im Schranke <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Frau stehe es <strong>de</strong>m „Kochbuche“ und <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Compendien hausbackener<br />

Wirtschaftlichkeit würdig zur Seite. Es sei ein Andachtsbuch für Mo<strong>de</strong>damen, ein<br />

Toiletten - Brevier <strong><strong>de</strong>r</strong> sich schmücken<strong>de</strong>n Schönen, es sei mit einem Worte ein<br />

Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>buch.<br />

Und warum auch nicht? Kochen wir doch nie ohne Kochbuch, warum sollen wir<br />

uns nicht auch einmal klei<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>m Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>buche? Aber so wie Niemand ein<br />

Kochbuch vom Anfang bis zum En<strong>de</strong> durchliest, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n bald im Capitel<br />

2<br />

von <strong>de</strong>n Saucen, bald in jenem von <strong>de</strong>n Braten, bald wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in jenem über die<br />

Ausschmückung und die Anordnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Tafel nachschlägt, gera<strong>de</strong> wie es <strong><strong>de</strong>r</strong> Augenblick<br />

verlangt, so wer<strong>de</strong> auch dieses Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>buch bald vorne, bald hinten, immer<br />

aber zu guter Stun<strong>de</strong> benützt.<br />

Wer aber das Buch durchaus zu En<strong>de</strong> lesen will, <strong><strong>de</strong>r</strong> beginne damit nicht allein<br />

von vorne, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch von rückwärts. Denn die naturgeschichtliche Anordnung<br />

<strong>de</strong>s Stoffes gleicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppirung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gebirge einer Landschaft. Von je mehr<br />

Seiten aus man sie beschaut, <strong>de</strong>sto klarer wird das Bild.<br />

Wäre es <strong>de</strong>m Autor gestattet, sich <strong>de</strong>n Leser zu wünschen „wie er sein soll“, dann<br />

wür<strong>de</strong> er einen solchen begehren, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Buche naht wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Jüngling <strong><strong>de</strong>r</strong> Laube,<br />

welche die Geliebte birgt, o<strong><strong>de</strong>r</strong> wie die Mutter <strong><strong>de</strong>r</strong> Wiege, darinnen das Kindchen<br />

lächelnd ruht.<br />

Wien, im Juli 1878.<br />

<strong>Emanuel</strong> <strong>Herrmann</strong>.<br />

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I.<br />

1789 in 1878<br />

Friedrich <strong><strong>de</strong>r</strong> Heizbare nennt sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Held einer lustigen Parodie zukunftsmusikalischer<br />

Ritteropern, welcher an <strong>de</strong>n Gesellschaftsaben<strong>de</strong>n im Wiener<br />

Künstlerhause durch seine klassische Rüstung die Lachlust <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuschauer erregt.<br />

Anstatt eines ritterlichen „Krebses“ trägt er um <strong>de</strong>n Leib einen Zimmerofen aus<br />

Eisenblech, die Arme und Beine stecken in Ofenröhren aus <strong>de</strong>mselben Materiale,<br />

und in einer thränenreichen Scene öffnet er - welch’ ein Graus - die <strong>de</strong>n Bauch<br />

beklei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Ofenthüre und zieht sein buntsei<strong>de</strong>nes Schnupftuch hervor.<br />

6<br />

Der Scherz ist wirksam, aber er trifft eigentlich nicht das Ritterthum, <strong>de</strong>ssen Rüstungen<br />

bei aller Schwerfälligkeit doch für ihre Zeit praktisch und überdies auch<br />

schön sein konnten; er trifft vielmehr unsere mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Männerkleidung. Nur diese<br />

ist ein System von Ofenröhren, gekrönt durch das „Angstrohr“, <strong>de</strong>n Cylin<strong><strong>de</strong>r</strong>. Und<br />

damit für die überschüssigen Gase <strong><strong>de</strong>r</strong> Dampfarbeit <strong>de</strong>s Kopfes von heute <strong><strong>de</strong>r</strong> Abzug<br />

nicht fehle, that die mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Hutmacherkunst noch ein Uebriges und brachte<br />

im Dache <strong>de</strong>s Hutes ein Luftloch an - fehlt also nur noch die Ofenthüre! Geschmackloser<br />

als die heutige Zeit hat noch kein Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t die menschliche Gestalt<br />

verunziert!<br />

Geduldig nehmen wir einerseits die Verirrung hin, dass unsere Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> von Ingenieuren<br />

construirt zu sein scheinen, vielleicht nach <strong>de</strong>m Vorbil<strong>de</strong> eines Systemes<br />

von Sie<strong><strong>de</strong>r</strong>öhren, gedankenlos lassen wir an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits über uns die Pariser Mo<strong>de</strong>n<br />

ergehen. Wir bemerken gar nicht, dass diese uns zwingen, Gesinnungen zur Schau<br />

zu tragen, welche mit unserer Ueberzeugung nicht nur nichts gemein haben, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

ihr gera<strong>de</strong>zu Hohn sprechen.


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Unsere Elegants männlichen und weiblichen Geschlechtes, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Polizei-<br />

Direction als wahre Mustermenschen registrirt, an politischer und moralischer<br />

Lethargie ihres Gleichen suchend, aber nicht fin<strong>de</strong>nd, bummeln <strong>de</strong>n Graben und<br />

die Ringstrasse entlang, in Costümen, als herrschte in Wien die Revolution. Die<br />

Incroyables von 1789 sind wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auferstan<strong>de</strong>n, nur philiströs gebügelt und geschniegelt,<br />

wie es sich geziemt in einer Zeitperio<strong>de</strong>, welche zwischen 1870 und<br />

1878 <strong>de</strong>n Weg zurückgelegt hat, <strong>de</strong>n Frankreich einstens, allerdings auf <strong>de</strong>n stürmischesten<br />

Wogen befreiten und sodann gebändigten Menschenthums zwischen<br />

1789 und 1813 gesegelt ist. Nur führte die Bahn von heute in entgegengesetzter<br />

Richtung. Sie begann mit <strong>de</strong>m Empire und en<strong>de</strong>te mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Revolution, aber mit<br />

einer zahmen, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Militärherrschaft gedrillten Umwälzung, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Costüme<br />

lebhaft an <strong>de</strong>n 18. Brumaire (9. November) 1799 gemahnen, <strong>de</strong>n Tag, an welchem<br />

Bonaparte in <strong>de</strong>n Strassen von Paris die Kanonen zum Staatsstreich aufspielen<br />

lies. (Siehe Figur 1.)<br />

Gezähmte Incroyables, wie lächerlich! Ein hoher gesteifter Hut, <strong>de</strong>n „Schwung“<br />

nur in<br />

8<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Krämpe über <strong>de</strong>n Ohren, das Haar kurz geschnitten, <strong><strong>de</strong>r</strong> Hemdkragen gesteift,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Rock ein wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>s Futteral, mit Oeffnungen oben<br />

c, d a, b<br />

Figur 1: (Reihenfolge von links: c, d, a, b) a und b Incroyable und Merveilleuse 1799;<br />

c Junge Dame im „Schanzenlaufer“; d Herr im Costüme „Pauvre Diable“, bei<strong>de</strong> aus 1800.<br />

und unten, aus <strong>de</strong>nen wie bei einer Schildkröte Kopf und Füsse hervorlugen, die<br />

Schuhe stöckellos, lang und spitz, wie die langgestreckten<br />

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Klauen eines an Klauen-Entartung lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Rin<strong>de</strong>s. Anstatt <strong><strong>de</strong>r</strong> „Keule“ von<br />

1789 wird ein zartes Stäbchen balancirt. Die Loupe o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Feldstecher muss ein<br />

herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>n<strong><strong>de</strong>r</strong> und doch blö<strong><strong>de</strong>r</strong> „Zwicker“ ersetzen.<br />

Und unsere Frauen? Schiefsitzen<strong>de</strong> aber gesteifte Schwe<strong>de</strong>nhüte, gera<strong>de</strong> aufsteigen<strong>de</strong><br />

Kappen o<strong><strong>de</strong>r</strong> souffleurkasten-ähnliche Deckelchen als Krone einer Gestalt,<br />

welche, in <strong>de</strong>n geradlinigen Männer-Paletot gesteckt, vom Weibe nichts zeigt, als<br />

die Schleppe. Diese aber wird „merveilleusement“ sammt <strong>de</strong>m Klei<strong>de</strong> zur Rechten<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Linken so emporgehoben, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Rand im Kreisbogen zur Seite aufwärts<br />

flattert. Der Unglückliche aber, <strong><strong>de</strong>r</strong> neugierig vorüberstreicht, ent<strong>de</strong>ckt statt eines<br />

wohlgeformten Beins <strong><strong>de</strong>r</strong> Merveilleusen von 1789 einen dunklen, nicht selten<br />

sogar beschmutzten Unterrock.<br />

Die Verhältnisse Frankreichs seit 1870 gleichen <strong>de</strong>n Drehungen eines Kaleidoskops<br />

voll wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sinniger, ja theilweise wi<strong><strong>de</strong>r</strong>wärtiger Combinationen. Steht es uns<br />

zu, im Costüm dieselben wie<strong><strong>de</strong>r</strong>zuspiegeln? Menschenwürdig ist es, vom Affen<br />

abzustammen und doch Mensch zu sein. Aber eine Rückbildung zum Affen ...?<br />

10<br />

Wer an einem Schwächezustan<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Körpers o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Geistes lei<strong>de</strong>t, forsche <strong>de</strong>n<br />

Ursachen nach und behebe sie. Die Ursache <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachäffung nur für ein Land, nur<br />

für ganz örtliche Ereignisse passen<strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong>n lassen sich in Wien an Orten ent<strong>de</strong>cken,<br />

welche aus Speculation lei<strong><strong>de</strong>r</strong> ihren Beruf absichtlich verkennen. Die<br />

Bühne ist es vorzüglich, welche Paris in Wien wie<strong><strong>de</strong>r</strong>spiegelt, die Pariser Misère<br />

unseren ohnehin nicht erfreulichen Zustän<strong>de</strong>n wie einen Blatternstoff einimpft.<br />

Aber ach! Diese Impfblattern retten uns nicht vor <strong><strong>de</strong>r</strong> politischen und moralischen<br />

Epi<strong>de</strong>mie, wenn sie einstmals wie<strong><strong>de</strong>r</strong> im grossen Style von Paris ausgehen und<br />

Europa in einen Schutthaufen zu verwan<strong>de</strong>ln bestrebt sein wür<strong>de</strong>.<br />

Und gestehen wir es nur offen ein: Der Mangel an eigener Gestaltungskraft, an<br />

schöpferischen I<strong>de</strong>en macht uns zu steten Kostgängern <strong>de</strong>s gedankenreichsten,<br />

wenn auch nicht gedankenvollsten Volkes <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt. Der Franzose verwerthet eben<br />

seine I<strong>de</strong>en, <strong><strong>de</strong>r</strong> Deutsche schafft, aber begräbt sie zugleich. Wir könnten so leicht<br />

die Hellenen sein in einem Weltkreise, welcher von England bis China reicht, in<br />

<strong>de</strong>m,<br />

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ach lei<strong><strong>de</strong>r</strong>, Amerika <strong><strong>de</strong>r</strong>einst Roms Rolle zu spielen berufen scheint.<br />

So hat uns Friedrich <strong><strong>de</strong>r</strong> Heizbare mit <strong>de</strong>m Dampfe seiner Ofenröhren mitten in<br />

die weltumfassen<strong>de</strong>n Kreise <strong><strong>de</strong>r</strong> Culturbetrachtung geführt. Und so ist es eben<br />

recht. Die Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung ist we<strong><strong>de</strong>r</strong> durch <strong>de</strong>n „Mo<strong>de</strong>teufel“ aufgeworfen<br />

wor<strong>de</strong>n, wie die frommen Prediger <strong>de</strong>s sechzehnten bis achtzehnten Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts<br />

winselten, noch eine Lappalie, kaum eines Kaffeeklatsches zwischen alten Weibern<br />

werth, wie man heutzutage vermeint. Sie ist bisher vernachlässigt o<strong><strong>de</strong>r</strong> von<br />

Unberufenen misshan<strong>de</strong>lt, aber noch niemals zu lösen versucht wor<strong>de</strong>n.<br />

Und wie son<strong><strong>de</strong>r</strong>bar! Ist es nicht gera<strong>de</strong> die Toilette, welche neben <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe das<br />

Herz <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen auszufüllen, ihren Geist vollauf zu beschäftigen scheint? Ist es<br />

nicht die Toilette, welche als mächtigster Verbün<strong>de</strong>ter <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe selbst vom edleren<br />

Theile <strong>de</strong>s weiblichen Geschlechtes tagtäglich in’s Treffen geführt wird, und<br />

vom Kleingewehrfeuer <strong><strong>de</strong>r</strong> Spitzen, Schleifen und Rüschen angefangen bis hinauf<br />

zum schweren Geschützkampfe <strong><strong>de</strong>r</strong> Roben und Schleppen wohlgeschult zielt und<br />

sicher trifft?<br />

12<br />

Frauen und Fräuleins in<br />

Bausch’gen Gewän<strong><strong>de</strong>r</strong>n,<br />

Wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Lä<strong>de</strong>n von<br />

Stoffen und Bän<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

Schleppen und Falbalas,<br />

Sei<strong>de</strong>n und Plüschen,<br />

Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>n und Marabouts,<br />

Barben und Rüschen.<br />

G. Giusti.<br />

Haben die dichten Nebel aus Tarlatan, Mull, Crépe, Gaze und Illusion, zusammengewirbelt<br />

auf <strong>de</strong>n Schlachtfel<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Bälle nicht schon mehr Männer fallen<br />

gemacht als jene bei Chlum? Und wir Männer waffnen uns nicht dagegen, wir<br />

machen von solchen Waffen keinen Gebrauch? - Wir tänzeln in langgeschwänzten<br />

Fräcken von <strong><strong>de</strong>r</strong> Berufsfarbe <strong><strong>de</strong>r</strong> Kaminfeger, <strong>de</strong>n durch Einquetschung zum Teller<br />

herabgewürdigten Hut kellnermässig unter <strong>de</strong>n Arm rettend, zwischen <strong>de</strong>n<br />

olympischen Wolken zartester, lichtumflossener, farbendurchhauchter Damentoiletten<br />

umher, als wären wir lebendige Ausrufungszeichen am En<strong>de</strong> rasch wechseln<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Figurenräthsel.<br />

Wie sehr beschämt im Gebiete <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung das weibliche Geschlecht das<br />

männliche. Alles, was unseren werthesten, aber doch<br />

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stets vernachlässigten Leib umhüllt und ziert, ist von Frauen erfun<strong>de</strong>n und zuerst<br />

angenommen wor<strong>de</strong>n. Sie brechen für sich und für uns Bahn, vom Feigenblatte<br />

Eva’s angefangen bis zum Schattenspen<strong><strong>de</strong>r</strong> im Sommer und zum Doppelhandschuh<br />

im Winter, ja bis zu <strong>de</strong>n Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>schuhen herab, welche nun auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Sommergluth schätzen und tragen gelernt hat. Allerdings ist noch keine<br />

Frau als Erfin<strong><strong>de</strong>r</strong>in genannt und verewigt wor<strong>de</strong>n. Selbst Barbara Uttmann, die<br />

edle Klöpplerin <strong>de</strong>s Erzgebirges nicht, <strong>de</strong>nn sie hatte ja die Spitzenkunst in Belgien<br />

selbst erlernt und nur nachgeübt.<br />

Doch nein, wir wären schlechte Historiker, wollten wir dies ausnahmslos behaupten.<br />

Alte griechische Sagen, von Strabo, Diodor und Justinus nacherzählt, schreiben<br />

zwei <strong><strong>de</strong>r</strong> merkwürdigsten Frauen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Geliebten Jason’s, <strong><strong>de</strong>r</strong> Giftmischerin<br />

Me<strong>de</strong>a, und <strong><strong>de</strong>r</strong> mächtigen Alleinherrscherin Semiramis, die Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> medischen<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> persischen Tracht zu. Semiramis erfand für die Staatsreisen durch<br />

ihr „Russland“ <strong>de</strong>s antiken Orients einen Anzug, welcher zwischen <strong>de</strong>n Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen<br />

und Vorzügen <strong><strong>de</strong>r</strong> dama-<br />

14<br />

ligen weiblichen und männlichen <strong>Kleidung</strong> so sehr die rechte Mitte hielt, dass er<br />

später als die bequemste und schönste Tracht allgemein Anklang fand.<br />

Und Semiramis war keine Schwärmerin aus Ritterszeiten. Sie war Napoleon I.<br />

ihres Reiches.<br />

Figur 2: Sculpturen <strong>de</strong>s Harpyen-Monumentes von Xanthos in Lycien.<br />

Denn so wie mehr als drei Jahrtausen<strong>de</strong> später dieser Imperator von <strong><strong>de</strong>r</strong> Pike auf,<br />

führte sie aus Anlass ihres grossartigen Feldzuges nach Indien das Militär-<br />

Conscriptions-System ein: „Sie schickte Boten nach allen Statthalterschaften und<br />

befahl <strong>de</strong>n Statthaltern, die Tüchtigsten unter <strong><strong>de</strong>r</strong> jungen<br />

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Mannschaft zu verzeichnen, und die Menge <strong><strong>de</strong>r</strong>selben bestimmte sie nach <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Stärke <strong><strong>de</strong>r</strong> Einwohnerzahl.<br />

Und eine solche Frau, in <strong><strong>de</strong>r</strong>en Geist sich<br />

Figur 3: Athenerin, mit <strong>de</strong>m dorischen Chitonbeklei<strong>de</strong>t, sich mit <strong>de</strong>m Umhängetuch umhüllend.<br />

die Gedankenwelt ihres Jahrtausends concentrirt haben mag, fand es nicht unter<br />

ihrer Wür<strong>de</strong>, einen passen<strong>de</strong>n Anzug zu erfin<strong>de</strong>n!<br />

Dieser Sage reiht sich noch ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Kriegsstücklein aus <strong>de</strong>m Alterthum an, in<br />

wel-<br />

16<br />

chem allerdings nicht eine einzelne Frau, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n gleich eine ganze Schaar <strong><strong>de</strong>r</strong>selben<br />

einmüthig eine neue Tracht erfand. In einem Feldzuge <strong><strong>de</strong>r</strong> Athener gegen<br />

die Aegineten und Argiver kam theils durch Ueberfall, theils durch Gewitter und<br />

Erdbeben das ganze athenische Heer um, bis auf Einen, welchen die Athenerinnen<br />

als Feigling beim Empfange mit ihren Na<strong>de</strong>lhaken (Kreffen zum Festhalten <strong>de</strong>s<br />

Klei<strong>de</strong>s über <strong><strong>de</strong>r</strong> Schulter) tödteten. Aus Trauer über diesen Vorfall schaffte man<br />

in Athen die Kreffen ab und führte anstatt <strong><strong>de</strong>r</strong> ärmellosen dorischen Tracht eine<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> lycisch-karischen ähnliche Frauenkleidung ein, welche aus einem weiten, faltenreichen,<br />

bis auf die Füsse reichen<strong>de</strong>n, mit Aermeln versehenen Gewan<strong>de</strong> bestand,<br />

das nicht übergeworfen und geheftelt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n angezogen wur<strong>de</strong>. Die Aegineten-<br />

und Argiver-Frauen aber trugen von nun an zum Trotze um die Hälfte längere<br />

Kreffen. (Fig. 2 und Fig. 3.)<br />

Und auch in unserem Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t, vor Kurzem erst, bewies die gesammte Frauenwelt<br />

eines edlen, wenn auch politisch unselbstständig gewor<strong>de</strong>nen Volkes, dass<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> eine sittliche Macht innewohnt. Noch heute herrscht<br />

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seit <strong>de</strong>m letzten Aufstan<strong>de</strong> und <strong><strong>de</strong>r</strong> grausamen Unterdrückung <strong>de</strong>sselben durch<br />

Russland in ganz Polen die schwarze Tracht. Die Trauerfarbe wird mit einer Einmüthigkeit<br />

getragen, welche gera<strong>de</strong>zu bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>nswerth ist, wenn man be<strong>de</strong>nkt,<br />

wie sehr <strong><strong>de</strong>r</strong> weiblichen Schönheit Farben wirksam zu Hilfe kommen, und dass<br />

die Verzichtleistung auf dieselben so viel be<strong>de</strong>utet, als die Opferung eines Theiles<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Waffen im Kampfe um das Liebes- und Lebensglück.<br />

Wenigen nur dämmert eine Ahnung auf von <strong><strong>de</strong>r</strong> Macht, welche einem schönen<br />

Klei<strong>de</strong> innewohnt. Es verleiht nicht nur <strong>de</strong>m Leibe, welcher ja beim weiblichen<br />

Geschlechte das unmittelbare Werkzeug <strong>de</strong>s Lebensberufes, nämlich <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe ist,<br />

hinreissen<strong>de</strong> Reize. Es spiegelt in seinen geschmackvollen Formen und Farbengruppirungen<br />

auch geistige Vorzüge wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, ja es hilft dieselben fingiren, wo sie<br />

fehlen.<br />

Allerdings sollte die <strong>Kleidung</strong> <strong>de</strong>m individuellen Charakter angepasst sein und<br />

<strong>de</strong>n Leib nicht nur als Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>puppe benützen. Nur wenn er mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Person vollständig<br />

harmonirt, bringt <strong><strong>de</strong>r</strong> Anzug Reiz und Wür<strong>de</strong>. Aber wie wenige Menschen<br />

wissen von <strong>de</strong>n Vorzügen ihres Leibes<br />

18<br />

und ihres Geistes Gebrauch zu machen. Die Menge betrachtet <strong>de</strong>n eigenen Leib<br />

als „geschenkten Gaul“, <strong>de</strong>m man keine Achtung zu zollen braucht. Zum Theil<br />

tragen Reminiscenzen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> mittelalterlich-christlichen Zeitperio<strong>de</strong> daran<br />

Schuld, in welcher <strong><strong>de</strong>r</strong> Körper als „sündhaftes Fleisch“ von vornherein verachtet<br />

und verdammt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ssen <strong>Kleidung</strong> nur <strong><strong>de</strong>r</strong> „Nothdurft“ dienen sollte, in welcher<br />

das Fasten mit Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>n ebenso für gottgefällig angesehen wur<strong>de</strong>, als das<br />

Fasten in Hinsicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Nahrung. Ja, man that sogar ein Uebriges und führte <strong>de</strong>n<br />

Stachelgürtel, das Cingulum auf blossem Leibe und ähnliche Marterklei<strong><strong>de</strong>r</strong> ein.<br />

Heute sorgen zwar vorwiegend nur die Schuhmacher für Stachelsohlen und Marterschuhe<br />

und die religiöse Absicht macht <strong><strong>de</strong>r</strong> Eitelkeit Platz, aber noch fehlt das<br />

Bewusstsein vom hohen Werthe und <strong>de</strong>m göttlichen Segen <strong>de</strong>s Leibes und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Be<strong>de</strong>utung seines Schutzmittels, seiner Zier: <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>.<br />

Einer <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten <strong>de</strong>utschen Kunstgelehrten unserer Zeit, <strong><strong>de</strong>r</strong> vor wenigen Jahren<br />

verstorbene Galerie-Director zu Berlin Gustav Friedrich Waagen pflegte zu sagen:<br />

„Ich gehöre zu<br />

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<strong>de</strong>nen, welche sich zum Bewusstsein im Essen erhoben haben“. Es ist wahr, nicht<br />

viele Menschen essen <strong>de</strong>nkend. Aber noch viel Wenigere klei<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>nkend.<br />

Vor <strong>de</strong>m Spiegel Toilette zu machen, im Salon <strong><strong>de</strong>r</strong> Confections-Handlung stun<strong>de</strong>nlang<br />

Costüme zu probiren o<strong><strong>de</strong>r</strong> An<strong><strong>de</strong>r</strong>e für sich probiren zu lassen, sich in allen<br />

möglichen und unmöglichen Stellungen und Anzügen durch <strong>de</strong>n Zauber-<br />

Mechanismus <strong>de</strong>s Photographen bildlich zu verewigen, das be<strong>de</strong>utet noch nicht,<br />

costümlich <strong>de</strong>nken. Und doch macht das Costümwesen Fortschritte. Aber diese<br />

Fortschritte lassen sich auf gar wenige erfin<strong><strong>de</strong>r</strong>ische (nicht <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

dichten<strong>de</strong>) Köpfe, etwa auf einen Herrn Worth in Paris, auf einige Hilfskräfte <strong>de</strong>s<br />

Magazin du Louvre und einzelner Mo<strong>de</strong>-Journale in Paris, London, Berlin zurückführen;<br />

alles Uebrige ist Kind <strong><strong>de</strong>r</strong> Noth und <strong>de</strong>s Zufalls.<br />

Es war nicht immer so. Je<strong>de</strong>s Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t kann eine Perio<strong>de</strong> aufweisen, in welcher<br />

ein allverbreitetes Costüm geschaffen wur<strong>de</strong>, das freilich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>de</strong>m darauffolgen<strong>de</strong>n<br />

Zeitraume verballhornt, abgenützt und abgetragen wur<strong>de</strong>.<br />

20<br />

Heute zehren wir von 1789. Das neunzehnte Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t muss sein Costüm erst<br />

schöpferisch gestalten. Wir hatten lei<strong><strong>de</strong>r</strong> bisher keine Zeit dazu. Wichtigere Aufgaben,<br />

wie die Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>kämpfung <strong><strong>de</strong>r</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> grossen Revolution entfesselten Freiheitsgelüste,<br />

die Auffütterung <strong>de</strong>s Alles verschlingen<strong>de</strong>n Drachen, „stehen<strong>de</strong>s<br />

Heer“ genannt, die Beschwin<strong>de</strong>lung <strong><strong>de</strong>r</strong> Armen im Geiste aber Reichen im Beutel<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong>gleichen schöne Dinge mehr, beschäftigen vollauf unseren Geist. Die Mechanik<br />

und die Chemie, die Naturwissenschaften feiern Triumphe, aber<br />

Wirthschaft und Kunst bleiben nach wie vor Schwestern Aschenbrö<strong>de</strong>l, und während<br />

die „exacten“ Wissenschaften an <strong>de</strong>n Glanztagen <strong><strong>de</strong>r</strong> Aka<strong>de</strong>mien preisgekrönt<br />

wer<strong>de</strong>n, müssen Wirthschaft und Kunst bei <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Tante „Krach“ Linsen<br />

und Erbsen zählen und son<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

Doch stille davon! Man müsste sich ja schämen, als Mann an Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> zu <strong>de</strong>nken,<br />

an Trachten, an Costüme. Das wäre Genussliebe und kleinliche Tän<strong>de</strong>lei! Heute<br />

gilt nur die Parole: „Arbeiten und Verdienen“. Unser Leben hat keinen Werth.<br />

Geniessen sollen dann Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> und Enkel! Wir bauen Eisenbahnen,<br />

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welche im Jahre 1999 noch nicht hinreichend befahren sein wer<strong>de</strong>n. Telegraphenlinien<br />

und Poststationen wer<strong>de</strong>n errichtet für <strong>de</strong>n Verkehr <strong><strong>de</strong>r</strong> Lieben<strong>de</strong>n anno<br />

2000. Actien-Gesellschaften wer<strong>de</strong>n ausgestreut wie die Flugsamen <strong>de</strong>s Löwenzahns,<br />

und Düngerhaufen sind vorhan<strong>de</strong>n, aus welchen die Krautköpfe erst <strong>de</strong>s<br />

dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung ihren Saft gewinnen dürften.<br />

Die Amerikaner nennen die Einwan<strong><strong>de</strong>r</strong>er in <strong>de</strong>n Südstaaten, welche in <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten<br />

Generation zumeist zu Grun<strong>de</strong> gehen, „Völkerdünger“. Das Wort ist nicht schön,<br />

aber praktisch. Es gibt jedoch nicht nur Nationen, welche für einan<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Dünger<br />

abgeben, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch Epochen, von <strong>de</strong>nen die eine für die an<strong><strong>de</strong>r</strong>e nur als Dünger<br />

fungirt. Und in einer solchen „Mist“-Epoche leben wir. Erst unsere Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> dürfen<br />

eine Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kehr <strong>de</strong>s Cinquecento o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> gol<strong>de</strong>nen Zeiten eines Augustus und<br />

Perieles erleben. Wohl ihnen!<br />

Um so gewagter ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Versuch, heute schon <strong>de</strong>m „Zukunfts-Genussmittel“, <strong>de</strong>m<br />

Klei<strong>de</strong>, einige Gedanken zu opfern. Und gera<strong>de</strong> in 0esterreich am gewagtesten,<br />

<strong>de</strong>nn bei uns<br />

22<br />

sind ja Gedanken ohnehin so selten, wie Diamanten. Wenigstens constatirte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

französische Naturforscher Bory <strong>de</strong> St. Vincent in seinem Werke „L’homme“,<br />

dass wir Oesterreicher die Böotier Europa’s sind, und dass wir nur vier Fünftheile<br />

<strong>de</strong>s Gehirns <strong><strong>de</strong>r</strong> Franzosen besitzen, <strong>de</strong>mnach hinsichtlich <strong><strong>de</strong>r</strong> geistigen Befähigung<br />

kaum etwas über die Neger hinausreichen.<br />

Bedauernswürdiger Autor, <strong><strong>de</strong>r</strong> trotz alle<strong>de</strong>m es wagt, seine Studien über die Natur<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung zu veröffentlichen. Daran trägt sicher nur jenes Fünftheil Hirn<br />

Schuld, welches nach Bory ihm als Oesterreicher abgeht!<br />

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II.<br />

FORMEN UND CONSTRUCTIONEN.<br />

Doch so ganz „ohne“ ist das Wagniss nicht. Zwölf Jahre sammelte <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor seine<br />

Beobachtungen, und als er nun zum Werke schritt, da war die Fülle <strong>de</strong>s Materials<br />

so gross gewor<strong>de</strong>n, dass er oftmals vergebens Anlauf nahm, es zu ordnen. In keinem<br />

Gebiete natürlichen Gestaltens und menschlichen Schaffens wechseln eben<br />

die Formen so rasch wie in jenem <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>.<br />

Mit je<strong><strong>de</strong>r</strong> Saison tauchen Tausen<strong>de</strong> neuer räthselhafter Gebil<strong>de</strong> auf und verschwin<strong>de</strong>n<br />

ebensoviele wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Wie soll man sich da zurechtfin<strong>de</strong>n? Während <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Naturgeschichte</strong><br />

24<br />

Sammlungen zu Hilfe kommen, welche die Vergleichung gestatten zwischen localen<br />

und allgemeinen, zwischen gegenwärtigen und vergangenen Erscheinungen,<br />

während schon im 17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t die reichen Kaufherren in <strong>de</strong>n Seehäfen Europa’s<br />

mit Vorliebe Sammlungen tropischer Conchylien, Käfer, Schmetterlinge und<br />

Pflanzen anlegten und dadurch die Benennung und Beschreibung vieler Arten und<br />

Varietäten <strong><strong>de</strong>r</strong> Naturgebil<strong>de</strong> möglich machten, und heute neben Thier- und Pflanzen-Sammlungen<br />

auch zoologische und botanische Gärten das vergleichen<strong>de</strong> Studium<br />

wesentlich erleichtern, wür<strong>de</strong> man, trotz<strong>de</strong>m von <strong>de</strong>n Eingewei<strong>de</strong>würmern<br />

angefangen bis zum Sattel Osman Pascha’s nahezu Alles gesammelt wird, was<br />

existirt, doch auf die Frage: Was sammeln Sie? schwerlich jemals die Antwort<br />

erhalten: Ich sammle Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>!<br />

Auch nicht einmal Costümbil<strong><strong>de</strong>r</strong> pflegt man zu sammeln, sie sind ja so vergänglich<br />

wie die Mo<strong>de</strong>n, welche sie darstellen. Sogar jene Museen, welche zunächst<br />

berufen wären, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung ein geordnetes Material zum<br />

Studium darzubieten, die Kunstgewerbe-<br />

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Museen, sind bei allem Reichthum an Sammlungen von E<strong>de</strong>lmetall-, Bronce- und<br />

Eisen-, von Porzellan-, Thon- und Glasgegenstän<strong>de</strong>n, von Stickereien und Spitzen,<br />

doch auffallend arm an Bekleidungs- und Toilette-Artikeln. Es bleiben <strong>de</strong>mnach<br />

nur noch jene historischen Sammlungen übrig, in welchen die Rarität und<br />

das geschäftliche Interesse <strong>de</strong>n Ausschlag geben.<br />

So ist es wohl zu begreifen, dass die Namengebung <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>, dass die Terminologie<br />

ihrer Naturformen noch nicht einmal bei jenem Lallen anlangte, welches im<br />

17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te die <strong>Naturgeschichte</strong> auf <strong>de</strong>n Kathe<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Universitäten und in<br />

<strong>de</strong>n gelehrten Zeit- und Streitschriften vernehmen liess.<br />

Während die Naturwissenschaft je<strong>de</strong>m Käfer, je<strong>de</strong>m Schmetterlinge, je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mücke<br />

<strong>de</strong>n rechten Platz im Systeme angewiesen hat, während die Zahl und Richtung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Ae<strong><strong>de</strong>r</strong>chen in <strong>de</strong>n Flügeln <strong><strong>de</strong>r</strong> Netzflügler genau beschrieben, ja selbst die Spaltöffnungen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Pflanzenoberhaut zum Gegenstan<strong>de</strong> eigener Monographien gewählt<br />

wor<strong>de</strong>n sind, ist heute noch kein Costümkundiger im Stan<strong>de</strong> zu sagen, was z. B.<br />

ein Rock sei.<br />

26<br />

Klingt dies nicht lächerlich? Aber es ist <strong>de</strong>nnoch wahr, und es ist sogar erklärbar.<br />

Die Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung sind ja so verän<strong><strong>de</strong>r</strong>lich und wan<strong>de</strong>lbar, dass man in<br />

<strong>de</strong>m einen Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te „Mantel“ nennt, was im an<strong><strong>de</strong>r</strong>en „Kragen“ heisst, und<br />

dass heuzutage die Frauenwelt „Rock“ die geschlossene Bekleidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Hüften<br />

und Beine nennt, während <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann darunter jenes Mittelleibskleid versteht, welches<br />

sich vorne in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte öffnen lässt, und mit Aermeln versehen ist.<br />

Eine Monographie über die Hose wür<strong>de</strong> uns so komisch vorkommen, wie unseren<br />

Vorfahren im 17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Otto von Guericke’s Experimente mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Luft.<br />

„Wie kann man doch die unsichtbare, ungreifbare Luft wägen und messen, wegnehmen<br />

und hinzuthun?“ rief man damals aus, und glaubte erst dann an <strong>de</strong>n Werth<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Luftpumpe, <strong><strong>de</strong>r</strong> Mutter all’ unserer Dampf- und calorischen Maschinen, als<br />

Guericke vor <strong>de</strong>n Augen Kaiser Ferdinand’s III. und vieler Fürsten und Herren auf<br />

<strong>de</strong>m Reichstage zu Regensburg im Jahre 1650 vier Pfer<strong>de</strong> an jene kupfernen<br />

Halbkugeln anspannen liess, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Höhlung er mittelst seiner Pumpe die Luft<br />

27<br />

entzogen hatte. Sind wir nun auch nicht im Stan<strong>de</strong>, so wahrhaft pfer<strong>de</strong>kräftig „anziehen<strong>de</strong>“<br />

Experimente aus <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung anzuführen, so<br />

kann es doch nicht ohne Interesse sein, <strong>de</strong>n im Leben uns stets zu allernächst liegen<strong>de</strong>n<br />

Gegenstän<strong>de</strong>n, nämlich unserer eigenen künstlichen Hautbe<strong>de</strong>ckung, ein<br />

Augenmerk zu schenken.<br />

Die Natur setzte uns als „Nackthäuter“ in das Leben. Warum gab sie uns nicht<br />

einen Pelz in’s Dasein mit, wie <strong>de</strong>n Eisbären, o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Fell, wie <strong>de</strong>n Panthern,<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>nkleid, reizend schön, wie <strong>de</strong>n Paradiesvögeln? Warum gleicht un-<br />

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sere Haut nicht <strong>de</strong>n zierlichen Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>schuppen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schmetterlingsflügel o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n<br />

glänzen<strong>de</strong>n Decken <strong><strong>de</strong>r</strong> Käfer? Wie gut stün<strong>de</strong>n uns natürliche Schil<strong>de</strong> aus<br />

Schildkrötenschalen, Helme aus Schneckenhäusern, und in gewissen fatalen Situationen<br />

wäre uns selbst eine Rhinoceros- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Krokodilshaut sicher auch nicht<br />

unerwünscht.<br />

Die Rosenblüthen könnten vielleicht dauernd das Haar und die Lilien <strong>de</strong>n Busen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Damen schmücken. So aber sind unsere Hautschuppen unsichtbar klein, und<br />

das bischen Haarwuchs<br />

28<br />

nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Re<strong>de</strong> werth. Darum rächen wir uns an <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur und plün<strong><strong>de</strong>r</strong>n sie, um<br />

uns zu klei<strong>de</strong>n und zu schmücken, wo wir nur können. Darin thut’s uns kein Thier<br />

gleich. Keines schmückt sich mit frem<strong>de</strong>n Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>n, mag es sonst auch noch so sehr<br />

im Nachäffen und Ausplün<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>de</strong>m menschlichen I<strong>de</strong>ale nahekommen. Unsere<br />

Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> sind aus jenen Beutestücken zusammengesetzt, welche wir als grösstes<br />

und geistreichstes Raubthier <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong> unseren „Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n im stillen Busch, in Luft<br />

und Wasser“ entrissen haben. Muss nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Sei<strong>de</strong>nwurm für uns spinnen, das<br />

Schaf sich scheeren lassen und anstatt unser frieren - nehmen wir <strong><strong>de</strong>r</strong> Baumwollstau<strong>de</strong><br />

nicht die warme Fruchthülle, <strong>de</strong>m Hanf und Leinen die schützen<strong>de</strong>n Bastfasern<br />

kecklich ab? Das Wild muss uns hiezu seinen Pelz, das Rind seine Haut<br />

überlassen, und die Schalen <strong><strong>de</strong>r</strong> Perlen- und Perlmutter-Muscheln, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Cocos-<br />

und Steinnüsse dienen uns, wenn auch in an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Form und Weise, zu Knöpfen,<br />

Schliessen und an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Halte- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Zier-Apparaten, <strong><strong>de</strong>r</strong>en wir die Thiere berauben.<br />

Aber warum wuchs uns eben kein Haarkleid? Weil wir auf <strong>de</strong>n Flügeln <strong><strong>de</strong>r</strong> Willens- <br />

29<br />

kraft und Intelligenz von jenem Welttheile Lemuria aus viel zu rasch über die<br />

ganze Er<strong>de</strong> weitereilten, welcher mit <strong>de</strong>n Gebeinen <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Menschenracen<br />

längst im indischen Ocean versunken ist. Die langsame Weberin Natur, mit ihrer<br />

urlangweiligen Metho<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Anpassung und Vererbung kam <strong>de</strong>m Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>bedarfe<br />

<strong>de</strong>s Menschen nicht nach, und so sind wir nackt geblieben vom Mutterleibe aus,<br />

aber doch beklei<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n mit einem wahren Mikrokosmos <strong>de</strong>s Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>wesens<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Natur!<br />

Und darin liegt eben <strong><strong>de</strong>r</strong> allergrösste natürliche Vorzug unserer künstlichen Haut.<br />

Während die natürliche Hautbe<strong>de</strong>ckung nur im Wege <strong>de</strong>s Abwerfens und langsamen<br />

Erneuerns <strong><strong>de</strong>r</strong> Schalen, Schuppen, Haut<strong>de</strong>cken, Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>n, Haare, durch Häutung<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Mauserung gewechselt wer<strong>de</strong>n kann, was mit Schwächezustän<strong>de</strong>n verbun<strong>de</strong>n<br />

zu sein pflegt und sich bei <strong>de</strong>n nie<strong><strong>de</strong>r</strong>en Thieren überhaupt nur in gewissen<br />

Entwicklungsphasen, bei <strong>de</strong>n höheren nur während <strong>de</strong>s Uebergangs von <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

kalten zur warmen und von dieser zu jener Jahreszeit vollziehen kann, haben wir<br />

eine willkürliche Variation <strong><strong>de</strong>r</strong> Haut<strong>de</strong>cken erreicht, welche in <strong>de</strong>n raschesten<br />

Sprüngen<br />

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von einem Extreme zum an<strong><strong>de</strong>r</strong>n gelangt, und <strong>de</strong>n speciellsten Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong>de</strong>s<br />

Tages und <strong><strong>de</strong>r</strong> Stun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>s wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Beschäftigung angepasst ist.<br />

Dabei vereinigen wir in unserer künstlichen Haut<strong>de</strong>cke doch Alles, was die natürliche<br />

<strong>de</strong>m Thiere ist. Sie gibt uns Schutz gegen stören<strong>de</strong> Einflüsse von aussen,<br />

gegen feindlichen Anprall, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Panzer <strong>de</strong>n Panzerthieren, sie gewährt uns<br />

Deckung gegen Sonnenbrand und Staub, Hitze und Kälte, Trockniss und Nässe,<br />

sie bietet uns ein Asyl für die Scham, diese hol<strong>de</strong> Tochter <strong><strong>de</strong>r</strong> Cultur, in<strong>de</strong>m sie<br />

all’ unsere Gebrechen und geschlechtlichen Eigenartigkeiten verhüllt, sie ziert und<br />

schmückt uns zu allen festlichen Gelegenheiten, bei welchen die unverhüllte<br />

Schönheit <strong>de</strong>s Körpers in ihrem ganzen Glanze hervortreten soll.<br />

Je nach diesen Aufgaben ist die <strong>Kleidung</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>s geformt, an<strong><strong>de</strong>r</strong>s construirt.<br />

So haben wir auch im Gebiete <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> jene Gesetze <strong><strong>de</strong>r</strong> Anpassung in freiester<br />

Weise bewusst befolgt, welche <strong>de</strong>n Naturwesen <strong>de</strong>n Stempel <strong><strong>de</strong>r</strong> Eigenart<br />

aufdrücken.<br />

31<br />

Wie die Schale die Muschel, <strong><strong>de</strong>r</strong> Panzer <strong>de</strong>n Krebsen, die Schuppen <strong>de</strong>n Fisch, so<br />

schützt die Rüstung <strong>de</strong>n Menschen, und wie ähnlich ist ihre Construction jenen<br />

Schutzgebil<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur!<br />

Allerdings kommt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur, welche das Raubritter- und Räuberwesen als Regel,<br />

<strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n als Ausnahme zu betrachten scheint, die Schutzkleidung weit<br />

häufiger vor. Die Menschen jedoch durchleben wenigstens in gewissen Culturperio<strong>de</strong>n<br />

regelmässig jene Panzer- und Rüstungsepoche <strong><strong>de</strong>r</strong> Ritterzeit. Heutzutage<br />

freilich, wo <strong><strong>de</strong>r</strong> Bürger die Rüstung, diese tragbare Körperfestung nur <strong>de</strong>m Hörensagen<br />

nach kennt, wo selbst <strong><strong>de</strong>r</strong> Soldat sich auf die Angriffswaffen beschränkt,<br />

und höchstens ein Amulet mitnimmt aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand <strong><strong>de</strong>r</strong> Geliebten, womit er die<br />

Stelle seines Herzens beschützt, die um ihretwillen leise bebt, wenn ringsum die<br />

feindlichen Kugeln schwirren, heutzutage besitzt man keine rechte Vorstellung<br />

mehr davon.<br />

Zur Freu<strong>de</strong> aller Romantiker fin<strong>de</strong>n sich jedoch allerorten Ueberreste jener guten<br />

alten Zeit, jener Epoche <strong>de</strong>s „ewigen Landfrie<strong>de</strong>ns“, in welcher man nur einige<br />

Tage je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

32<br />

Woche rauben und plün<strong><strong>de</strong>r</strong>n durfte. Ja. wir brauchen nicht einmal die Denkmäler<br />

aus dieser Epoche in Alt-Indien, Alt-Aegypten, Hellas, Rom o<strong><strong>de</strong>r</strong> aus unserem<br />

sogenannten Mittelalter aufzusuchen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n können im Kaukasus, im asiatischen<br />

Hochlan<strong>de</strong>, in Syam, ja sogar in Japan mitten hinein in das dort heute noch<br />

blühen<strong>de</strong> Mittelalter gerathen. Japan zwar steht an <strong><strong>de</strong>r</strong> Schei<strong>de</strong>grenze. Es hat seinen<br />

Papst vertrieben und sein Kaiser öffnet in jugendlichem Reformeifer <strong><strong>de</strong>r</strong> westlichen<br />

Civilisation die Pforten.<br />

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Japan tritt soeben in das Zeitalter <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfindungen und Ent<strong>de</strong>ckungen ein, in jene<br />

glücklichste Blüthezeit, welche bei uns 1450 begann, aber hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Jahre später<br />

mit <strong><strong>de</strong>r</strong> spanischen Reaction hinsiechte und zweihun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Jahre darauf mit <strong>de</strong>m<br />

westphälischen Frie<strong>de</strong>n zu Grabe getragen ward. Das 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t musste <strong>de</strong>n<br />

Fa<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>m im 17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t abgerissenen En<strong>de</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong> anknüpfen. - Wir<br />

nennen’s Renaissance, aber ach, es ist nicht Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>geburt, es ist nur Erwachen<br />

aus jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>telangem Siechthum!<br />

Doch zurück zum Schutzklei<strong>de</strong>.<br />

33<br />

Noch bis in das 17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t liessen sich die Ritterbürtigen, welchen das<br />

Schiess-<br />

Figur 4: Sigismund von Dietrichstein, 1480-1533<br />

pulver längst <strong>de</strong>n rechten Zweck <strong><strong>de</strong>r</strong> Rüstung verdorben hatte, auf <strong>de</strong>n marmornen<br />

Grabtafeln im Harnische abbil<strong>de</strong>n. (Siehe Figur 4.)<br />

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Das Schutzkleid bestand zuerst nur aus <strong>de</strong>m Helme und <strong>de</strong>m Schil<strong>de</strong>, bei<strong>de</strong> Stükke<br />

riesigen Eierschalen gleichend, von oben <strong>de</strong>n Kopf, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Seite <strong>de</strong>n ganzen<br />

Mann <strong>de</strong>ckend.<br />

Zu weiteren Kriegsmärschen kam die kleinere Tartsche auf, und mit ihr <strong><strong>de</strong>r</strong> Brust-<br />

und Rückenpanzer, die Arm- und Beinschienen. So war Achilles’ Rüstung:<br />

Voll Ingrimm gegen die Troer<br />

Nahm er das Göttergeschenk, von Hephästos Kunst ihm geschmie<strong>de</strong>t.<br />

Zwei Beinharnische legt’ er zuerst rundum an die Füsse,<br />

Zierlich geformt, um die Knöchel mit silbernen Spangen befestigt,<br />

Weiter darauf umschloss er die Brust mit <strong>de</strong>m ehernen Panzer,<br />

Warf um die Schulter sodann sein silbergebuckeltes Kampfschwert,<br />

Blitzend von Erz, und ergriff <strong>de</strong>n gediegenen mächtigen Schild auch,<br />

Der in die Ferne <strong>de</strong>n Glanz entsen<strong>de</strong>te ähnlich <strong>de</strong>m Vollmond.<br />

Wie wenn draussen im Meere <strong><strong>de</strong>r</strong> Glanz herleuchtet <strong>de</strong>n Schiffern<br />

Eines gewaltigen Feuers; entfernt auf hohem Gebirge<br />

Brennt’s am geson<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Ort; mit Gewalt treibt jene <strong><strong>de</strong>r</strong> Sturmwind,<br />

Weit von <strong>de</strong>n Ihrigen weg in <strong>de</strong>s Meers fischreiche Gewässer,<br />

Also flammte <strong><strong>de</strong>r</strong> Glanz von Achilleus künstlichem, schönen<br />

Schild zum Himmel empor. Nunmehr <strong>de</strong>n prächtigen Helm auch<br />

35<br />

Hob er und <strong>de</strong>ckte das Haupt: wie ein Stern erstrahlte <strong><strong>de</strong>r</strong> starke<br />

Buschumflatterte Helm, und ringsum wallte die gold’ne<br />

Mähne herab, die häufig am Kamm Hephästos gebil<strong>de</strong>t.<br />

Peleus herrlicher Sohn versuchte sich selbst in <strong><strong>de</strong>r</strong> Rüstung,<br />

Ob sie bequem ihm sei und leicht sich bewegten die Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Und gleich Fittigen war sie, und hob <strong>de</strong>n Behüter <strong><strong>de</strong>r</strong> Völker.<br />

„Gleich Fittigen war sie“, und doch entrann Achilles nicht <strong>de</strong>m schrecklichen Geschicke.<br />

Paris, <strong><strong>de</strong>r</strong> Wüstling, traf ihn an <strong><strong>de</strong>r</strong> allein verletzlichen Stelle, wie zweitausend<br />

Jahre später, auch im Auftrage einer schönen Frau, Hagen <strong>de</strong>n Siegfried,<br />

<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Achilles. Gegen Verrath und Hinterlist schützt eben kein Schutzkleid!<br />

Als man die Rüstungen so vollständig glie<strong><strong>de</strong>r</strong>te und damit <strong>de</strong>n ganzen Körper<br />

umhüllte, dass zwischen <strong>de</strong>n Fugen nicht eine Mücke hätte eindringen können,<br />

da half es doch zu nichts. Die Blüthe <strong>de</strong>utscher und österreichischer Ritterschaft,<br />

welche vollkommen gepanzert im Jahre 1386 trotzig zur Schlacht bei Sempach<br />

ritt, sank doch machtlos vor <strong>de</strong>n Kolbenschlägen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schweizer in <strong>de</strong>n Tod. Diese<br />

Rüstungen bieten ein wehmüthig stimmen<strong>de</strong>s Bild <strong><strong>de</strong>r</strong> Hilflosigkeit dar. Sie sind<br />

für <strong>de</strong>n Lanzenangriff im Turniere wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar vollen<strong>de</strong>t geschaffen, aber eine geringfügige<br />

Aen<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Angriffs-<br />

36<br />

waffe o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Art und Weise <strong>de</strong>s Angriffs wan<strong>de</strong>lt sie in eiserne Gefängnisse um,<br />

in welchen <strong><strong>de</strong>r</strong> Eingeschlossene schwach ist wie ein Kind.<br />

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Heute sind nur noch die Pickelhaube mit ihren Metallbeschlägen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Reiterhelm<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Figur 5: Freiwilliger Feuerwehrmann<br />

Le<strong><strong>de</strong>r</strong>helm <strong>de</strong>s Feuerwehrmannes als Schutzkleid in Verwendung, um Hieb und<br />

Stoss abzuwehren, o<strong><strong>de</strong>r</strong> vielleicht auch nur, um <strong><strong>de</strong>r</strong> feiertäglich gestimmten, eroberungsfrohen<br />

Männlichkeit zum richtigen Ausdrucke zu verhelfen, wie in Figur<br />

5.<br />

37<br />

Ob Bismarck zur Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Attentate ein Panzerhemd unter <strong>de</strong>m Bürgerrocke getragen<br />

habe, wie man faselte, steht dahin. Napoleon III. dachte an Panzer aus Aluminium,<br />

<strong>de</strong>m zähesten und leichtesten Metalle, für seine Gar<strong>de</strong>, doch die geringe<br />

Hämmerbarkeit dieses Materials und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e technische Schwierigkeiten hin<strong><strong>de</strong>r</strong>ten<br />

die Ausführung <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>e. Und unseren Panzerschiffen dürfte es bald ebenso ergehen,<br />

wie vor<strong>de</strong>m <strong>de</strong>n gepanzerten Reitern.<br />

Das Constructionsprincip <strong>de</strong>s Schutzklei<strong>de</strong>s lässt sich von einem Krebse und Krokodille<br />

so gut ablesen wie von einem Ritter: eine enganschliessen<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n ganzen<br />

Körper be<strong>de</strong>cken<strong>de</strong> Schale, massiv, zäh, wi<strong><strong>de</strong>r</strong>standskräftig, nach aussen glatt,<br />

damit <strong><strong>de</strong>r</strong> Stoss abpralle und abgleite, gegen <strong>de</strong>n eingeschlossenen Körper zu<br />

weich und ohne scharfe Kanten. Den Platten können Ansätze für Angriffswaffen,<br />

Dorne, Spitzen angefügt sein. Da jedoch <strong><strong>de</strong>r</strong> Körper frei beweglich bleiben muss,<br />

ist die Panzerschale gewöhnlich nicht länger und breiter, als die einzelnen Gliedmassen,<br />

und erhält an <strong>de</strong>n Gelenken mittelst <strong><strong>de</strong>r</strong> Charniere und in einan<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

schiebbaren Lie<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen einen beweglichen Verschluss. Das Visier ist offenbar<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 19 (170)<br />

<strong>de</strong>m menschlichen Augenli<strong>de</strong> nachgebil<strong>de</strong>t, und <strong>de</strong>m Visier wie<strong><strong>de</strong>r</strong> wur<strong>de</strong>n die<br />

Constructionen <strong><strong>de</strong>r</strong> Hals-, Arm-, Ellenbogen-, Hand-, Hüften-, Knie- und Fussgelenke<br />

abgelauscht. (Vergleiche Fig. 4 und 39.)<br />

Doch genug von dieser urweltlichen Bekleidungsform einer <strong><strong>de</strong>r</strong> unseren so ganz<br />

unähnlichen Zeitperio<strong>de</strong>.<br />

Dem Schutzklei<strong>de</strong> verwandt ist das Deckkleid. Es ist dazu bestimmt, alle Einflüsse<br />

zu paralysiren, welche Sonnenlicht, Wind und Wetter, Staub und Koth auf <strong>de</strong>n<br />

Körper wie auf <strong>de</strong>ssen Bekleidung ausüben.<br />

Gegen das Sonnenlicht und <strong>de</strong>ssen stechen<strong>de</strong> Strahlen wird als leichter Schild <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Sonnenschirm emporgehoben, ein Bekleidungsstück, <strong>de</strong>ssen Construction mit<br />

seiner Blitzableiterspitze, seinen Fischbein- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Metallstäben, seinem faltebaren<br />

Ueberzug, seinem Stockgriffe noch frappant an die <strong><strong>de</strong>r</strong> Rüstung erinnert. Doch ist<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Sonnenschirm zart, leicht, mit einem Worte - mo<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Es thut gar nichts zur<br />

Sache, wenn wir erfahren, dass zur Zeit eines Pericles, einer Aspasia in Alt-<br />

Griechenland genau dieselben Sonnenschirme wie heute getragen wur<strong>de</strong>n, und<br />

39<br />

dass sich die griechischen Damen an angenehmen Sommertagen auch eines heute<br />

gleich mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Surrogates <strong><strong>de</strong>r</strong> Sonnenschirme, nämlich <strong><strong>de</strong>r</strong> feinen Strohhüte mit<br />

grossen Schirmrän<strong><strong>de</strong>r</strong>n bedienten, <strong>de</strong>nn auch Pericles’ Zeit verhielt sich zur Epoche<br />

<strong>de</strong>s trojanischen Krieges, wie das 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t zum zehnten.<br />

Gegen <strong>de</strong>n Sonnenstich auf <strong>de</strong>n Gletscherhöhen o<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>de</strong>n Wüsten <strong>de</strong>cken <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schleier und das Nackentuch.<br />

Zu <strong>de</strong>n Schirmarten zählt auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Hut, das variabelste <strong>Kleidung</strong>sstück. Sein<br />

„Gupf“ erinnert an <strong>de</strong>n Helm, seine „Krämpe“ an <strong>de</strong>n Schild o<strong><strong>de</strong>r</strong> Schirm, und<br />

was Frauenhüte an Constructionsprincipien alles Mögliche und Unmögliche aufweisen,<br />

das zu beschreiben möge uns erlassen wer<strong>de</strong>n.<br />

Als Augenschirme wer<strong>de</strong>n Netz- und Dunkelbrillen, als Sonnenbrand<strong>de</strong>cken für<br />

Nacken, Arme, Busen u. s. w. Netze, Schleier, Tücher getragen. Gegen <strong>de</strong>n Regen,<br />

<strong>de</strong>n Schneesturm, <strong>de</strong>n Staubwind <strong>de</strong>cken <strong><strong>de</strong>r</strong> Construction nach ganz ähnliche<br />

<strong>Kleidung</strong>stheile, wie Regenschirme, Regen-und Staubmäntel etc. Nur sind<br />

dieselben durchaus massiver, dichter, soli<strong><strong>de</strong>r</strong> construirt. Auch<br />

40<br />

schliessen sie sich mehr <strong>de</strong>m Körper an und nehmen ausser<strong>de</strong>m, um das Abfliessen<br />

<strong>de</strong>s Regenwassers zu erleichtern, häufig die Dachform, d. h. gera<strong>de</strong>, aber<br />

schief abfallen<strong>de</strong> Flächen an. Ja die Hutkrämpen wer<strong>de</strong>n mit förmlichen Dachrinnen<br />

versehen, damit <strong><strong>de</strong>r</strong> Regen nicht seitwärts zwischen Rockkragen und Hals<br />

nie<strong><strong>de</strong>r</strong>träufle.<br />

Charakteristisch für die Construction <strong><strong>de</strong>r</strong> Regen-Deckklei<strong><strong>de</strong>r</strong> ist die Capuze, die<br />

Kappe, <strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel, <strong><strong>de</strong>r</strong> Regenmantel und ein ganz eigenthürnliches auf <strong>de</strong>n Hochalpen<br />

vorkommen<strong>de</strong>s <strong>Kleidung</strong>sstück, <strong><strong>de</strong>r</strong> Wettermantel. Derselbe besteht aus<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 19 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 20 (170)<br />

einem einzigen viereckigen Stücke ungewalkten und nicht gerauhten Tuches (Lo<strong>de</strong>ns)<br />

mit einer Oeffnung in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte für Kopf und Hals.<br />

Im germanischen Nor<strong>de</strong>n ward die Kappe als Mantel mit Capuze getragen und<br />

be<strong>de</strong>ckte wie das Dach eines Getrei<strong>de</strong>schobers <strong>de</strong>n ganzen Körper bis zum Bo<strong>de</strong>n.<br />

Zum Regen-Deckkleidstoffe eignen sich beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s die Filze und die gewalkten<br />

Schafwollstoffe mit ihrem steifen, dichten Fa<strong>de</strong>ngewirre, <strong><strong>de</strong>r</strong> glatte Kautschuk. Im<br />

alten Rom trug man<br />

41<br />

Le<strong><strong>de</strong>r</strong>mäntel und zottige Decken „Endromis“ genannt.<br />

Als specielle Deckkleidform <strong>de</strong>m Win<strong>de</strong> gegenüber gelangte schon im alten Aegypten<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Kragen zur Geltung (vergl. Fig. 12 c), welcher unmittelbar auf <strong>de</strong>m<br />

Leibe am Halse getragen wur<strong>de</strong> und noch heute als Anhängsel an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Deckkleidungsstücke<br />

zu <strong>de</strong>m gleichen Zwecke dient.<br />

Während Sonnenbrand, Regen, Schnee, Staubwind von oben und von <strong><strong>de</strong>r</strong> Seite<br />

her eindringen, und eine dachartige Schirmung erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>n, gelangen Nässe,<br />

Schmutz und Staub meist von unten herauf und dringen auf ungesehenen Wegen<br />

zum Körper vor. Die Deckung gegen diese Störenfrie<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Wohlbehagens muss<br />

daher eigenthümlichen Constructionsprincipien folgen. Gegen Staub und Schmutz<br />

bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit <strong>de</strong>ckt die Schürze o<strong><strong>de</strong>r</strong> männlich charakterisirt, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schurz. Ihr zunächst<br />

steht das Hem<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Blouse. Dem Staube und Schmutze von unten<br />

herauf begegnen die Sandalen, Schuhe, Stiefel, Socken, Strümpfe, die Hosen,<br />

theilweise die Unterröcke (nämlich die Schutzröcke), die Kamaschen, die Ueberschuhe,<br />

die Halskrägen und Manchetten,<br />

42<br />

die Vorhem<strong>de</strong>n, Chemisetten, die Nachthauben, Staubmäntel, Pu<strong><strong>de</strong>r</strong>mäntel und in<br />

beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Berufen die Achselkrägen und Sitztheil-Le<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bergknappen, die<br />

hohen Stiefel <strong><strong>de</strong>r</strong> Gärber, Fleischer, Jäger, Reiter u. s. w.<br />

Unter all’ diesem Gewirre mannigfaltiger Formen soll uns ein <strong>Kleidung</strong>sstück<br />

beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s beschäftigen, das Wichtigste, aber auch das Bestverachtete von Allen,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Schuh.<br />

Sohle und Absatz gehören eigentlich <strong><strong>de</strong>r</strong> Schutzkleidung an, <strong>de</strong>nn sie behüten <strong>de</strong>n<br />

Fuss vor <strong>de</strong>m Einflusse scharfer Steine, Dorne, Glasscherben, Holzsplitter und<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>er auf Wegen und Stegen die Haut verletzen<strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong>. Doch dienen<br />

sie zugleich zur Abhaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Feuchtigkeit, <strong>de</strong>s Staubes und Kothes. Das Oberle<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

hingegen ist vorwiegend nur Deckkleid.<br />

Der Schuh vertritt ein <strong>de</strong>m Dache entgegengesetztes Constructionsprincip. Derselbe<br />

bil<strong>de</strong>t eine leichte Brücke, auf welcher <strong><strong>de</strong>r</strong> Fuss Sand-, Schotter- und<br />

Kothstellen ohne Anstand betreten kann. Die starke Sohle vermin<strong><strong>de</strong>r</strong>t <strong>de</strong>n Stoss<br />

und biegt sich ohne Charnier mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s Fusses. Auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Obertheil,<br />

sich’<br />

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eng <strong><strong>de</strong>r</strong> Fussform anschmiegend, folgt <strong>de</strong>n Biegungen <strong>de</strong>s Gelenks, <strong><strong>de</strong>r</strong> Zehen und<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ferse. Er ist das enganschliessen<strong>de</strong> Deckkleid, wie es überhaupt alle jene<br />

Deckklei<strong><strong>de</strong>r</strong> sind, welche gegen von unten kommen<strong>de</strong> Einflüsse wirken sollen.<br />

Diesem Principe schliesst sich auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Handschuh und <strong><strong>de</strong>r</strong> zur Deckung dienen<strong>de</strong><br />

Strumpf und Aermel an. Alle übrigen Deckklei<strong><strong>de</strong>r</strong> bil<strong>de</strong>n Nuancen zwischen <strong>de</strong>m<br />

Anschluss- und <strong>de</strong>m Dachconstructions-Principe, je nach<strong>de</strong>m dieselben mehr zur<br />

Abhaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Nässe, <strong>de</strong>s Staubes, Kothes von unten, o<strong><strong>de</strong>r</strong> zur Ableitung <strong>de</strong>s Regens<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Hemmung <strong><strong>de</strong>r</strong> Sonnengluth von oben bestimmt sind.<br />

Unter diesen Nuancen zeichnet sich beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s die Röhrenform durch ihre charakteristische<br />

Erscheinung aus.<br />

Den Formen entspricht <strong><strong>de</strong>r</strong> Stoff. Weite Deckklei<strong><strong>de</strong>r</strong> können steif, wasserdicht,<br />

von kräftigem Gefüge und Gewebe sein, und zwar beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s dann, wenn sie nicht<br />

unmittelbar auf <strong>de</strong>m Leibe aufliegen. Röhrenförmige bedürfen nur wegen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Biegsamkeit an <strong>de</strong>n Gelenken etwas weniger starren Körpers. Anschliessen<strong>de</strong> dagegen<br />

bestehen aus nachgiebigem Gefüge und sind wo-<br />

44<br />

möglich aus elastischem Gewirke, Gestricke o<strong><strong>de</strong>r</strong> Gewebe gefertigt. (Siehe Figur<br />

6 a und b.)<br />

Dem Charakter <strong>de</strong>s Deckklei<strong>de</strong>s entspricht beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s das Le<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schafwollstoff,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

a b<br />

Figur 6: a italienische Dame, 1572. b Heinrich III. von Frankreich (1574-1589)<br />

Kautschuk. Da <strong><strong>de</strong>r</strong> Kautschuk unter allen Pflanzenproducten <strong>de</strong>m Charakter <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

thierischen am nächsten kommt, könnte man das Material zu Deckklei<strong><strong>de</strong>r</strong>n als<br />

vorwiegend thierisches bezeichnen. Das Deckkleid ist ja eigentlich nur <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

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Ersatz jener langen Haare, Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong> dünnen Schuppen, welche auf <strong>de</strong>m Thierleibe<br />

dachziegelartig übereinan<strong><strong>de</strong>r</strong> gefügt, <strong>de</strong>n Regen nach abwärts leiten, und<br />

<strong>de</strong>m Staube <strong>de</strong>n Eintritt versagen.<br />

Während das Schutzkleid und das Deckkleid die Bestimmung haben, das Eindringen<br />

äusserer stören<strong><strong>de</strong>r</strong> Einflüsse aufzuhalten, ist <strong>de</strong>m Hüllklei<strong>de</strong> die entgegengesetzte<br />

Aufgabe gestellt. Es ist dazu bestimmt die Wärme- und Lichtstrahlungen<br />

<strong>de</strong>s Körpers nach aussen zu hemmen, <strong>de</strong>nselben vor Wärmeverlusten zu bewahren<br />

und hinsichtlich gewisser Theile unsichtbar zu machen.<br />

Viele Menschen <strong>de</strong>nken niemals über die Bestimmung ihrer <strong>Kleidung</strong> nach, die<br />

sie doch ihr Leben lang täglich mit sich herumtragen, als <strong>de</strong>n allertreuesten Hautgenossen.<br />

Sie stellen sich darum auch die Wirkung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> hinsichtlich <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Temperatur selten richtig vor. Niemals wärmt ein Kleid, <strong>de</strong>nn seine Temperatur<br />

beim Anziehen beträgt selten über 18 Gra<strong>de</strong>, während <strong><strong>de</strong>r</strong> Körper eine Durchschnittswärme<br />

von 32 bis 34 Gra<strong>de</strong>n Celsius besitzt. Wohl aber hilft das Kleid, die<br />

Wärmestrahlen <strong>de</strong>s<br />

46<br />

Körpers zurückhalten, die Wärmeverluste nach aussen verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n, so dass <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Körper nicht Gefahr läuft, von seiner Normal-Temperatur allzuviel abgeben zu<br />

müssen. Dabei sind die verschie<strong>de</strong>nen Partien <strong><strong>de</strong>r</strong> Haut sowohl als verschie<strong>de</strong>ne<br />

Glie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Körpers gegenüber Wärmeverlusten von ganz ungleicher Haltung.<br />

Der Kopf ist <strong><strong>de</strong>r</strong> abgehärtetste, <strong><strong>de</strong>r</strong> Fuss <strong><strong>de</strong>r</strong> empfindlichste Theil. Letzterer offenbar<br />

auch <strong>de</strong>shalb, weil er nicht allein mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Aussenluft, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch unmittelbar<br />

mit <strong>de</strong>m kalten Erdbo<strong>de</strong>n in enge Berührung kommt. Uebrigens zeigt sich auch<br />

beim Liegen im Bette, <strong>de</strong>mnach unter ganz unterschiedslosen Verhältnissen, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Fuss weitaus wärmeverlustempfindlicher, als die an<strong><strong>de</strong>r</strong>n Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Nächst <strong>de</strong>m<br />

Kopfe ertragen auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Hals, die Arme, die Hän<strong>de</strong>, dann die Beine leichter Temperaturverluste.<br />

Bei vielen Menschen jedoch gehört <strong><strong>de</strong>r</strong> Hals lei<strong><strong>de</strong>r</strong> zu <strong>de</strong>n häkligen<br />

Partien: Brust, Bücken, Magen, Bauch. Die Hüllkleidung concentrirt sich daher<br />

auch vorzüglich auf <strong>de</strong>n Fuss (warme Socken, Strümpfe, Filzschuhe, Pelzschuhe<br />

und Stiefel, welchen Fussbo<strong>de</strong>nteppiche, Wärmeflaschen etc. entgegenkommen)<br />

und <strong>de</strong>n Mittelleib (Pelzrock, Mantel,<br />

47<br />

Plaid, Umhängetuch, Shawl, Mantille, Mantelet, Sortie <strong>de</strong> bal, Gilet, Leibchen,<br />

Taillenwärmer. Bauchbin<strong>de</strong>n, Bauchschürzen, Leibröckchen u. s. w.). Den Kopf<br />

hüllen allenfalls Kopftücher, Pelzmützen, Schlafmützen, Schlafhauben ein, <strong>de</strong>n<br />

Hals Halstücher, Halsbin<strong>de</strong>n, Cravatten, Halsshawls, die Hän<strong>de</strong> Handschuhe und<br />

Pulswärmer, die Kniee Kniewärmer, die Beine wärmen<strong>de</strong> Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong>, Unterbeinklei<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

Unterröcke.<br />

Der Zweck <strong><strong>de</strong>r</strong> Hüllung wird in vielen Fällen auch durch die Auswahl dichterer<br />

Stoffe erreicht, ohne dass gera<strong>de</strong> neue Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> hinzukommen. Zur Wärmehüllung<br />

eignen sich weich anschmiegen<strong>de</strong>, wollige, langhaarige Stoffe, wie Lamas, Cachemirs,<br />

Himalayatücher, Angoras, Wirk- und Strickwaaren aus Schafwolle, Pel-<br />

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ze u. s. w. Das Hüllkleid dieser Art schliesst sich möglichst eng <strong>de</strong>n Körperformen<br />

und Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>n an, o<strong><strong>de</strong>r</strong> umhüllt auch <strong>de</strong>n ganzen Leib, um durch die grosse<br />

Wärmeausgabskraft <strong>de</strong>s Mittelleibes, durch <strong>de</strong>n warmen Athem die stets etwas<br />

kälteren Partien <strong><strong>de</strong>r</strong> Arme, Füsse, <strong>de</strong>s Halses mittelst einer Art Luftheizung<br />

gleichmässig zu temperiren. So wird das Hüllkleid zum transportablen Ofen, in<br />

welchem wir selbst Heiz-<br />

48<br />

material und Beheiztes sind, je nach Leistungsfähigkeit und Bedarf <strong><strong>de</strong>r</strong> Theile.<br />

Die mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Ofen- und Ofenröhrenform <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> hat <strong>de</strong>mnach, so unschön<br />

sie ist, ihre praktische Berechtigung vom Constructionsprincipe <strong><strong>de</strong>r</strong> Wärme-<br />

Hüllkleidung aus.<br />

Die Hüllkleidung ist aber auch bestimmt, gewissen Körpertheilen das Sichtbarwer<strong>de</strong>n<br />

zu benehmen. Sie verhüllt unschöne Formen, sie verbirgt, was Natur und<br />

Sitte im gesellschaftlichen Verkehre nicht zu schauen gestatten, sie ist die Retterin<br />

in allen Schwächezustän<strong>de</strong>n. Als solche wirkt sie in <strong>de</strong>n Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schürzen,<br />

Hem<strong>de</strong>n, Unterröcke, Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong>, Röcke, Umhängetücher, Kopftücher, Häubchen,<br />

Negligées, Schleier, Mo<strong>de</strong>sties, Aermel, leichten Handschuhe, Strümpfe u.<br />

s. w. Selbst die Tätowirung fungirt als Hüllkleid dieser Art, <strong>de</strong>nn nach <strong>de</strong>n übereinstimmen<strong>de</strong>n<br />

Aussagen vieler Reisen<strong>de</strong>n halten sich tätowirte Wil<strong>de</strong> nicht für<br />

nackt. Auch Schminke, Pu<strong><strong>de</strong>r</strong> und ähnliche Auskunftsmittel durchaus nicht uncultivirter<br />

Damen haben nach <strong><strong>de</strong>r</strong> einen Richtung hin die Aufgabe <strong>de</strong>s Verhüllens<br />

unschönen o<strong><strong>de</strong>r</strong> reizlosen Teints und gewisser Unebenheiten und Mängel <strong>de</strong>sselben.<br />

49<br />

Das natürlichste Hüllkleid dieser Art ist das üppige Frauenhaar, und wenn Alles<br />

mangeln sollte - jene reizen<strong>de</strong> Haltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Hän<strong>de</strong> und Arme <strong><strong>de</strong>r</strong> mediceischen<br />

Venus, welche, seit sie <strong>de</strong>n bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>n<strong>de</strong>n Kennerblicken offenbar ward, <strong>de</strong>n Beschauer<br />

stets neu entzückte.<br />

Das Hüllkleid <strong><strong>de</strong>r</strong> zweiten Art unterschei<strong>de</strong>t sich in seiner Construction wesentlich<br />

von jenem <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten. Es umschliesst <strong>de</strong>n Körper nicht mit warmhalten<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Enge, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n verbirgt <strong>de</strong>ssen Formen gerne in weiten Falten, Bauschen, hinter<br />

reinlichen, anziehen<strong>de</strong>n Flächen. Das weisse Linnen, <strong><strong>de</strong>r</strong> halbdurchsichtige und<br />

<strong>de</strong>nnoch nichts verrathen<strong>de</strong> Schleier, <strong><strong>de</strong>r</strong> Baumwollstoff, die Sei<strong>de</strong>, mit ihrem<br />

ihnen eigenthümlichen Faltenwurfe, sie sind dieser Hüllkleidart beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s eigen.<br />

(Vergl. Figur 7 und 8.)<br />

Solche Hüllklei<strong><strong>de</strong>r</strong> umfliessen <strong>de</strong>n ganzen Körper, ja sie setzen sich gerne in wallen<strong>de</strong>n<br />

Anhängseln (Schleiern, Schleppen) fort. Der Geschlechtsunterschied bemächtigt<br />

sich ihrer. Die hol<strong>de</strong> Scham durchgeistigt sie.<br />

Und jene himmlischen Gestalten,<br />

Sie fragen nicht nach Mann und Weib,<br />

Und keine Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>, keine Falten,<br />

Umgeben <strong>de</strong>n verklärten Leib.<br />

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Den irdischen Leib aber verklärt gera<strong>de</strong> das faltige Hüllkleid.<br />

Figur 7: Louise von Savoyen, Mutter Franz I. von Frankreich, 1517<br />

Die letzte Hauptform <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung, das Zierkleid, kommt nur ausnahmsweise<br />

als selbstständige Bekleidung vor, es wird vielmehr nur in Gestalt zierlicher Formen,<br />

anziehen<strong><strong>de</strong>r</strong> Farben, Ornamente, leichter Maschen, Rüschen,<br />

51<br />

Schleifen, Volants, Borten, Fransen, Knöpfchen, Spitzen u. s. w. <strong><strong>de</strong>r</strong> vorhan<strong>de</strong>nen<br />

<strong>Kleidung</strong> einverleibt. Ihm kommt die Aufgabe zu, <strong><strong>de</strong>r</strong> Gestalt Distinction zu verleihen,<br />

in welcher Richtung beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s Zuschnitt, edle Farbenzusammenstellung<br />

und Verbrämung, sowie Abzeichen wirksam sind, o<strong><strong>de</strong>r</strong> mit anlocken<strong>de</strong>m Reize zu<br />

überhauchen, was durch Verfeinerung <strong><strong>de</strong>r</strong> Stoffe, Verdünnung und Entfernung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Hüllen und zier-<br />

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Figur 8: Isabella d’Este, Gemahlin <strong>de</strong>s Johann Franz von Gonzaga, um 1490.<br />

liche Kräuselung, Fältelung, schönen Faltenwurf erreicht wird, o<strong><strong>de</strong>r</strong> endlich sie zu<br />

schmücken, zu welchem Zwecke wir nur das Füllhorn <strong><strong>de</strong>r</strong> selbst sich schmücken<strong>de</strong>n<br />

Natur zu öffnen brauchen. Blüthen, Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>n, Pelzverbrämungen, Perlen, Perlmutter.<br />

Vogelflügel, Schmetterlinge, E<strong>de</strong>lmetallbehänge, E<strong>de</strong>lsteine, Glasschmelz,<br />

Glasgespinnste, Emailgebil<strong>de</strong>, Bernstein und tausen<strong><strong>de</strong>r</strong>lei an<strong><strong>de</strong>r</strong>e, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

reichsten Phantasie entsprungene Gestalten-, Farben- und Formenpracht <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur<br />

und Kunst - sie alle wirken als Schmuck <strong>de</strong>s in seiner Einfachheit so edlen Menschenbil<strong>de</strong>s<br />

zusammen.<br />

So hätten wir die Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Bekleidung nun alle überschaut. So<br />

bunt die Revue gewor<strong>de</strong>n, stimmt sie doch zu einheitlicher Zusammenfassung.<br />

Schutz, Deckung, Hüllung, Zier: diese vier Hauptaufgaben aller Bekleidung haben<br />

sich in bestimmten charakteristischen Gestaltungen krystallisirt und es wird nun<br />

auch min<strong><strong>de</strong>r</strong> gefährlich sein, sich in <strong>de</strong>n Wirbel <strong>de</strong>s Formenwechsels zu stürzen,<br />

welcher in keinem Gebiete so rasch sich dreht und stetig vollzieht, als in jenem<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung.<br />

Wer vielleicht behauptet, nur die Systemlust eines <strong>de</strong>utschen Bekleidungs-<br />

Gelehrten habe diese<br />

53<br />

vier Typen herausgeklügelt, <strong>de</strong>m sei erwie<strong><strong>de</strong>r</strong>t, dass, wer die Sprache erfand, zuerst<br />

bestimmte Laute feststellte, und wer die Menschen das Schreiben lehrte, die<br />

Buchstaben o<strong><strong>de</strong>r</strong> Schriftzeichen nicht entbehren konnte. Die Sprache und Schrift<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaft aber beruht auf solchen Gattungs-Typen.<br />

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III.<br />

ZUR GESCHICHTE DER KLEIDUNGSSTÜCKE. - ERSTE GRUPPE.<br />

Jene seltsame <strong>Kleidung</strong>, in welcher die alten Aegypter ihre Todten bestatteten,<br />

bestand aus einer vielschaligen Hülle von feinem Baumwollstoffe und einer Larve,<br />

welche das Gesicht, oft auch <strong>de</strong>n ganzen Körper be<strong>de</strong>ckte, so dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Todte in<br />

einer steifen Hülse stak. Der Eingehülste wur<strong>de</strong> hierauf in einen bemalten Holzkasten<br />

gelegt, welcher genau die Form <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Gestalt hatte und auf- und<br />

zugeklappt wur<strong>de</strong>, wie das Etui einer Cigarrenspitze.<br />

Der Mensch, o<strong><strong>de</strong>r</strong> eigentlich die Mumie, ward nun in <strong><strong>de</strong>r</strong> Todtenregistratur einfasciculirt.<br />

55<br />

Heute noch kann man aus <strong>de</strong>n Schriftcharakteren und <strong>de</strong>n Abbildungen aus <strong>de</strong>m<br />

Leben <strong>de</strong>s Verstorbenen auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Aussenwand <strong><strong>de</strong>r</strong> Hülse mit voller Bestimmtheit<br />

entnehmen, ob <strong><strong>de</strong>r</strong> Verstorbene etwa z. B. ein Bartscheerer o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Admiral gewesen<br />

ist.<br />

Im Leben aber trugen diese chinesischklugen Aegypter nur einen einzigen hemdartigen<br />

Rock und ein Umhängetuch.<br />

Heute ist es umgekehrt. Unsere Todten erhalten für’s Grab selten mehr mit als ein<br />

Leichenhem<strong>de</strong> und das Leintuch; dafür gehen jedoch die Leben<strong>de</strong>n in einem Etui<br />

herum, zusammengesetzt aus drei- und vierfachen Hülsen, aus <strong>de</strong>ssen Schnitt und<br />

Farbe ebenfalls ziemlich genau entnommen wer<strong>de</strong>n kann, ob <strong><strong>de</strong>r</strong> Futteralträger<br />

etwa ein Bartscheerer ist o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Admiral.<br />

Die mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Frauenwelt hat es in <strong><strong>de</strong>r</strong> Uebereinan<strong><strong>de</strong>r</strong>schichtung <strong><strong>de</strong>r</strong> Hülsen beinahe<br />

so weit gebracht, als in <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur die Zwiebel, diese Leibspeise <strong><strong>de</strong>r</strong> Aegypter.<br />

Den Damenleib be<strong>de</strong>cken heutzutage sechs bis sieben, ja oft noch mehr dünne<br />

Schalen und Schälchen - wer hat sie alle wohl je gezählt?<br />

56<br />

Dabei ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Klapp- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Verschlussmechanisirms <strong>de</strong>s Etuis in frappiren<strong><strong>de</strong>r</strong> Weise<br />

im Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>wesen vorgedrungen. Man braucht nur ein mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nes Mie<strong><strong>de</strong>r</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Strumpfband zu betrachten o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Schliessmechanismus <strong><strong>de</strong>r</strong> Herren-Cravatten,<br />

Hosenträger u. s. w. um zuzugeben, dass unsere Bekleidung in Bäl<strong>de</strong> zur Gürtle-<br />

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rarbeit gezählt wer<strong>de</strong>n wird, wie einstens die <strong><strong>de</strong>r</strong> Ritter zur Schmie<strong>de</strong>arbeit.<br />

Genau besehen, besteht unsere <strong>Kleidung</strong> aus verschie<strong>de</strong>nen Futteral-Systemen.<br />

Der Kopf steckt in einem schachtelartig construirten Hohlklei<strong>de</strong>. Es wird auch so<br />

aufgesetzt und gelüpft wie ein Schachtel<strong>de</strong>ckel.<br />

Das Hauptsystem <strong><strong>de</strong>r</strong> Futterale umhäutet <strong>de</strong>n „Leib“, d. i. <strong>de</strong>n Brustkasten und das<br />

Becken. Sämmtliche Schalen <strong>de</strong>s mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Männerklei<strong>de</strong>s sind vorne in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittellinie<br />

ganz o<strong><strong>de</strong>r</strong> theilweise aufgeschnitten, so das Hem<strong>de</strong>, das Gilet, <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ueberrock o<strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel. Beim Frauenklei<strong>de</strong> ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittelaufschnitt nur theilweise<br />

und nicht selten anstatt vorne, hinten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Linie <strong>de</strong>s Rückgrats durchgeführt.<br />

Ausser<strong>de</strong>m zeigen sich horizontale Theilungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hüftengegend.<br />

Das Beinkleid,<br />

57<br />

das Unterbeinkleid beim Manne, <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock, <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterrock, das Beinkleid bei <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Frau fallen erst von <strong>de</strong>n Hüften abwärts, während das Gilet und das Damenleibchen<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Jäckchen eben nur bis dahin reichen. Weitere Theilungen zeigen sich<br />

bei bei<strong>de</strong>n Geschlechtern in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegend <strong><strong>de</strong>r</strong> Achseln, Hand- und Fussgelenke<br />

(En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gilets und <strong><strong>de</strong>r</strong> Taillenwärmer, weiters Anfang <strong><strong>de</strong>r</strong> Manchetten, Handschuhe,<br />

Schuhe) bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kniegegend (oberes Strumpf- und unteres<br />

Hosen-En<strong>de</strong>). Der mittlere Theil <strong>de</strong>s Leibes ist reich überschichtet, <strong><strong>de</strong>r</strong> Hals,<br />

die Arme und die Beine zeigen leichtere, Kopf. Hand und Fuss endlich die leichteste<br />

Be<strong>de</strong>ckung.<br />

Der Körper erscheint <strong>de</strong>mnach von drei Futteralgruppen umgeben: <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kopf-, Hand- und Fussbe<strong>de</strong>ckung, <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe <strong><strong>de</strong>r</strong> Hals-, Arm- und Beinbekleidung,<br />

endlich <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittelleibschichten.<br />

Wie kommen nun aber Kopf, Fuss und Hand, diese drei so ganz verschie<strong>de</strong>nartigen<br />

Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>, zum gleichen Systeme <strong><strong>de</strong>r</strong> Be<strong>de</strong>ckung? Und Arm- und Beinkleid<br />

gleichen doch auch einan<strong><strong>de</strong>r</strong> so viel wie gar nicht.<br />

58<br />

Und <strong>de</strong>nnoch muss an dieser Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung festgehalten wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn auf ihr beruhen<br />

die meisten <strong><strong>de</strong>r</strong> nachfolgen<strong>de</strong>n naturwissenschaftlichen Charakterisirungen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>arten.<br />

Das Räthsel löst sich von selbst, wenn wir die Functionen und Lagen <strong><strong>de</strong>r</strong> drei<br />

Gruppen näher in das Auge fassen.<br />

Kopf, Hand und Fuss sind die Arbeitsorgane <strong>de</strong>s Menschen. Alle drei erfreuen<br />

sich reicher Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung, freier selbständiger und unabhängiger Bewegung. Dieselben<br />

bedürfen eines beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Schutzes und for<strong><strong>de</strong>r</strong>n Auszeichnung durch Zuschnitt<br />

und Farbe <strong>de</strong>s Klei<strong>de</strong>s allen an<strong><strong>de</strong>r</strong>n Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>n voran. Auch wird die Bekleidung<br />

beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong>de</strong>s Kopfes und <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand häufig entfernt, was bei <strong>de</strong>n übrigen<br />

Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>de</strong>s Körpers niemals <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall ist.<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 27 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 28 (170)<br />

Schon aus diesen Grün<strong>de</strong>n erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t die Kopf-, Hand- und Fussbekleidung mehr<br />

Freiheit, Beweglichkeit, kräftige Entfaltung, Auszeichnung und leichte Aus- und<br />

Anzieh-Technik.<br />

Hals, Arme und Beine repräsentiren im Systeme <strong><strong>de</strong>r</strong> Körperglie<strong><strong>de</strong>r</strong> das, was in<br />

Fabriken die Transmissionen be<strong>de</strong>uten. Sie übertragen die mechanischen Kräfte<br />

<strong>de</strong>s Dampfkessels „Mittel-<br />

59<br />

leib“ auf die drei oben genannten Arbeitsmaschinen.<br />

Die Säule und <strong><strong>de</strong>r</strong> Hebelarm, die Triebstange mit <strong>de</strong>n kräftigen Gelenken, waren<br />

ihr Ur- o<strong><strong>de</strong>r</strong> vielmehr ihr Nachbild. Ausser<strong>de</strong>m wirken sie als Muskelträger, als<br />

Telegraphen-Leitungen <strong>de</strong>s motorischen und Empfindungs-Nervensystems, als<br />

Organe <strong><strong>de</strong>r</strong> Mimik. Auch diese Organe sind beweglich, aber nur in wenigen grossen,<br />

kräftigen Absätzen geglie<strong><strong>de</strong>r</strong>t.<br />

Die <strong>Kleidung</strong> dieser Gruppe ist zumeist ebenfalls abgeson<strong><strong>de</strong>r</strong>t geglie<strong><strong>de</strong>r</strong>t, frei beweglich,<br />

aber nicht selbständig wie jene <strong><strong>de</strong>r</strong> drei Arbeitsorgane.<br />

Der Mittelleib endlich umfasst das System <strong><strong>de</strong>r</strong> Kraftquellen <strong>de</strong>s Körpers, <strong>de</strong>s Nahrungs-,<br />

Athmungs- und Blutumlaufs-Apparates, sowie <strong><strong>de</strong>r</strong> Organe <strong><strong>de</strong>r</strong> Fortpflanzung.<br />

Derselbe trägt die Transmissionen, wird aber auch von ihnen wie<strong><strong>de</strong>r</strong> getragen<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> gestützt. Eine kräftig geglie<strong><strong>de</strong>r</strong>te und geschwungene Säule (das Rückgrat)<br />

und zwei hartschalige Gefässe (<strong><strong>de</strong>r</strong> Brustkorb und das Becken), gegen das<br />

obere und untere En<strong>de</strong> mit <strong><strong>de</strong>r</strong>selben verbun<strong>de</strong>n, bil<strong>de</strong>n zusammen ein in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte<br />

etwas einspringen<strong>de</strong>s, oben<br />

60<br />

und unten aber ziemlich gleich weites Fass - man verzeihe diesen Ausdruck, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

doch nicht schlechter ist als seine Synonyme: Gefäss o<strong><strong>de</strong>r</strong> Vase.<br />

Das Gefäss gestattet nur um die Mitte eine Beugung und im Brustkorbe jenes<br />

leichte rhythmische Wogen, welches beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong>de</strong>n Frauenleib so zauberisch belebt.<br />

Demnach kann die <strong>Kleidung</strong> dieses Gefässes festruhend, einheitlich und vielschichtig<br />

sein.<br />

Nun wird es leichter fallen, sich in die Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>sstücke zu vertiefen.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Gruppe herrscht <strong><strong>de</strong>r</strong> Hut. Er ist das freibeweglichste, das hervorragendste,<br />

das wan<strong>de</strong>lbarste aller <strong>Kleidung</strong>sstücke. Der Hut allein „sitzt“, alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> „stehen“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> „hängen“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> sind wie die Verwandten <strong>de</strong>s Hutes, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Handschuh und <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuh, wenigstens angezogen und sodann erst noch angebun<strong>de</strong>n<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> angeknöpft.<br />

Der Männerhut besteht aus Deckel und Krämpe und <strong>de</strong>m äusseren Ban<strong>de</strong>, welches<br />

bei<strong>de</strong> zusammenzuhalten scheint. Das Band war ursprünglich Kopfbin<strong>de</strong>. Das<br />

älteste <strong>Kleidung</strong>sstück <strong>de</strong>s Kopfes ist nach aussen gerückt und<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 28 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 29 (170)<br />

nun das äusserste gewor<strong>de</strong>n. Dieses Gesetz <strong><strong>de</strong>r</strong> Schichtenwan<strong><strong>de</strong>r</strong>ung wird sich<br />

ausnahmslos bei allen Kleidformen verfolgen lassen.<br />

Anstandsrücksichten zwingen heutzutage die Männer, die Kopfbe<strong>de</strong>ckung häufig<br />

momentan abzunehmen und wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aufzusetzen. Nur <strong><strong>de</strong>r</strong> Soldat ward von dieser<br />

Unsitte befreit. Daher muss die Befestigung <strong>de</strong>s Hutes auf <strong>de</strong>m Kopfe die allereinfachste:<br />

die Reibung durch festen Anschluss, sein. Keines <strong><strong>de</strong>r</strong> übrigen <strong>Kleidung</strong>sstücke<br />

braucht so nahezu luftdicht anzupassen, als diese unglückselige „eiserne<br />

Krone“ <strong><strong>de</strong>r</strong> Neuzeit aus steifer Pappe, o<strong><strong>de</strong>r</strong> anschliessen<strong>de</strong>m Filze. Die Geschichte<br />

<strong>de</strong>s Hutes ist eine wahre Lei<strong>de</strong>nsgeschichte <strong>de</strong>s männlichen Hauptes, vom kesselartigen<br />

Bronzehelm bis zum Cylin<strong><strong>de</strong>r</strong>! Denn auch Mützen. Kappen, ja sogar einfache<br />

Stirnbin<strong>de</strong>n und Kränze sind nicht selten höchst unpraktische und unerträgliche<br />

Kopfkleidformen gewesen.<br />

Beim Frauenhute, welcher nur selten gelüpft zu wer<strong>de</strong>n braucht, kommt die Befestigung<br />

durch Bän<strong><strong>de</strong>r</strong>, elastische Schnüre, durch Na<strong>de</strong>ln u. dgl. vor. Sie ist zwar<br />

umständlicher, aber auch dauern<strong><strong>de</strong>r</strong>. Der Frauenhut umschliesst zumeist<br />

62<br />

nicht die Stirne, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n wird beliebig wie und wo aufgesetzt. Oft be<strong>de</strong>ckt er nicht<br />

<strong>de</strong>n. geringsten Theil <strong>de</strong>s Kopfes selbst, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nur ein Stückchen Chignon o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

die kranzartig befestigten Zöpfe. Er sitzt auch entgegen allen Gesetzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwere,<br />

mit <strong>de</strong>m labilsten Gleichgewichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt, aber <strong>de</strong>nnoch fest und sicher über<br />

<strong>de</strong>m einen o<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>n Ohre auf, wenn es gera<strong>de</strong> noththut, wie das Capitel von<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Physiognomik <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung <strong>de</strong>s Näheren erörtern wird.<br />

Band und Putz <strong>de</strong>s Frauenhutes vereinigen die kühnsten Gestaltungen <strong>de</strong>s Reiches<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>zier. Blumengärten, fliegen<strong>de</strong> (fast hätten wir gesagt singen<strong>de</strong>) Vögel,<br />

Schmetterlinge, Käfer, Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>n, Bän<strong><strong>de</strong>r</strong>, Schleier und was sonst noch die Welt<br />

Herrliches gebil<strong>de</strong>t hat: Alles drängt sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hutzier zusammen.<br />

Eine hutartige Verzierung (nicht Be<strong>de</strong>ckung) <strong>de</strong>s Frauenkopfes ist die Coiffure,<br />

ja, das frisirte Frauenhaar selbst, in das so oft Blumen und Bän<strong><strong>de</strong>r</strong> gesteckt o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

eingeflochten wer<strong>de</strong>n. Und wie nebelhaft duftig, wie zart kann ein weisses o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

färbiges Häubchen klei<strong>de</strong>n! Haarnetze gehören einem abgeson<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Reiche <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Be-<br />

63<br />

kleidung an, welches wir erst kennen lernen sollen: <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> Haltekleidformen.<br />

Auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Damenhut sammt seinen Stammverwandten wird aufgesetzt.<br />

Doch kommen ausser<strong>de</strong>m Kopfbekleidungen vor, wie Capuchons, Kapuzen,<br />

Kopftücher, welche übergethan o<strong><strong>de</strong>r</strong> umgethan wer<strong>de</strong>n.<br />

Der Capuchon ist weich, elastisch, schliesst sich <strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>s Kopfes und Gesichtes<br />

nicht nur nach allen Seiten enge an, und besitzt auch seinen eigenen an-<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 29 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 30 (170)<br />

muthigen Faltenwurf: da er in <strong><strong>de</strong>r</strong> Form beliebig variirbar ist, unterliegt er auch<br />

weit weniger <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong>, als <strong><strong>de</strong>r</strong> präcis geschnittene und geformte Hut o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>ssen<br />

„Gestell“. Aehnliches gilt vom Kopftuche, <strong>de</strong>ssen Formen von <strong><strong>de</strong>r</strong> Trägerin so<br />

reich gestaltet wer<strong>de</strong>n können, als es ihre Phantasie erlaubt. Welche phantastische<br />

Formen nehmen solche Kopftücher in <strong>de</strong>n Bauerntrachten an!<br />

Das Kopftuch ist auch Mannskopfkleid in heissen Klimaten und ward schon in<br />

Alt-Aegypten getragen, und zwar weiss o<strong><strong>de</strong>r</strong> gestreift und so gelegt und geknüpft,<br />

dass es <strong>de</strong>n ganzen mit Haaren besetzten Theil <strong>de</strong>s Kopfes be<strong>de</strong>ckte und zwei Zipfel<br />

über die Schultern,<br />

64<br />

einen dritten über <strong>de</strong>n Rücken herabfallen liess. Ganz ähnlich umhüllen die Araber<br />

von heute <strong>de</strong>n Kopf mit einem grobwollenen Tuche, darüber die Kopfbin<strong>de</strong><br />

läuft. Capuchon und Kopftuch gehören <strong><strong>de</strong>r</strong> Hüllkleidformation an.<br />

Uebrigens gibt es viele Völker, welche die Kopfbe<strong>de</strong>ckung für etwas ganz überflüssiges<br />

halten und höchstens Kopfschmuck schätzen. Das weibliche Dienstgesin<strong>de</strong><br />

auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> geht auch heute noch bei uns, wenn nicht gera<strong>de</strong> die Sonne<br />

sengt, barhaupt über Feld und Land.<br />

Die e<strong>de</strong>lste Hülle <strong>de</strong>s weiblichen Hauptes, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schleier, ein Umwurfkleid nach<br />

seiner ursprünglichen Bestimmung, ein festgebun<strong>de</strong>ner o<strong><strong>de</strong>r</strong> gena<strong>de</strong>lter Zierrath<br />

heute, ist bei allen Nationen, in allen Zeitaltern zu fin<strong>de</strong>n und dürfte nahezu so alt<br />

sein, als die Weberei. Er verbin<strong>de</strong>t in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gestalt <strong>de</strong>s duftigen allumhüllen<strong>de</strong>n<br />

Brautschleiers lang und leicht über <strong>de</strong>n Rücken herabfliessend, harmonisch die<br />

isolirte Kopf- mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Leibesbekleidung. Schon die Jüdinnen <strong>de</strong>s Alterthums kannten<br />

<strong>de</strong>n Reiz dieses <strong>Kleidung</strong>sstückes als Ueberthan <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen <strong>Kleidung</strong>.<br />

65<br />

Die Bekleidungsglie<strong><strong>de</strong>r</strong>, welche <strong>de</strong>n Fuss und die Hand be<strong>de</strong>cken, wer<strong>de</strong>n von <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>de</strong>utschen Sprache son<strong><strong>de</strong>r</strong>barerweise gemeinsam als Schuhe (Handschuhe) bezeichnet,<br />

als ob Fuss und Hand ganz gleichartige Körperorgane wären. Darin liegt<br />

tiefer Sinn. Nicht nur die Organe gleichen einan<strong><strong>de</strong>r</strong>, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch <strong><strong>de</strong>r</strong>en Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Nehmen wir <strong>de</strong>m Schuh die Sohle, so gleicht er <strong>de</strong>m Fäustling. Die Socke und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

fingerlose Wollhandschuh ähneln einan<strong><strong>de</strong>r</strong> noch mehr.<br />

Der Schuh war vom Anbeginn ein Stück Rin<strong>de</strong>, Bast, Fell o<strong><strong>de</strong>r</strong> Le<strong><strong>de</strong>r</strong>, welches<br />

unter die Fusssohle gelegt und an <strong>de</strong>n Fuss durch Riemen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Schnüre befestigt<br />

ward. Er entstand lange vor <strong>de</strong>m Handschuhe und gehört einer Perio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschencultur<br />

an, in welcher noch Stein- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Bronzewerkzeuge verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n.<br />

In einem dänischen Torfmoore fand man einen solchen Schuh, an <strong>de</strong>n Riemen <strong>de</strong>s<br />

Fussblattes durch allerlei eingeschnittene Figuren und zierliche Arbeit verschönert.<br />

Auch in Alt-Aegypten waren die Sohlen ähnlicher Schuhe bisweilen mit Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

verziert, z. B. mit <strong>de</strong>m Bil<strong>de</strong> eines gefesselten Gefangenen. Dies beweist,<br />

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wie wertvoll selbst so einfache Gebil<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>stechnik damals waren. Heute<br />

noch tragen die Slovaken in Ober-Ungarn, die Goralen in Galizien und viele<br />

Südslaven in Dalmatien etc. solche Schuhe, Kirpce, Opincses o<strong><strong>de</strong>r</strong> Opanken genannt.<br />

Die nächsthöhere Stufe <strong><strong>de</strong>r</strong> Fussbekleidung ist die Sandale, eine Sohle mit stabilem<br />

flachen Riemenwerk, an welche <strong><strong>de</strong>r</strong> Haupttrageriemen zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> grossen<br />

und zweiten Zehe durchläuft und <strong><strong>de</strong>r</strong> Riemenbund bis über die Knöchel hinanreicht.<br />

Sie war die Fussbekleidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachblüthe ägyptischer (Fig. 12 d), <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Vorblüthe griechischer und römischer Cultur. Doch scheint man in Griechenland<br />

und Rom von <strong>de</strong>n Schuhen dieser Art vorwiegend nur beim Ausgehen o<strong><strong>de</strong>r</strong> auf<br />

Reisen o<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Winterkälte Gebrauch gemacht zu haben. Zu Hause blieb man<br />

barfuss, und die nie<strong><strong>de</strong>r</strong>en Classen gingen Sommer und Winter hindurch in und<br />

ausser <strong>de</strong>m Hause ohne Schuhe. Im germanischen Nor<strong>de</strong>n hingegen sah man <strong>de</strong>n<br />

Schuh als notwendiges Uebel an. Ein altscandinavisches Sprichwort sagte: „Niemand<br />

schäme sich seiner Bruche (Hosen) und Schuhe, wenn sie auch schlecht<br />

sind.“<br />

67<br />

Das Riemenwerk <strong><strong>de</strong>r</strong> Sandale o<strong><strong>de</strong>r</strong>, wie man in Alt-Griechenland die Sandale für<br />

Männer nannte, <strong><strong>de</strong>r</strong> Krepis. ward sodann verbreitert und legte man <strong>de</strong>mselben<br />

auch zuweilen ein feineres Le<strong><strong>de</strong>r</strong> unter. So ward <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuh zum Halbpantoffel,<br />

aber mit Riemen. Das Riemenwerk ging manchmal bis zur Hälfte <strong><strong>de</strong>r</strong> Wa<strong>de</strong> hinauf.<br />

Nach diesem Uebergangsstadium entstand <strong><strong>de</strong>r</strong> eigentliche Hohlschuh dadurch,<br />

dass man die Riemen wegliess, das Oberle<strong><strong>de</strong>r</strong> fester anzog und <strong><strong>de</strong>r</strong> Fussform anpasste.<br />

Dazu war <strong><strong>de</strong>r</strong> Leisten nöthig und die Schuhmacherei ward zum Handwerk.<br />

Genau so führte die Hutform zur Hutmacherei, und wenn heute noch viele Frauen<br />

sich ihre Hüte selbst anfertigen, kaufen sie doch das Gestell von <strong><strong>de</strong>r</strong> Putzmacherin.<br />

Die Oberle<strong><strong>de</strong>r</strong>schuhe galten in <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Zeit als grosser Luxus und nahm man<br />

nur die zartesten Le<strong><strong>de</strong>r</strong>arten, oft prachtvoll gefärbt, in Gebrauch. In Alt-<br />

Griechenland, wo die weisse Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>tracht als Zeichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Eleganz gebräuchlich<br />

war, kamen auch weisse Le<strong><strong>de</strong>r</strong>schuhe auf. Im nor<strong>de</strong>uropäischen Mittelalter liebte<br />

man spanisches Le<strong><strong>de</strong>r</strong> aus Corduba (Corduan), hauptsächlich von rother, daneben<br />

auch von weisser<br />

68<br />

Farbe. Als Ersatz <strong>de</strong>s Corduans kam das ebenfalls weisse Schafle<strong><strong>de</strong>r</strong> auf, und erst<br />

als man <strong>de</strong>n Obertheil vorne über <strong>de</strong>m Fussblatt <strong><strong>de</strong>r</strong> Quere und <strong><strong>de</strong>r</strong> Länge nach<br />

mit Schnitten und später mit Ausschnitten versah, um <strong>de</strong>m Schuhe Gelenkigkeit<br />

zu geben, da erschien es auch zulässig, stärkeres Oberle<strong><strong>de</strong>r</strong> zu verwen<strong>de</strong>n, und<br />

wur<strong>de</strong> dasselbe sodann einfach geschwärzt. Das Princip <strong>de</strong>s Ausschnei<strong>de</strong>ns er-<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 31 (170)


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möglichte dann auch die Entstehung <strong>de</strong>s Stiefels, <strong><strong>de</strong>r</strong> trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> Enge nun selbst bis<br />

über das Knie hinaufgehen konnte, und dabei <strong><strong>de</strong>r</strong> Wa<strong>de</strong> durch Schnitte Raum gestattete.<br />

Die Schnitte o<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausschnitte wur<strong>de</strong>n manchmal über <strong>de</strong>m Fussblatte durch zwei<br />

über’s Kreuz gehen<strong>de</strong> Le<strong><strong>de</strong>r</strong>bän<strong><strong>de</strong>r</strong>, welche durch Löcher im Le<strong><strong>de</strong>r</strong> gezogen wur<strong>de</strong>n,<br />

geschnürt.<br />

Das Schnüren ist ein charakteristisches Mittel, um steife <strong>Kleidung</strong>sstücke recht<br />

eng anschliessend zu machen. Es wird auch beim Mie<strong><strong>de</strong>r</strong> und beim Schnürleibe<br />

mit gleichem Erfolge angewen<strong>de</strong>t, ist aber doch eine halbbarbarische Metho<strong>de</strong><br />

von zeitrauben<strong><strong>de</strong>r</strong> Umständlichkeit und daher bei <strong>de</strong>n Schuhen im Verschwin<strong>de</strong>n<br />

begriffen. An <strong>de</strong>n Stiefelröhren wur<strong>de</strong> durch<br />

69<br />

Faltungen für <strong>de</strong>n hineinschlüpfen<strong>de</strong>n Fuss Raum geschaffen und dadurch die<br />

Schnürung erspart. Stiefel und Schnürschuh aber sind aus mehreren, nach <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Fussform ausgeschnittenen Le<strong><strong>de</strong>r</strong>theilen zusammengesetzt, futteralartig und zählen<br />

damit zu <strong>de</strong>n Anzugsstücken im engsten Sinne <strong>de</strong>s Wortes, d. h. zu jenen Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>n,<br />

welche nicht umgethan und dann erst fertig gerichtet o<strong><strong>de</strong>r</strong> drapirt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

welche in fertigem Zustan<strong>de</strong> mit Hilfe <strong>de</strong>s Ziehens an <strong>de</strong>n Leib gebracht, „angezogen“<br />

wer<strong>de</strong>n. Wir sind heute so sehr daran gewöhnt, <strong>de</strong>n Ausdruck „Anzug“ im<br />

Mun<strong>de</strong> zu führen, dass wir <strong>de</strong>ssen geschichtliche Entstehung aus <strong>de</strong>n Augen verlieren.<br />

Die <strong>Kleidung</strong> <strong>de</strong>s Alterthums unterschei<strong>de</strong>t sich von jener <strong><strong>de</strong>r</strong> neueren Zeit wesentlich<br />

dadurch, dass die erstere vorwiegend aus Umwurf- und Ueberthan-<br />

<strong>Kleidung</strong>sstücken, die <strong><strong>de</strong>r</strong> letzteren hingegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mehrzahl nach aus Anzieh-<br />

<strong>Kleidung</strong>sstücken besteht. Wir sagen, vorwiegend und <strong><strong>de</strong>r</strong> Mehrzahl nach, <strong>de</strong>nn<br />

auch das altgriechische Gewand zählte Anziehstücke zu seinen Eigenthümlichkeiten,<br />

nämlich <strong>de</strong>n vollkommenen Schuh und das mit Aermeln ver-<br />

70<br />

sehene Hem<strong>de</strong>, welches weiter unten beschrieben wer<strong>de</strong>n wird. Wie in Allem,<br />

ersahen die Griechen auch im <strong>Kleidung</strong>swesen die Principe vollkommen klar. Sie<br />

kannten, obwohl sie nur zweierlei Anzugsstücke besassen, doch genau <strong>de</strong>n Unterschied<br />

von Umwurf und Anzug, und nannten <strong>de</strong>n ersteren Anabole, <strong>de</strong>n letzteren<br />

Endüma.<br />

Als man die Sandale und <strong>de</strong>n Schuh nicht nur ausser <strong>de</strong>m Hause trug und an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Hausthüre ablegte, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Wohnung selbst benutzte und somit tagsüber<br />

am Fusse beliess, da zeigte sich ein Uebelstand, welcher zu weiterer Verbesserung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Fussbekleidung <strong>de</strong>n Anstoss gab.<br />

Man konnte nämlich beim Eintreten in das Haus <strong>de</strong>n Schuh nicht immer alsogleich<br />

reinigen lassen und schleppte so <strong>de</strong>n Staub und <strong>de</strong>n Koth <strong><strong>de</strong>r</strong> Strasse mit in<br />

die Zimmer.<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 33 (170)<br />

Dieser Uebelstand war um so grösser, als die Sohle ganz flach <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n anlag<br />

und somit auch das Oberle<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht genügend vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Beschmutzung schützte.<br />

Man erfand nun <strong>de</strong>n Unterschuh, zuerst aus Holz, mit Haken (Absätzen) vorne<br />

unter <strong>de</strong>m Ballen und hinten<br />

71<br />

unter <strong>de</strong>m Fersenbeine, und einer gon<strong>de</strong>lartigen Spitze. Dieses wahrhaftige<br />

Schutzkleid ward verfeinert, <strong><strong>de</strong>r</strong> vor<strong><strong>de</strong>r</strong>e Theil <strong><strong>de</strong>r</strong> Untersohle erhielt eine Zwischensohle<br />

aus Kork o<strong><strong>de</strong>r</strong> Le<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> hintere eine Schichte von Le<strong><strong>de</strong>r</strong>flecken, <strong>de</strong>n<br />

Stöckel. Die Untersohle sammt <strong>de</strong>m Stöckel wur<strong>de</strong> sodann durch Nähte mit <strong>de</strong>m<br />

Schuhe dauernd vereinigt und so besitzen wir heutzutage im Schuhe zwei Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

ein (oberes) Schutz- und Deckkleid und ein (unteres) Schutzkleid. Das classische<br />

Alterthum brachte <strong>de</strong>n so ausgestatteten Schuh als Kothurn auf die Bühne, allerdings<br />

mit jener Uebertreibung, welche die genialen Bühnendichter selbst in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Tragödie anzuwen<strong>de</strong>n für gut fan<strong>de</strong>n. Alt-Griechenland widmete in seiner höchsten<br />

Blüthezeit <strong>de</strong>m Schuhe volle Aufmerksamkeit. Ein Philosoph wie Plato zählte<br />

unter <strong>de</strong>n Handwerkern, welche in seinem i<strong>de</strong>alen Staate vorgesehen waren, vor<br />

Allem als nothwendige Bestandtheile <strong><strong>de</strong>r</strong> wirthschaften<strong>de</strong>n Gesellschaft die<br />

Schuhmacher auf. Man nannte gewisse neu auftauchen<strong>de</strong> Schuhformen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en es<br />

unzählige gab, nach hervorragen<strong>de</strong>n Männern, so z. B. Iphikrati<strong>de</strong>s, Deinia<strong>de</strong>s,<br />

Alkibiadia, Smindüridia, Münakia u. s. w. Der<br />

72<br />

Possendichter Aristophanes spottet zwar gelegentlich über die Schuhe, die wie ein<br />

Kahn sitzen, in <strong>de</strong>nen <strong><strong>de</strong>r</strong> Fuss schwimme; aber die Vorliebe für Knappheit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schuhe, ohne welche ja auch jener Spott ohne Wirkung geblieben wäre, ging so<br />

weit, dass man die Schuhe für <strong>de</strong>n rechten und linken Fuss beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s anfertigen<br />

liess, ein Gebrauch, welcher uns erst seit ungefähr einem Vierteljahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t bekannt<br />

ist.<br />

Und nun noch einige Worte über <strong>de</strong>n mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Schuh. Ein Pflanzenstoff, <strong>de</strong>ssen<br />

Anwendung <strong>de</strong>n Alten unbekannt blieb, <strong><strong>de</strong>r</strong> Kautschuk, hat unsere Schuh-<br />

Construction wesentlich geän<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Anstatt <strong><strong>de</strong>r</strong> Schnürschuhe und <strong><strong>de</strong>r</strong> faltigen Stiefel<br />

kamen mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gummizüge die Stiefletten zum Vorschein, anfangs<br />

roh, heutzutage aber wesentlich verfeinert. Die Schwierigkeit <strong>de</strong>s Nähens<br />

von Gummizügen in Verbindung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Einführung angeklebten Schuhfutters<br />

gab Anlass zur Entstehung eines eigenen Gewerbes, jenes <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuhobertheilmacher<br />

nämlich. Dasselbe verwen<strong>de</strong>t Aufpapp- und Nähmaschinen, Maschinen zum<br />

Steppen, Umbörteln u. s. w. Während nun ursprünglich die Gummizüge einfach in<br />

<strong>de</strong>n<br />

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Knöchelausschnitt <strong>de</strong>s Oberle<strong><strong>de</strong>r</strong>s eingesetzt wur<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n heutzutage vorwiegend<br />

Schuhobertheile aus Handschuhle<strong><strong>de</strong>r</strong> mit Gummizügen und weissem Leinwandfutter<br />

als Han<strong>de</strong>lswaare angefertigt, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuhmacher fügt nun das stärkere<br />

Oberle<strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>m weiten Ausschnitte und die Sohle sammt <strong>de</strong>m Absatze<br />

daran, er ist lediglich Untertheilmacher. Der Schuh besteht nunmehr heute aus<br />

drei Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>theilen: <strong>de</strong>m Hüllklei<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Knöchel, <strong>de</strong>s oberen Fersentheils und <strong>de</strong>s<br />

Ristes, weil <strong>de</strong>s sehnigsten und zartesten Theiles <strong>de</strong>s Fusses, <strong>de</strong>m Deckklei<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Ferse (Quaterle<strong><strong>de</strong>r</strong>) und <strong><strong>de</strong>r</strong> Zehen, endlich <strong>de</strong>m Schutzklei<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Sohlen und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Ferse. Die drei Theile zusammengenommen bil<strong>de</strong>n ein einziges <strong>Kleidung</strong>sstück,<br />

und zwar nicht nur <strong>de</strong>shalb, damit beim Anziehen Zeit erspart wer<strong>de</strong>, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

auch offenbar aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong>, damit durch die unvermeidlichen Zwischenfugen<br />

mehrerer <strong>Kleidung</strong>sstücke nicht Staub, Regen, Nässe eindringen können.<br />

Der Schuh ist nicht das einzige Fussbekleidungsstück geblieben. Schon Alt-<br />

Hellas, auf <strong>de</strong>ssen classische Pflege <strong>de</strong>s Bekleidungswesens wir stets zurückkommen<br />

müssen, kannte<br />

74<br />

Socken aus Filz, ähnlich <strong>de</strong>m Hutfilze. Im Mittelalter ward <strong><strong>de</strong>r</strong> Fuss vorzüglich<br />

durch Verlängerungen <strong><strong>de</strong>r</strong> strumpfartigen Hose be<strong>de</strong>ckt, erhielt aber seit <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfindung<br />

<strong>de</strong>s Strickens ein vollen<strong>de</strong>tes inneres Hüllkleid: <strong>de</strong>n Strumpf o<strong><strong>de</strong>r</strong> die<br />

Socken. Dem anziehbaren Strumpfe ging als Umthanstück bei manchen Völkern<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Bevölkerungsclassen <strong><strong>de</strong>r</strong> Fusslappen aus Leinwand voraus, welcher noch<br />

heute in <strong>de</strong>n südslavischen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n, sowie von <strong>de</strong>n Soldaten unserer Armeen getragen<br />

wird.<br />

Als Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> über <strong>de</strong>m Schuhe tauchen zeitweilig Kautschuk-Ueberschuhe und<br />

Kamaschen auf, letztere aber mehr als Wa<strong>de</strong>n- <strong>de</strong>nn als Fussbekleidung. Auf Reisen<br />

wer<strong>de</strong>n Filz- und Lo<strong>de</strong>n- (Halina-) Stiefel über <strong>de</strong>n Schuhen getragen.<br />

Der Handschuh dürfte wohl das einzige <strong>Kleidung</strong>sstück sein, welches stets allein<br />

unmittelbar <strong>de</strong>n Leib be<strong>de</strong>ckt und zur Schichtenbildung noch nicht gelangt ist.<br />

O<strong><strong>de</strong>r</strong> sollte etwa <strong><strong>de</strong>r</strong> Muff als Ueberhandschuh gelten? Ja selbst die Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuschnitt <strong>de</strong>s Handschuhes kommen erst in Zeiten höherer Cultur vor.<br />

75<br />

Das Alterthum benutzte Handschuhe nur ausnahmsweise. Die Griechen und Römer<br />

hüllten ihre Hän<strong>de</strong> in die faltigen Ueberklei<strong><strong>de</strong>r</strong> ein, eine Metho<strong>de</strong>, welche<br />

koketten Damen Anlass zu <strong>de</strong>n reizendsten Kunststücken <strong>de</strong>s Faltenwurfes gab,<br />

(siehe Figur 9 a und b). Nur während <strong><strong>de</strong>r</strong> Mahlzeit bedienten sie sich zum Ergreifen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Speisen le<strong><strong>de</strong>r</strong>ner Fingerlinge. Zuweilen zog auch ein Feldarbeiter zum<br />

Schutze<br />

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a b<br />

Figur 9: a und b griechische Hetären, Thonfiguren aus Tanagra<br />

gegen Dornen einen Handschuh an. Die Perser hingegen und manche Gebirgsvölker<br />

West-Asiens trugen regelmässig Handschuhe, selbst wenn sie zu Fel<strong>de</strong> zogen,<br />

welche aus feinem Pelzwerke bestan<strong>de</strong>n und mit Fingerlingen versehen waren.<br />

Auch die neuere Geschichte <strong>de</strong>s Handschuhes kann in die Fäustlings- und in die<br />

Fingerlings-Perio<strong>de</strong> geschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Der Fäustling besteht aus Pelz o<strong><strong>de</strong>r</strong> gestrickter<br />

(gewirkter) und gewalkter Schafwolle und gibt höchstens <strong>de</strong>m Daumen<br />

abgeson<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Raum. Der Handschuh hingegen ist aus <strong>de</strong>n Fingertheilen und <strong>de</strong>m<br />

Hand<strong>de</strong>ckstücke zusammengesetzt, wird aus zartem Le<strong><strong>de</strong>r</strong> kunstgerecht zugeschnitten<br />

und genäht o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch aus Baumwolle, Leinen- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Sei<strong>de</strong>nzwirn gewirkt<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> genetzt. Der Fäustling ist zumeist Product <strong><strong>de</strong>r</strong> Hausarbeit, <strong><strong>de</strong>r</strong> Handschuh<br />

Handwerks-Erzeugniss. Er war vom Anfange an Anziehstück, was beweist, dass<br />

seine Entstehung o<strong><strong>de</strong>r</strong> Einführung stets erst in jene Perio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> materiellen Cultur<br />

eines Volkes fällt, in welcher die übrige Bekleidung bereits <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>s<br />

Anzugs angenommen hat. Unser Handschuh ward<br />

77<br />

noch im 16. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t nur von vornehmen Herren und Damen getragen und<br />

viele fürstliche Porträts jener Zeit zeigen <strong>de</strong>n Handschuh nicht an son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Hand gehalten, so wie es heute noch jene Gesellschaftsclasse zu thun pflegt, welche<br />

<strong>de</strong>n Handschuh nicht als <strong>Kleidung</strong>sstück, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n als nothwendiges Attribut<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bildung trägt und <strong>de</strong>nselben daher nicht anzieht, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nur in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand behält.<br />

Die Mehrzahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen gehört eben auch heute noch zu <strong>de</strong>n „Nackthän<strong><strong>de</strong>r</strong>n“.<br />

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Die Kopf-, Fuss- und Handbe<strong>de</strong>ckung zeigt in vielen Beziehungen merkwürdige<br />

Uebereinstimmung. Sie gehört vorwiegend <strong><strong>de</strong>r</strong> Region <strong>de</strong>s Deckklei<strong>de</strong>s an, besteht<br />

nur aus einer bis zwei, höchstens drei Schichten, welche zu einem, höchstens<br />

zwei <strong>Kleidung</strong>sstücken vereinigt sind, und wird handwerksmässig, jedoch von<br />

drei nicht zu <strong>de</strong>n Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>machern zählen<strong>de</strong>n Handwerken erzeugt. Sie besitzt eigenthümliche,<br />

steife, meistenteils über Leisten gefertigte Formen und wird aus<br />

Materialien hergestellt, welche bei <strong><strong>de</strong>r</strong> übrigen Bekleidung längst ausser Anwendung<br />

gekommen sind, nämlich aus Pelz, Fellen, Le<strong><strong>de</strong>r</strong>, Filz, Bast, Stroh, Sparterie.<br />

78<br />

Gewebte Stoffe kommen bei Hüten, Schuhen und Handschuhen nur ganz ausnahmsweise<br />

vor, eher gestrickte, gehäckelte, gewirkte. Deutlich unterschei<strong>de</strong>t sich<br />

von Hut, Schuh und Handschuh <strong><strong>de</strong>r</strong> noch am ehesten <strong>de</strong>m gewirkten Sommerhandschuhe<br />

ähnliche Strumpf. Er gehört einer abgeson<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Schichtenformation<br />

an, <strong><strong>de</strong>r</strong>en verwandte Arten wir bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Bein- und Arm-, sowie bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Leibesbekleidung<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ent<strong>de</strong>cken wer<strong>de</strong>n, und zwar in ähnlicher Reihenfolge <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schichtung als innere Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

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IV.<br />

ZUR GESCHICHTE DER KLEIDUNGSSTÜCKE. - ZWEITE GRUPPE.<br />

Geistreiche Romanciers wissen <strong>de</strong>n langathmigsten Capiteln stets die pikanteste<br />

Einleitung voranzuschicken und das „Nur hereinspaziert meine Herren und Damen!“<br />

in <strong>de</strong>n buntesten Variationen geschickt anzuwen<strong>de</strong>n. Für uns möge <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

sprö<strong>de</strong> Stoff durch seine eigenen intimen Beziehungen zum verehrten Leser -<br />

<strong>de</strong>nn was ist wohl intimer, als eine Hose und ein Hem<strong>de</strong> - selber sprechen, und für<br />

die etwas gelehrt angehauchte Darstellung ein „Verzeihe“ erwirken.<br />

Gewiss ist vor Allem die Entwicklung <strong>de</strong>s Hals-, <strong>de</strong>s Arm- und <strong>de</strong>s Beinklei<strong>de</strong>s<br />

interessant<br />

80<br />

und doch wenig erforscht. Es gab und gibt viele Völker, welche we<strong><strong>de</strong>r</strong> Halskrägen,<br />

noch Aermel, noch Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> kennen. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Perio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Umwurfkleidung<br />

dient <strong><strong>de</strong>r</strong> Pelz o<strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel ganz generell auch als Hals- und Armumhüllung, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schurz o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> hemdartige Rock auch als Beinkleid. Nur bei <strong>de</strong>n In<strong><strong>de</strong>r</strong>n wur<strong>de</strong>n<br />

die dünnen baumwollenen Zeuge speciell um Arme und Beine gewickelt. Im Alterthum<br />

trugen nur die Me<strong><strong>de</strong>r</strong>, Perser, Scythen und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Berg- und Steppenvölker<br />

Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> als Anzugstücke (Hosen) und von <strong>de</strong>n gebil<strong>de</strong>teren Nationen war<br />

es ausser<strong>de</strong>m nur ein Stamm <strong><strong>de</strong>r</strong> Griechen (die Jonier), welcher zwar nicht <strong>de</strong>m<br />

Beinklei<strong>de</strong>, wohl aber <strong>de</strong>m Aermel Eingang gewährte. Die Gallier brachen bei<strong>de</strong>n<br />

Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>theilen für die neuere Zeit Bahn und unsere Tracht charakterisirt sich gera<strong>de</strong>zu<br />

als Kragen-, Aermel-, und für das ganze männliche Geschlecht auch als<br />

Beinkleidtracht.<br />

Die Hals-, Arm- und Beinbekleidung drückt schon durch ihre Construction <strong>de</strong>n<br />

organischen Zusammenhang <strong><strong>de</strong>r</strong> Extremitäten mit <strong>de</strong>m Mittelleibe aus. Nur ganz<br />

unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> und ausnahmsweise in Gebrauch gelangen<strong>de</strong> <strong>Kleidung</strong>s-<br />

81<br />

stücke <strong>de</strong>s oberen En<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s Halses, wie Boa’s, Shawls, Bandzier und Halsschmuck,<br />

dann <strong>de</strong>s organisch gleichbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n unteren En<strong>de</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong> Arme und<br />

Beine, wie die ganz ähnlichen Puls- und Wa<strong>de</strong>nwärmer, Bracelets, Fussringe (bei<br />

wil<strong>de</strong>n Völkern) gelangen zu einiger Selbstständigkeit als beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>Kleidung</strong>sstücke.<br />

Dagegen ist alles Kragen- und Manchettenwerk Anhängsel <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittelleibs-<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> Armbekleidung, und alle Arm- und Beinbekleidung (Aermel, Hosen, Unterröcke)<br />

hängt <strong>de</strong>m Zuschnitte nach und selbst mittelst Nähten mit <strong>de</strong>n Mittelleibklei<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

fest zusammen.<br />

Wenn auch im alten Aegypten selbständige Halskrägen vorzukommen scheinen,<br />

welche auf <strong>de</strong>m nackten Leibe getragen wur<strong>de</strong>n, so dürften dieselben doch mehr<br />

als Schmuck <strong>de</strong>nn als <strong>Kleidung</strong> gedient, und vielleicht eine symbolische Be<strong>de</strong>utung<br />

gehabt haben. (Siehe Fig. 12 c, d.) Das griechische und römische Alterthum<br />

hielt <strong>de</strong>n Hals frei. Wir dagegen begraben <strong>de</strong>nselben seit dreihun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Jahren in<br />

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vielfachen Schichten von Krägen <strong>de</strong>s Ueberrocks o<strong><strong>de</strong>r</strong> Mantels, <strong>de</strong>s Rocks, <strong>de</strong>s<br />

Gilets, sogar <strong>de</strong>s Hem<strong>de</strong>s. (Siehe Figur 6 b, 11 und 18.)<br />

82<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauenkleidung kommen ausnahmsweise einige Combinationen selbständiger<br />

<strong>Kleidung</strong>sstücke vor, welche die Schulter und Büste und zugleich <strong>de</strong>n Hals<br />

be<strong>de</strong>cken. So die reizen<strong>de</strong>n Kragen aus Spitzengrund, aus buntfarbiger Häckel-<br />

und Strickarbeit, sowie die Pelzkragen. Die Schulter und Achsel sammt einem<br />

kleinen Theile <strong><strong>de</strong>r</strong> Büste gehört auch organisch zum Halse, gera<strong>de</strong> so, wie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Oberarm zum Unterarm.<br />

Die Armbekleidung umfasst nur wenige <strong>Kleidung</strong>sstücke: die Aermel und die<br />

Aermelchen (Manchetten). Auch an Schichten ist sie „arm“. Noch heute ist das<br />

Frauenhemd ärmellos, und auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann trägt am Arme nicht mehr als zwei,<br />

höchstens drei Schichten; <strong>de</strong>n Hem<strong>de</strong>-, <strong>de</strong>n Rock- und <strong>de</strong>n Ueberrockärmel. In<br />

mehreren Trachten-Epochen entstand über <strong>de</strong>m einfachen Aermel ein Oberärmel.<br />

Derselbe war entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> aufgeschlitzt o<strong><strong>de</strong>r</strong> ganz offen und hing lang herab (Fig.<br />

10), o<strong><strong>de</strong>r</strong> er bil<strong>de</strong>te eine kürzere geschlossene Oberarmwulst (Fig. 18). Die Länge<br />

bei<strong><strong>de</strong>r</strong> schwankte gegenseitig so lange hin und her, bis heutzutage <strong><strong>de</strong>r</strong> Oberarmärmel<br />

siegte und nun pantalonartig von <strong><strong>de</strong>r</strong> Achsel bis zur Handfessel<br />

83<br />

herabfällt. Nur in <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauenkleidung setzt sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Kampf noch fort.<br />

Auch darin gleicht <strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne weite und geschweifte Aermel <strong>de</strong>m Pantalon,<br />

dass er <strong>de</strong>m Armgelenke keine Rücksicht zollt, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Ellenbogen in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong><br />

so wenig zum<br />

Figur 10: Anna, Dauphinae d’Auvergne, 1378.<br />

Ausdrucke gelangt wie das gleichwertige Knie in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hose o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Unterrocke.<br />

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Während das Aermelwesen bei bei<strong>de</strong>n Geschlechtern sich in beinahe ganz gleichen<br />

Constructions-Principien und Formen ausgestaltet, erlei<strong>de</strong>t die Beinbekleidung<br />

in Folge <strong>de</strong>s Geschlechts-Unterschie<strong>de</strong>s eine Trennung in zwei Arten, die<br />

jedoch beiweiten nicht so gross ist, als man gewöhnlich glaubt. Abgesehen davon,<br />

dass das mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Damen-Unterbeinkleid auch aus zwei „Aermeln“ besteht, wie<br />

das Männerbeinkleid, ist auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Damenrock und Unterrock nur als einärmelige<br />

Hose aufzufassen und macht organisch alle Gestaltungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Hose mit durch.<br />

Das römische und griechische Alterthum kennt ja auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Männerkleidung die<br />

Hose nicht, wie ihm überhaupt die abgeson<strong><strong>de</strong>r</strong>te Extremitätenkleidung ferne lag.<br />

Aber auch bei uns ist die Hose ein ziemlich charakterloses, höchst wan<strong>de</strong>lbares<br />

<strong>Kleidung</strong>sstück, das eher <strong>de</strong>m Mittelleibe, als <strong>de</strong>m Beine angehört.<br />

Interessant ist die Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Hose. So wie in <strong><strong>de</strong>r</strong> Armbekleidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Oberarm-<br />

und Unterarmärmel lange Zeit mit einan<strong><strong>de</strong>r</strong> concurriren, so auch hier. Das<br />

Kleid <strong><strong>de</strong>r</strong> Wa<strong>de</strong>n, zuerst aus einfachen Bin<strong>de</strong>n, Le<strong><strong>de</strong>r</strong>schienen und strumpfartigen<br />

Stutzröhren bestehend, verlängert<br />

85<br />

sich allmälig über das Knie herauf. Die Gebirgsbauern in Tirol, Mann wie Weib,<br />

tragen noch heute jene Wa<strong>de</strong>nröhren, welche nur bis zum Knöchel hinabreichen,<br />

die auf antiken Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>n vorkommen, und mit <strong>de</strong>nen Michel Angelo seinen Moses<br />

ausstattete. Im alt-germanischen Nor<strong>de</strong>n, wo dieses <strong>Kleidung</strong>sstück ebenfalls<br />

heimisch war, nannte man es Hose (hosa). Das Schenkelkleid <strong><strong>de</strong>r</strong> Männer und<br />

Frauen, welches von <strong>de</strong>n Hüften herabfiel, und bis zum Knie reichte, hiess dagegen<br />

Bruche (brôkr). Sie war um <strong>de</strong>n Leib mit einem Gürtel befestigt und wur<strong>de</strong><br />

auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht nicht abgelegt. Die Männerbruche war im Schnitte zugenäht,<br />

und hatte also einen Sitzbo<strong>de</strong>n (setgeir). Nun verlängerte sich die Bruche allmälig<br />

über das Knie hinab, die Wa<strong>de</strong>n entlang, ja zuletzt sogar über <strong>de</strong>n Knöchel bis<br />

hinab zu <strong>de</strong>n Zehenspitzen. Da erhielt sie <strong>de</strong>n Namen Sockenbruche (lustabroekur)<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Hose. Die Siegerin empfing <strong>de</strong>mnach <strong>de</strong>n Namen <strong><strong>de</strong>r</strong> Besiegten.<br />

Im Mittelalter, wo die Hose erst gegen das 11. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t allgemein getragen<br />

ward, weil bis dahin <strong><strong>de</strong>r</strong> lange, bis zu <strong>de</strong>n Füssen herabwallen<strong>de</strong> Rock die Be<strong>de</strong>kkung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Beine mitbesorgt hatte, erscheint die Hose als Socken-<br />

86<br />

bruche wie ein von <strong><strong>de</strong>r</strong> Hüfte bis zur Zehenspitze reichen<strong>de</strong>s Tricot, wenn auch<br />

nur aus Leinwand, Sei<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> Tuch gefertigt. Sie wur<strong>de</strong> an je<strong>de</strong>m Beine abgeson<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

angezogen und erst dann zu einem Klei<strong>de</strong> vereinigt, als sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Männerrock<br />

so sehr verkürzte, dass die Theilung, wie sie noch heute bei <strong>de</strong>n Höschen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

von 2-4 Jahren vorkommt und <strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Frauenhose eigen ist, aus Anstandsrücksichten<br />

nicht mehr zulässig erschien.<br />

Ueber dieser „Urhose“ begann nun die Entwicklung einer zweiten. Von unten<br />

herauf stiegen weit- und hochröhrige Stiefel (beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s im 15. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Tracht italienischer Herren und später in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kriegertracht <strong>de</strong>s dreissigjährigen<br />

Krieges <strong>de</strong>utlich ausgeprägt) und sei<strong>de</strong>ne o<strong><strong>de</strong>r</strong> wollene Strümpfe (Tracht <strong>de</strong>s 17.<br />

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und 18. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts); von oben herab kam nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Verkürzung <strong>de</strong>s Rockes,<br />

welcher im 16. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te bis zum Wammse zusammenschrumpfte (siehe Figur<br />

11 a), ein Schenkelkleid auf, welches zuerst von <strong>de</strong>n Hüften nur bis zur Hälfte <strong>de</strong>s<br />

Oberschenkels, unserer mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Schwimmhose ähnlich, herabfiel, hier aber<br />

gleich <strong>de</strong>m Oberarmwulste eingeschnürt ward.<br />

87<br />

Später stieg diese Schenkel-Oberhose bis ober das Knie (siehe obenerwähnte Figur)<br />

und endlich in <strong><strong>de</strong>r</strong> nie<strong><strong>de</strong>r</strong>ländischen und englischen Tracht <strong>de</strong>s 17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts<br />

bis unter das Knie herab. In diesem Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te noch zeigt sich eine plötzliche<br />

Rückkehr zur Verkürzung. Die nach unten zu offene Hose wird wie<strong><strong>de</strong>r</strong> eingeschnürt<br />

und am Strumpfe befestigt (Fig. 56 b).<br />

88<br />

a b<br />

Figur 11: Carl V., nach Tizian, b Carl IX. von Frankreich, 1560-1574<br />

So bleibt sie bis zur französischen Revolution und in <strong>de</strong>utschen und holländischen<br />

Bauerntrachten bis zum heutigen Tage. Die Revolution aber vertilgte die Culotte<br />

(Kniehose) und führte plötzlich die offene Langhose (das Pantalon) ein, welche<br />

bis dahin nur von italienischen Charaktermasken zum Scherze getragen wor<strong>de</strong>n<br />

war.<br />

Dem Pantalon begegnen wir übrigens schon im Alterthum bei <strong>de</strong>n Me<strong><strong>de</strong>r</strong>n, Persern,<br />

Scythen und an<strong><strong>de</strong>r</strong>n nordischen Bergvölkern, welche wahrscheinlich schon<br />

lange, bevor die Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong>en Costüme auf Denkmälern verewigte, die Epoche<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Kurzhose zurückgelegt hatten.<br />

Inzwischen verlängert sich auch die Unterhose, welche bei uns fälschlich und gegen<br />

alle Gesetze <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung <strong>de</strong>n Namen „Gatie“ trägt. Es<br />

mag sein, dass ihr dieser Namen zu eigen ward, weil sie entgegen <strong>de</strong>m offenen<br />

Pantalon unterhalb über <strong><strong>de</strong>r</strong> Fussfessel gebun<strong>de</strong>n wird. Die Gatie aber als Natio-<br />

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nalkleid <strong><strong>de</strong>r</strong> Ungarn ist die alte Urhose, die Bruche, die sogar noch im Spalte nicht<br />

verengert und zusammengenäht ist. Solche ungespaltene Urhosen kommen auch<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen griechischen und türkischen Tracht vor.<br />

89<br />

Das mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Pantalon kennt so wenig wie <strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Aermel die Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

im Knie, es ist nur bequem, aber nicht auch schön. Denn Knie und Sitztheil bohren<br />

sich <strong>de</strong>nnoch im Gebrauche allmälig bis zur Kropfform durch, was einen ganz<br />

abscheulichen Anblick gewährt.<br />

Zu ihrem Heile weiss die heutige Frauenwelt von solchen Kämpfen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Region<br />

ihrer Beinbekleidung nichts. Sie trägt die alte gänzlich ungetheilte Bruche als Unterrock<br />

und die theilweise getheilte Unterbruche als Unterbeinkleid noch fortan<br />

und <strong>de</strong>nkt auch nicht daran, <strong>de</strong>n Männern durch „Hosen mit Sitzbö<strong>de</strong>n“ zu imponiren.<br />

Ihre Hosen, wenn sie je vorkommen und durch die Kälte im Winter geboten<br />

sind, haben eben glücklicherweise noch keine Ahnung von einer ungesun<strong>de</strong>n Naht<br />

im Schnitte.<br />

Der Unterrock behauptet sich trotz aller Angriffe, welche die französische Revolution<br />

<strong>de</strong>mselben bereitete. Er, <strong><strong>de</strong>r</strong> in Ludwig’s XIV. und XV. Zeiten die Herrschaft<br />

in Staat und Kirche übernahm, <strong><strong>de</strong>r</strong> Kriege führte und Frie<strong>de</strong>n dictirte, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

auch in Napoleon’s III. Zeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt die Spitze bot, überwand sogar die Frauen<br />

selbst. Denn we<strong><strong>de</strong>r</strong> amerikanische noch englische<br />

90<br />

Blaustrümpfe und Emancipirte, welche mit <strong>de</strong>n Hosen kokettiren, noch die Noth<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Krisis von 1873, in welcher die Frauentracht sich nahezu vollständig entweiblichte,<br />

konnten <strong>de</strong>mselben trotz wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holter und energischer Versuche etwas anhaben.<br />

Der Unterrock und sein Ebenbild höherer Ordnung, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schooss, sind es, welche<br />

sogar auf die verwandte Aermeltracht verweiblichend zurückwirken, sobald nur<br />

irgendwie die Emancipationsgelüste aus Uebermuth o<strong><strong>de</strong>r</strong> Noth, nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gehalten<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> weiblichen Tracht ist die Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Röcke und Unterröcke so hoch gestiegen,<br />

dass sich die <strong>Kleidung</strong> fast mehr in <strong><strong>de</strong>r</strong> Be<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Unterleibes und Beines als<br />

in jener <strong>de</strong>s Oberleibes zu concentriren scheint, wie dies beim Manne <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall ist.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Construction jedoch gleichen alle Schichten einan<strong><strong>de</strong>r</strong>, nur dass die äusseren<br />

in Stoff und Form mehr <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>s Deckklei<strong>de</strong>s, die inneren jenen <strong>de</strong>s<br />

HüllkIei<strong>de</strong>s annehmen, welches Gesetz ja bei allen Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>schichten mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

weniger giltig ist.<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 42 (170)<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 42 (170)<br />

V.<br />

ZUR GESCHICHTE DER KLEIDUNGSSTÜCKE. - DRITTE GRUPPE.<br />

Und nun zur Geschichte <strong>de</strong>s eigentlichen Mittel- und Oberleibklei<strong>de</strong>s.<br />

Das älteste <strong>Kleidung</strong>sstück, darin behält die schöne ägyptisch-hebräische Sage<br />

vom Sün<strong>de</strong>nfalle auch fortan Recht, ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Schurz. Alle Völker, welche aus <strong>de</strong>m<br />

Zustan<strong>de</strong> völliger Nacktheit in jenen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung übergehen, beginnen <strong>de</strong>n<br />

Culturprocess mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Schürze. Mag sie nun aus Blättern, Rin<strong>de</strong>nstücken, Bast<br />

bestehen, wie bei vielen halbwil<strong>de</strong>n Völkern, o<strong><strong>de</strong>r</strong> aus Fellen, rohen Geflechten<br />

und Geweben angefertigt sein, wie bei Nationen, welche zu gewissen gesellschaftlichen<br />

und Staatsformen<br />

92<br />

gelangt sind, bei welchen schon die Etikette eine Schürzenbe<strong>de</strong>ckung for<strong><strong>de</strong>r</strong>t,<br />

immer ist sie aus einem Ban<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>cken<strong>de</strong>n Anhängsel o<strong><strong>de</strong>r</strong> aus einem<br />

Gürtel mit <strong>de</strong>m Deckstücke zusammengesetzt. Anstatt <strong>de</strong>s Bast- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Riemengürtels<br />

wird später eine breitere Schürze ge-<br />

Figur 12: a, b, c, d ägyptische Schürzentrachten.<br />

tragen, welche sich allgemach zur eigentlichen, um die Hüften gewickelten Schürze<br />

erweitert.<br />

An <strong>de</strong>n Trachten Alt-Aegyptens lässt sich diese consequente Verbreiterung und<br />

Verlängerung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schürze so klar wahrnehmen, wie jene <strong><strong>de</strong>r</strong> Hose in neuerer Zeit.<br />

(Siehe Figur 12.)


93<br />

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Endlich reichte die Schürze so weit über die Brust hinauf, dass sie mittelst Achselbän<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

stehend erhalten wer<strong>de</strong>n musste, und über die Hüften so weit hinab,<br />

dass sie fast einem Rocke glich. Noch ein Schritt, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock ist da. Im germanischen<br />

Nor<strong>de</strong>n vollzog sich unter ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>en klimatischen Verhältnissen doch<br />

die gleiche Umwandlung. Der Schurz, die Skyrta, ward als Haustracht allein am<br />

Leibe getragen. Dieses <strong>Kleidung</strong>sstück reichte bis über die Achseln. Die<br />

Oeflnung, durch welche Kopf und Hals gesteckt wur<strong>de</strong>n, das Hauptloch (höfudsmâtt),<br />

durfte bei <strong>de</strong>n Männern nicht weit sein, <strong>de</strong>nn, war <strong><strong>de</strong>r</strong> Brustausschnitt<br />

so tief, dass die Brustwarzen zu sehen waren, so galt es für ein Weiberhem<strong>de</strong>, und<br />

die Frau hatte Grund zur Scheidung, sowie im an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Falle <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann, wenn das<br />

Weib Hosen nach Männerschnitt trug. Noch in späterer Zeit, als die Schürze bereits<br />

vollständig als Rock galt, trug sie <strong>de</strong>n Namen Skryta und war kurz (scurt,<br />

woher skyrta), namentlich auch bei <strong>de</strong>n Weibern.<br />

Von oben, von <strong>de</strong>n Schultern her wuchs <strong><strong>de</strong>r</strong> Schürze das Schultertuch (bei <strong>de</strong>n<br />

Aegyptern etc.) und <strong><strong>de</strong>r</strong> Umwurf aus Pelz, Fellen,<br />

94<br />

Gewebe o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel entgegen. Der Mantel bestand aus einem Stücke und<br />

ward vorne am Halse o<strong><strong>de</strong>r</strong> seitwärts auf <strong><strong>de</strong>r</strong> einen Schulter mittelst eines Dorns,<br />

einer Na<strong>de</strong>l, eines Ban<strong>de</strong>s o<strong><strong>de</strong>r</strong> Knopfes gebun<strong>de</strong>n.<br />

Oftmals fin<strong>de</strong>t man Mantel- und Schürzenform in einem <strong>Kleidung</strong>sstücke vereinigt,<br />

so bei <strong>de</strong>n arabischen Weibern und im alt-griechischen Hem<strong>de</strong> (Chiton), eigentlich<br />

einem Leibrocke, <strong><strong>de</strong>r</strong> an bei<strong>de</strong>n, o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch nur an einer Schulter zusammengeheftet<br />

war, aber noch keinen Zuschnitt und keine Naht besass. Immer aber<br />

tragen die Männer vorwiegend <strong>de</strong>n Mantel, welcher länger wer<strong>de</strong>nd, auch die<br />

Schürze ersparen hilft, und so das einzige <strong>Kleidung</strong>sstück <strong>de</strong>s Mannes wird. (Siehe<br />

Figur 16 a.)<br />

Wirft nun später nach jener Kampfperio<strong>de</strong>, wie wir dieselbe bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Hose kennen<br />

lernten, die Frau über <strong>de</strong>m (kurzen) Hem<strong>de</strong> <strong>de</strong>n (langen) Mantel um (römische<br />

Togatracht), o<strong><strong>de</strong>r</strong> klei<strong>de</strong>t sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann unter <strong>de</strong>m kürzeren Mantel in ein längeres<br />

Hem<strong>de</strong> (griechische Chlamystracht), so erreichen doch bei<strong>de</strong> damit eine weitere<br />

Stufe <strong>de</strong>s Bekleidungs-Fortschrittes: das Doppelkleid.<br />

95<br />

Als Uebergang dient ein sehr weiter Stoff für Mantel o<strong><strong>de</strong>r</strong> Hem<strong>de</strong>, welcher mehrfach<br />

um <strong>de</strong>n Körper gewickelt wird. Während die Griechen und Römer diese<br />

Wickelung über <strong>de</strong>n Schultern und unter <strong>de</strong>m rechten und linken Arme, o<strong><strong>de</strong>r</strong> nur<br />

unter einem <strong><strong>de</strong>r</strong>selben vornahmen, trugen<br />

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Figur 13: Assyrischer König im Herrscherornate.<br />

semitische Völker, wie Ju<strong>de</strong>n, Phönicier etc., dann die Völker <strong><strong>de</strong>r</strong> Euphratlän<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

endlich auch die Aegypter Leibwickel, welche bandartig zuerst um <strong>de</strong>n Unterleib,<br />

dann um die Brust, endlich über die eine Achsel, zuletzt über bei<strong>de</strong> Schultern gewickelt<br />

waren. Diese Wickelung erinnert an<br />

96<br />

die Bekleidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> unserer Zeit in ihren ersten Lebenstagen. (Siehe die<br />

vorhergehen<strong>de</strong> Figur 13 und die nachstehen<strong>de</strong> Figur 14.)<br />

Die Dorerin wusste jedoch mittelst eines einzigen länglich-viereckigen Stoffstükkes<br />

ein bis auf die Füsse herabreichen<strong>de</strong>s faltiges Unter-<br />

a b<br />

Figur 14: a Mann, b Frau aus einer phönicischen Colonie in Syrien.<br />

leibskleid und ein über dasselbe bauschig vorragen<strong>de</strong>s Mittelleibskleid mit freien<br />

Oeffnungen für die nackten Arme kunstgerecht herzustellen. (Figur 19 a und b.)<br />

Das einfache. einem Hem<strong>de</strong> gleichen<strong>de</strong> Chiton wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n griechischen Knaben<br />

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noch bis in die höchste Blüthezeit Griechenlands allein am Leibe getragen. Erst<br />

gegen <strong>de</strong>n peloponnesischen Krieg hin erhielten auch sie ein Obergewand.<br />

Das Hem<strong>de</strong> und <strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel blieben auch noch nach Roms Untergang die Grundform<br />

<strong>de</strong>s mittel- und nor<strong>de</strong>uropäischen Gewan<strong>de</strong>s bis tief in das sogenannte Mittelalter.<br />

Nur wechselte die Länge bei<strong><strong>de</strong>r</strong> und beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s auch die Befestigungweise.<br />

Aermel und Bruche kommen früh als Ergänzung hinzu.<br />

Die jonische Tracht machte weit grössere Fortschritte als die dorische; man vervielfältigte<br />

in Athen die Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Hem<strong>de</strong>n (eigentlich Leibröcke), führte kürzere<br />

Schweisstücher ein, welche um <strong>de</strong>n Busen und unter <strong>de</strong>n Achseln herumgingen,<br />

hob <strong>de</strong>n Busen mit Busenbän<strong><strong>de</strong>r</strong>n, und legte über die reizend gefältelte <strong>Kleidung</strong><br />

noch mehrfache Mäntel. Und wie<strong><strong>de</strong>r</strong> nur die jonische Frauen-, und theilweise<br />

auch Männertracht war es, welche <strong>de</strong>n Aermeln und <strong>de</strong>m Anziehklei<strong>de</strong> Eingang<br />

verschaffte. (Siehe die umstehen<strong>de</strong> Figur 15.)<br />

Die Athener lernten von <strong>de</strong>n Asiaten. In Kleinasien war lange vor Griechenlands<br />

Blüthe<br />

98<br />

auf <strong>de</strong>n Ritterburgen, in <strong>de</strong>n Hafenstädten orientalische Pracht gera<strong>de</strong> so eingeführt<br />

wor<strong>de</strong>n, wie in unserer Ritterzeit in Folge <strong><strong>de</strong>r</strong> Kreuzzüge. Der Orient aber<br />

hatte beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s in Medien und Persien in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung die grössten<br />

a b<br />

Figur 15: a, b Altgriechische Trachten.<br />

Fortschritte gemacht. Daher darf es nicht Wun<strong><strong>de</strong>r</strong> nehmen, wenn z. B. die phrygische<br />

und lydische Tracht mit ihren leichten, vorne in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte geöffneten Aermelröcken,<br />

mit ihren engen o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch nachlässig weiten Pantalons (Figur 24) so<br />

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sehr an die neuere Zeit gemahnt, und eigentlich sogar unserem Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t als<br />

Mustertracht entgegengehalten wer<strong>de</strong>n könnte. (Siehe die nachstehen<strong>de</strong> Figur 16 a<br />

und b.)<br />

Diese kleinasiatische Bekleidungsweise mit<br />

a b<br />

Figur 16: a, b Lydisch-Phrygische Trachten.<br />

<strong>de</strong>n leichten talarähnlichen o<strong><strong>de</strong>r</strong> vielmehr schlafrockartigen faltigen Anzügen<br />

taucht in Tuscien, also ganz nahe an Rom wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf. Rom aber hielt sie (sowie<br />

früher Athen die sehr praktischen Doppelröcke mit Aermeln und Doppelklei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

100<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Perser) für barbarisch und wollte absichtlich von <strong>de</strong>nselben nicht lernen. Ja, es<br />

war schliesslich im Nordosten von <strong><strong>de</strong>r</strong> skytischen, im Nordwesten von <strong><strong>de</strong>r</strong> gallischen<br />

Tracht, welche bei<strong>de</strong> Anzugtrachten und <strong><strong>de</strong>r</strong> lydischen verwandt waren,<br />

völlig umschlossen. Aber <strong><strong>de</strong>r</strong> nationale Stolz verbot praktische Wünsche, gera<strong>de</strong><br />

so, wie es heute Nieman<strong>de</strong>m beifallen wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n unschönen Frack mit einem<br />

neugriechischen Leibchen zu vertauschen.<br />

Wenn bisher vom Hem<strong>de</strong> die Re<strong>de</strong> war, galt dieser Ausdruck nicht <strong>de</strong>m heute<br />

„Hemd“ genannten <strong>Kleidung</strong>sstücke, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n überhaupt einem Mittelleibsklei<strong>de</strong>,<br />

welches unmittelbar <strong>de</strong>n Leib be<strong>de</strong>ckt. Das mittelalterliche Hem<strong>de</strong> be<strong>de</strong>utet eben<br />

nur „heimeliges“ Anschmiegen.<br />

Das eigentliche Hem<strong>de</strong> im mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Sinne ist ein <strong>Kleidung</strong>sstück höherer Culturentwicklung<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> Ritterzeit beinahe nur vom Hörensagen bekannt. Nur Prinzessinnen<br />

trugen solche Hem<strong>de</strong>n, hauptsächlich als Nachtgewän<strong><strong>de</strong>r</strong>, aus Sei<strong>de</strong> am<br />

Leibe. Wie reizend ist die Geschichte vom Hem<strong>de</strong> Isol<strong>de</strong>ns in Gottfried von<br />

Strassburgs gleichnamigem Epos, das sie für die Hochzeitsnacht von ihrer opferwilligen<br />

Be-<br />

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gleiterin und Freundin Brangäne ausborgen musste, weil ihr eigenes sammt ihrer<br />

Unschuld dahin war! Noch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Reformationszeit schlief man ohne Hem<strong>de</strong>, und<br />

viele nicht gera<strong>de</strong> arme Leute besassen <strong><strong>de</strong>r</strong>en auch für <strong>de</strong>n Gebrauch bei Tage<br />

kaum mehr als zwei. Erst in <strong>de</strong>n letzten Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ten kam das Tragen von Hem<strong>de</strong>n<br />

allgemein auf, und zwar auch bei Nacht, zu welchem Zwecke beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

Schlafhem<strong>de</strong>n erfun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Antike lassen sich dieselben Entwicklungsphasen genau verfolgen. Die<br />

Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>s echten Hem<strong>de</strong>s charakterisirt sich durch das Entstehen leinener Untergewän<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

unter <strong>de</strong>m durchgehends schafwollenen o<strong><strong>de</strong>r</strong> baumwollenen Deckklei<strong>de</strong>.<br />

Diese Perio<strong>de</strong> war in Griechenland zu Perikles Zeiten längst zurückgelegt,<br />

<strong>de</strong>nn damals reducirte man, wie Thukydi<strong>de</strong>s so köstlich beschreibt, die Leinenwäsche<br />

aus Rücksichten <strong><strong>de</strong>r</strong> Abhärtung und <strong>de</strong>s Turnersportes in <strong><strong>de</strong>r</strong> Männerwelt.<br />

Das Leinenhem<strong>de</strong> hiess bei <strong>de</strong>n Frauen Chitonion, bei <strong>de</strong>n Männern wahrscheinlich<br />

Chitoniskos. Wenn es bei diesen letzteren auch nicht immer vorkam, scheint<br />

es doch die gute und beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s die elegante alte<br />

102<br />

Sitte erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t zu haben. Denn wie in Frankreich die Sansculotterie eine Zeit hindurch<br />

in <strong>de</strong>n Köpfen schwirrte, so drängten sich in Alt-Hellas Philosophen und<br />

Sophisten und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e öffentliche Charaktere als „Ohnehem<strong>de</strong>n“ vor. Ja, die Weitestvorgeschrittenen,<br />

von Diogenes abgesehen, begnügten sich <strong>de</strong>monstrativ sogar<br />

nur mit einem Mantel, ohne darunter einen Leibrock zu tragen. Selbst Sokrates<br />

zählte darunter.<br />

Auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel, das Chimation, wur<strong>de</strong> gegen die Reifezeit griechischer Cultur<br />

immer kürzer und wich endlich <strong><strong>de</strong>r</strong> thessalischen o<strong><strong>de</strong>r</strong> makedonischen Chlamys,<br />

einem kurzen Reitermantel. Und wie<strong><strong>de</strong>r</strong> können wir im neueren Europa dieselbe<br />

Wahrnehmung machen, <strong>de</strong>nn <strong><strong>de</strong>r</strong> lange Rittermantel ward schon im 14. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

zur nahezu weibischen Mantille, im 15. zur Schaube, im 16. zum spanischen<br />

Mäntelchen, bis er endlich ganz zum Wetter- und zum Rockkragen zusammenschrumpfte.<br />

Als <strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel kürzer ward, vervielfältigte das Alterthum mit wachsen<strong><strong>de</strong>r</strong> Verweichlichung<br />

die Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterklei<strong><strong>de</strong>r</strong> (Röcke). Die neuere Zeit hingegen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

dominiren<strong>de</strong> Völker käl-<br />

103<br />

teren Erdstrichen angehören, setzte <strong>de</strong>n Rock mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Hose in Relation, und vermannigfaltigte<br />

bei<strong>de</strong>.<br />

Ueberhaupt blieb die Antike, mit Ausnahme <strong><strong>de</strong>r</strong> Me<strong><strong>de</strong>r</strong>, Perser, Lydier, Skythen<br />

und Gallier beim Mittelleibsklei<strong>de</strong>, als einheitlicher Be<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s ganzen Körpers<br />

stehen. Die neuere Zeit aber führte <strong>de</strong>n Typus <strong>de</strong>s engen, aufgeschnittenen<br />

Aermels in <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen <strong>Kleidung</strong> ein. Der Rock selbst, ja sogar <strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel, ward,<br />

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im Zuschnitte <strong>de</strong>n Körperformen sich anschmiegend, wie ein Mittelleibsärmel<br />

getragen. Man beschaue nur Figur 10 aufmerksamen Auges. Gleichen hier nicht<br />

die Röcke <strong>de</strong>n Aermeln, ist nicht sogar das Ornament, die Farbenabstufung <strong>de</strong>s<br />

Stoffes <strong>de</strong>s Mittelleibsklei<strong>de</strong>s genau dieselbe wie die <strong>de</strong>s Aermels?<br />

Aermel und Hose sind Producte <strong><strong>de</strong>r</strong> Scheere und <strong><strong>de</strong>r</strong> Na<strong>de</strong>l und daher <strong>de</strong>s Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />

Meisterleistungen. Während im Alterthum das Mittelleibskleid, wie es aus<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Hand <strong>de</strong>s Webers hervorging, nur durch eine geschickte Drapirung zum Klei<strong>de</strong><br />

ward, dominirt heute die Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>arbeit alle Constructionsformen, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />

aber die <strong>de</strong>s Rockes.<br />

104<br />

Während<strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel sich verkürzte, wuchs in <strong><strong>de</strong>r</strong> Männertracht unter <strong>de</strong>mselben<br />

zuerst jene Art <strong><strong>de</strong>r</strong> Brust- und Bauchbekleidung, welche wir noch heute<br />

„Rock“ nennen, jedoch als „Kittel“ hervor. Er reichte zuerst über die Hüften und<br />

Wa<strong>de</strong>n hinab, glich <strong>de</strong>m mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Hem<strong>de</strong>, ward wie dieses über <strong>de</strong>n Kopf geworfen<br />

und sodann Aermel für Aermel angezogen. Die Blouse <strong><strong>de</strong>r</strong> Fuhrleute in<br />

Deutschland, <strong><strong>de</strong>r</strong> Ouvriers und Bauern in Frankreich, mit <strong>de</strong>m Gürtel um die Mitte<br />

und <strong>de</strong>m gera<strong>de</strong>n Aufschnitte vom Nabel aufwärts, erhielt diesen Urtypus <strong>de</strong>s<br />

neueren Rockes bis auf unsere Tage. Das Kettenhem<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Ritters, diese Meisterarbeit<br />

<strong>de</strong>s Ringelschmie<strong>de</strong>s, sorgte in an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Art für die Verewigung jener Species<br />

in unsern Rüstkammern und historischen Sammlungen.<br />

Doch als die Männerhose in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegend <strong><strong>de</strong>r</strong> Schenkel und Wa<strong>de</strong>n an Umfang und<br />

Be<strong>de</strong>utung gewann, da wich <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock. Er schrumpfte von unten herauf bis über<br />

das Knie und endlich bis an die Hüften zum Leibchen (Wamms, Jacke) ein (vergl.<br />

Fig. 11 a und b). Und später hinwie<strong><strong>de</strong>r</strong>um, als die pludrigen <strong>de</strong>utschen Landsknecht-<br />

und die steifen spanischen Schenkel-<br />

105<br />

hosen gegen <strong>de</strong>n dreissigjährigen Krieg zu schlapp und schmal gewor<strong>de</strong>n waren,<br />

da erhielt <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einen Schooss (Fig. 56 a und b), <strong><strong>de</strong>r</strong> aber nun in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gürtelhöhe eine Naht zeigte, zum Zeichen, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Schooss <strong>de</strong>m Wamms nur<br />

äusserlich zugewachsen, nicht aus <strong>de</strong>mselben selbst hervorgegangen war. Da das<br />

Wamms und <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock auch <strong>de</strong>m Rücken glatt anliegen sollten, kamen auch auf<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en Rückenseite Zuschnittnähte zum Vorschein. Der Rock, welchen Gustav<br />

Adolf vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlacht bei Lützen trug, und <strong><strong>de</strong>r</strong> im historischen Museum zu Dres<strong>de</strong>n<br />

aufbewahrt wird, zeigt schon genau <strong>de</strong>n Zuschnitt mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ner Herrenröcke. Nur<br />

sind die Uebernähte etwas unbeholfen zusammengefügt.<br />

Das Wamms, sowie später <strong><strong>de</strong>r</strong> Schoossrock erhielten eine Oeffnung vorne durch<br />

einen Schnitt, <strong><strong>de</strong>r</strong> von oben bis unten reichte, so dass die Rocktheile wie die Flügel<br />

einer Zimmer- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Kastenthüre geöffnet und geschlossen wur<strong>de</strong>n. Die Stelle<br />

<strong>de</strong>s Thürschlosses vertraten Knopfreihen. Mit <strong>de</strong>n Knöpfen entfällt <strong><strong>de</strong>r</strong> Gürtel,<br />

dagegen verlängern sich die Aermel; <strong><strong>de</strong>r</strong> Kragen und die Schösse wer<strong>de</strong>n umgeschlagen<br />

und bil<strong>de</strong>n endlich stehen<strong>de</strong> „Aufschläge“, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s an <strong>de</strong>n<br />

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Dienstklei<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Soldaten, Beamten und an<strong><strong>de</strong>r</strong>n öffentlichen Functionäre.<br />

Unter <strong>de</strong>m geöffneten Rocke wächst, <strong><strong>de</strong>r</strong> dritten Schichte angehörig, nochmals ein<br />

Leibchen, die Weste (vestis) o<strong><strong>de</strong>r</strong> das Gilet hervor, welches nur bis zur Taille<br />

reicht, im Uebrigen aber Theilung, Zuschnitt, Kragen, Knöpfe, sogar Taschen wie<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Rock gewinnt. Eine zum Glücke verborgen bleiben<strong>de</strong> hintere Schnürvorrichtung<br />

gewährt uns das zweifelhafte Glück, dieses <strong>Kleidung</strong>sstück bis zur Herauspressung<br />

eines männlichen (?) Busens verengern zu können. Unmännlich ist auch<br />

das Vorzeigen <strong><strong>de</strong>r</strong> gesteiften Hemdbrust im herzförmigen Raum <strong>de</strong>s Gilet-<br />

Ausschnittes. Unser Hemd blieb im Zuschnitt <strong><strong>de</strong>r</strong> Blouse und wird, als das einzige<br />

unter <strong>de</strong>n männlichen <strong>Kleidung</strong>sstücken, über <strong>de</strong>n Kopf angezogen. Dafür aber<br />

mussten sich Kragen und Manchetten <strong>de</strong>s Hem<strong>de</strong>s die Form <strong><strong>de</strong>r</strong> Rockaufschläge<br />

gefallen lassen, nur ein wenig in <strong>de</strong>n steifen Leinwandstil umcomponirt.<br />

Die Frauenkleidung wan<strong>de</strong>lte die gleichen Wege. Nur ward die Taille und die<br />

Theilung <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> um die Mitte stärker berücksichtigt. Die Taille formte zuerst<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gürtel, dann<br />

107<br />

das Mie<strong><strong>de</strong>r</strong> und die Schneppe. Die Antike verirrte sich nie bis zur Wespentaille,<br />

sie verunzierte <strong>de</strong>n Körper überhaupt nicht durch künstliche Verengungen o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Auspolsterungen.<br />

Der neueren Zeit war es auch vorbehalten, die unschöne Abtrennung <strong><strong>de</strong>r</strong> Oberleibsklei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

(Corsets, Leibchen, Jacken) von <strong>de</strong>n Unterleibs-Umhüllungen (Rökken,<br />

Unterröcken, Reifröcken, Tuniken, Schoossklei<strong><strong>de</strong>r</strong>n etc.) bis in das Extrem<br />

durchzuführen. Damit brach sich auch die unnatürliche Verengerung <strong><strong>de</strong>r</strong> über <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Taille befindlichen, und die naturwidrige Erweiterung <strong><strong>de</strong>r</strong> unter <strong><strong>de</strong>r</strong> Taille nach<br />

abwärts fallen<strong>de</strong>n Theile <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauenkleidung noch leichter Bahn. Dazu kommt<br />

noch, dass die Spaltung <strong>de</strong>s Männerrockes vorne von oben bis unten auch in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Frauenwelt Nachahmung fand. Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s gerne theilte man <strong>de</strong>n Schooss, und<br />

Hess das Unterkleid an<strong><strong>de</strong>r</strong>sfärbig hervortreten.<br />

Ebenso wur<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>m Frauenanzuge jene steife Form gegeben, welche <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuschnitt,<br />

die Verbindung vieler beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Theile durch Nähte hervorbringt. Man<br />

jagte <strong><strong>de</strong>r</strong> Contour nach und vergass gänzlich, welchen Zauber <strong><strong>de</strong>r</strong> freie Fluss <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> um die Glie<strong><strong>de</strong>r</strong> bewirke. Die Be-<br />

108<br />

wegung im Faltenwurfe, ja <strong><strong>de</strong>r</strong> Faltenwurf selbst verschwan<strong>de</strong>n als Motive <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schönheitswirkung, sie flüchteten sich in die Werke <strong><strong>de</strong>r</strong> Maler und Bildhauer,<br />

welche mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Gestalten antike Gewän<strong><strong>de</strong>r</strong> anlegten, o<strong><strong>de</strong>r</strong> anstatt <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen-,<br />

die Götterwelt zum Vorwurfe nahmen.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauenkleidung vermehrte sich die Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Schichten noch weit fruchtbarer,<br />

als in jener <strong><strong>de</strong>r</strong> Männer. Und trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> Menge <strong><strong>de</strong>r</strong> Schichten nimmt die Ver-<br />

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götterung <strong><strong>de</strong>r</strong> Taille, die Einengung und Herauspressung <strong><strong>de</strong>r</strong> Formen noch immer<br />

zu. Aber bliebe es nur noch bei <strong><strong>de</strong>r</strong> ängstlichen Nachbildung <strong><strong>de</strong>r</strong> Contouren <strong>de</strong>s<br />

Menschenleibes! Die Mo<strong>de</strong> schafft jedoch künstliche Leibformen, bald hohe Hüften<br />

und Schultern, bald kurze und dünne Oberleiber, o<strong><strong>de</strong>r</strong> langgestreckte, wie<br />

durch einen Drahtzug o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Walzwerk gequetschte Gestalten. Keine Falte, keine<br />

zufällige Biegung darf die steifen Linien dieser Zierpuppen stören. Seit <strong>de</strong>m<br />

16. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t ist die Männer- und ganz beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s die Frauenbekleidung wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar<br />

vorgeschritten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Technik <strong><strong>de</strong>r</strong> - Haubenstöcke, <strong><strong>de</strong>r</strong> Mie<strong><strong>de</strong>r</strong>, Culs, falschen<br />

Bäuche, künstlichen Busen, Hüften, wattirten Brüste, Achselwülste, kurzum<br />

109<br />

<strong>de</strong>s Zuschnitts. Aber sie ist gänzlich verarmt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Form und <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung.<br />

Sie ist selbst für die anmuthigste Gestalt zum Mumienklei<strong>de</strong> gewor<strong>de</strong>n.<br />

(Siehe Fig. 17.)<br />

Mögen wir heute <strong>de</strong>m Mittelleibe auch noch so viele Schichten wohlgefügter Anzüge,<br />

vom Netzleibchen angefangen, bis zum pelzbesetzten langen Ueberrocke<br />

umthun, mögen wir noch so sehr <strong><strong>de</strong>r</strong> scharfen Linie nachjagen und darin<br />

110<br />

Figur 17: Reliefbild <strong><strong>de</strong>r</strong> Maria M. Beck von Leopoldsdorf † 1564.<br />

gross sein, dass wir die Nuancen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong> an <strong>de</strong>m Höher- und Tiefersteigen <strong>de</strong>s<br />

beharrlichen Knopfpaares am männlichen und weiblichen Rock-Cul auf das genaueste<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong>spiegeln lassen, wir erreichen <strong>de</strong>nnoch kein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Ziel, als dass<br />

wir uns damit für die Mit- und Nachwelt lächerlich machen und nichts verdienen,<br />

als die Anerkennung und die angemessene Rechnung <strong>de</strong>s - Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>s!<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 50 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 51 (170)<br />

Dem Bestreben, möglichst steif und gedrechselt zu erscheinen, sind nun alle Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>theile,<br />

selbst die innersten Schichten, sogar die Wäsche zum Opfer gefallen.<br />

Was nützt die Mannigfalt <strong><strong>de</strong>r</strong> zahlreichen Hülsen, wenn Alle nur das Eine ausdrücken:<br />

steife Philisterhaftigkeit o<strong><strong>de</strong>r</strong> matte Blasirtheit?<br />

Und wenn selbst freier bewegliche <strong>Kleidung</strong>sstücke, wie z. B. <strong><strong>de</strong>r</strong> indische Shawl,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> arabische Burnus, <strong><strong>de</strong>r</strong> italienische Carbonari-Mantel u. s. f. in neuerer Zeit<br />

jemals ausnahmsweise und vorübergehend zur Geltung kamen, wur<strong>de</strong>n dieselben<br />

doch sofort versteift und in das Maschinöse verzerrt.<br />

Während die älteren Anziehklei<strong><strong>de</strong>r</strong> von unten herauf gezogen wur<strong>de</strong>n, wie<br />

Strumpf und<br />

111<br />

Hose, o<strong><strong>de</strong>r</strong> von oben übergeworfen und dann erst angezogen wer<strong>de</strong>n mussten, wie<br />

das Hem<strong>de</strong>, die Blouse, <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterrock, sind die heutigen Anziehklei<strong><strong>de</strong>r</strong> Hülsen,<br />

welche von hinten nach vorne o<strong><strong>de</strong>r</strong> von vorne nach hinten angethan, und in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mitte <strong>de</strong>s Leibes mittelst Knöpfen geschlossen wer<strong>de</strong>n. Nur das Hem<strong>de</strong> macht<br />

noch eine Ausnahme, aber eine sehr kleine. Gera<strong>de</strong> dieser vor<strong><strong>de</strong>r</strong>e, <strong>de</strong>m Auge <strong>de</strong>s<br />

Beschauers zu allererst sich aufdrängen<strong>de</strong> mechanische Verschluss ist es, welcher<br />

auch auf alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>n Constructions-Eigenthümlichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Bekleidung<br />

massgeben<strong>de</strong>n Einfluss übt. Es geht eben mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> wie mit <strong>de</strong>n lebendigen<br />

Organismen; än<strong><strong>de</strong>r</strong>t sich z. B. bei einer Wirbelthierspecies nur ein Knöchelchen,<br />

so muss <strong><strong>de</strong>r</strong> ganze Organismus sich danach anpassend umgestalten. Die<br />

vor<strong><strong>de</strong>r</strong>e Kastenthüre am Klei<strong>de</strong> hat dieses selbst zum kastenartigen Futteral gemacht,<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> tragbare Mumiensarg steht nun vollen<strong>de</strong>t da.<br />

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112<br />

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VI.<br />

GLIEDERUNG UND AUFBAU.<br />

Für kostbaren Inhalt ein kostbar Gefäss! Was gäbe es wohl Edleres, Köstlicheres<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt als <strong>de</strong>n Menschenleib? Und da wird es von <strong>de</strong>n alten Predigern<br />

Hochmuthsteufel, Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>teufel, Hosenteufel, und von <strong>de</strong>n mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Sittenrichtern<br />

Luxus, Verschwendung, Prunk genannt, wenn wir das Theuerste, was wir<br />

besitzen, in Sammt und Sei<strong>de</strong> einhüllen?<br />

Der französische Charcutier vergol<strong>de</strong>t sogar das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schinkenbeins und<br />

giebt <strong>de</strong>m Schweinskopfe ein Blumensträusschen zwischen die fetttriefen<strong>de</strong>n Lippen.<br />

Unsere Dame <strong>de</strong>s<br />

113<br />

Herzens jedoch sollte etwa in Zuckerpapier o<strong><strong>de</strong>r</strong> in einem Kaffeesacke einherschweben?<br />

Darum stille mit allen Vorwürfen. Lassen wir die Rose nach Gefallen sich<br />

schmücken, lassen wir jenen Kelch so viel er nur vermag, sich verschönen, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

uns das Süsseste <strong>de</strong>s Lebens cre<strong>de</strong>nzt - die Liebe!<br />

Die <strong>Kleidung</strong> ist ein Gefäss, <strong><strong>de</strong>r</strong> Leib sein Inhalt. Dieser Inhalt ist festgeformt,<br />

steil aufgebaut, in allen Theilen beweglich und überdies noch freischwebend.<br />

Darum muss auch das Gefäss reichgeglie<strong><strong>de</strong>r</strong>t, zart o<strong><strong>de</strong>r</strong> kräftig aufragend, und -<br />

ohne Basis sein.<br />

Sogar jene reizen<strong>de</strong>, breiteste und längste Basis, welche üppige Frauengestalten<br />

sich gerne beifügen, die Schleppe, sie gleicht <strong>de</strong>m flüssigen Elemente, <strong>de</strong>m leichten<br />

sich kräuseln<strong>de</strong>n Wellenschlage gegen ein unsichtbares, sich stets fortbewegen<strong>de</strong>s<br />

Ufer.<br />

Beklei<strong>de</strong>t soll <strong><strong>de</strong>r</strong> Körper aussehen wie ein luftiger Bau ohne Schwere, ohne Stützen,<br />

ohne Zusammenhang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> immerdar erdigen Er<strong>de</strong>.<br />

Allerdings entspricht, genau besehen, die <strong>Kleidung</strong> diesem I<strong>de</strong>ale noch immer<br />

nicht. Aber<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 52 (170)


114<br />

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seien wir <strong>de</strong>s Zieles nur bewusst, endlich wer<strong>de</strong>n wir es <strong>de</strong>nnoch erreichen.<br />

Aus <strong>de</strong>n Betrachtungen <strong><strong>de</strong>r</strong> vorhergehen<strong>de</strong>n Capitel dürfte klar gewor<strong>de</strong>n sein,<br />

dass unsere <strong>Kleidung</strong> ein sehr complicirtes Gefäss ist. Je<strong>de</strong>s Hauptglied <strong>de</strong>s Körpers<br />

besitzt seine abgeson<strong><strong>de</strong>r</strong>ten <strong>Kleidung</strong>sstücke, aus Theilen und Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>n bestehend,<br />

und je mehr die Cultur fortschreitet, <strong>de</strong>sto zahlreicher wer<strong>de</strong>n die Stoffpartikelchen,<br />

welche Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Putzmacherinnen, Hutmacher, Schuh- und<br />

Handschuhmacher ausschnei<strong>de</strong>n und mittelst Naht, Band, Klebstoff und allerlei<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Verbindungsmitteln zu einem Ganzen vereinigen. Die geringste Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Theile zeigt <strong><strong>de</strong>r</strong> Hut, die grösste <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock; er ist ein wahres Mosaik von Theilen,<br />

beinahe nach <strong>de</strong>n Grundregeln eines Zerlegbil<strong>de</strong>s, wenn auch mit rundlich gebogenen<br />

Flächen, zusammengesetzt.<br />

Die <strong>Kleidung</strong>sstücke folgen in Schichten aufeinan<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong>en je<strong>de</strong> einer bestimmten<br />

Formation angehört.<br />

Dabei zeigen die einzelnen <strong>Kleidung</strong>sformenl ein ganz verschie<strong>de</strong>nes Verhalten.<br />

Das Schutzkleid besteht aus <strong>de</strong>n zahlreichsten Theilen und<br />

115<br />

Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>n, es ist eine wahre Stachelhaut, ein Schuppenpanzer. Doch bil<strong>de</strong>t es nur<br />

eine, und zwar die oberste, o<strong><strong>de</strong>r</strong> besser die äusserste Schichte. Wie viele Platten<br />

und Charniere, Spitzen und Ecken formiren wohl einen Harnisch? und selbst <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schuh, <strong><strong>de</strong>r</strong> letzte Sprössling <strong><strong>de</strong>r</strong> längstverschwun<strong>de</strong>nen Schutzkleidform, ist bei<br />

kleinster Aus<strong>de</strong>hnung doch so complicirt!<br />

Das Deckkleid umfasst mehrfache Dächer, vom Kopfdach angefangen über das<br />

Achsel-, Hals-, Brust- und Schultern-, Arm-, Hand-, Hüften- und Wa<strong>de</strong>ndach herab<br />

bis zum Fussdache. Doch sind <strong>de</strong>m Deckklei<strong>de</strong> grössere gera<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> sanftgebogene<br />

Flächen eigen, während das Schutzkleid wie ein gothischer Bau in lauter<br />

Kanten, Ecken und Spitzen ausläuft. (Fig. 6 a, b und Fig. 39.)<br />

Das Hüllkleid hinwie<strong><strong>de</strong>r</strong>um besteht aus <strong><strong>de</strong>r</strong> geringsten Zahl von Theilen, es wallt<br />

in grossen, faltigen Flächen um die innerhalb wohlgeborgenen Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>, und könnte<br />

sogar auch nur aus einem einzigen kunstvoll gefalteten und umgeworfenen<br />

Stücke Zeug bestehen, wie die Mäntel <strong><strong>de</strong>r</strong> Orientalen, die wehen<strong>de</strong>n Gewän<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

römischer Tänzerinnen (siehe Fig. 18).<br />

116<br />

Die Zier endlich legt sich aussenher um alle <strong>Kleidung</strong>sstücke und auf die sichtbaren<br />

Theile <strong>de</strong>s Leibes selbst, überall belebend, farbe- und formgebend, aber nir<br />

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gends selbständig. Am liebsten schmiegt sie sich breiten Flächen als Mittelornarnent<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Randverzierung an, doch<br />

Figur 18: Tänzerinnen, Wandbild aus Pompeji.<br />

schmückt sie als Volant, Rüsche, Borte, Franse, Trod<strong>de</strong>l und Quaste, als Spange<br />

und Na<strong>de</strong>l auch alle Kanten und Spitzen.<br />

So viele Theile, so viele Glie<strong><strong>de</strong>r</strong> und Stücke und dabei doch so inniger Zusammenhang!<br />

Die Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> einzelnen <strong>Kleidung</strong>sstücke enthält eine fortlaufen<strong>de</strong><br />

117<br />

Reihe von Fällen, in welchen getrennt entstan<strong>de</strong>ne Theile <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung zu grössern<br />

Ganzen vereinigt wer<strong>de</strong>n. Das Princip <strong><strong>de</strong>r</strong> Grossstaatenbildung beherrscht<br />

auch das Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>wesen. Die Zusammensetzung <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptkleidungsstücke, wie<br />

<strong>de</strong>s Hutes, <strong>de</strong>s Rockes, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuhe schreitet stetig vorwärts bis zu jener Grenze,<br />

an welcher das Gewicht <strong>de</strong>s Stückes grösser wird, als die durchschnittliche Kraft<br />

und die Bequemlichkeit <strong>de</strong>s beklei<strong>de</strong>ten Körpertheiles es erlauben, und wo das<br />

An- und Ausziehen sich allzu umständlich gestaltet. Das I<strong>de</strong>al <strong><strong>de</strong>r</strong> Hüllkleidung z.<br />

B. wäre das über <strong>de</strong>n ganzen Leib sich in einem Stücke ausbreiten<strong>de</strong> Tricot, o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> allumschliessen<strong>de</strong> faltige Umwurf; das Meisterwerk <strong><strong>de</strong>r</strong> Deckkleidung wäre<br />

ein Dach, in einer Linie vom Kopfe bis zum Bo<strong>de</strong>n nie<strong><strong>de</strong>r</strong>steigend; und das<br />

Schutzkleid müsste ein Krebsenpanzer sein o<strong><strong>de</strong>r</strong> eine Krokodilshaut.<br />

Wer aber wollte sich die Mühe gefallen lassen, welche das Anziehen eines solchen<br />

Tricots, das Tragen eines solchen Daches o<strong><strong>de</strong>r</strong> Panzers verursachen wür<strong>de</strong>?<br />

So gelangt alle Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>kunst <strong>de</strong>s Zusammenstückelns und Zusammennähens<br />

bald an die Grenze <strong>de</strong>s Möglichen.<br />

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Trotz<strong>de</strong>m verursachen uns einzelne <strong>Kleidung</strong>sstücke noch immer nicht wenig<br />

Beschwer<strong>de</strong>. Ein Männerwinterrock z. B. reicht an 7 Kilo Gewicht, und was Frauenhüften<br />

tragen müssen, davon wüssten diese gewiss auch Manches zu enthüllen.<br />

Die Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufbau <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> hängen <strong>de</strong>mnach vom Tragen und<br />

vom Anziehen <strong><strong>de</strong>r</strong>selben hauptsächlich ab.<br />

Der menschliche Körper muss sich wohl o<strong><strong>de</strong>r</strong> übel auch als Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>stock, wenn<br />

auch nur zu eigenem Gebrauche herleihen. Mit <strong>de</strong>m Tragen wer<strong>de</strong>n anfangs nahezu<br />

alle Glie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Leibes betraut, aber im Verlaufe <strong><strong>de</strong>r</strong> Culturentwicklung concentrirt<br />

sich die grösste Last doch auf die Schultern und die Hüften.<br />

Die ersteren sind das hauptsächliche Trage-Organ <strong><strong>de</strong>r</strong> männlichen <strong>Kleidung</strong>. An<br />

ihnen wer<strong>de</strong>n das Hem<strong>de</strong>, das Gilet, <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock, <strong><strong>de</strong>r</strong> Ueberrock aufgehängt. An ihnen<br />

ruhen mittelst eigener elastischen Träger auch die Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong>, und ohne Träger<br />

die Hemd- und Rockärmel. Alles, was wir an hängen<strong>de</strong>n Anzieh- und Umwurfklei<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

besitzen, mit einziger Ausnahme <strong>de</strong>s Unterziehbeinklei<strong>de</strong>s, belastet<br />

die Schultern.<br />

119<br />

Bei <strong>de</strong>n Frauen hingegen ist die schwächere, sanft abwärts geneigte Schulter<br />

höchstens für <strong>de</strong>n Schlafrock, <strong>de</strong>n Kragen, <strong>de</strong>n Shawl, die Mantille und - <strong>de</strong>n mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen<br />

Männerrock Trage-Organ. Dagegen müssen die Hüften <strong>de</strong>n Schooss <strong>de</strong>s<br />

Klei<strong>de</strong>s, die Unterröcke, die Unterziehbeinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> und selbst zum Theile wenigstens<br />

mit Hülfe <strong><strong>de</strong>r</strong> Einschnürung auch das Mie<strong><strong>de</strong>r</strong> und das Hem<strong>de</strong> tragen. Welche<br />

Folgen entstehen daraus für die Gesundheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen, für das Leben <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en Glie<strong><strong>de</strong>r</strong> die erste zarte (?) Behausung wie eine eiserne Jungfrau zusammenpresst,<br />

um <strong><strong>de</strong>r</strong> lieben Taille willen!<br />

Die antike <strong>Kleidung</strong> hingegen concentrirte ihre Last bei Männern und Frauen nahezu<br />

ganz auf die Schultern. Der Gürtel übertrug durch die Einengung nur <strong>de</strong>n<br />

kleinsten Theil <strong><strong>de</strong>r</strong> Last auf die Hüften.<br />

Von <strong>de</strong>n übrigen Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>n trägt je<strong>de</strong>s nur sein eigenes <strong>Kleidung</strong>sstück: <strong><strong>de</strong>r</strong> Kopf<br />

<strong>de</strong>n Hut, <strong><strong>de</strong>r</strong> Hals die Bin<strong>de</strong>, die Hand Manchette und Handschuh, <strong><strong>de</strong>r</strong> Fuss <strong>de</strong>n<br />

Schuh, die Socke o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Strumpf. Da ganz enge <strong>Kleidung</strong>sstücke jenem Glie<strong>de</strong>,<br />

das sie beklei<strong>de</strong>n, unmittelbar anhaften und nur dasselbe belasten, wird die Con-<br />

120<br />

centrirung <strong><strong>de</strong>r</strong> Last auf die Schultern und Hüften nur durch die entsprechen<strong>de</strong> Erweiterung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>massen erreicht. Ausser<strong>de</strong>m müssen eigene Trage-Apparate<br />

an Stolle <strong><strong>de</strong>r</strong> früher üblichen Halte- und Schnürapparate eingefügt wer<strong>de</strong>n.<br />

Das zahlreiche, über <strong>de</strong>n ganzen Leib zerstreute Nestel- und Bän<strong><strong>de</strong>r</strong>- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Riemenwerk<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> früheren Zeiten weicht späterhin einheitlichen beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Trägern.<br />

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Beim Manne sind es die Achseltheile und die Krägen <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>, sodann die Hosenträger,<br />

letztere maschinöse, mit Schnallen, Ringen und Kappen ausgerüstete<br />

Apparate.<br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau vertritt die Stelle <strong><strong>de</strong>r</strong> Hosenträger das Mie<strong><strong>de</strong>r</strong>, welches zugleich dazu<br />

bestimmt ist, <strong>de</strong>m schwächeren Oberkörper, sowie beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong>de</strong>n sinken<strong>de</strong>n Brüsten<br />

eine Stütze zu sein, und so die Last <strong>de</strong>s Oberkörpers, auf die breiten, prächtig<br />

gewölbten Frauenhüften zu überwälzen. Der Gürtel, als älterer Schnürapparat, ist<br />

zum grössten Theile abgedankt und fast nur mehr Zierstück. Aermel-Elastiks und<br />

Strumpfbän<strong><strong>de</strong>r</strong> sind die einzigen mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Ueberreste jener ausgestorbenen Form<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Halte- und Schnürapparate.<br />

121<br />

Wenn die Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> zu Zeiten gewisser Mo<strong>de</strong>n mächtigen Umfang und reiche<br />

Schichtung anstreben, dann wer<strong>de</strong>n die Trage-Organe <strong>de</strong>s Körpers mit beson<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

Wülsten, Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>lagern, Sätteln, Platten, Panzern und Gestellen versehen. Wir wer<strong>de</strong>n<br />

diesen Maschinen o<strong><strong>de</strong>r</strong> wenigstens maschinösen Apparaten im Bekleidungswesen<br />

noch öfter begegnen. Denn mächtig ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Einfluss <strong><strong>de</strong>r</strong> Schnürleiber, Reifröcke<br />

und Frisurgestelle etc. auf die Be<strong>de</strong>utung, die Gestalt und <strong>de</strong>n Stil <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>.<br />

Während die mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne <strong>Kleidung</strong> infolge <strong>de</strong>s hülsenartigen Aufbaues die Achseln<br />

und Hüften nur ganz im Allgemeinen als Trage-Organe benutzt, und höchstens<br />

<strong>de</strong>m Cul ausdrücklich die edle Aufgabe stellt, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schleppe eine beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Stütze<br />

zu sein, (wie es zuweilen auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Chignon, <strong><strong>de</strong>r</strong> Cul <strong>de</strong>s Kopfes für die Frisuren<br />

und Locken ist), bezeichnete die Antike an ihrem weichen, faltenreichen Hüllklei<strong>de</strong><br />

genau die Trage-, eigentlich, Haltepunkte <strong>de</strong>s Leibes durch die Anbringung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Fibulae und Knoten.<br />

Wir dürfen aber nicht glauben, dass wir durch das mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Princip <strong>de</strong>s Tragens<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> anstatt <strong>de</strong>s Haltens, <strong><strong>de</strong>r</strong> Einschnürungen<br />

122<br />

los und ledig gewor<strong>de</strong>n sind. Im Gegentheile, niemals lassen wir die <strong>Kleidung</strong><br />

hängen, und keinem Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> wür<strong>de</strong> es beifallen, seinen Kun<strong>de</strong>n zu fragen: wie<br />

hängt <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock? Das Kleid muss stehen, es muss gut stehen; selbst das absolut<br />

hängen<strong>de</strong> Frauen-Unterleibskleid, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schooss wird durch Verlängerung bis zum<br />

Bo<strong>de</strong>n, durch steife Pieds vorne, und Schleppenanhängsel hinten, durch einen<br />

architektonischen Aufbau von Plissées, Draperien u. s. w. wenigstens mit <strong>de</strong>m<br />

Scheine <strong>de</strong>s Stehens ausgestattet. Alles aber, was von <strong><strong>de</strong>r</strong> Hüftengegend aufwärts<br />

reicht, muss absolut stehen. Daher die Einschnürung um die Mitte, daher die Einschnürungen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Aermel am Handgelenke, <strong>de</strong>s Hem<strong>de</strong>s, Gilets, Rockes, um die<br />

Mitte und am Halse.<br />

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Ja bei jenen <strong>Kleidung</strong>sstücken, welche beim Sitzen, sich Beugen etc. leicht aus<br />

ihrem Standpunkte verrückt wer<strong>de</strong>n könnten, kommen sogar eigene Spannvorrichtungen<br />

vor. So die Strupfen bei engen Herrenbeinklei<strong><strong>de</strong>r</strong>n, die Versteifungen<br />

an allen Krägen und Umschlägen, die Quasten und eingenähten unsichtbaren Gerüste<br />

an Frauentuniken, Halskrausen u. s. w. Der Ver-<br />

123<br />

schluss vieler Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> um die Brust, die Hüftengegend, <strong>de</strong>n Hals wirkt gleichfalls<br />

spannend.<br />

Und wie sehr haben sich auch die Schliessapparate im Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>wesen umgestaltet<br />

und vermannigfacht!<br />

Die alte Welt kannte nur <strong>de</strong>n Dorn o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Na<strong>de</strong>l, aus <strong><strong>de</strong>r</strong>en Combination die<br />

Fibula und die Schnalle entstan<strong>de</strong>n. Knöpfe kamen erst in <strong><strong>de</strong>r</strong> höheren Culturentwicklung<br />

hinzu. Dagegen sind Steckna<strong>de</strong>ln, Hafteln, Sicherheitsna<strong>de</strong>ln und all’<br />

die complicirten Schnappe-Apparate Producte <strong><strong>de</strong>r</strong> neuern Zeit. Merkwürdig ist<br />

auch die Geschichte <strong>de</strong>s Bin<strong>de</strong>ns. Das Alterthum kannte <strong>de</strong>n Weberknoten und die<br />

Masche, doch wen<strong>de</strong>te es vorwiegend nur <strong>de</strong>n erstern an. Der Orient zieht <strong>de</strong>n<br />

Bund (mittelst Umwin<strong>de</strong>ns und Durchziehens <strong>de</strong>s En<strong>de</strong>s unter <strong>de</strong>m letzten Ringel),<br />

die neuere Zeit die Doppelmasche vor. Auf <strong>de</strong>n Gemäl<strong>de</strong>n aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Reformationszeit<br />

lässt sich <strong><strong>de</strong>r</strong>en Entwicklung aus <strong><strong>de</strong>r</strong> einfachen Masche an <strong>de</strong>n Hem<strong>de</strong>n,<br />

Hosennesteln und Degenkuppeln genau beobachten.<br />

An diesem Aufwan<strong>de</strong> von Maschinerie zur Verschliessung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>sstücke<br />

trägt hauptsächlich auch die grosse Anzahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>-<br />

124<br />

schichten Schuld, <strong><strong>de</strong>r</strong>en untere stets die obere auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>drängt, ähnlich wie (um<br />

Unschönes mit Schönem zu vergleichen) die Hüllblätter <strong><strong>de</strong>r</strong> Rosenknospe die<br />

grünen Kelchblätter zu sprengen streben. Diente die Rose unseren Schönen doch<br />

immer als Vorbild!<br />

Mit einem Worte: Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Aufbau unserer <strong>Kleidung</strong> sind <strong>de</strong>shalb so<br />

complicirt, so voll <strong><strong>de</strong>r</strong> überflüssigen Maschinerie, weil wir noch nicht gleich <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Antike gelernt haben, das heute noch allbeherrschen<strong>de</strong> Deckkleid abzulegen und<br />

zur einfachen schönen Hüllkleidform überzugehen. Das Einfachste gelingt eben<br />

am schwersten und gewöhnlich nicht ohne jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>telange Kämpfe.<br />

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VII.<br />

METAMORPHOSEN.<br />

Der grösste <strong>de</strong>utsche Dichter war es, welcher früher als alle Gelehrten <strong>de</strong>n innern<br />

Zusammenhang erkannte, welcher zwischen Blatt und Blume, Wurzel, Stamm<br />

und Zweig, zwischen Rückgrat und Schä<strong>de</strong>l obwaltet. Die Sehergabe <strong>de</strong>s Dichtergeistes<br />

schaute im Gewor<strong>de</strong>nen das Wer<strong>de</strong>n, und was <strong>de</strong>m Fachmannsverstan<strong>de</strong><br />

verborgen blieb, errieth das Genie <strong>de</strong>s Laien. Wenn wir auch nicht <strong>de</strong>m Wiener<br />

Volksspruch Recht geben, welcher in seiner <strong><strong>de</strong>r</strong>ben Weise rundweg erklärt, dass<br />

in seinem Fache Je<strong><strong>de</strong>r</strong>mann ein Esel ist, und dadurch allem Fachmannsschwin<strong>de</strong>l<br />

gründ-<br />

126<br />

lich zu Leibe geht, so möchten „wir doch glauben, dass nach <strong>de</strong>m Gange <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaft wie im praktischen Leben meistens Nichtfachmänner<br />

Bahn gebrochen und das Fach eigentlich gehoben haben. War es <strong>de</strong>nn nicht ein<br />

Mönch, welcher das Pulver, ein Bischof, welcher die Rä<strong><strong>de</strong>r</strong>uhr, ein Pfarrer, welcher<br />

<strong>de</strong>n Strumpfwirkstuhl, ein Barbier, welcher die Spinnmaschine, ein Maler,<br />

welcher das Dampfschiff und ein Maschinenwärter, <strong><strong>de</strong>r</strong> die Locomotive erfun<strong>de</strong>n<br />

hat? Und wur<strong>de</strong> etwa ein Kepler von seinen Fachgenossen anerkannt, o<strong><strong>de</strong>r</strong> wur<strong>de</strong><br />

einem Darwin, einem Häckel sofort das Feld geräumt? Die Zunftgelehrten sind<br />

ärger als die Zunftmeister, <strong>de</strong>nn die ersteren erkennen kein Meisterrecht an, ausser<br />

<strong>de</strong>m ihren.<br />

Dem Himmel sei Dank, dass im Gebiete <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung zu<br />

dieser Frist we<strong><strong>de</strong>r</strong> Zunft- noch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Gelehrte existiren, <strong>de</strong>nn sonst wür<strong>de</strong> das<br />

mit „Metamorphosen“ überschriebene Capitel die ärgsten Anfechtungen erfahren.<br />

So aber sei es <strong>de</strong>nn gewagt, in <strong>de</strong>s nachsichtigen Himmels Namen.<br />

Lassen wir Goethe selbst sprechen: „Je unvollkommener das Geschöpf ist, <strong>de</strong>sto<br />

mehr<br />

127<br />

sind diese (seine) Theile einan<strong><strong>de</strong>r</strong> gleich o<strong><strong>de</strong>r</strong> ähnlich, und <strong>de</strong>sto mehr gleichen sie<br />

<strong>de</strong>m Ganzen. Je vollkommener das Geschöpf wird, <strong>de</strong>sto unähnlicher wer<strong>de</strong>n die<br />

Theile einan<strong><strong>de</strong>r</strong>. In jenem Falle ist das Ganze <strong>de</strong>n Theilen mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger<br />

gleich, in diesem das Ganze <strong>de</strong>n Theilen unähnlich. Je ähnlicher die Theile einan<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

sind, <strong>de</strong>sto weniger sind sie einan<strong><strong>de</strong>r</strong> subordinirt. Die Subordination <strong><strong>de</strong>r</strong> Theile<br />

<strong>de</strong>utet auf ein vollkommeneres Geschöpf.“<br />

Der Dichter hatte dabei eine Pflanze o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Thier vor Augen. Wir aber wollen<br />

zwei Costüme beschauen, ein altdorisches, aus einem einzigen oblongen Stücke<br />

Wollstoffes bestehend, und das einer italienischen Cortigiane aus <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

16. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts.<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 58 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 59 (170)<br />

Was that die Dorerin? Sie nahm (wie umstehen<strong>de</strong> Fig. 19 zeigt) <strong>de</strong>n viereckigen<br />

Stoff, <strong><strong>de</strong>r</strong> weit länger war, als sie selbst, mit halb ausgespannten Armen, kippte<br />

ihn in <strong><strong>de</strong>r</strong> Höhe ihrer Schulter nach rückwärts um, legte ihn <strong><strong>de</strong>r</strong> Länge nach einmal<br />

zusammen, heftelte die vor<strong><strong>de</strong>r</strong>e und hintere Partie ungefähr zwei Spannen von<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Umbiegung entfernt mit einer Spange (Sicherheitsna<strong>de</strong>l) zusammen, schlüpfte<br />

mit <strong>de</strong>m<br />

128<br />

linken Arme durch die hiemit gebil<strong>de</strong>te Oeffnung (Fig. 19 a), nahm nun <strong>de</strong>n vor<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

und <strong>de</strong>n hintern Flügel auf und heftete bei<strong>de</strong> vermittelst einer zweiten Spange<br />

an <strong><strong>de</strong>r</strong> rechten Achselzusammen (Fig. 19 b), reffte die herabfallen<strong>de</strong>n Theile<br />

vorne und hinten zu einem<br />

a b<br />

Figur 19: Dorische Gewandung.<br />

vorhängen<strong>de</strong>n „Kolpos“ mit Hülfe <strong>de</strong>s Gürtels auf (wie in Fig. 28 und 45), und<br />

das Kleid war vollen<strong>de</strong>t.<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 59 (170)


129<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 60 (170)<br />

Hier sind also alle Theile einan<strong><strong>de</strong>r</strong> gleich o<strong><strong>de</strong>r</strong> ähnlich, und noch in je<strong><strong>de</strong>r</strong> Faltung<br />

gleichen sie <strong>de</strong>m Ganzen. Die Dorerin könnte das <strong>Kleidung</strong>sstück ohne Benachtheiligung<br />

auch gänz-<br />

a b<br />

Figur 20: Italienische Cortigianen, En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts.<br />

lich umkehren, so dass jener Rand, welcher die Füsse berührte, sofort nun die Be<strong>de</strong>ckung<br />

<strong>de</strong>s Kolpos vorne an <strong><strong>de</strong>r</strong> Brust begrenzen könnte.<br />

Die Cortigiane dagegen z. B. trägt in obiger Figur 20 a durchaus <strong>Kleidung</strong>sstücke,<br />

welche<br />

130<br />

einan<strong><strong>de</strong>r</strong> unähnlich sind, und unter einan<strong><strong>de</strong>r</strong> auch nicht vertauscht wer<strong>de</strong>n könnten.<br />

Auch sind die Strümpfe <strong>de</strong>m Beinkleid und dieses <strong>de</strong>m Reifrocke <strong>de</strong>utlich<br />

subordinirt. Die Bekleidung ist <strong>de</strong>mnach eine weit vollkommenere (wenn auch<br />

nicht vollen<strong>de</strong>tere) gewor<strong>de</strong>n.<br />

Beschauen wir nun eine recht vollkommene <strong>Kleidung</strong>, etwa die einer mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen<br />

Dame im Durchschnitte. Gleicht sie von <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte nach abwärts nicht einer gefüllten<br />

Blume, bei welcher alle Theile in Röcke verwan<strong>de</strong>lt sind, selbst diejenigen,<br />

welche sonst als Hosen, Schutzröckchen, Crinolinen, Culs ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Zwecken<br />

dienten und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Formen hatten? Von <strong><strong>de</strong>r</strong> Taille nach aufwärts erinnert das Bild<br />

an <strong>de</strong>n Blumenkelch, <strong><strong>de</strong>r</strong> das Heiligthum <strong><strong>de</strong>r</strong> Pflanze, das Pistill umklei<strong>de</strong>t.<br />

Goethe, <strong><strong>de</strong>r</strong> zur selben Zeit als die Constituante in Paris die Menschenrechte berieth,<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Stille seines Weimar Blätter und Blumen sinnig betrachtete, schrieb:<br />

„Ein Je<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> das Wachsthum <strong><strong>de</strong>r</strong> Pflanzen nur einigermassen beobachtet, wird<br />

leicht bemerken, dass gewisse äussere Theile <strong><strong>de</strong>r</strong>selben sich manchmal verwan<strong>de</strong>ln<br />

und in die Gestalt <strong><strong>de</strong>r</strong> nächstliegen<strong>de</strong>n<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 60 (170)


131<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 61 (170)<br />

Theile bald ganz, bald mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger, übergehen.<br />

So verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t sich z. B. meistens die einfache Blume dann in eine gefüllte, wenn<br />

sich anstatt <strong><strong>de</strong>r</strong> Staubfä<strong>de</strong>n und Staubbeutel, Blumenblätter entwickeln, die entwe<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

an Gestalt und Farbe vollkommen <strong>de</strong>n übrigen Blättern <strong><strong>de</strong>r</strong> Krone gleich<br />

sind, o<strong><strong>de</strong>r</strong> noch sichtbare Zeichen ihres Ursprungs an sich tragen.“<br />

Diese schlichten Worte könnten mit Auswechslung <strong><strong>de</strong>r</strong> Bezeichnungen unter das<br />

obere Bild geschrieben wor<strong>de</strong>n sein, so sehr passen sie darauf. Trägt man heute<br />

nicht die obersten Jupons und Unterröcke farbig wie das Kleid, und die inneren<br />

weiss wie <strong>de</strong>n Strumpf o<strong><strong>de</strong>r</strong> das Hem<strong>de</strong>? Gehen die Schichten nicht allmälig auch<br />

<strong>de</strong>m Stoffe nach in die Hemdformation über? Goethe bemerkte an einer späteren<br />

Stelle: „So fin<strong>de</strong>t sich z.B. innerhalb <strong>de</strong>s Kelches einer Nelke manchmal ein zweiter<br />

Kelch, welcher zum Theil vollkommen grün, die Anlage zu einem einblättrigen,<br />

eingeschnittenen Kelche zeigt, zum Theil zerrissen und an seinen Spitzen und<br />

Rän<strong><strong>de</strong>r</strong>n zu zarten, ausge<strong>de</strong>hnten, gefärbten wirklichen Anfängen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kronenblätter<br />

132<br />

umgebil<strong>de</strong>t wird, wodurch wir dann die Verwandtschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Krone und <strong>de</strong>s Kelches<br />

abermals <strong>de</strong>utlich erkennen.“<br />

Die mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Dame z. B. trägt ein Mantelet, das ohne Aermel ist, <strong>de</strong>ssen Seitentheile<br />

aber sichtlich in die Gestalt <strong><strong>de</strong>r</strong> Aermel übergehen, wie die Kelchblätter<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Nelke in die Kronenblätter.<br />

Doch nun verlassen wir <strong>de</strong>n grossen Dichter, und gehen unsere eigenen Wege<br />

weiter.<br />

Nirgends in <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur lässt sich eine so wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bare Gestaltungskraft und ein solcher<br />

Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungstrieb bemerken, als im Gebiete <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Bekleidung.<br />

Hier ist gera<strong>de</strong>zu Alles wan<strong>de</strong>lbar. Gab es doch z. B. Mäntel ohne Aermel, ohne<br />

Rückentheil, o<strong><strong>de</strong>r</strong> nur aus einem schmalen Rückenstreifen bestehend, o<strong><strong>de</strong>r</strong> hinwie<strong><strong>de</strong>r</strong>um<br />

Mäntel, die ganze Gestalt be<strong>de</strong>ckend. Wer vermag <strong>de</strong>n Uebergang <strong>de</strong>s<br />

Mantels zur Mantille, zum Mantelet zu trennen? Welche Gestalten hat <strong><strong>de</strong>r</strong> alte<br />

Hanns <strong><strong>de</strong>r</strong> Deutschen als englischer Jack (Jacke, Schecke), als französischer Jaques,<br />

Jaquot, Sacot u. s. w. seit 200 Jahren erlebt, und ist doch immer <strong><strong>de</strong>r</strong> alte kurze<br />

Hanns geblieben? In Alt-Griechenland nannte man Endro-<br />

133<br />

mis einen Schuh, in Rom 200 Jahre später zu Martials Zeit einen Mantel, wie<br />

wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuh zum Mantel? Caliga hiess in Rom <strong><strong>de</strong>r</strong> schwere, kräftig benagelte<br />

Feldstiefel, im Mittelalter hingegen wur<strong>de</strong> mit diesem Worte eine Hose bezeichnet.<br />

Doch wozu so viel <strong><strong>de</strong>r</strong> Beispiele, da ja je<strong>de</strong>s Jahr zahllose Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen<br />

bringt, und wir im December nicht wissen können, was uns im Jänner auf <strong>de</strong>n<br />

Hüften o<strong><strong>de</strong>r</strong> auf <strong>de</strong>m Kopfe sitzen wird?<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 61 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 62 (170)<br />

Und die Wege sind ganz wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar, auf welchen sich diese Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung vollzieht.<br />

Wie konnte man vermuthen, dass z. B. wir Männer nahezu ein Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

lang eine schwarze Schachtel auf <strong>de</strong>m Haupte balanciren wer<strong>de</strong>n, welche sich in<br />

Nordamerika die Quäcker auswählten als Zeichen soli<strong>de</strong>sten - Quäckerthums?<br />

Dass diese Hutform aus <strong>de</strong>m revolutionären Nordamerika mit seinen Lafayettes in<br />

das revolutionäre Frankreich übersie<strong>de</strong>lte, seit 1848 aber mit <strong>de</strong>m Revolutionshut<br />

gera<strong>de</strong> so im Gegensatze sich befin<strong>de</strong>t, wie das Mitglied eines frommen Katholikenvereins<br />

mit einem Anhänger Garibaldi’s? Wir wer<strong>de</strong>n es noch erleben, dass<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Cylin<strong><strong>de</strong>r</strong> von Freiheits-Schwärmern als Sym-<br />

134<br />

bol <strong><strong>de</strong>r</strong> starrsten Reaction öffentlich eingeschlagen o<strong><strong>de</strong>r</strong> verbrannt wird, wie dies<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt schon in Ungarns Hauptstadt geschah. Hinwie<strong><strong>de</strong>r</strong>um ward <strong><strong>de</strong>r</strong> altfranzösische<br />

Bauernkittel zu Ludwig XIV. Zeiten zum Salonrocke erhoben, und blieb<br />

bis heute als Staatskleid in Ehren, wo ihm bei <strong>de</strong>n höchsten Festgelegenheiten <strong>de</strong>n<br />

Rang nur <strong><strong>de</strong>r</strong> Frack streitig macht, bekanntlich eine Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> sittenlosesten<br />

Maitressen Ludwig XV.!<br />

Die Metamorphose <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> dürfte daher mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit nicht nur <strong>de</strong>s Studiums<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Prediger über <strong>de</strong>n „Hosenteufel“, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Politiker vom Fache würdig<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Und dass sie eine wahre Wissenschaft wer<strong>de</strong>n kann, beweist noch ein Umstand.<br />

Nicht nur die Neugeburt verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ter Formen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung ähnelt <strong>de</strong>m Wer<strong>de</strong>n<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Naturgestalten, auch mit <strong>de</strong>m Absterben ist es gleichfalls so. In vorausgehen<strong>de</strong>n<br />

Capiteln wur<strong>de</strong> erzählt, dass die Kopfbin<strong>de</strong> heute noch auf <strong>de</strong>m Männerhute<br />

als vorweltlicher Ueberrest zu fin<strong>de</strong>n sei in Gestalt <strong>de</strong>s Hutban<strong>de</strong>s, dass das<br />

spanische Mäntelchen zum Kragen eingeschrumpft sei, <strong>de</strong>ssen wir heute noch<br />

trotz seines zwecklosen<br />

135<br />

und hin<strong><strong>de</strong>r</strong>lichen Daseins nicht los und ledig wer<strong>de</strong>n können, u. dgl. m. Und in<br />

ähnlicher Weise haben die Naturforscher ent<strong>de</strong>ckt, dass auch heute noch <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mensch ein Schwänzchen mit sich herumtrage, wenn auch versteckt, das aber<br />

beim menschlichen Embryo während <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n ersten Monate <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung<br />

noch frei hervorsteht. Und sollten wir es wagen, <strong>de</strong>n Vergleich noch weiter zu<br />

führen? Hutband und Kragen, die Hose ohne Sitzbo<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> längere <strong>de</strong>n Unterleib<br />

be<strong>de</strong>cken<strong>de</strong> Rock, <strong><strong>de</strong>r</strong> Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>schuh, die Schürze u. s. w., sie sind gera<strong>de</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Frauenkleidung noch immer besser erhalten geblieben, als in jener <strong><strong>de</strong>r</strong> Männer.<br />

Und bei welchem Geschlechte erhielt sich das Embryo-Schwänzchen? Ganz trokken<br />

antwortet <strong><strong>de</strong>r</strong> berühmte <strong>de</strong>utsche Morphologe Häckel darauf, ohne <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibel<br />

nur mit einem Worte zu ge<strong>de</strong>nken: „Beim Weibe ist das Schwänzchen gewöhnlich<br />

um einen Wirbel länger als beim Manne.“<br />

Dieselbe grossartige eiserne Gesetzes-Consequenz in <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufeinan<strong><strong>de</strong>r</strong>folge <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Formen, in <strong>de</strong>m Entstehen neuer, in <strong>de</strong>m Vergehen alter Arten, welche die Natur<br />

beherrscht, wirkt auch in allem menschlichen Schaffen fort, trotz<strong>de</strong>m<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 63 (170)<br />

wir uns allein Vernunft und freien Willen beimessen. Gera<strong>de</strong> die Metamorphose<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung beweist, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Einzelne zumeist willenlos <strong>de</strong>m Gange <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung<br />

folgt, und sich stets klei<strong>de</strong>t wie die an<strong><strong>de</strong>r</strong>n, wie mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger Alle,<br />

und dass die meisten neuen Formen entstehen, ohne dass sich auch nur Einer ihrer<br />

Träger darüber Rechenschaft geben könnte.<br />

So wirkt z. B. die Verengerung <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Consequenz eines Gesetzes<br />

dahin, dass alles Beiwerk, wie Taschen, Säcke, Volants, Rüschen, Tabliers etc.,<br />

welches nur an<strong>de</strong>utungsweise o<strong><strong>de</strong>r</strong> im Innern <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> vorhan<strong>de</strong>n war, nun<br />

selbständig heraustritt als <strong>Kleidung</strong>stheil o<strong><strong>de</strong>r</strong> als beson<strong><strong>de</strong>r</strong>es <strong>Kleidung</strong>s- o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Toilettenstück. Umgekehrt hinwie<strong><strong>de</strong>r</strong>um verschwin<strong>de</strong>n mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Erweiterung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> freie Taschen, Umhänge, Ueberklei<strong><strong>de</strong>r</strong> u. s. w. und wer<strong>de</strong>n als Theile o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Zier <strong>de</strong>m Hauptklei<strong>de</strong> einverleibt. Dieses Gesetz gilt nicht nur heute, seine Be<strong>de</strong>utung<br />

wird auch aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Antike klar.<br />

Die engen Trachten <strong><strong>de</strong>r</strong> Assyrer, Babylonier, Phöniker sind fast durchaus mit<br />

sichtbaren selbständigen Gürteln, Schärpen, Gürtel-<br />

137<br />

behängen u. s. w. versehen (siehe Fig. 13). Die weite, faltige griechische und römische<br />

Tracht hingegen kennt <strong>de</strong>n Gürtel entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> gar nicht, o<strong><strong>de</strong>r</strong> verbirgt <strong>de</strong>nselben,<br />

wo er vorhan<strong>de</strong>n ist. Von Gürtelbehängen, Taschen u. s. w. fin<strong>de</strong>t sich<br />

nirgendwo eine Spur. Wie hätte auch sonst <strong>de</strong>m stolzen, edlen, reichen Herrn Ritter<br />

Euclid, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich in Scharlach prangend, zufällig gera<strong>de</strong> gerühmt hatte, grosse<br />

Güter zu besitzen und seinen Stammbaum von <strong><strong>de</strong>r</strong> Leda herzuleiten, nach Martials<br />

Epigramm das Malheur passiren können, aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Schoossfalte plötzlich <strong>de</strong>n<br />

grossen Hausthorschlüssel zu verlieren, das Zeichen, dass er keinen eigenen<br />

Thürhüter habe, und eigentlich ein armer Schlucker sei:<br />

„Niemals, Fabullus, war ein Schlüssel boshafter“ schliesst <strong>de</strong>s Dichters Spottvers,<br />

wir aber möchten hinzusetzen, niemals spielte die künstliche Einfachheit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Kleidung</strong> einen ärgern Streich.<br />

Ueberhaupt bewegt sich die Form <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung von Extrem zu Extrem, vom<br />

Weitesten zum Engsten, vom Längsten zum Kürzesten und niemals lernt eine Generation<br />

von ihren Vorfahren die üblen Folgen, welche solche Extreme mit sich<br />

bringen, kennen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n muss<br />

138<br />

immer von Neuem dieselben Erfahrungen machen, um dann in <strong>de</strong>m Streben nach<br />

Beseitigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Uebelstän<strong>de</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in das entgegengesetzte Extrem zu verfallen.<br />

Wir wollen hiebei vor<strong><strong>de</strong>r</strong>hand ganz von <strong>de</strong>m Hin- und Herschwanken zwischen<br />

extremen Farben, Ornamentirungen, Zuschnitten, Verzierungen absehen, und nur<br />

die Hauptumrisse <strong><strong>de</strong>r</strong> Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> ihrer Gesammtform nach etwas<br />

näher in das Auge fassen.<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 63 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 64 (170)<br />

Da erwacht z. B. plötzlich, man weiss nicht warum, die Lust, die <strong>Kleidung</strong>sstücke<br />

in’s Masslose zu verlängern. Dem Kopfe wird ein Zopf, <strong>de</strong>m Hute eine lange<br />

Bandzier o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Schleier angefügt. Dem Rocke wächst nach hinten eine Schleppe<br />

an, die Aermel reichen bis zum Handgelenke und wer<strong>de</strong>n noch durch Manchetten<br />

und Ellenbogenschleppen darüber hinaus verlängert, das Beinkleid <strong><strong>de</strong>r</strong> Herren<br />

reicht rückwärts über die Absätze hinab, <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock bis über die Kniee und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kragen steigt <strong>de</strong>n Hals hinan.<br />

Was ist die Folge? Man stolpert über die Schuhspitzen, über die langen Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

139<br />

man tritt die Schleppen ab, beschmutzt, bestaubt die unteren En<strong>de</strong>n, beträufelt die<br />

oberen mit Schweiss. Die Schleppen wer<strong>de</strong>n zu Staubkehrmaschinen, die Hüte<br />

stossen beim Passiren <strong><strong>de</strong>r</strong> Thüren, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong> Wagenthüren nicht ohne Scha<strong>de</strong>n<br />

an, man fühlt sich gedrückt, die Beine wer<strong>de</strong>n vom Rocke, die Hän<strong>de</strong> vom<br />

Aermel, <strong><strong>de</strong>r</strong> Hals vom Kragen beengt. Die Frauen sind vollauf mit <strong>de</strong>m Balanciren<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>, mit <strong>de</strong>m Tragen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schleppe, mit <strong>de</strong>m Ordnen <strong>de</strong>s Schleiers beschäftigt.<br />

(Vergl. Fig. 9 a und b, 35; 2, 10, 20 b, 26 d, 50, 58; 46.) Die Wirkungen<br />

greifen weiter. Die Länge <strong>de</strong>s Klei<strong>de</strong>s vorne verleitet die Frauen, sich durch Herausbohren<br />

<strong>de</strong>s Unterleibes zu helfen (Fig. 20, 27, 30, 32, 42), beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s so lange<br />

die Schuhe nicht durch Stöckel gehoben wur<strong>de</strong>n. Kommen aber zur Nachhilfe<br />

Stöckel auf, dann überläuft sie erst recht die Misère. Da wer<strong>de</strong>n die Kniee hervorgebohrt,<br />

und nach hinten drängt sich naturgemäss das Gesäss heraus. Die Körperhaltung<br />

wird eine gera<strong>de</strong>zu naturwidrige, und prägt <strong>de</strong>n Stempel gemeiner Sinnlichkeit<br />

aus. Dauert die Vorliebe für die Schleppe lange fort, dann hilft man <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

unna-<br />

140<br />

türlichen Wirkung <strong>de</strong>s hinteren Stöckels durch einen vor<strong><strong>de</strong>r</strong>en Stöckel nach und<br />

geht - auf Stelzen. (Fig. 20 a)<br />

Wenn die Metamorphose von einem bestimmten <strong>Kleidung</strong>sstücke ausgeht, dann<br />

müssen die benachbarten <strong>Kleidung</strong>sstücke weichen. Die Einführung <strong><strong>de</strong>r</strong> Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

hat die Verkürzung <strong><strong>de</strong>r</strong> Röcke (Fig. 6 b, 11 a und b, 24, 29); die Annahme <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

steifen Halskrägen und Krausen, die Verschmälerung und Verkürzung <strong>de</strong>s Bartes<br />

zur Folge (Fig. 6 b, 11 b). Das betreffen<strong>de</strong> revolutionäre <strong>Kleidung</strong>sstück selbst<br />

büsst, je länger es wird, <strong>de</strong>sto mehr an Umfang und Weite ein, <strong>de</strong>nn es wäre ja<br />

unerträglich, in elephantenhaften Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>n einherzugehen (siehe Fig. 10, 32). Fällt<br />

das <strong>Kleidung</strong>sstück über Glie<strong><strong>de</strong>r</strong> herab, welche frei beweglich bleiben müssen,<br />

wie Arme und Beine, dann hilft man sich durch Aufschlitzen (z. B. <strong><strong>de</strong>r</strong> Röcke von<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Taille o<strong><strong>de</strong>r</strong> vom Cul abwärts, wie z. B. in Fig. 26 c, 37, 38, 50, 51, 57, <strong>de</strong>s<br />

Mantels o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Mantille zu bei<strong>de</strong>n Seiten). Die schleppen<strong>de</strong>n Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>theile wer<strong>de</strong>n<br />

unten zugespitzt, damit sie nicht wie breite Kehrbesen <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n fegen (so<br />

Aermel- und Cul-Schleppen wie in Fig. 10<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 64 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 65 (170)<br />

und 32), o<strong><strong>de</strong>r</strong> damit sie nicht zu Schaufeln wer<strong>de</strong>n, wie die Schuhspitzen.<br />

Endlich entschliesst man sich zur Verkürzung <strong>de</strong>s umsturzfreudigen <strong>Kleidung</strong>sstückes.<br />

Zuerst nur zeitweilig und zaghaft. Man hebt die Schleppe vorübergehend<br />

auf, lässt <strong>de</strong>n langen Schleier vorne herab über die Schulter fallen (Fig. 31, 32, 42<br />

b), drückt die Hutspitze ein wenig ein. Lange Krägen, Aermel wer<strong>de</strong>n umgelegt,<br />

Stiefelröhren, Hutkrämpen gestülpt, es bil<strong>de</strong>t sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Umschlag o<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufschlag<br />

heraus. (Vergl. Fig. 56 a und b, Fig. 57 u. s. f.) Doch dies Alles hilft <strong>de</strong>n Verlegenheiten<br />

noch nicht ab. Nun hängt man das Schleppen-En<strong>de</strong> mittelst einer<br />

Schlinge vorne herüber (Fig. 55) auf, o<strong><strong>de</strong>r</strong> zieht, wenn das Kleid steif gespannt<br />

sein sollte, und daher das Umkippen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schleppe nach vorne nicht angeht, innerhalb<br />

<strong>de</strong>sselben einzelne Theile mittelst Schnüren herauf, wodurch sich ringsum<br />

eine Draperie (wie in Fig. 51) bil<strong>de</strong>t. Das Steifungsmittel (Crinoline, Einlage,<br />

Wulst etc.) wird noch breiter, noch voluminöser gestaltet, es bil<strong>de</strong>n sich förmliche<br />

Tonnen um <strong>de</strong>n Unterleib, um die Arme und Beine heraus (Fig. 58). Verschlägt<br />

zuletzt auch<br />

142<br />

diese monströse Metho<strong>de</strong> nicht mehr, dann greift man endlich zum letzten<br />

Auskunfsmittel. zur Scheere und das Kleid ist wie<strong><strong>de</strong>r</strong> - kurz! (Fig. 59.) Nun kann<br />

die Verlängerung von vorne beginnen.<br />

Denn auch die Kürze hat ihre Schattenseiten. Frauen, welche kurze Röcke tragen,<br />

müssen schöne Beine besitzen und ihre Füsschen in elegante, luxuriöse Schuhe<br />

stecken, auch an Strümpfen Nettigkeit sehen lassen. Die Unterröcke kommen<br />

mehr zum Vorschein und <strong><strong>de</strong>r</strong> Wäsche wird allzuviel Recht gegenüber <strong>de</strong>m Geldbeutel.<br />

Kurze Aermel verlangen lange Handschuhe, da aber Le<strong><strong>de</strong>r</strong> und Sei<strong>de</strong> mehr<br />

kosten als Schafwollstoff und Leinen, auch kostspieligere Handschuhe. Kurze<br />

Westen (1789 und 1830) erheischen lange Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong>, diese aber müssen gespannt<br />

wer<strong>de</strong>n und Spannung ist unbequem. Die kurze Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>glocke schwingt<br />

pen<strong>de</strong>lartig wie eine kleine Kirchthurmglocke und zwingt die Frauen zu einem<br />

ermü<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Trippelgang. Und welche Missstän<strong>de</strong> führen erst die Hüftenwulst,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> cul <strong>de</strong> Paris, <strong><strong>de</strong>r</strong> Kikeriki, die Aermel-Fischbeintonne und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Marterwerkzeuge<br />

ähnlicher Sorte herbei!<br />

143<br />

Was allzu kurz ist, muss nothwendig weiter, breiter wer<strong>de</strong>n, und ohne es nur zu<br />

<strong>de</strong>nken, befin<strong>de</strong>n wir uns plötzlich im Reiche <strong><strong>de</strong>r</strong> - Bierfässer, auf Kopf, Leib,<br />

Oberarm und Schenkel. (Fig. 53.) Die Verbreiterung waltet anfangs zwar noch<br />

schüchtern und mit einem gewissen Zagen vor Verirrungen <strong>de</strong>s Geschmackes. So<br />

fügten z. B. die kurzröckigen Damen in <strong>de</strong>n Jahren 1820-1830 sich die I<strong>de</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Biertonne nur in Form einer schmalen Radkresse, eine Spanne etwa über <strong>de</strong>m<br />

unteren Ban<strong>de</strong> <strong>de</strong>s sackartigen Kleidchens an. Aber was ward daraus im Verlaufe<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Jahre!<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 65 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 66 (170)<br />

Wer erinnert sich nicht auch <strong><strong>de</strong>r</strong> kurzen Mäntelchen, Wämmser, Schenkelhosen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> spanischen Hoftracht in <strong><strong>de</strong>r</strong> zweiten Hälfte <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts. Und welche<br />

Mühlsteine wur<strong>de</strong>n allmälig aus <strong>de</strong>n Hüftenwülsten und Radkrausen <strong><strong>de</strong>r</strong> Herren,<br />

welche Tonnen aus <strong>de</strong>n Reifröcken <strong><strong>de</strong>r</strong> Damen! Dazu kamen noch künstliche<br />

Bäuche, Achselwülste u. s. w.<br />

Und aus all’ <strong><strong>de</strong>r</strong> Breite stürzt man sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> plötzlich in die Enge!<br />

Wenn die Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> sich verengern, dann wer<strong>de</strong>n Gehen und Sitzen erschwert, die<br />

Bein-<br />

144<br />

klei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Aermel sind gespannt, <strong><strong>de</strong>r</strong> Gang wird hüpfend, ein Sesselsitz unnahbar.<br />

Die <strong>Kleidung</strong>sstücke wer<strong>de</strong>n in Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>theile abgehackt. Es entstehen eigene<br />

Ober- und Unterarm-Aermel, eigene Oberschenkel- und Wa<strong>de</strong>nhosen, Hüftenhosen,<br />

Brustwämmser, Halskrägen u. s. w. Die Verbindung an <strong>de</strong>n Gelenken hört<br />

zuletzt ganz auf, o<strong><strong>de</strong>r</strong> wird höchstens durch Bän<strong><strong>de</strong>r</strong> und Bausche hergestellt.<br />

Auf <strong>de</strong>m Wege zu diesem Extreme beginnt man mit <strong>de</strong>m Aufschlitzen, und zwar<br />

im Anfange nur an <strong>de</strong>n Gelenken <strong><strong>de</strong>r</strong> Arme und Beine, wie z. B. bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Landsknechttracht<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Hälfte <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts. (Fig. 29.) Dann wird <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Aermel <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen Länge nach bis knapp vor das untere En<strong>de</strong> aufgeschnitten, wie<br />

in <strong>de</strong>n Zeiten Carl VI. in Frankreich um 1370 (Fig. 10), und später wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in Spanien<br />

um 1570 (wie Fig. 52 a), ebenso <strong><strong>de</strong>r</strong> Obertheil <strong>de</strong>s Schuhes, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schaft <strong>de</strong>s<br />

Stiefels auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Wa<strong>de</strong>nseite (so z. B. in Fig. 31 und 56). Und noch früher, als die<br />

römische Tunica während <strong>de</strong>s Mittelalters immer enger gewor<strong>de</strong>n war, als man<br />

sich drinnen recken und strecken musste, da musste sie ebenfalls vorne in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

145<br />

Länge nach aufgeschnitten wer<strong>de</strong>n, sie ward zum „Rocke“.<br />

Da man aber mit <strong>de</strong>m Schnitte allein nicht fortkommen kann, hilft man durch<br />

Schnüren, Knöpfen und Ausfüttern nach. Das Futter bauscht sich heraus, und nun<br />

beginnt wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die Krapfenbildung, die Kröpfung. (Vergl. Fig. 17, 20 b, 30, 34,<br />

38, 53.)<br />

So gleicht die Metamorphose einem Pegasus am Göpel. Er mag springen und fliegen<br />

wie er will, er bewegt sich doch immer nur im Kreise herum. Von <strong><strong>de</strong>r</strong> Länge<br />

zur Enge, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Enge zur Kürze, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Kürze zur Weite, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Weite zur<br />

Enge und nun wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zur Länge. Zuweilen auch umgekehrt o<strong><strong>de</strong>r</strong> in an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Reihenfolge!<br />

Merkwürdiger Weise bleiben im Wechsel doch stets noch einige Ueberreste <strong>de</strong>s<br />

einmal Gewonnenen gerettet. Die Gegenströmung hat eben so viele Uebergänge<br />

und so beharrliche Neuerungen zu überwin<strong>de</strong>n, dass die schliessliche Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kehr<br />

zum Alten doch nicht das Alte be<strong>de</strong>utet. So wer<strong>de</strong>n z. B. die Stöckel, welche eine<br />

Folge <strong><strong>de</strong>r</strong> langen Röcke <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen und langen Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Männer sind, in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 66 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 67 (170)<br />

Perio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Verkürzung <strong><strong>de</strong>r</strong> Beinbekleidung zwar auch gekürzt, aber doch nicht<br />

bis auf ihr ursprüngliches Mass; und wir wer<strong>de</strong>n weiter unten gera<strong>de</strong> in diesem<br />

Beharren einzelner Errungenschaften <strong><strong>de</strong>r</strong> Metamorphose die Ursache ent<strong>de</strong>cken,<br />

zum dauern<strong>de</strong>n Fortschritte <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung im Sinne <strong><strong>de</strong>r</strong> wachsen<strong>de</strong>n Cultur.<br />

Die Verlängerung, Verkürzung u. s. f. betrifft manchmal nur einen Theil <strong>de</strong>s <strong>Kleidung</strong>sstückes,<br />

während ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>er zuweilen sogar in gera<strong>de</strong> entgegengesetzter<br />

Weise sich verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t. So kommt es z. B. vor, dass infolge <strong><strong>de</strong>r</strong> Verlängerung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> nach oben eine Verkürzung <strong>de</strong>s Rockschoosses eintritt (im 15. und<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> 17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t in Frankreich und in <strong>de</strong>n Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>lan<strong>de</strong>n, siehe Fig. 31).<br />

Aber die Aermel <strong>de</strong>s Rockes verlängern sich. Diese sind eben mit <strong>de</strong>m Beinklei<strong>de</strong><br />

näher verwandt als mit <strong>de</strong>m Rockschoosse, obschon sie mit letzterem durch <strong>de</strong>n<br />

Rockleib zu einem <strong>Kleidung</strong>sstücke vereinigt sind. Man könnte daher auch in metamorphischer<br />

Beziehung Bein-und Armärmel als Genossen, als einan<strong><strong>de</strong>r</strong> accompagniren<strong>de</strong><br />

Glie<strong><strong>de</strong>r</strong> bezeichnen. So ist es auch mit <strong>de</strong>n Halskrausen, Manchetten<br />

an <strong>de</strong>n<br />

147<br />

Aermel-En<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n Kniehosen-En<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall. Auch Schuhkrausen, wenn sie<br />

vorkommen, gehören zu ihnen. (Vergl. Fig. 20 und 56.)<br />

Weil <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuh aus <strong>de</strong>m eigentlichen Schuhe und <strong>de</strong>m Unterschuhe besteht und<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> letztere an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Aufgaben verfolgt, greift die Metamorphose auf bei<strong>de</strong> manchmal<br />

gleichfalls in ganz entgegengesetztem Sinne über. Der Oberschuh verlängert<br />

sich z. B. gegen die Wa<strong>de</strong>n hinauf, <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterschuh dagegen schrumpft ein. Dergleichen<br />

Contraste kommen auch in metamorphischen Verhältnissen <strong>de</strong>s Hutgupfes<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> Krämpe vor. Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s aber contrastiren Bart und Haare. Wenn<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bart sich verlängert, verkürzt sich das Kopfhaar und umgekehrt. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Perio<strong>de</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> langen, grossen Perrücken trug man gar keinen Bart, und in <strong><strong>de</strong>r</strong> Perio<strong>de</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Zöpfe nur ganz ausnahmsweise einen kleinen Schnurr- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Backenbart. Zopf<br />

und Backen- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Kinnbart jedoch vereinigen sich so wenig wie Oel und Wasser.<br />

Mitten innen zwischen <strong>de</strong>n Genossen und <strong>de</strong>n contrastiren<strong>de</strong>n Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>n stehen die<br />

Pendants. So z. B. haben hohe Hüte o<strong><strong>de</strong>r</strong> Frisuren meistens lange Leiber (Fig. 32,<br />

53,<br />

148<br />

57, 60); nie<strong><strong>de</strong>r</strong>e, breite Hüte o<strong><strong>de</strong>r</strong> Mützen kurze, aber weite Leiber, Röcke, Schauben,<br />

Aermel u. s. w. (Fig. 6 a und b, 11 a und b, 29, 50, 56 a und b) im Gefolge.<br />

Und <strong>de</strong>nnoch sind Kopfbe<strong>de</strong>ckung und Mittelleibkleidung nicht Genossen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

eher contrastiren<strong>de</strong> <strong>Kleidung</strong>sstücke. Aber die Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s Einen zieht<br />

auch die Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s An<strong><strong>de</strong>r</strong>n nach sich, wie die eines Gegenstücks. Oft wirken<br />

Pendants im gleichen Sinne, aber in ganz verschie<strong>de</strong>ner Art. Wie könnte man<br />

sich sonst die Thatsache erklären, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Reifrock stets das Herabsinken und die<br />

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Verengerung <strong><strong>de</strong>r</strong> Taille zur Folge hat. Also Glocke und Wespen-Taille! (Vergl.<br />

Fig. 20 b, 35, 53, 59.) Und doch fin<strong>de</strong>t sich die Erklärung bald, wenn man erwägt,<br />

dass die Versteifung, welche in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Beine und <strong>de</strong>s Mittelleibes im<br />

gleichen Sinne eintritt, die beweglichen Beine nur im weiten Zirkel umschliessen<br />

kann, an Busen und Taille aber kürassartig sich anschliessen darf.<br />

Aus diesem einzelnen Falle ergibt sich klar, wie complicirt die Gesetze <strong><strong>de</strong>r</strong> Metamorphose<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung sind, aber auch wie interessant!<br />

149<br />

Die Verlängerung, Verkürzung u. s. w. verfolgt bei <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen <strong>Kleidung</strong>sstücken<br />

nicht immer dieselbe Richtung. Der Hut wird nach oben. Rock, Aermel,<br />

Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> wer<strong>de</strong>n nach unten, Schuhe gewöhnlich nach vorne verlängert. Oft<br />

aber kommt auch gera<strong>de</strong> die entgegengesetzte Richtung vor, o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch eine Berücksichtigung<br />

bei<strong><strong>de</strong>r</strong> Richtungen. So z. B. verlängern sich die Aermel zuweilen<br />

nach oben mittelst <strong><strong>de</strong>r</strong> Achselpuffen und nach unten mittelst <strong><strong>de</strong>r</strong> trichterartigen<br />

Manchetten. Ja, auch ein- und dasselbe <strong>Kleidung</strong>sstück verfolgt im Verlaufe <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Entwicklung verschie<strong>de</strong>ne Richtungen. So beginnt z. B. <strong><strong>de</strong>r</strong> Reifrock nicht selten<br />

als run<strong>de</strong> Glocke, wird dann nach bei<strong>de</strong>n Seiten erweitert, zuletzt aber nach hinten<br />

ausgebaucht und mit einem Cul versehen. Noch öfter kommen solche Schwenkungen<br />

beim Hute vor, <strong><strong>de</strong>r</strong> ja wie eine Wetterfahne auf <strong>de</strong>m Haupte schöner (und<br />

wohl noch öfter hässlicher) Frauen sich nach allen Richtungen, nach auf-, seit-und<br />

abwärts, und nach allen Weltgegen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Kopfes dreht, und für <strong>Kleidung</strong>s- o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

auch Stimmungs-Meteorologen je<strong>de</strong>nfalls ein treffliches Wegzeigerlein abgeben<br />

könnte. Und wie<br />

150<br />

sehr än<strong><strong>de</strong>r</strong>n auf <strong>de</strong>m Hute wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Blume, Fe<strong><strong>de</strong>r</strong> und Band ihre Richtung und Lage,<br />

gewiss jedoch nie ohne Grund!<br />

Wo beginnt <strong>de</strong>nn nun eigentlich die Metamorphose, und wo en<strong>de</strong>t dieselbe?<br />

Wenn auch <strong><strong>de</strong>r</strong> erste Ansatz am Leibe stets die Schürze ist, und in ihr das Urschleimwesen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung, das noch unförmliche, unorganisirte Eozoon erkannt<br />

wer<strong>de</strong>n muss, legen sich doch die weitern Ansätze bald als Kragen und<br />

Mantel an <strong>de</strong>n Nacken, bald als Leibwickel um <strong>de</strong>n Mittelleib, und man kann nur<br />

von da ab beobachten, dass Brust und Bauch hauptsächlich die Ursprungsstellen<br />

neuer Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> sind, neben ihnen aber in geringerem Gra<strong>de</strong> alle Glie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Körpers<br />

für sich Ausgangspunkte <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>bildung und <strong><strong>de</strong>r</strong> Metamorphose wer<strong>de</strong>n.<br />

Erst wenn die Mo<strong>de</strong> zur Geltung gelangt, treten gewisse <strong>Kleidung</strong>sstücke als Dominanten<br />

hervor, so z. B. von 1655 ab die Perrücke und von 1780 ab <strong><strong>de</strong>r</strong> Cylin<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Für Frauenmo<strong>de</strong>n ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauenhut Dominante, wie ja auch heute noch die Hutmacherin<br />

und (Kopf-)Putzmacherin ganz allgemein Marchan<strong>de</strong> <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>s heisst,<br />

als ob dieselbe auch<br />

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Mo<strong>de</strong>klei<strong><strong>de</strong>r</strong> und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Artikel <strong><strong>de</strong>r</strong> Toilette verfertigen wür<strong>de</strong>. Auf <strong>de</strong>m Hute<br />

erscheinen stets zuerst jene Anzeichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Formverän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung, welche später die<br />

ganze oberste Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>schichte beherrschen; auf <strong>de</strong>m Hute zeigen sich regelmässig<br />

zuerst jene Mo<strong>de</strong>farben, Mo<strong>de</strong>spitzen, Borten und Börtchen, Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>n und Blumen,<br />

welche berufen sind, <strong><strong>de</strong>r</strong> Saison <strong>de</strong>n beson<strong><strong>de</strong>r</strong>n Charakter zu verleihen.<br />

Manche Metamorphosen umfassen die gesammte Oberkleidung vom Kopfe bis<br />

zum Fusse. Die Schellentracht <strong>de</strong>s 14., die geschlitzten Gewän<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts,<br />

die gesteiften spanischen Hofcostüme zu Philipp II. Zeit, die Perio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Sei<strong>de</strong>nroben mit Spitzen unter Ludwig XIV. können als Beispiele dienen. In diesem<br />

Falle beherrscht alle sichtbaren Theile <strong><strong>de</strong>r</strong> Tracht ein bestimmtes Princip, sei<br />

es das <strong><strong>de</strong>r</strong> Zerschlissenheit, o<strong><strong>de</strong>r</strong> das <strong><strong>de</strong>r</strong> Streifung o<strong><strong>de</strong>r</strong> das <strong>de</strong>s Glanzes.<br />

Wird die äusserste <strong>Kleidung</strong>sschichte (die Oberkleidung) aufgezogen, aufgeschnitten<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> zerschlissen, dann kommt die darunter befindliche Schichte zum<br />

Vorschein und dient hinsichtlich <strong><strong>de</strong>r</strong> sichtbaren Theile als Ergänzung <strong>de</strong>s<br />

152<br />

Oberklei<strong>de</strong>s. In <strong>de</strong>n meisten Fällen gibt dieser Umstand <strong>de</strong>n Anstoss zu einer Metamorphose.<br />

Die innere Schichte nimmt die Entwicklungsform <strong><strong>de</strong>r</strong> Oberkleidung<br />

an. Unterröcke z. B. wer<strong>de</strong>n nun färbig und mit Verzierungen versehen. Unterärmel<br />

wer<strong>de</strong>n aus Sei<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> hellfarbigen Schafwollstoffen angefertigt. Unter <strong>de</strong>m<br />

vorne <strong><strong>de</strong>r</strong> Länge nach aufgeschnittenen Männerrocke kommt ein Wamms, ein<br />

Gilet zum Vorschein, das vielleicht bisher nur als naturfarbiges o<strong><strong>de</strong>r</strong> weisses<br />

Leibchen ein sehr beschei<strong>de</strong>nes Dasein führte, nun aber aus besseren Stoffen mit<br />

eleganteren Farben und Oberkleidzuschnitt hergestellt wer<strong>de</strong>n muss. Wer<strong>de</strong>n die<br />

Schuhe ausgeschnitten, dann kommen durchbrochene o<strong><strong>de</strong>r</strong> zartornamentirte<br />

Strümpfe auf. Zieht sich <strong><strong>de</strong>r</strong> untere Rand <strong>de</strong>s Frauenklei<strong>de</strong>s von <strong>de</strong>n Füssen zurück,<br />

muss durch dunkle Winterstrümpfe und Kamaschen, zartgeformte und zartfärbige<br />

Sommerstrümpfe nachgeholfen wer<strong>de</strong>n. Kurzum, die untere Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>schichte<br />

rückt <strong><strong>de</strong>r</strong> oberen nach. Mangelte aber bisher eine untere Schichte, weil<br />

die Sitte noch einfach war, und sich mit einer Schichte begnügte, nun, dann muss<br />

eben eine untere Schichte neu geschaffen wer<strong>de</strong>n.<br />

153<br />

Wenn die untere Schichte schon vorhan<strong>de</strong>n war, und nur <strong>de</strong>n Charakter än<strong><strong>de</strong>r</strong>te, z.<br />

B. aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklungsform <strong><strong>de</strong>r</strong> Leibwäsche in jene <strong><strong>de</strong>r</strong> Deckklei<strong><strong>de</strong>r</strong> überging,<br />

dann kann mit <strong>de</strong>m Verschwin<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Ursache, z. B. <strong>de</strong>s Aufschlitzens o<strong><strong>de</strong>r</strong> Decolletirens,<br />

auch die Rückbildung <strong><strong>de</strong>r</strong> unteren Schichte ohne Anstand vor sich<br />

gehen, wenn auch mit einigem Zögern und Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>streben. War aber die Bildung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> unteren Schichte eigens vollzogen wor<strong>de</strong>n, um <strong><strong>de</strong>r</strong> oberen nachzuhelfen, waren<br />

z. B. wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> beträchtlichen Erweiterung <strong><strong>de</strong>r</strong> Oberklei<strong><strong>de</strong>r</strong> mittelst <strong>de</strong>s Reifrockes<br />

untere Schutzröcke, Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> u. dgl. nothwen-dig gewor<strong>de</strong>n, dann hat<br />

man sich während <strong><strong>de</strong>r</strong> Herrschaft dieser Mo<strong>de</strong> zumeist so sehr an die neuen Un-<br />

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terklei<strong><strong>de</strong>r</strong> und <strong><strong>de</strong>r</strong>en Annehmlichkeiten gewöhnt, dass man auf dieselben nicht<br />

mehr verzichten will, wenn auch die Oberkleidung wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu normaler Weite o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Dichtigkeit zurückgegangen ist.<br />

Dies ist nun die Ursache, warum mit fortschreiten<strong><strong>de</strong>r</strong> Cultur die Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>schichten<br />

stetig zunimmt, ohne dass gera<strong>de</strong> klimatische o<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e verän<strong><strong>de</strong>r</strong>liche<br />

Einflüsse dazu zwingen. Diese Schichtenbildung umfasst jedoch<br />

154<br />

nicht immer die ganze Körperbekleidung. Die Kopf-, Hand- und Fussbe<strong>de</strong>ckung,<br />

ja auch Arm-und Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> bleiben oft unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t stehen, während das Mittelleibskleid<br />

sich bereits eine o<strong><strong>de</strong>r</strong> vielleicht auch zwei weitere Schichten zugesellt<br />

hat.<br />

So kommt es <strong>de</strong>nn, dass eine und dieselbe Oberkleidung aus mehrfach geschichteten<br />

Theilen besteht, welche zugleich verschie<strong>de</strong>nen Formationen (d. h. Gesammtheiten<br />

von Schichten <strong><strong>de</strong>r</strong> gleichen Entwicklungsperio<strong>de</strong>) angehören. Ein<br />

Strassenanzug z. B. besteht aus einem Ueberrocke in <strong><strong>de</strong>r</strong> vierten Schichte, <strong>de</strong>ssen<br />

Aermel befin<strong>de</strong>n sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> dritten Schichte, Beinkleid und Schuh bil<strong>de</strong>n die<br />

zweite, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Hut, sowie die Handschuhe die erste Schichte. Die Handschuhe<br />

jedoch stammen, obschon sie wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Hut <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Schichte angehören, <strong>de</strong>nnoch<br />

aus einer viel späteren Perio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Schichtenbildung (Formation), als <strong><strong>de</strong>r</strong> Hut.<br />

Dieselben gehören zur spätesten Formation <strong><strong>de</strong>r</strong> Schutz-, Deck- und Hüllkleidung.<br />

Und besehen wir die verschie<strong>de</strong>nen übereinan<strong><strong>de</strong>r</strong> angezogenen Schichten genau,<br />

so fin<strong>de</strong>n wir, dass die obere Schichte stets die ältere,<br />

155<br />

die untere die jüngere ist, und dass je<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>selben nur verschie<strong>de</strong>ne Entwicklungsstadien<br />

eines und <strong>de</strong>sselben Verwandlungs-Processes darstellt. Der Ueberrock war<br />

zuvor Rock, <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock Wamms o<strong><strong>de</strong>r</strong> juste-au-corps, das Gilet Leibchen. In noch<br />

früherer Perio<strong>de</strong> mag <strong><strong>de</strong>r</strong> Ueberrock selbst Leibchen, ja vielleicht Hem<strong>de</strong> gewesen<br />

sein.<br />

Allerdings gleicht das Hem<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> primitiven Culturzeit, als einziges <strong>de</strong>n Mittelleib<br />

um-schliessen<strong>de</strong>s Gewand, nicht genau <strong>de</strong>m Hem<strong>de</strong> von heute, welches <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

zweitjüngsten Formation <strong>de</strong>s Mittelleibes angehört. Die allerjüngste Formation<br />

jedoch, welche soeben unter <strong>de</strong>m Hem<strong>de</strong>, unmittelbar am Leibe entsteht, wird<br />

durch das Gesundheitsleibchen aus Crêpe, Netzstoff, Wirk- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Strickarbeit repräsentirt.<br />

Der beklei<strong>de</strong>te Mensch gleicht darin seiner Mutter Er<strong>de</strong>, dass er von Schichten<br />

umgeben ist, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Alter ein sehr ungleichartiges genannt wer<strong>de</strong>n muss. Ein<br />

Bekleidungs-Gelehrter wür<strong>de</strong> bei Bestimmung <strong>de</strong>s Alters und <strong><strong>de</strong>r</strong> Reihenfolge <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Theile <strong><strong>de</strong>r</strong>selben, sich ebensowenig auf die zufällige Aufeinan<strong><strong>de</strong>r</strong>folge <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schichten stützen können, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Geologe, welcher junges Eruptiv-<br />

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Gestein über älteren Sedimentär- und uralten Eruptiv-Gebil<strong>de</strong>n lasten sieht, und<br />

<strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong>en Verwerfungen manches Kopfzerbrechen verursachen. Das jüngere Gilet<br />

z. B. drängt sich über die ältere Hose hervor, und be<strong>de</strong>ckt dieselbe zum Theile.<br />

Als man sich im Beginne unseres Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts daran gewöhnte, das ganze Jahr<br />

hindurch Unterhosen zu tragen, da wur<strong>de</strong>n noch die (jüngern) Hosen in die (ältern)<br />

Socken gesteckt, und die Socken mit einem Ban<strong>de</strong> zugebun<strong>de</strong>n. Heute bin<strong>de</strong>t<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> knöpft man die Unterhosen schon über <strong>de</strong>n Socken zu. Die Unterhosen sind<br />

<strong>de</strong>mnach trotz ihrer Jugend schon über die ältere Formations-Schichte hinausgerückt.<br />

Als Regel gilt die Durchwan<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schichten von innen nach aussen, so dass<br />

unmittelbar am Leibe nur die jüngsten Bekleidungsformen entstehen, und die älteren<br />

immer weiter hinausdrängen. Doch gibt es Ausnahmen. Zier, Putz, Nebenbestandtheile<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, wie Taschen, Krägen u. dgl. wan<strong><strong>de</strong>r</strong>n von aussen nach<br />

innen, d. h. sie wer<strong>de</strong>n zuerst an <strong>de</strong>n äussersten Schichten angebracht und dann<br />

mehr und mehr in die inneren Schichten übertragen. Schmuck, Zier, Festpracht<br />

drängen eben zur De-<br />

157<br />

colletirung, zur Entblössung <strong>de</strong>s Kopfes, <strong><strong>de</strong>r</strong> Arme hin, sie führen zur Beseitigung<br />

aller Schutz-, Deck-, ja sogar Hüllklei<strong><strong>de</strong>r</strong>, und ihr Endziel ist - vollständige<br />

Nacktheit. Und warum auch nicht? Das Schönste auf Er<strong>de</strong>n ist ja doch die unverhüllte<br />

Menschengestalt! Darum feierten die Griechen als höchste Festpracht die<br />

gymnischen Spiele, und als die Bürgerschaft von Antwerpen <strong>de</strong>n jungen <strong>de</strong>utschen<br />

Kaiser Carl V. ganz beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s festlich empfangen wollte, da liess sie ihm<br />

eine Schaar <strong><strong>de</strong>r</strong> schönsten Mädchen aus <strong>de</strong>n e<strong>de</strong>lsten Häusern nackt, o<strong><strong>de</strong>r</strong> wie<br />

An<strong><strong>de</strong>r</strong>e sagen, in ganz durchsichtigen Florklei<strong><strong>de</strong>r</strong>n entgegengehen. Und we<strong><strong>de</strong>r</strong> die<br />

Geistlichkeit noch das Volk ent<strong>de</strong>ckte darinnen etwas Anstössiges, <strong>de</strong>nn <strong><strong>de</strong>r</strong> Anblick<br />

<strong>de</strong>s edlen Schönen drängt je<strong>de</strong>n gemeinen Gedanken zurück. Ja gera<strong>de</strong> die<br />

Gemeinheit verlangt nach <strong>de</strong>m Kitzel <strong><strong>de</strong>r</strong> Verhüllung.<br />

Das Gesetz <strong><strong>de</strong>r</strong> Schichtenwan<strong><strong>de</strong>r</strong>ung von innen nach aussen hat zur Folge, dass<br />

die Hüllklei<strong><strong>de</strong>r</strong>, welche unmittelbar am Leibe entspringen, sich stärker vermehren<br />

und endlich die Deckkleidung verdrängen, und dass die äussere <strong>Kleidung</strong> stets<br />

ältere Formen, Farben, Zuschnitte,<br />

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Ornamente und Nebenbestandtheile aufweist, als die innere. Ein schönes Bild aus<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Hälfte <strong>de</strong>s 14. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts (Fig. 21) zeigt uns Rock und Beinkleid nach<br />

„neuem Schnitte“, eng<br />

Figur 21: Tracht eines vornehmen Mannes um 1340.<br />

und vorne in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte getheilt. Der Mantel jedoch hängt noch nach ganz alter Art<br />

über <strong>de</strong>n Schultern und ist nach <strong><strong>de</strong>r</strong> einen Seite zu offen, gleich einer spätrömischen<br />

Toga. Das Deckkleid ist bei seinen steifen, dachartigen<br />

159<br />

Formen, seinem massigen Charakter überhaupt weniger zu Metamorphosen geeignet,<br />

als das dünnere, faltenreiche, buntere Hüllkleid. Und es bleibt <strong>de</strong>m Deckklei<strong>de</strong><br />

endlich nichts übrig, als jene Wege zu gehen, welche unsere Panzerthiere,<br />

Schuppenthiere und Dickhäuter gegangen sind, nämlich - auszusterben. Wir Menschen<br />

<strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts jedoch, die wir trotz allen Selbstrühmens noch durchaus<br />

nicht <strong>de</strong>n Höhepunkt <strong><strong>de</strong>r</strong> Cultur erreicht haben, stecken noch tief in <strong><strong>de</strong>r</strong> halbvorweltlichen<br />

Deckkleid-Formation.<br />

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160<br />

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VIII.<br />

DIE ENTSTEHUNG DER ARTEN.<br />

Möge uns Darwin die Sün<strong>de</strong> verzeihen, dass wir seine grossartigen Forschungen<br />

über Anpassung und Vererbung, Zuchtwahl und Domestication gar auf die Bekleidung<br />

anwen<strong>de</strong>n wollen. Aber so ganz ohne Grund geschieht es nicht. Im Gegentheile<br />

könnte Darwin mit seinem scharfblicken<strong>de</strong>n offenen Auge für alle Gestaltung,<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong>n und Trachten <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen so manches<br />

Capitel ent<strong>de</strong>cken, welches ihm die Mo<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur gründlicher erklärt, als die<br />

wenigen, wenn auch wirksamen Schlagworte, welche er bei aller Beschei<strong>de</strong>nheit<br />

doch stolz sein Eigen nennt.<br />

161<br />

„Anpassung!“ - ist dies Wort nicht - wie für einen Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> geschrieben? Wer<br />

vermag besser anzupassen als dieser? Wenn in <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur auch alle leben<strong>de</strong>n Wesen<br />

während ihrer Jugend Haut-, Pelz- und Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>klei<strong><strong>de</strong>r</strong> tragen, welche wie „angemessen“<br />

stehen, so führen sie doch im Alter gewöhnlich zuviel <strong><strong>de</strong>r</strong> Haut mit<br />

sich herum, und bei Betrachtung <strong><strong>de</strong>r</strong> zahlreichen Runzeln und Falten <strong><strong>de</strong>r</strong>selben<br />

wür<strong>de</strong> ein Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> für Menschen be<strong>de</strong>nklich <strong>de</strong>n Kopf schütteln. Wie zerzaust<br />

und schäbig sieht doch oft <strong><strong>de</strong>r</strong> Pelz o<strong><strong>de</strong>r</strong> das Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>kleid so eines alten Herrn von<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gar<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Hun<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> Hähne aus!<br />

Wir glücklichen Menschen jedoch können uns, sofern wir nur Geld genug besitzen,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> vollen<strong>de</strong>tsten Anpassung unserer künstlichen Haut erfreuen bis in das<br />

höchste Alter, ja dann erst recht, <strong>de</strong>nn dann müssen Sammt und Sei<strong>de</strong> und E<strong>de</strong>lgestein<br />

ersetzen, was am Sammte <strong><strong>de</strong>r</strong> Haut, an <strong><strong>de</strong>r</strong> Sei<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Haare, an <strong>de</strong>m Email<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Zähne und an <strong><strong>de</strong>r</strong> Transparenz <strong>de</strong>s Teints dahingeschwun<strong>de</strong>n ist, weil die Natur<br />

eben das Alter nicht in Rechnung zu ziehen, o<strong><strong>de</strong>r</strong> absichtlich zu übersehen<br />

scheint - vielleicht aus eben <strong>de</strong>m-<br />

162<br />

selben Grun<strong>de</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> unsern Forschern über die Ursachen <strong>de</strong>s Wachsens <strong><strong>de</strong>r</strong> Bevöl-<br />

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kerung so angenehm einleuchtet, aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong> nämlich, weil in <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur alles<br />

Altern<strong>de</strong>, Schwächer-<br />

Figur 22: Statue <strong><strong>de</strong>r</strong> Livia, Gemahlin <strong>de</strong>s Augustus.<br />

wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> sofort todtgeschlagen o<strong><strong>de</strong>r</strong> aufgefressen wird, während erst die Cultur<br />

<strong>de</strong>m Alter eine Heimstätte darbietet, zum Schmerze Jener, welche das Gespenst<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Uebervölkerung nicht los wer<strong>de</strong>n können.<br />

163<br />

Woran aber passen wir die <strong>Kleidung</strong> an?<br />

Zunächst an sehr kleinliche Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong>de</strong>s täglichen Lebens, an das Aus- und<br />

Anziehen, an das Reinigen, an das Weggeben <strong>de</strong>s Abgenützten.<br />

Figur 23: Statue <strong>de</strong>s Kaisers Augustus.<br />

Als man vorwiegend hüllen<strong>de</strong> leichte Umwurfklei<strong><strong>de</strong>r</strong> trug, da waren nur jene Stellen,<br />

an welchen man dieselben um <strong>de</strong>n Körper befestigte, durch Na<strong>de</strong>ln o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Knöpfe markirt o<strong><strong>de</strong>r</strong> ständig damit ausgestattet (Fig. 22 und 23); die<br />

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Falten jedoch mussten täglich mehrmals neu gelegt wer<strong>de</strong>n. Stutzer im alten Rom<br />

wichen sogar <strong>de</strong>m Strassengedränge aus, damit ihnen nicht durch Berührung eines<br />

Vorübergehen<strong>de</strong>n die kunstvolle Faltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Toga zerstört wer<strong>de</strong>.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>s schweren steifen Deckklei<strong>de</strong>s hingegen ist man genöthigt, die<br />

Falten ein- für allemal zu legen und durch Na<strong>de</strong>ln o<strong><strong>de</strong>r</strong> durch eine Naht festzuhalten.<br />

Die Na<strong>de</strong>l und die Scheere, die Wahrzeichen <strong>de</strong>s Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>s, sind die bei<strong>de</strong>n<br />

Hauptwerkzeuge <strong><strong>de</strong>r</strong> Stabilisirung <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>formen für <strong>de</strong>n Gebrauch.<br />

Manche Anzugklei<strong><strong>de</strong>r</strong> erscheinen so eng, dass sie während <strong>de</strong>s An- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausziehens<br />

eigens geöffnet wer<strong>de</strong>n müssen. Da kommt eine neue Anpassungsart hinzu,<br />

die <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufschnitte, <strong><strong>de</strong>r</strong> Züge, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schnürungen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Knöpfungen. Der Aufschnitt<br />

reicht anfangs nur bis gegen die halbe Länge <strong>de</strong>s <strong>Kleidung</strong>sstückes herab, so beim<br />

Kriegsrocke <strong><strong>de</strong>r</strong> Römer und <strong><strong>de</strong>r</strong> Germanen, <strong><strong>de</strong>r</strong> noch zu Heinrich II. Zeit (1002-<br />

1024) über <strong>de</strong>n Kopf angezogen wur<strong>de</strong>, so beim Rocke und Unterrocke <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen,<br />

so bei unsern Herrenbeinklei<strong><strong>de</strong>r</strong>n, bei unsern Herrenhem<strong>de</strong>n und Ar-<br />

165<br />

beiterblousen, so endlich bei <strong>de</strong>n Handschuhen und Schuhen. Später aber theilte<br />

man das Kleid vorne in zwei Hälften. Die Phrygier scheinen ihre Aermel und<br />

Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> von oben bis unten getheilt zu haben, wie dies verschie<strong>de</strong>ne Verzierungs-Techniken<br />

an<strong>de</strong>uten. (Siehe Fig. 24.)<br />

Figur 24: Paris<br />

Die Rastelbin<strong><strong>de</strong>r</strong> Ober-Ungarns und die Soldaten <strong><strong>de</strong>r</strong> ungarischen Infanterie-<br />

Regimenter tragen noch heute solche getheilte und mittelst Hafteln geschlossene<br />

Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong>. Nur befand sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufschnitt bei <strong>de</strong>n phrygischen Bein-<br />

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klei<strong><strong>de</strong>r</strong>n vorne, während die ungarischen Hosen sich zur Seite öffnen lassen.<br />

Eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Scheidung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>sstücke bringt die Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung an das Reinigen<br />

mit sich. Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Unterleibes sind weit mehr <strong><strong>de</strong>r</strong> Beschmutzung und Bestäubung<br />

ausgesetzt, als jene <strong>de</strong>s Oberleibes, <strong><strong>de</strong>r</strong> Arme, <strong>de</strong>s Kopfes. Die Männerkleidung,<br />

welche wegen <strong>de</strong>s vorwiegen<strong>de</strong>n Lebens <strong><strong>de</strong>r</strong> Männer ausser <strong>de</strong>m Hause<br />

<strong>de</strong>m Staube beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s häufig begegnet, ist daher durchgehends in zwei Hälften,<br />

nämlich in die obere und in die untere getheilt.<br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauenkleidung geht dieselbe Scheidung alle inneren Schichten hindurch,<br />

nur die äusserste Schichte bleibt aus Schönheits- und Anstands-, zum Theile auch<br />

aus Bequemlichkeits-Rücksichten zumeist einheitlich von oben bis unten.<br />

Die min<strong><strong>de</strong>r</strong> cultivirten Völker tragen durchgehends sowohl aussen als auch innen<br />

Schafwollstoffe. Bei höherer Cultur wird wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> nothwendigen öfteren Reinigung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> die Haut unmittelbar be<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>n <strong>Kleidung</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Leinen-und Baumwollstoff<br />

als Wäsche eingeführt und zerfällt dann die Gesammtkleidung in zwei von<br />

167<br />

einan<strong><strong>de</strong>r</strong> wesentlich verschie<strong>de</strong>ne Reihen von Schichten, in die innere, vorwiegend<br />

weisse Wäsche- und in die äussere, farbige und wenig waschbare Anzug-<br />

Schichtenreihe. Ausser<strong>de</strong>m wird an gewissen Stellen, welche ganz beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Bestaubung und an<strong><strong>de</strong>r</strong>n verunreinigen<strong>de</strong>n Einflüssen ausgesetzt sind, wie an <strong>de</strong>n<br />

Krägen, Aermelaufschlägen, Hut- und (farbigen) Unterrockrän<strong><strong>de</strong>r</strong>n, von <strong>de</strong>n für<br />

Staub und Schmutz wenig empfänglichen Sammt- und Atlas-Geweben vorwiegend<br />

Gebrauch gemacht, wenn auch nur in Gestalt von Besetzen, Aufschlägen,<br />

anstatt selbständiger <strong>Kleidung</strong>sstücke.<br />

Auch die verschie<strong>de</strong>nartige Abnützung führt zu eigenthümlichen Anpassungen.<br />

Dahin zählen die Halbsohlen und Vorschuhe, die Absätze <strong><strong>de</strong>r</strong> Fussbekleidung, die<br />

Kappen und Metallvorstösse bei Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>schuhen, die Fütterungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Anzugklei<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

die beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Säcke und Taschen. Durch die Combination <strong><strong>de</strong>r</strong> Formen für<br />

die Reinigungs- und die Abnützungs-Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen kamen die Vorhem<strong>de</strong>n, abgeson<strong><strong>de</strong>r</strong>ten<br />

Hemdkrägen, Manchetten, die Chemisetten, die Unterärmel, die<br />

Schürzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen zu Stan<strong>de</strong>. Es hiesse wahrlich Eulen nach Athen tragen,<br />

168<br />

wollte man auf alle Einzelheiten dieser Anpassungsart aufmerksam machen, welche<br />

Je<strong><strong>de</strong>r</strong>mann aus eigenster Erfahrung mehr als genug bekannt ist.<br />

Ungleich wichtiger sind die Anpassungsarten an die körperlichen Verhältnisse<br />

(Grösse, Lebensalter, Geschlecht, sowie an <strong>de</strong>n Culturgrad!<br />

Unter allen Gebrauchs-Gegenstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Menschen ist die <strong>Kleidung</strong> am weitesten<br />

vorgeschritten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Anpassung an die zufälligen Grössen- und Umfangsverhältnisse<br />

<strong>de</strong>s Individuums. Nur die Wäsche, diese jüngste Errungenschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Cultur,<br />

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hat sich erst ganz im Allgemeinen, mehr in Gestalt von Sorten und Grössennummern,<br />

<strong>de</strong>n Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong>de</strong>s Individuums angeschmiegt. Auch bei <strong>de</strong>n Schuhen<br />

geht man nur vorsichtig auf das fabriksmässige Sortiment-Princip ein, hat aber<br />

dafür die rechtseitige und die linkseitige Anwendung strenger geson<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Auf diesem<br />

Gebiete stehen sich das Bestreben <strong><strong>de</strong>r</strong> Industrie, durch die fabriksmässige und<br />

insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>s maschinenmässige Herstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Erzeugnisse an <strong>de</strong>n Kosten zu<br />

sparen, und das Bedürfniss <strong>de</strong>s<br />

169<br />

Körpers nach genauester Anpassung an die individuellen Eigenthümlichkeiten<br />

schroff gegenüber. Bei <strong>de</strong>n Bekleidungsstücken <strong><strong>de</strong>r</strong> Beine, Arme, <strong>de</strong>s Mittelleibes<br />

half sich die Industrie durch die sackartige Construction, welche <strong>de</strong>m Dünnsten<br />

wie <strong>de</strong>m Dicksten gestattet, im selben Hülsengebil<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> und <strong>de</strong>s<br />

Rockes Platz zu nehmen.<br />

Die <strong>Kleidung</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> verschie<strong>de</strong>nen Lebensalter <strong>de</strong>s Menschen gleicht einer morphologischen<br />

Gallerie <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung. Das neugeborne Kind betritt<br />

kaum die Welt, und schon wartet die unvermeidliche Schürze als Win<strong>de</strong>l seiner,<br />

welche genau so um die Hüften und Beine gewickelt wird, wie ihrerzeit die<br />

Schürze in Alt-Aegypten o<strong><strong>de</strong>r</strong> Alt-Indien. Die Faschbin<strong>de</strong> fungirt als Gürtel, aber<br />

vorerst ebenfalls noch in <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Wickelform. Und die oberen Win<strong>de</strong>ln, Flanellflecke<br />

u. s. w. in <strong><strong>de</strong>r</strong> Form <strong><strong>de</strong>r</strong> viereckigen, oblongen Hüllklei<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ältesten Culturzeiten,<br />

ergänzen im selben Sinne das ungelenke, höchst primitive Costüm. Die<br />

Einbund<strong>de</strong>cke jedoch, mehr Decke als Kleid, o<strong><strong>de</strong>r</strong> an ihrer Stelle das Wickeltuch<br />

erinnern vollständig an die Mumien-Bekleidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Aegypter.<br />

170<br />

Bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s zweiten Lebensjahres tragen dann bei<strong>de</strong> Geschlechter dieselbe<br />

Bekleidungsform, welche aus einem geschlossenen, zumeist gestrickten Röckchen<br />

und gleichem Unterröckchen ohne Taille besteht, und viele Aehnlichkeit mit <strong>de</strong>m<br />

Costüme <strong><strong>de</strong>r</strong> Assyrer hat. (Siehe Fig. 13.) Schuhe, Strümpfe und eine Mütze, aber<br />

noch keine Hosen - wie uralt einfach ist diese Bekleidung!<br />

Im dritten Jahre erst schei<strong>de</strong>n sich die Geschlechter auch im Klei<strong>de</strong> und die mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen<br />

Formen brechen sich, zwar noch embryonisch Bahn.<br />

In Alt-Hellas trug die Jugend bei<strong><strong>de</strong>r</strong>lei Geschlechtes bis zur Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Confirmation<br />

- par-don! <strong><strong>de</strong>r</strong> Epheben eine <strong>de</strong>m weiblichen Anzuge ähnliche Bekleidung. Unsere<br />

altkluge, grossmannssüchtige Jugend wür<strong>de</strong> solche Zurücksetzung nun freilich<br />

nicht ertragen. Höchstens das Mädchen muss zu seinem Schmerze noch lange das<br />

kurze Kleidchen tragen, welches an<strong>de</strong>utet, dass <strong>de</strong>ssen Trägerin noch nicht gereift<br />

ist für die Welt.<br />

Die Bekleidung <strong>de</strong>s Alters, mit ihrem Uebergange in das bequeme Schlafrockartige,<br />

ist<br />

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wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ein naturgemässer Rückschritt zu primitiveren Entwicklungsphasen.<br />

Doch macht die <strong>Kleidung</strong> nur in <strong><strong>de</strong>r</strong> Perio<strong>de</strong> hoher Cultur die Phasen gemäss <strong>de</strong>n<br />

verschie<strong>de</strong>nen Lebensaltern durch. In primitiven Zeiten wird das kleine Kind geklei<strong>de</strong>t<br />

wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Erwachsene, o<strong><strong>de</strong>r</strong> genauer: ebensowenig wie dieser.<br />

Noch be<strong>de</strong>uten<strong><strong>de</strong>r</strong>en Einfluss übt das Geschlecht auf die <strong>Kleidung</strong>. Die Scheidung<br />

bei<strong><strong>de</strong>r</strong> Geschlechter im Costüm tritt in jener Perio<strong>de</strong> ein, in welcher die zweite<br />

Formation entsteht, d. h. in welcher sich die Schürze in das sogenannte (Ur-<br />

)Hem<strong>de</strong> verwan<strong>de</strong>lt und dieses auch die Beine be<strong>de</strong>ckt. Da zeichnen sich die<br />

Frauen durch ein längeres Hem<strong>de</strong> aus. Die entschie<strong>de</strong>nste Scheidung jedoch ereignet<br />

sich zur Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Ur-Hosen. Denn da geht die Bruche <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Frau in <strong>de</strong>n Unterleibsrock, die Bruche <strong>de</strong>s Mannes in die Fussärmel über.<br />

Die Frau bewegt sich innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterleibskleidung, welche sie nach abwärts<br />

ganz umgibt und verhüllt, während die Männer nur ein Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>kleid tragen.<br />

Dabei verweilt das Kleid <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau weit länger in primitiveren, o<strong><strong>de</strong>r</strong> sagen wir lieber<br />

172<br />

in edleren Entwicklungsphasen. Es ist länger Umwurfkleid; viele Bestandtheile<br />

bleiben ohne Zuschnitt. Die Farben sind heller, die Formen freier. Der Charakter<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Schürze, <strong>de</strong>s Hem<strong>de</strong>s prägt sich noch lebendig aus. Auch kommt in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schichtung <strong>de</strong>m Unterleibe mehr Be<strong>de</strong>utung zu als <strong>de</strong>m Oberleibe, während beim<br />

Manne gera<strong>de</strong> dieser bevorzugt zu sein scheint. Seltsam ist <strong><strong>de</strong>r</strong> in einem vorausgegangenen<br />

Capitel erwähnte Unterschied in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bezeichnung <strong><strong>de</strong>r</strong> obersten Kleidschichte.<br />

Die Frau nennt „Rock“ und „Unterrock“ das Unterleibskleid, <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann<br />

das Oberleibskleid. Dies charakterisirt genugsam <strong>de</strong>n Unterschied in <strong><strong>de</strong>r</strong> Auffassung<br />

und im Bedürfnisse bei<strong><strong>de</strong>r</strong> Geschlechter.<br />

Welchen Verirrungen und Abartungen die Bekleidung in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Culturperio<strong>de</strong>n<br />

unterliegt, haben die vorausgehen<strong>de</strong>n Capitel nachzuweisen gesucht.<br />

Da dieselben jedoch vergleichend vorgingen, ohne diese Metho<strong>de</strong> zu begrün<strong>de</strong>n,<br />

muss hier darüber noch Einiges nachgeholt wer<strong>de</strong>n. Man pflegt die hohe Cultur<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Griechen und Römer mit Vorliebe <strong><strong>de</strong>r</strong> geringern unserer Zeit und noch mehr<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> sehr geringen unseres Mittelalters entgegen zu<br />

173<br />

setzen. Der Contrast besteht, doch wird <strong><strong>de</strong>r</strong>selbe erst erklärlich, wenn man auch<br />

die griechische und römische Welt in ihrem Wer<strong>de</strong>n beschaut. Da wird <strong>de</strong>nn bald<br />

offenbar, dass auch diese nicht sofort zur höchsten Vollendung gelangte, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

sich eben so mühsam durch die Hel<strong>de</strong>n- und Ritterzeit, o<strong><strong>de</strong>r</strong> mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>n Worten<br />

durch die Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Raubens und <strong><strong>de</strong>r</strong> unbedingten Ausbeutung <strong>de</strong>s Schwächeren<br />

durch <strong>de</strong>n Stärkern hindurchwand, wie unsere mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Welt. Wie oft schon wur<strong>de</strong>n<br />

Ilias und Nibelungenlied, Odyssee und Gudrun mit einan<strong><strong>de</strong>r</strong> verglichen und<br />

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mit vollstem Rechte! Homer’s trojanische Ritterburg gleicht völlig einer jener<br />

phantastischen Burgen, wie sie Wolfram von Eschenbach nach Spanien versetzt.<br />

Wie ähnlich sind die Waffen <strong>de</strong>s gehörnten Achill mit jenen <strong>de</strong>s gehörnten Siegfried!<br />

Und das ganze wirthschaftliche Leben weist so frappant gleiche Züge auf,<br />

dass wir mit voller Ueberzeugung von einer alt-hellenischen Ritterzeit sprechen<br />

können. Für die Zeit höchster Entwicklung mangeln uns, <strong>de</strong>nen sie noch unerreichbar<br />

ferne liegt, allerdings alle Anhaltspunkte. Könnten unsere Dichter sich<br />

wohl entschliessen,<br />

174<br />

wie Aristophanes <strong>de</strong>n Krieg als einen riesigen Kothkäfer auf die Bühne zu bringen,<br />

so gross wie einen Elephanten? Wür<strong>de</strong> man es bei uns wagen, im Theater die<br />

Frösche im Wasser, die Vögel in <strong><strong>de</strong>r</strong> Luft Spottlie<strong><strong>de</strong>r</strong> singen zu lassen auf locale<br />

Krähwinkelia<strong>de</strong>n? Und wie trefflich illustrirten die Masken <strong><strong>de</strong>r</strong> Schauspieler das<br />

Thun und Treiben <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit-, ja <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadtgenossen. Dieselbe Kühnheit, dieselbe<br />

phantastische Grösse wie im Schauspiele beherrschte auch die Bühne <strong><strong>de</strong>r</strong> politischen<br />

Welt. Das Volk urtheilte über Leben und Tod <strong><strong>de</strong>r</strong> Reichen und Grossen als<br />

ob es Schauspieler beklatschte o<strong><strong>de</strong>r</strong> auspfiffe. Das Leben selbst war ihm zum<br />

Theaterstücke gewor<strong>de</strong>n. Wie lebenswahr ist doch Augustus’ Wort, das seinen im<br />

To<strong>de</strong>skampfe erblassen<strong>de</strong>n Lippen entfloh: Plaudite amici! Der erste Beherrscher<br />

<strong>de</strong>s damals bekannten Weltkreises nahm von <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt wie ein Schauspieler im<br />

letzten Acte vom Publicum Abschied. „Klatscht mir doch Beifall, Freun<strong>de</strong>!“ -<br />

Darum wird uns auch das damalige Bekleidungswesen, die künstliche Einfalt, die<br />

hochentwickelte Specialisirung, die unglaubliche Raffinirnng im Aus<strong>de</strong>nken <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Formen und Farbenzusammenstellungen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Faltung und<br />

175<br />

Drapirung <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> so lange unverständlich bleiben, bis wir selbst Aehnliches<br />

erleben. Wer von uns begriffe wohl Kaiser Nero’s Kaprice, sich nie zweimal in<br />

dasselbe Kleid zu hüllen, o<strong><strong>de</strong>r</strong> Caligula’s Einfall, seine Standbil<strong><strong>de</strong>r</strong> täglich genau<br />

mit <strong>de</strong>mselben Gewan<strong>de</strong> zu beklei<strong>de</strong>n, welches er selbst trug?<br />

Zwischen dieser extremsten Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Ueberreife und <strong>de</strong>n ersten Anfängen <strong>de</strong>s<br />

menschlichen Empfin<strong>de</strong>ns, in welchen die Schürze und später <strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel genügte,<br />

welch’ eine mannigfaltige Reihe von Epochen! Schon in <strong><strong>de</strong>r</strong> Perio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Steinwerkzeuge<br />

(in <strong><strong>de</strong>r</strong> sogenannten Steinzeit) kann man zwei Phasen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung<br />

unterschei<strong>de</strong>n. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Perio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Verwendung roher Steine, welche heute noch<br />

bei <strong>de</strong>n Bewohnern <strong><strong>de</strong>r</strong> südamerikanischen Urwäl<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong>de</strong>n Australiern, <strong>de</strong>n weniger<br />

entwickelten afrikanischen Urstämmen, insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e aber bei <strong>de</strong>n Polarnoma<strong>de</strong>n<br />

zu fin<strong>de</strong>n ist, da waren Blätterwerk, Bast, Rin<strong>de</strong>nstücke und Felle die Bekleidungsstoffe,<br />

aus welchen die Schürze entstand. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Perio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Verwendung<br />

geglätteter Steine kommen schon Fellschabemesser vor. Demnach waren die<br />

Fellklei<strong><strong>de</strong>r</strong> bereits bearbeitet. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Bronzezeit,<br />

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welche auf die Steinzeit folgte, und <strong><strong>de</strong>r</strong>en Uebergang sich durch die Pfahlbauten<br />

kennzeichnet, war bereits die Na<strong>de</strong>l erfun<strong>de</strong>n, und mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Na<strong>de</strong>l die Fellstickerei,<br />

ja schon <strong><strong>de</strong>r</strong> erste Anfang <strong><strong>de</strong>r</strong> Weberei. Damit war auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Mantel möglich gewor<strong>de</strong>n,<br />

das weite, durch <strong>de</strong>n Dorn o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Na<strong>de</strong>l zusammengehaltene <strong>Kleidung</strong>sstück.<br />

Und mit <strong>de</strong>m Mantel entstand die zweite Schichte. Es wür<strong>de</strong> viel zu<br />

weit führen, in einer vergleichen<strong>de</strong>n Studie die Ausgestaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> dritten, vierten<br />

bis siebenten Schichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung bei allen bekannten Völkern in <strong><strong>de</strong>r</strong>en verschie<strong>de</strong>nen<br />

Entwicklungsepochen darzustellen, so interessante Resultate eine solche<br />

Arbeit auch zu Tage för<strong><strong>de</strong>r</strong>n könnte.<br />

Und wozu studiren wir die Unterschie<strong>de</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Schichten bei fernen und<br />

frem<strong>de</strong>n Völkern und beobachten <strong>de</strong>n weit grössern Wechsel nicht, <strong>de</strong>n wir täglich<br />

an uns selbst vollziehen im Tag- und Nachtklei<strong>de</strong>, im Haus- und Ausgeh-, im<br />

Salon- und Arbeitsklei<strong>de</strong>? Der Unterschied in <strong>de</strong>n Schichtenzahlen <strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen<br />

Sommer- und <strong><strong>de</strong>r</strong> Winterbekleidung ist grösser als jener zwischen <strong>de</strong>n griechischen<br />

und <strong>de</strong>n persischen o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n skytischen Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

177<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht kehren wir zur innersten Schichte, zum Hem<strong>de</strong> zurück, und nur<br />

Frauen tragen förmliche Nachtklei<strong><strong>de</strong>r</strong> mit mehreren Schichten, aber selten zum<br />

Heile ihres Körpers. Zur innersten Schichte gehört auch das männliche Ba<strong>de</strong>-<br />

Negligée: die Schwimmhose. Auch hier sind die Frauen bis zur zweiten und dritten<br />

Schichte vorgerückt mit ihrem Ba<strong>de</strong>anzuge sammt <strong>de</strong>m Ba<strong>de</strong>mantel. Das griechische<br />

Chimation entsprechend aufgeschürzt, wür<strong>de</strong> reizen<strong>de</strong> Motive zu mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nem<br />

Ba<strong>de</strong>costüme liefern können, ebenso für <strong>de</strong>n Ba<strong>de</strong>mantel die Chlamis.<br />

Die Negligée-<strong>Kleidung</strong>, aus Hem<strong>de</strong>, Beinbekleidung, Corsett o<strong><strong>de</strong>r</strong> Gilet und<br />

Schlafrock, dann Strümpfen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Socken und Halbschuhen (Pantoffeln) bestehend,<br />

umfasst in <strong><strong>de</strong>r</strong> Regel drei Schichten. Sie ist gewiss die beste, anmuthigste<br />

Erfindung unserer Zeit.<br />

Zwischen dieser und <strong><strong>de</strong>r</strong> einfachen Strassen-Toilette kennen die Franzose noch<br />

eine Bekleidungsart, welche unserer Frauenwelt noch wenig geläufig ist: die mit<br />

<strong>de</strong>m schlafrockartigen Haus- und zugleich Morgen-Ausgehklei<strong>de</strong>.<br />

Für Männer existirt nur im Winter ein Unterschied zwischen <strong>de</strong>m Berufs- und<br />

<strong>de</strong>m<br />

178<br />

Ausgehklei<strong>de</strong>. Frauen aber lassen ihr Berufskleid (Hauskleid) regelmässig zu Hause<br />

und nehmen höchstens das Saloncostüm als Strassen-Toilette. Dieses Saloncostüm<br />

ist ja ohnehin das edlere Berufskleid <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau, nämlich ihres Berufs als Repräsentantin<br />

<strong>de</strong>s Hauses, als Beherrscherin <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft.<br />

Während die Berufskleidung <strong>de</strong>s Mannes bequeme Kürzung, Theilung, Oeffnung<br />

anstrebt, ist die Berufskleidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau, weil eben die Repräsentation die Haupt-<br />

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aufgabe bil<strong>de</strong>t, vorwiegend lang, geschlossen, zur Arbeit wenig geeignet. Wer<br />

aber will nicht Alles schon als Frau gelten! Wie oft geschieht es, dass das Costüm<br />

<strong>de</strong>s Dienstmädchens sich von jenem ihrer Herrin nur dadurch unterschei<strong>de</strong>t, dass<br />

es baar bezahlt ist, und jenes vielleicht noch auf Rechnung steht. Solcher Unterschied<br />

aber, so sehr er im heutigen Familienleben begrün<strong>de</strong>t sein mag, wirkt auf<br />

die ganze wirtschaftliche und damit auch Lebenslage <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft <strong>de</strong>moralisirend<br />

zurück. Die <strong>Kleidung</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen nimmt diesen nicht nur <strong><strong>de</strong>r</strong> umständlicheren<br />

Herstellung halber viel kostbare Zeit vorweg, sie ist auch die Schranke <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Arbeit für Frau und<br />

179<br />

Magd, und die Zeit ist nicht mehr ferne, wo <strong><strong>de</strong>r</strong> engbehoste, kurzberockte und<br />

darum arbeitsamere Mann wie in Italien und Nordamerika auf <strong>de</strong>n Markt gehen,<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Küche schaffen und die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> warten wird. Die Frau aber wird <strong>de</strong>m Putze<br />

zulieb, ihren wahren Beruf, die Liebe und die Pflege <strong><strong>de</strong>r</strong> Familie, immer mehr<br />

verfehlen. Doch schätzen wir uns glücklich, dass wir heutzutage noch nicht so<br />

weit vorgeschritten sind in <strong><strong>de</strong>r</strong> Cultur, und dass unsere Frauen sich noch nicht so<br />

hochgebil<strong>de</strong>t dünken, wie einstens die Römerinnen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kaiserzeit, welche nach<br />

<strong>de</strong>n Versicherungen ihrer männlichen Zeitgenossen die Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> eilfmal im Tage<br />

wechselten, und die Männer beinahe so oft wie die Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>!<br />

Haben doch auch ausgezeichnete Beobachter <strong>de</strong>s Lebens im Orient wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt<br />

constatirt, dass die Thatenlosigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Bevölkerung nicht zum geringsten Theile<br />

auf die faltenreiche, überlange, bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit hin<strong><strong>de</strong>r</strong>liche <strong>Kleidung</strong> zurückzuführen<br />

sei. So siegt die Hose <strong>de</strong>s Westens über <strong>de</strong>n Talar <strong>de</strong>s Ostens, ja noch mehr,<br />

sie hilft <strong>de</strong>ssen Träger ausrotten!<br />

Im Salonklei<strong>de</strong> concentrirt sich Alles, was die Gegenwart <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> an<br />

Reichthum<br />

180<br />

und Schönheit zu geben vermag. Es ist wenig genug. Der Frack und die Schleppe,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> grelle Gegensatz zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> dunklen Farbe <strong><strong>de</strong>r</strong> Männer und <strong><strong>de</strong>r</strong> hellen Farbe<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Frauenwelt, zwischen unschicksamer Enge und ungeschickter Weite, das<br />

sind die Motive <strong><strong>de</strong>r</strong> Anpassung unserer Festkleidung an das Heiligthum <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft,<br />

an <strong>de</strong>n Salon. Das Ballcostüm, <strong><strong>de</strong>r</strong> Staat bei Hoffesten u. s. w. be<strong>de</strong>uten<br />

nur eine geringe Steigerung <strong><strong>de</strong>r</strong> Eigenschaften <strong><strong>de</strong>r</strong> Salontoilette: nach oben grösserer<br />

Ausschnitt, nach unten längere Schleppe.<br />

Die Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Species <strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen <strong>Kleidung</strong> ist gross, die Zahl dauern<strong><strong>de</strong>r</strong>, vollen<strong>de</strong>ter<br />

Arten jedoch auffallend gering. Man begnügt sich mit Varietäten, mit halben<br />

Versuchen, mit fortwähren<strong>de</strong>m Probiren.<br />

Das vorwiegend wirthschaftliche Gepräge, das unser mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nes Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>wesen<br />

kennzeichnet, spricht sich in Combinationen aus, welche <strong><strong>de</strong>r</strong> Ersparung <strong><strong>de</strong>r</strong> Anschaffungskosten<br />

mehrfacher <strong>Kleidung</strong>sstücke und <strong><strong>de</strong>r</strong> Bequemlichkeit <strong>de</strong>s Tragens<br />

ihren Ursprung verdanken. Diese Combinationen könnte man Zwitterarten<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 81 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 82 (170)<br />

nennen, weil dieselben die Eigenschaften zweier<br />

181<br />

vorher getrennt gewesenen Arten in sich vereinigen sollen. Solche Zwitter sind z.<br />

B. die Stiefletten (Stiefelschuhe), Quäcker (Frackröcke), Jacken (Rockjackets),<br />

Mentschikoffs (Mantelröcke) u. s. w. Manche darunter, wie die cylin<strong><strong>de</strong>r</strong>artigen<br />

Commodhüte, welche <strong>de</strong>n Glanz <strong>de</strong>s Cylin<strong><strong>de</strong>r</strong>s mit <strong><strong>de</strong>r</strong> bequemeren Form <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

run<strong>de</strong>n Hüte vereinigen, die Stiefelröhren, Kamaschen u. dgl. m. können wegen<br />

ihrer abenteuerlichen Form trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> praktischen Absicht doch nicht recht durchdringen.<br />

Es gibt eben in <strong>de</strong>n Schöpfungen <strong>de</strong>s Menschengeistes noch viel <strong>de</strong>s Unvollkommenen,<br />

Urweltlichen, und unsere grosse Lehrmeisterin, die Natur, müsste<br />

sich, wenn sie eben nicht so sehr geduldig und nachsichtig wäre, über ihre recht<br />

unaufmerksamen Schuljungen, die Menschen, wahrlich schwer beklagen.<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 82 (170)


182<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 83 (170)<br />

IX.<br />

OEKONOMIK DER BEKLEIDUNG.<br />

Mann und Frau <strong>de</strong>nken wirtschaftlich ganz verschie<strong>de</strong>n über die <strong>Kleidung</strong>. Dem<br />

Manne ist sie lei<strong><strong>de</strong>r</strong> nichts als entbehrlicher Nothbehelf; könnte, dürfte er, wür<strong>de</strong><br />

er gewiss am liebsten im Costüm seines Urvaters Adam einhergehen. Er ist sogar<br />

ungerecht in seinem Urtheile über die <strong>Kleidung</strong>. Er be<strong>de</strong>nkt nicht, dass die <strong>Kleidung</strong><br />

einen Theil <strong><strong>de</strong>r</strong> Nahrung ersparen hilft, nämlich jenen, welcher als Heizmateriale<br />

<strong>de</strong>s Körpers aufgeht; er be<strong>de</strong>nkt ferner nicht, dass die <strong>Kleidung</strong> es ist, welche<br />

unser Klima besiegt, welche ihm ausser<strong>de</strong>m gestattet, sich im hohen Nor<strong>de</strong>n<br />

nie<strong><strong>de</strong>r</strong>zu-<br />

183<br />

lassen, <strong>de</strong>m Sü<strong>de</strong>n zu trotzen, überall hin weite Reisen zu unternehmen, dass endlich<br />

sie ihm das Herz warm und <strong>de</strong>n Kopf frei hält von allen Einflüssen <strong><strong>de</strong>r</strong> Aussenwelt.<br />

Und sollte <strong><strong>de</strong>r</strong> Spruch: „Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> machen Leute“ <strong>de</strong>m Manne wirklich<br />

gar nicht zugute kommen? - Die Frau allerdings beurtheilt hinwie<strong><strong>de</strong>r</strong>um <strong>de</strong>n<br />

Werth <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> etwas zu günstig, <strong>de</strong>nn wenn auch die <strong>Kleidung</strong> für sie eine<br />

Wünschelruthe ist, welche ihr alle Pforten <strong><strong>de</strong>r</strong> Freu<strong>de</strong> öffnet, alle Herzen entgegenfliegen<br />

macht, welche ihre Eitelkeit, ihren Hochmuthskitzel so süss befriedigt,<br />

welche ihr Denken und Trachten erfüllt, wie eine unmittelbar in’s Leben übertragene<br />

Dichtung, so bringt doch gera<strong>de</strong> ihr die <strong>Kleidung</strong> so manche Gefahr für Gesundheit<br />

und Tugend. Und <strong>de</strong>nnoch, - entbehrt die Frau nicht so vielerlei Vortheile<br />

<strong>de</strong>s Mannes in Stellung und Lebensgewohnheiten, ist ihre Freiheit nicht eingeschränkt,<br />

ihr Wirkenskreis beengt, ihre Berufswahl gestört, ihr Denken und Empfin<strong>de</strong>n<br />

so vielfach unterbun<strong>de</strong>n? Warum sollte sie dafür nicht ein klein wenig Erholung<br />

und Ersatz fin<strong>de</strong>n im Gedanken an ihre Schönheit und <strong><strong>de</strong>r</strong>en äussere Abzeichen<br />

und Hilfsmittel, die Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>?<br />

184<br />

Wie wenig bieten doch wir Männer <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau durch solch’ geringfügige Concession!<br />

Aber dankbar nimmt sie ein einfaches farbiges Band, eine Schleife, ja selbst<br />

eine Blume an, die sie sofort in’s Haar steckt, gehört ja doch Blume zu Blume!<br />

Freilich wäre zu wünschen, dass die Gedanken <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau an ihre Kleiduug nicht<br />

auf <strong>de</strong>n Irrwegen <strong>de</strong>s Ungeschmacks o<strong><strong>de</strong>r</strong> schädlicher Prunksucht wan<strong>de</strong>ln. Ungeschmack<br />

und Verschwendung bedingen einan<strong><strong>de</strong>r</strong>. Wer aber mit feinem Tacte das<br />

Richtige zu wählen versteht, begnügt sich auch mit Einfachem, vermag mit <strong>de</strong>n<br />

allergeringsten Mitteln <strong>de</strong>nnoch eine leidliche Wirkung zu erzielen. Daher sollte<br />

das Bestreben <strong>de</strong>s e<strong>de</strong>l<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Mannes und <strong><strong>de</strong>r</strong> gebil<strong>de</strong>ten Mutter dahin gehen,<br />

<strong>de</strong>n Sinn <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau, <strong><strong>de</strong>r</strong> Tochter rechtzeitig auf jene freilich noch wenig bekannten<br />

Wege hinzulenken, auf <strong>de</strong>nen sich wie im Märchen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zauberborn ent<strong>de</strong>cken<br />

lässt, <strong><strong>de</strong>r</strong> Zauberborn <strong>de</strong>s schöpferischen Gestaltens. In <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau<br />

macht sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanke weit besser bezahlt als das Materiale, <strong>de</strong>nn die gekaufte<br />

Façon ist es ja hauptsächlich, welche die beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en, unver-<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 83 (170)


185<br />

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hältnissmässigen Auslagen verursacht und zur Verschwendung lockt.<br />

Auf <strong>de</strong>n Stoff <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> wird heutzutage so wenig Werth gelegt, dass <strong><strong>de</strong>r</strong>selbe<br />

we<strong><strong>de</strong>r</strong> im Materiale noch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Farbe dauerhaft zu sein braucht. Wenn er nur einige<br />

Wochen hindurch, etwa höchstens während <strong><strong>de</strong>r</strong> Dauer <strong><strong>de</strong>r</strong> Saison aushält,<br />

ist’s schon genug. Damit aber hat auch unsere Industrie eine ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Richtung<br />

erhalten. Es kommt bei ihr nicht mehr auf soli<strong>de</strong> Arbeit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auf rasches Herstellen<br />

im Grossen und beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s auf die Kunst an, durch die Appretur, ja durch<br />

die Façon selbst zu täuschen. Wie viele Mo<strong>de</strong>n kamen nur <strong>de</strong>shalb auf, um einer<br />

nichtsnutzigen Combination aus Shoddy <strong><strong>de</strong>r</strong> Webwaaren-, und La<strong>de</strong>nsitzern <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Putzwaaren-Fabrikanten ohne alle Berechtigung Bahn zu brechen?<br />

Im Grossen und Ganzen aber sind die Auslagen für die Bekleidung doch weit geringer<br />

gewor<strong>de</strong>n gegenüber früheren Epochen. Heute wären Luxusverbote ganz<br />

überflüssig, <strong>de</strong>nn wie beschei<strong>de</strong>n ist z. B. eine mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Brautausstattung, selbst<br />

die einer Prinzessin gegenüber jener aus früheren Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ten! Zu Ludwig XIV.<br />

Zeiten<br />

186<br />

befürchtete die französische Regierung (königliche Declaration vom 12. December<br />

1644), dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Verbrauch <strong>de</strong>s Gol<strong>de</strong>s und Silbers für die Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong><br />

die E<strong>de</strong>lmetalle entziehen wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn in Lyon allein wur<strong>de</strong>n damals wochentlich.<br />

100.000 Livres zu Gold- und Silberstoffen verarbeitet. Heutzutage nimmt vielleicht<br />

die schmucklose Wäsche mehr <strong>de</strong>s Aufwands in Anspruch als die <strong>Kleidung</strong>,<br />

aber wie wohlthätig ist dieser Luxus!<br />

Die Beschei<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>s Volkes in Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>fragen ist gegenwärtig eine so grosse,<br />

dass es wie ein Anachronismus erscheint, wenn kürzlich die <strong>de</strong>utsche Kronprinzessin<br />

z. B. bei einem Besuche, welchen sie im Berliner Telegrafenamte machte,<br />

an <strong>de</strong>n Telegrafistinnen excentrische Toiletten missbilligend wahrnahm, o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

wenn, wie es jüngst verlautete, die Berliner Hoftheater-Intendanz <strong>de</strong>n Schauspielerinnen<br />

das Tragen <strong><strong>de</strong>r</strong> über die Stirne herabfallen<strong>de</strong>n kurzen Haare verbot! Auch<br />

das Aufsehen, welches die Präciosen einer Lady Dudley in unseren Tagen machen<br />

konnten, beweist, wie gering unsere Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen an Schmuck gestellt sind. Sie<br />

selbst fand es <strong><strong>de</strong>r</strong> Mühe Werth, ihre Diamanten auf<br />

187<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Weltausstellung zu Wien 1873 zu exponiren, und als sie im Jahre 1874 einen<br />

Theil <strong>de</strong>s Schmuckes auf <strong>de</strong>m Great-Western-Bahnhofe vermisste, da schrieben<br />

alle Zeitungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt darüber, und doch betrug <strong><strong>de</strong>r</strong> Werth <strong><strong>de</strong>r</strong>selben nicht mehr<br />

als 50.000 Pfund Sterling. Dagegen kostete eine einzige Spitzengarnitur <strong><strong>de</strong>r</strong> Königin<br />

Marie Antoinette 8 Millionen Francs. Und wie noch ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>s war es vor<br />

Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ten! Als Karl <strong><strong>de</strong>r</strong> Kühne, Herzog von Burgund, 1474 mit Kaiser Friedrich<br />

in Trier zusammentraf, da geleitete ihn ein Gefolge von dreitausend Rittern,<br />

fünftausend gemeinen Reitern und sechstausend Fussknechten, sämmtlich zu <strong>de</strong>m<br />

Zwecke beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s geklei<strong>de</strong>t und geschmückt. Karl selbst trug über <strong><strong>de</strong>r</strong> kostbaren<br />

Rüstung einen mit Gold und Diamanten überreich besetzten Mantel, zweihun<strong><strong>de</strong>r</strong>t-<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 84 (170)


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tausend Ducaten an Werth. Welcher grösste Monarch <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt wür<strong>de</strong> heute wohl<br />

bei einer Herrscherbegegnung etwas An<strong><strong>de</strong>r</strong>es anziehen, als einen schwarzen Frack<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> etwa zur beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Auszeichnung seiner Collegen, die Oberstens-Uniform<br />

eines ihrer mit seinem Namen bezeichneten Regimenter? Zu Ludwig XIV. Zeiten<br />

kam eine schöne Staats-<br />

188<br />

perrücke auf tausend Thaler. Im Jahre 1830 hingegen bemerkte Weber, <strong><strong>de</strong>r</strong> Verfasser<br />

<strong>de</strong>s Demokritos: „Ein guter run<strong><strong>de</strong>r</strong> Hut kostet gegenwärtig eilf Gul<strong>de</strong>n;<br />

sonst war das Maximum ein grosser Thaler“.<br />

Sogar all’ das, was wir gegenwärtig unter „Elégance“ verstehen, ist nur ein unscheinbarer<br />

matter Versuch. Die höchste Elégance <strong>de</strong>s Mannes besteht heute im<br />

schwarzen Fracke, schwarzen Gilet und Beinklei<strong>de</strong>, in weisser Cravatte, lichten<br />

Handschuhen und Klapphute. Die schwarze Farbe ist nun aber nicht nur die dauerhafteste,<br />

sie ist auch die wohlfeilste. Denn aller Schund, welcher die Existenz<br />

als Gewebe und Wollabfall (Shoddy o<strong><strong>de</strong>r</strong> Mungo) schon mehrmals gewechselt<br />

hat, lässt sich noch schwarz färben. Zu an<strong><strong>de</strong>r</strong>n Zeiten bestand auch für Männer die<br />

höchste Elégance in weissen Stoffen, welche bekanntlich kostspielig und ungemein<br />

heiklig zu tragen sind. (Siehe Fig. 11 b.) In Rom mussten alle Bürger in weisser<br />

Toga erscheinen, sobald <strong><strong>de</strong>r</strong> Kaiser in’s Theater kam. Auch in Griechenland<br />

war die weisse Farbe jene <strong>de</strong>s Anstan<strong>de</strong>s.<br />

Die Frauen allerdings sind auch heute nur einer Meinung darüber, dass weisse<br />

Klei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

189<br />

die höchste Festfreu<strong>de</strong> be<strong>de</strong>uten, obgleich diese als ganzer Anzug <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Blüthenhälfte <strong>de</strong>s Lebens allein zu eigen sind, und von <strong><strong>de</strong>r</strong> Sitte nur ihr gestattet<br />

wer<strong>de</strong>n. Aber wie wenig kostet ein weisses Kleid aus einfachem Atlasgewebe<br />

gegenüber <strong>de</strong>n Gold- und Silberbrocaten früherer Zeiten! Und statt <strong>de</strong>s Schmukkes<br />

aus Gold und E<strong>de</strong>lsteinen von früher, begnügt man sich jetzt mit einem grünen<br />

Myrtenkranze im Haar und einer frischen Rose am Busen, sogar am Hochzeitstage.<br />

Ueberhaupt lässt sich im Entwicklungsgange <strong><strong>de</strong>r</strong> Cultur immerdar das Bestreben<br />

nach Vereinfachung und Verwohlfeilerung beobachten. Während man früher wenige,<br />

aber sehr kostspielige Costüme besass, sind wir jetzt zwar für je<strong>de</strong>n dauern<strong>de</strong>n<br />

Anlass <strong>de</strong>s Lebens mit einem passen<strong>de</strong>n Costüme ausgestattet, dieses aber<br />

erheischt gera<strong>de</strong> nur so viel Façon und äussern Schmuck als eben unumgänglich<br />

nöthig ist. Das Nachtkleid, das Tages-Hauskleid, die Ausgeh-Toilette, das Arbeitskleid<br />

und das Festkleid, alle entsprechen gewissen Schablonen äusserster<br />

Wohlfeilheit. Die Herrenschlafröcke z. B. sind heutzutage von Edinburg bis Palermo<br />

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190<br />

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genau aus <strong>de</strong>m gleichen licht- o<strong><strong>de</strong>r</strong> dunkelgrauen Stoffe gefertigt, und tragen dieselben<br />

blauen o<strong><strong>de</strong>r</strong> hochrothen Vorstösse und Nahtverzierungen, als wären sie<br />

sämmtlich nicht nur aus einer und <strong><strong>de</strong>r</strong>selben Fabrik hervorgegangen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n sogar<br />

nach <strong><strong>de</strong>r</strong>selben Zeichnung hergestellt.<br />

Die Uniformität unserer <strong>Kleidung</strong> hat in wirthschaftlicher Beziehung zu <strong>de</strong>n<br />

fruchtbarsten Umgestaltungen geführt; seit mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts<br />

auch die Zeitperio<strong>de</strong> <strong>de</strong>s individuellen Geschmackes zu Grabe getragen<br />

wor<strong>de</strong>n ist, hat sich die Bekleidungs-Industrie in vielen Zweigen aus kleinen Anfängen<br />

zur Gross-Industrie aufgeschwungen.<br />

Der Umstand allein z. B., dass unsere Wäsche mit Weissstickereien verziert wird,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en Rapport und Dessin wenig variirt, machte die Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Plattstich-<br />

Stickmaschinen möglich, <strong><strong>de</strong>r</strong>en je<strong>de</strong> mit 128 o<strong><strong>de</strong>r</strong> 256, ja noch mehr Na<strong>de</strong>ln<br />

gleichzeitig mechanisch arbeitet, <strong>de</strong>mnach, von einem Manne in Bewegung erhalten<br />

und von einer Fädlerin bedient, an 80 bis 160 Stickerinnen ersetzen kann. In<br />

<strong>de</strong>n sechziger Jahren kamen Auszackungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Hem<strong><strong>de</strong>r</strong>än<strong><strong>de</strong>r</strong> in Mo<strong>de</strong>. Ein Fabrikant<br />

im sächsischen<br />

191<br />

Erzgebirge kam nun auf <strong>de</strong>n Gedanken, solche Zacken aus Bän<strong><strong>de</strong>r</strong>n mittelst <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Nähmaschine herzustellen, und die Bandzacken-Fabrication ist seither ein blühen<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Erwerbszweig <strong>de</strong>s Erzgebirges gewor<strong>de</strong>n.<br />

Manche Volkstrachten halten mit unglaublicher Zähigkeit an einem bestimmten<br />

Zuschnitte <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung fest. So sind z. B. die Schürzen <strong><strong>de</strong>r</strong> südslavischen<br />

Mädchen und Frauen stets oblong und an bei<strong>de</strong>n Längs-En<strong>de</strong>n mit einer Verzierung<br />

versehen, welche an <strong>de</strong>n Weberzettel erinnert. Die Slovaken in Ober-Ungarn<br />

hinwie<strong><strong>de</strong>r</strong>um tragen seit Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Mäntel, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Krägen über <strong>de</strong>n Rücken<br />

mit einem oblongen Stücke herabfallen. Bei näherer Untersuchung zeigt sich nun,<br />

dass Schürzen und Mantelkrägen nichts An<strong><strong>de</strong>r</strong>es sind, als unzugeschnittene rohe<br />

Gewebe, wie sie gera<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> beim Volke gebräuchliche Webstuhl zu liefern vermag.<br />

Und so wie jene Schürzen und Bauernmäntel, war auch die alt-dorische<br />

Tracht nichts als ein Oblong, unmittelbar <strong>de</strong>m Webstuhle entnommen, und ohne<br />

Naht <strong>de</strong>m Körper durch geschickten Faltenwurf angeschmiegt.<br />

Man kann genau die Epochen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung unterschei<strong>de</strong>n, in welchen die Heftna<strong>de</strong>l<br />

192<br />

und das Gürtelband, und in welchen später die Nähna<strong>de</strong>l und die Scheere allein<br />

regierten. Im vorwiegend praktischen Rom z. B. dominirte <strong><strong>de</strong>r</strong> Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> (vestiarius)<br />

verhältnissmässig weit früher, als in Griechenland; dort gab es sogar eigene<br />

Aermelmacher, während in Hellas, in <strong><strong>de</strong>r</strong>selben Entwicklungsperio<strong>de</strong>, noch die<br />

Fältelung <strong>de</strong>n Zuschnitt ersetzen half.<br />

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Zuerst ist die Bekleidung Erzeugniss <strong><strong>de</strong>r</strong> häuslichen Arbeit, insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Frauenhand. Sie wird mit <strong>de</strong>n einfachsten Hilfsmitteln aus Pelzen und Häuten,<br />

Bastgeflecht u. dgl. hergestellt. Dann lernt das Weib die Schafe scheeren, die<br />

Wolle spinnen, verweben. Höchstens das Walken wird von Männern ausgeführt.<br />

Neben <strong>de</strong>m Woll- kommen Hanf- und Leinengespinnst zur Geltung, aber erst<br />

dann, wenn das wan<strong><strong>de</strong>r</strong>n<strong>de</strong> Hirtenvolk zum Ackerbaue übergegangen ist. Nun<br />

kommt auch noch die Kunst <strong>de</strong>s Färbens hinzu und mit ihr das Ornament, theils<br />

als Muster eingewebt, theils mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Na<strong>de</strong>l eingearbeitet.<br />

In dieser Zeitperio<strong>de</strong> gleichen Männer- und Frauenkleidung in Stoff, Farbe und<br />

Zuschnitt einan<strong><strong>de</strong>r</strong> nahezu vollständig. Tacitus constatirt<br />

193<br />

ausdrücklich, dass sich bei <strong>de</strong>n Germanen zu seiner Zeit die Tracht <strong><strong>de</strong>r</strong> Männer in<br />

Nichts von jener <strong><strong>de</strong>r</strong> Weiber unterschied. Und auch später, wenn die Verheirathung<br />

<strong>de</strong>n Zeitpunkt zu bil<strong>de</strong>n beginnt, in <strong>de</strong>m sich die Trachten <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschlechter<br />

schei<strong>de</strong>n, bleibt die Jugend bei<strong><strong>de</strong>r</strong> Geschlechter doch noch lange gleich geklei<strong>de</strong>t.<br />

Bei Völkern, welche die Sclaverei beibehielten, war die Herstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong><br />

gewöhnlich <strong>de</strong>n Sclavinnen übertragen und blieb bis in die Zeiten höchster Cultur<br />

in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong>selben. Dieser Umstand dürfte mit eine Ursache sein, dass uns<br />

die <strong>Kleidung</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> antiken Staaten (und sie alle waren ohne Ausnahme Sclavenstaaten)<br />

so sehr stabil und in <strong>de</strong>n ersten Entwicklungsphasen beharrend erscheint. Die<br />

Sclaverei, welche an <strong><strong>de</strong>r</strong> Hausarbeit als <strong><strong>de</strong>r</strong> billigsten aller industriellen Betriebsweisen<br />

festhält, verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>t dadurch die Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Fabriken, und selbst wenn<br />

in späterer Zeit sogar wirklich Fabriken mit Hülfe einer Sclavenschaar betrieben<br />

wer<strong>de</strong>n, gelangt man doch nicht dazu, arbeitsparen<strong>de</strong> Mittel, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s Maschinen<br />

und mechanische Kräfte in <strong>de</strong>n Betrieb einzuführen. Das Alterthum erfand<br />

nur für <strong>de</strong>n<br />

194<br />

Krieg und das Theater Maschinen, im Uebrigen blieb es maschinenlos. So war<br />

<strong>de</strong>mnach auch alle Bekleidung Product reiner Handarbeit, oft mit <strong>de</strong>n primitivsten<br />

Werkzeugen angefertigt. War ja doch nur die Spin<strong>de</strong>l, nicht einmal das Spinnrad<br />

bekannt. Der Webstuhl beharrte bei einer so primitiven Construction, dass nur mit<br />

<strong>de</strong>m grössten Geschicke <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand feinere Gewebe zu Stan<strong>de</strong> kamen. Und doch<br />

wusste man auch reich ornamentirte Borduren und Muster einzuweben. Die noch<br />

vorhan<strong>de</strong>nen zahlreichen griechischen Vasengemäl<strong>de</strong>, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s aber die farbigen<br />

Thonfiguren, wahre Porträts in <strong><strong>de</strong>r</strong> Grösse von wenigen Centimetern, geben noch<br />

heute Zeugniss von <strong><strong>de</strong>r</strong> Pracht dieser Stoffe.<br />

So lange die Frauen ihre eigene, sowie auch die Männerkleidung herstellen, waltet<br />

im Trachtenwesen ihre lebendige formen- und farbencombiniren<strong>de</strong> Phantasie. Das<br />

Männerkleid ist an <strong>de</strong>n Rän<strong><strong>de</strong>r</strong>n mit Borten, Fransen, Zad<strong>de</strong>ln, Trod<strong>de</strong>ln geschmückt,<br />

die Flächen <strong>de</strong>sselben wer<strong>de</strong>n mit Ornamenten ausgefüllt, die Gürtel<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 87 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 88 (170)<br />

und Behänge, die Taschen, wo solche vorkommen, sind gestickt. In <strong>de</strong>m Momente<br />

aber, als das weibliche Geschlecht sich auf die Anfertigung<br />

195<br />

seiner eigenen <strong>Kleidung</strong> zurückzieht, verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t sich die männliche Tracht. Sie<br />

verliert an Formen- und Farbenpracht, sie wird zwar (beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s in Gestalt <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Hose) <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>s männlichen Leibes mehr angepasst, aber auch gleichzeitig<br />

ungeschickter. Schwerere Stoffe kommen auf, <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuschnitt regulirt die<br />

Form, das Deckkleid mit seinem unvermeidlichen Dach-, Sack- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Röhrenconstructions-Principe<br />

beginnt zu dominiren. Eine Zeit lang zwar erbt sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tradition<br />

<strong>de</strong>s Handwerks die hochentwickelte Technik <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauenhand fort. Wir begegnen<br />

z. B. noch im 16. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te <strong>de</strong>n „Sei<strong>de</strong>nstickern“ und „Nähtern“; bald<br />

jedoch verschwin<strong>de</strong>n auch diese letzten Ueberreste weiblichen Einflusses.<br />

Im Alterthume gelangte höchstens die Erzeugung <strong><strong>de</strong>r</strong> Webestoffe zu manufacturmässigem<br />

Betriebe, die Anfertigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> jedoch blieb stets Sache <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Hausarbeit o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Handwerks. Berühmt waren z. B. die phönicischen Wollmanufacturen<br />

und Purpurfärbereien. Aus Ägypten wur<strong>de</strong>n Leinen- und Baumwollstoffe<br />

ausgeführt. Eine eigenthümliche, <strong>de</strong>m Linnen nahekommen<strong>de</strong> Art durchscheinen<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

196<br />

Gewebe kam von <strong><strong>de</strong>r</strong> Insel Amorgos. Die Insel Kos lieferte die berühmten koischen<br />

Gewän<strong><strong>de</strong>r</strong>, welche so durchsichtig waren wie Glas. (Siehe Fig. 25.) Auch<br />

die Wollenwebereien von Samos und Milet erfreuten sich eines beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Rufes.<br />

Figur 25: Reliefbild einer Nike (Siegesgöttin) <strong>de</strong>s Praxiteles,<br />

von <strong><strong>de</strong>r</strong> Brüstung <strong>de</strong>s Tempels <strong><strong>de</strong>r</strong> Nike Apteros in Athen.<br />

Die Römer bezogen aus <strong>de</strong>n spanischen Woll-und Leinwand-Manufacturen zu<br />

Sotabis, Zoela, Tarragona und Carthagena, hauptsächlich aber aus Griechenland<br />

ihre Stoffe, wo Athen und Korinth die reichsten Stapelplätze gewor<strong>de</strong>n<br />

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waren. Die Mo<strong>de</strong> aber ging von <strong>de</strong>n üppigen Colonien in Kleinasien, Grossgriechenland,<br />

und von <strong>de</strong>n römischen Ba<strong>de</strong>orten aus. Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s Bajä gewährte <strong>de</strong>n<br />

Römerinnen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kaiserzeit Anlass und Musse genug zu Costümstudien.<br />

Die neuere Zeit begann im Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>wesen von vorne. Sie übernahm von Rom<br />

höchstens <strong>de</strong>n Schnitt <strong>de</strong>s Rockes und <strong>de</strong>s Mantels (<strong><strong>de</strong>r</strong> Tunica und Toga). Für die<br />

Mühe, mit welcher die Anfänge <strong><strong>de</strong>r</strong> Weberei im germanischen Leben durchdrangen,<br />

liefert <strong><strong>de</strong>r</strong> Umstand einen Beweis, dass im Nor<strong>de</strong>n das Wadmal, das grobe<br />

Wollenzeug, das in je<strong>de</strong>m Hause selbst gewoben ward, an Gel<strong>de</strong>s statt ging. Thorfum<br />

Karlsefni brachte 1007 rothes Tuch als Tauschmitte] nach Weinland (Neu-<br />

England in Nordamerika), und bekam für je<strong>de</strong>s spannlange Tuch ein köstliches<br />

Fell. Das Baumwollenzeug wur<strong>de</strong> in Europa erst durch die Araber verbreitet. Es<br />

kam von Kairo und hiess nach dieser Stadt (Fostat o<strong><strong>de</strong>r</strong> Fossat) Fustan, ein Wort,<br />

das sich heute in Cotton o<strong><strong>de</strong>r</strong> Cattun verwan<strong>de</strong>lt hat. Im Smaländischen Gesetze<br />

wird das Messgewand aus solchem Stoffe zum halben Werthe <strong>de</strong>s sei<strong>de</strong>nen angesetzt,<br />

was beweist, wie hoch man es schätzte.<br />

198<br />

Das Gewebe war dünner und meistens roth von Farbe.<br />

Ueberhaupt brach auch in neuerer Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Han<strong>de</strong>l <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidungs-Industrie<br />

Bahn. Wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Argonautenzug <strong>de</strong>n Pelzhan<strong>de</strong>l mit Colchis, die Normannenzüge<br />

<strong>de</strong>n Pelzhan<strong>de</strong>l mit Nordamerika einleiteten, so schloss sich auch <strong>de</strong>n Trojaner-<br />

und Kreuzzügen <strong><strong>de</strong>r</strong> Han<strong>de</strong>l an, und vermittelte <strong>de</strong>n Uebergang zuerst <strong><strong>de</strong>r</strong> Producte<br />

und dann auch die Manufactur-Techniken <strong>de</strong>s Orients nach <strong>de</strong>m Westen. Die<br />

Seefuhrleute <strong>de</strong>s Mittelalters, die Venetianer und Genuesen, brachten gelegentlich<br />

<strong>de</strong>s Transportes <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschenlast nach <strong>de</strong>m Orient, als Rückfracht Stoffe von<br />

bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>nswerther Pracht mit, und das 13. bis 15. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t nahmen mit Hülfe<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>selben im Bekleidungswesen einen Aufschwung, wie er später nie mehr wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kehrte.<br />

Grosse, mit <strong>de</strong>m Walle <strong>de</strong>s Zaubergeheimnisses umgebene Manufacturen<br />

in Süd-Italien führten zuerst orientalische Techniken in Europa ein. Zu Palermo<br />

entstand zu En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 12. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts die königliche Manufactur, das „Hôtel<br />

<strong>de</strong> Tiraz“, welche nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Beschreibung <strong>de</strong>s sicilianischen Geschichtschreibers<br />

Hugo Falcandus aus<br />

199<br />

vier Haupt-Ateliers für einfache Gewebe, wie Taffet, Levantin, Gros <strong>de</strong> Naples,<br />

dann für Sammt und Atlas, weiters für geblümte Zeuge (Damaste) und gemusterte<br />

(mit Kreisen und sonstigen<br />

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Figur 26: Frauengestalten in Florentiner Kostümen nach Domenico Ghirlandajo’s<br />

(1449 bis ungefähr 1498) Gemäl<strong>de</strong>n: „Maria und Elisabeth“ und „die Geburt <strong><strong>de</strong>r</strong> Maria“.<br />

Motiven übersäte Stoffe), endlich für Goldstoffe, Buntgewebe und Stickereien<br />

bestand. Aus diesem Atelier gingen die Krönungsornate und die Prachtgewän<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Herrscher, sowie <strong><strong>de</strong>r</strong> Hei-<br />

200<br />

ligenstatuen und Reliquien hervor, und als sich später auch die Frauenwelt dieser<br />

meist gestickten, mit E<strong>de</strong>lsteinen und Perlen übersäten Stoffe bemächtigte, da<br />

hatten viele Kunsthandwerker Italiens, und später Frankreichs und Deutschlands<br />

vollauf zu thun. Die Hauptsache dabei aber blieb, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Weber o<strong><strong>de</strong>r</strong> Sticker<br />

zugleich Künstler war, und in vollster Uebereinstimmung mit <strong>de</strong>m orientalischen<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>m Stile <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit die Dessins entwarf. (Fig. 26 c.) Wo wäre heute wohl<br />

ein Weber o<strong><strong>de</strong>r</strong> Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> zu ent<strong>de</strong>cken, <strong><strong>de</strong>r</strong> aus sich heraus Solches ohne Fehl<br />

schaffen könnte?<br />

Es ist nicht möglich, im engen Raume dieses kleinen Buches eine Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Be-kleidungs-Industrie zu bieten. Wir können daher die Entfaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> spanischen<br />

und später nie<strong><strong>de</strong>r</strong>ländischen Wollengewerbe, <strong><strong>de</strong>r</strong> Lyoner Sei<strong>de</strong>n-Industrie, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Pariser Gobelinweberei, <strong><strong>de</strong>r</strong> Woll- und Baumwoll-Manufacturen von Manchester<br />

und Birmingham, <strong><strong>de</strong>r</strong> Spitzen-Industrie Venedigs, Brabants und Nottinghams, <strong>de</strong>s<br />

Erzgebirges und Nord-Frankreichs, <strong><strong>de</strong>r</strong> Stickerei <strong>de</strong>s Bregenzerwal<strong>de</strong>s und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schweiz, sowie <strong><strong>de</strong>r</strong> Vogesen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Netzerzeugung im Elsass, <strong><strong>de</strong>r</strong> Herstellung<br />

201<br />

künstlicher Blumen, Schmuckfe<strong><strong>de</strong>r</strong>n und an<strong><strong>de</strong>r</strong>n Putzes in Paris und Wien, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Passementerie und Gorlarbeit im Erzgebirge, <strong><strong>de</strong>r</strong> Herstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schmelzperlen,<br />

Glasknöpfe u.s.w. um Gablonz und Offenbach etc. etc. nur aufzählungsweise berühren,<br />

und nur bemerken, dass die Herstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gespinnste aus Wolle,<br />

Baumwolle, Flachs, Hanf, nahezu vollständig <strong>de</strong>m mechanischen Betriebe überantwortet<br />

ist, dass aber auch die Weberei heutzutage mit bemerkenswerther<br />

Raschheit <strong>de</strong>m mechanischen Webstuhle (Kraftstuhle) anheimfällt, und nur mehr<br />

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die Verarbeitung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gewebe zu Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand verblieben ist. Aber selbst<br />

hier hat sich nicht nur die Nähmaschine allgewaltig Bahn gebrochen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in<br />

grossen (beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s Militärausrüstungs-) Confections-Anstalten wird auch z. B.<br />

das Zuschnei<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Stoffe in Stössen durch rotiren<strong>de</strong> Bandmesser mittelst<br />

Dampfkraft besorgt. Die Schuhfabrication ist nahezu vollständig in maschinenmässigen<br />

Betrieb übergegangen, und arbeiten z. B. Paris für Südamerika, England<br />

für seine Colonien, Wien für die Laplata-Staaten und Australien.<br />

202<br />

Die meisten neuen Maschinen hat die Bekleidungs-Industrie <strong>de</strong>m Erfindungsgeiste<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> Thatkraft Nordamerika’s zu verdanken, freilich auch die Erzeugung<br />

<strong>de</strong>s Schun<strong>de</strong>s (Shoddy), welche dort eine völlige Shoddy-Geldaristokratie gebar.<br />

Europa hat nun in <strong><strong>de</strong>r</strong> Herstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Massenwaaren <strong>de</strong>n Orient weit überflügelt,<br />

in gewissen Zweigen <strong><strong>de</strong>r</strong> feinsten Handarbeiten jedoch sind und bleiben wir <strong>de</strong>m<br />

Orient unterthan. Mögen auch die Fez für die Türkei in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schweiz und im Böhmerwal<strong>de</strong><br />

entstehen, die buntbedruckten Baumwollstoffe für Persien im Elsass, in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Schweiz, in Vorarlberg fabricirt wer<strong>de</strong>n, mögen selbst Perlstickereien für orientalische<br />

Pantoffel in Rumburg o<strong><strong>de</strong>r</strong> zu Pressnitz im Erzgebirge gewebt wer<strong>de</strong>n,<br />

die geknüpften teppichartigen Stoffe Persiens, die Shawls von Cachemir wer<strong>de</strong>n<br />

doch immerdar einzig dastehen in ihrer originalen, kunstvollen und Kunstempfindung<br />

wecken<strong>de</strong>n Art.<br />

Und warum soll die Bekleidungs-Industrie <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt nicht ineinan<strong><strong>de</strong>r</strong>greifen? In<br />

<strong>de</strong>n Hauptstädten und Weltcentren sammeln sich die Confections-Industrien an.<br />

Die Herstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Theile und <strong><strong>de</strong>r</strong> Stoffe wird in <strong>de</strong>n Provinzorten<br />

203<br />

besorgt. In ganz entlegenen Gebirgsdörfern, wo die Menschen Kaffee und Kartoffeln<br />

allein, und auch diese Nahrungsmittel nicht in hinreichen<strong><strong>de</strong>r</strong> Menge geniessen<br />

können, schaffen die Feeenhän<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> opferbereiten Armuth die zauberhaftesten<br />

Spitzengebil<strong>de</strong>. Ach ja, <strong>de</strong>n Trägerinnen dieser Hän<strong>de</strong> ergeht es beinahe, wie<br />

<strong>de</strong>m armen Wurme, <strong><strong>de</strong>r</strong> sein Kleid für <strong>de</strong>n Auferstehungstag zum Schmetterlinge<br />

mühsam spinnt, und am Auferstehungstage sterben muss, weil seine Arbeit von<br />

glücklichen Menschen getragen wer<strong>de</strong>n will. Der Hungertyphus ist <strong><strong>de</strong>r</strong> allzuhäufige<br />

Gast jener Spitzen-Industriegegen<strong>de</strong>n und erlöst die Entbehren<strong>de</strong>n durch ein<br />

jähes En<strong>de</strong>.<br />

So möge dieses Capitel, das mit einer Dissonanz begonnen hat, auch mit einer<br />

Dissonanz en<strong>de</strong>n, sowie es sich ökonomischen Betrachtungen ziemt, die ja stets<br />

zu <strong>de</strong>m Endresultate führen müssen, dass unser Wollen mit unserem Können ewig<br />

im Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruche bleibt.<br />

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X.<br />

DIE CULTUR DES LEIBES UND DER SINNE.<br />

Nichts cultivirt <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch schwerer als sich selbst. Erst auf <strong>de</strong>m langen und<br />

nicht eben angenehmen Wege <strong><strong>de</strong>r</strong> Sclaverei, <strong><strong>de</strong>r</strong> Knechtschaft, <strong><strong>de</strong>r</strong> Hörigkeit, wird<br />

er allmälig zu Gunsten frem<strong>de</strong>n Interesses zwangsweise gezähmt, gedrillt, gezüchtet.<br />

Aber sich selber zu zähmen, fällt ihm nicht ein. Einen Theil <strong><strong>de</strong>r</strong> „Domestication“<br />

übernimmt dann später die Kirche. Sie bezwingt die Geister, sie uniformirt<br />

die Herzen. Wenn aber nach vielen Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ten endlich <strong><strong>de</strong>r</strong> erwachen<strong>de</strong> Freiheitsdrang<br />

die Schranken kirchlicher Satzung, welche sich ja sogar auf das Essen<br />

und Trinken, auf die<br />

205<br />

Liebe und die Ehe, auf alle Vorkommnisse <strong>de</strong>s Lebens erstreckten, nie<strong><strong>de</strong>r</strong>reisst,<br />

dann kommt erst recht <strong><strong>de</strong>r</strong> ungeschlachte „Adam“ wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zum Vorschein. Mit<br />

Mühe und auf allerlei Umwegen setzt nun die „Gesellschaft“ das undankbare<br />

Domesticationswerk fort, bis endlich auch ihr strenges, allen Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen sich<br />

wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar schnell anschmiegen<strong>de</strong>s Gesetz, die Sitte und die Mo<strong>de</strong>, durch die individuelle<br />

Willkür und Caprice gebrochen wird. Dann herrscht wie<strong><strong>de</strong>r</strong> unter <strong>de</strong>m<br />

Deckmantel <strong><strong>de</strong>r</strong> Ueberfeinerung die Anarchie <strong><strong>de</strong>r</strong> Urzeit.<br />

Diesen Kreislauf <strong><strong>de</strong>r</strong> Veredlung haben schon viele Nationen vollen<strong>de</strong>t und fast mit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Genauigkeit <strong>de</strong>s Zeigers eines Uhrwerkes die einzelnen Phasen <strong><strong>de</strong>r</strong> Reihe nach<br />

aufgezeigt. Darum ist es nicht schwer, aus ihrer Geschichte zu lernen.<br />

Aber das Ergebniss befriedigt wenig; bei <strong>de</strong>n meisten Völkern war die Pflege <strong>de</strong>s<br />

Leibes, <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinne, zu jener Zeit noch roh geblieben, in welcher <strong><strong>de</strong>r</strong> Geist durch<br />

.Religion, Sitte und Kunst eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Verfeinerung erlangt hatte. Und als<br />

später auch die materielle Seite <strong>de</strong>s Menschen verfeinert wor<strong>de</strong>n war, da hatte<br />

206<br />

man die geistigen Fähigkeiten bereits verprasst und <strong><strong>de</strong>r</strong> Verwil<strong><strong>de</strong>r</strong>ung preisgegeben.<br />

So ist die Cultur stets gespalten, und nur ein einziges Volk hat in einem einzigen<br />

Momente die volle Vereinigung geistiger und sinnlicher Vollendung erlebt:<br />

das hellenische zu Pericles’ Zeit.<br />

Darum zieht es uns aber auch stets mit so unwi<strong><strong>de</strong>r</strong>stehlichem Drange nach jenem<br />

I<strong>de</strong>ale menschlicher Entwicklung hin. Wer<strong>de</strong>n wir Deutsche, die wir unter allen<br />

Völkern <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong> in Sprachbau, Gedankenfülle und Civilisationstrieb <strong>de</strong>n Alt-<br />

Hellenen zunächst kommen, Aehnliches erreichen? Wir können es, wenn wir<br />

ernstlich wollen und uns rechtzeitig vorbereiten für jenen noch bevorstehen<strong>de</strong>n<br />

glücklichen Moment.


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 93 (170)<br />

In welchem Zusammenhange steht aber die Bekleidung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Cultur <strong>de</strong>s Leibes<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinne?<br />

Da die <strong>Kleidung</strong> als künstliche Haut und als Stellvertreterin <strong><strong>de</strong>r</strong> natürlichen, hinsichtlich<br />

einzelner Functionen angesehen wer<strong>de</strong>n muss, lässt sich auf die innigste<br />

Wechselwirkung bei<strong><strong>de</strong>r</strong> Häute schliessen.<br />

Ja, wenn wir recht genau nachforschen, ent<strong>de</strong>cken wir, dass in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hautpflege<br />

selbst<br />

207<br />

Anfänge <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung vorkommen. Man salbte sich im Winter mit Pflanzenfetten<br />

zum Schütze gegen die Kälte, im Sommer zur Vermin<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s Schweisses,<br />

zur Abwehr <strong><strong>de</strong>r</strong> Insectenstiche. Livius und Dioscori<strong>de</strong>s rühmen, alten Ueberlieferungen<br />

zufolge, <strong><strong>de</strong>r</strong> Oelsalbe eine grössere Wärmewirkung nach, als <strong>de</strong>m Weine.<br />

Die Westindier hingegen verwen<strong>de</strong>ten eine Salbe, Roucou genannt, nahezu an<br />

Stelle <strong><strong>de</strong>r</strong> Sommerhandschuhe. Die Zigeuner und die oberungarischen Rastelbin<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

schmieren gegen <strong>de</strong>n Winter zu sowohl Haut als Hem<strong>de</strong> mit Speck ein, und<br />

waschen sich viele Monate hindurch nicht. Bei allen Völkern, welche die Beine<br />

nicht beklei<strong>de</strong>n, ist das Salben <strong><strong>de</strong>r</strong>selben Sache täglichen Gebrauches. Wir brauchen<br />

dabei nicht erst an die rührendschöne Sage zu erinnern, wie Christi aufmerksame<br />

Schülerin und Freundin Martha ihm diesen Liebesdienst erwies.<br />

In Rom lehrte M. Salvius Otho, <strong><strong>de</strong>r</strong> nachmalige Kaiser, einer Bemerkung <strong>de</strong>s Naturforschers<br />

und Technologen Plinius zufolge, seinen in Dingen <strong><strong>de</strong>r</strong> Ueppigkeit<br />

höchst gelehrigen Zögling Nero die Metho<strong>de</strong>, die Fusssohlen mit einer dicken<br />

Salbe zu bestreichen. Damals unter-<br />

208<br />

schied man genau die Streichsalben (Stypsis o<strong><strong>de</strong>r</strong> pflasterartige) und die Benetz-<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Riechsalben, welche wir noch später besprechen wer<strong>de</strong>n. Scha<strong>de</strong>, dass Ovid<br />

im Bruchstücke seines Gedichtes von <strong>de</strong>n Schönheitsmitteln nur jene für das Gesicht<br />

besingt. Unter diesen führt er Gesichtslarven aus Teig an, so z. B. aus feingeriebenem,<br />

mit kaltem Wasser benetzten Mohn, ferner eine zweite aus 5 Gramm<br />

Fenchel und 10 Gramm Myrrhe, einer Handvoll verwelken<strong><strong>de</strong>r</strong> Rosen, dazu Weihrauch<br />

und Ammonssalz von gleichem Gewichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Rosen und endlich Gerstenschleim.<br />

Diese Larven wur<strong>de</strong>n dick aufgetragen und vorzüglich über Nacht auf<br />

<strong>de</strong>m Gesichte gelassen. Zu einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Recepte einer Gesichtspasta, die aus<br />

gerollter Gerste, einem gleichen, mittelst zehn Eiern befeuchteten Quantum Linsen,<br />

je<strong>de</strong>s etwa 654 Gramme schwer, besteht, welche zusammen getrocknet und<br />

gemahlen wer<strong>de</strong>n, wozu noch 3 . 5 Gramme gestampften Hirschgeweihs kamen,<br />

und, nach einer Durchsiebung <strong>de</strong>s Gemisches weiters zwölf entschalte und zerriebene<br />

Narcissenzwiebeln, ferner 3 . 5 Gramm Spelt und Gummi und endlich neunmal<br />

so viel Honig, bemerkt <strong><strong>de</strong>r</strong> galante Dichter:<br />

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„Jegliche, die ihr Gesicht mit solchem Mittel benetzet,<br />

Wird sich glänzen<strong><strong>de</strong>r</strong> selbst sehen, als ihr Spiegel es ist!“<br />

Mehr <strong>de</strong>s Erfolges könnte auch ein Barnum nicht versprechen!<br />

Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Damen wollen ent<strong>de</strong>ckt haben, dass das Tragen feiner Le<strong><strong>de</strong>r</strong>handschuhe,<br />

Tag und Nacht ununterbrochen fortgesetzt, die zarteste Haut erzeuge und es<br />

nimmt nur Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>, dass man nicht reichlicher schon für <strong><strong>de</strong>r</strong>artige Hän<strong>de</strong>- und<br />

Gesichtshaut-Schoner Sorge getragen hat. Die Schleier, die Tülle, einzelne Gattungen<br />

Crêpe (frou-frou beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s) von heute, fin<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n durchsichtigen, serischen<br />

Gewän<strong><strong>de</strong>r</strong>n Griechenlands und Roms ihre Pendants als Conservirungsmittel<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Haut vor Wind und Sonnenstrahlen.<br />

Vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Nässe schützen sie freilich nicht, und dagegen bleibt auch heute <strong>de</strong>n<br />

Frauen kein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Mittel übrig, als Regenschirme und - Flucht. Denn unsere<br />

wasserdichten Regenmäntel verdienen ihren Namen wie „lucus a non lucendo“<br />

und Kautschukmäntel schicken sich doch nur für Herren.<br />

Die römischen Stutzer, <strong>de</strong>nen ja <strong><strong>de</strong>r</strong> Kautschuk unbekannt war, bedienten sich <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Le<strong><strong>de</strong>r</strong>-<br />

210<br />

mäntel (Paenulae scorteae). Martial, <strong><strong>de</strong>r</strong> heitere Dichter, begleitete ein Weihnachts-<br />

(römisch: Saturnalien-) Geschenk an einen Freund mit folgen<strong>de</strong>m Verse:<br />

„Schreitest du immerhin auch bei heiterem Himmel <strong>de</strong>s Weges,<br />

Fehle für plötzliche Fluth nimmer <strong><strong>de</strong>r</strong> Le<strong><strong>de</strong>r</strong>ne dir!“<br />

Das feuchte Klima veranlasste die Römer vielerlei Mäntel zu erfin<strong>de</strong>n: das Sagum,<br />

die Lacerna, die Laena (mit Kapuze), die Endromis. die Paenula u.s.f. Und<br />

in <strong>de</strong>mselben Rom, das sein ständiges Aprilwetter nur noch mit Salzburg zu theilen<br />

scheint, führten die Cardinäle seit<strong>de</strong>m 17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te aussen an ihrer Kutsche<br />

<strong>de</strong>n berühmten rothen Regenschirm mit sich. Heutzutage wollen unsere Kautschuk-Kapuzen,<br />

-Mäntel, -Ueberschuhe nicht recht durchdringen. Die Ursache<br />

liegt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Enge dieser Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> und in <strong>de</strong>m Mangel an Ventilations-Oeffnungen,<br />

worüber weiter unten die Re<strong>de</strong> sein wird. Man kehrt doch immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zum<br />

Wollstoffe zurück, welcher entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> brettartig dicht gewalkt o<strong><strong>de</strong>r</strong> mittelst essigsaurer<br />

Thoner<strong>de</strong> einigermassen wasserdicht gemacht ist. In Alt-Hellas trug man in<br />

<strong>de</strong>n häufigen Re-<br />

211<br />

gentagen <strong>de</strong>s Winters ein aussen und innen zottiges <strong>Kleidung</strong>sstück, die Chlaina,<br />

und waren überhaupt die Wollklei<strong><strong>de</strong>r</strong> hinsichtlich ihrer Dichtigkeit genau nach<br />

<strong>de</strong>n Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Jahreszeit abgestuft. Dort wur<strong>de</strong>n in<strong>de</strong>ssen neben <strong>de</strong>n<br />

Wollstoffen auch Leinen getragen, welche in Rom nie recht aufkommen wollten.<br />

Der Unterschied zwischen Sommer- und Wintertracht war im Alterthum mehr in<br />

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<strong>de</strong>n Stoffen, als in <strong><strong>de</strong>r</strong> Form <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> wahrzunehmen. Bei uns, <strong>de</strong>n zwiebelartig<br />

mit Schichten Beklei<strong>de</strong>ten, ist es die geringere o<strong><strong>de</strong>r</strong> grössere Schichtenzahl, welche<br />

<strong>de</strong>n Ausschlag gibt, während auch bei uns wie in Rom klimatische Ursachen<br />

das Tragen dünner, glatter, kühler Leinen-Unterklei<strong><strong>de</strong>r</strong>, welches beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s seit<br />

<strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts allgemein in Gebrauch kam, wie<strong><strong>de</strong>r</strong> allgemach<br />

beseitigen. Unserem Klima, welches an plötzlichen Sprüngen von <strong><strong>de</strong>r</strong> Tageshitze<br />

zur Abendkühle, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Sonnengluth zum Regenschauer überreiche<br />

Abwechslung bietet, entspricht die Baumwolle am besten. Sie war nach Indien<br />

zuerst in Alt-Aegypten, dann in seiner höchsten Culturperio<strong>de</strong> auch in Alt-Hellas<br />

an <strong><strong>de</strong>r</strong> Stelle <strong><strong>de</strong>r</strong> Linnenkleidung ge-<br />

212<br />

wählt und lange Zeit hindurch beibehalten wor<strong>de</strong>n. Die europäischen Armeen,<br />

welche bis zu <strong>de</strong>n sechziger Jahren unseres Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts mit Leinenwäsche versehen<br />

waren, wur<strong>de</strong>n zu dieser Zeit auf Grund vielfacher Erfahrungen und Studien<br />

durchgängig mit Baumwollwäsche ausgestattet, eine Thatsache, welche auch <strong>de</strong>n<br />

Hausfrauen und Müttern einen wichtigen Fingerzeig darbietet.<br />

Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar aber muss es erscheinen, dass die Mo<strong>de</strong> mächtiger ist, als das Klima,<br />

dass im heissen Theile Australiens und Südamerika’s die französische <strong>Kleidung</strong><br />

getragen wird, als lustwan<strong>de</strong>lte man auch dort im Bois <strong>de</strong> Boulogne. Das nordische<br />

Deckkleid in südlicher Wärme! Eher können wir verstehen, dass sich unsere<br />

freiwillig Gefangenen <strong>de</strong>s französischen Costüms im Sommer in die Villegiaturen<br />

retten, wie es einst die schafwollgeklei<strong>de</strong>ten Römer thaten, die wie die Zugvögel<br />

im Frühlinge Rom verliessen, und nach <strong>de</strong>m Sü<strong>de</strong>n und Nor<strong>de</strong>n ausflogen.<br />

Aber wie kommt es, dass die Nachkommen jener Römer, welche ihr Land stolz<br />

als Ohnehosenland vom Hosengebiete Galliens schie<strong>de</strong>n,<br />

213<br />

nun durchaus behost sind? Ist das Klima kälter gewor<strong>de</strong>n, o<strong><strong>de</strong>r</strong> ist’s wirklich nur<br />

die Macht <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong>? Die Geschichte spricht für das letztere. Auf <strong>de</strong>n Balearen,<br />

diesen schönen Inseln im Mittelmeere, wohnten zur Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Besetzung durch die<br />

Keltiberer und Phönicier ganz nackte Menschen. Darum führten diese Inseln damals<br />

<strong>de</strong>n Namen: Gymnesien. Noch zu Caesar’s Zeit trugen die Germanen in einem<br />

Klima, das infolge <strong><strong>de</strong>r</strong> damals weit grössern Aus<strong>de</strong>hnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Wald- und<br />

Sumpfflächen gewiss rauher war als heute, durchwegs nur Mäntel (Pelze), aber<br />

nicht Hosen. Die benachbarten Gallier dagegen waren in lange Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong>, einen<br />

buntgewürfelten Ueberrock und einen ebenso gemusterten mantelartigen Umhang<br />

geklei<strong>de</strong>t. Das gewürfelte Muster <strong>de</strong>utet darauf hin, dass <strong>de</strong>n Galliern die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />

Deckklei<strong>de</strong>s vorschwebte. Sie waren offenbar in <strong><strong>de</strong>r</strong> Cultur weit voraus und hatten<br />

vielleicht auf <strong>de</strong>m Landwege über das Skytenreich (Russland) die Bekleidungstechnik<br />

von Kleinasien o<strong><strong>de</strong>r</strong> Persien überkommen. Die Germanen begannen erst<br />

im 5., die Langobar<strong>de</strong>n erst im 6. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Hosen zu tragen und soll König<br />

A<strong>de</strong>loald (616-626) <strong><strong>de</strong>r</strong> erste Hosen-<br />

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freund gewesen sein. Bei <strong>de</strong>n gemeinen Leuten in Deutschland kamen die Hosen<br />

erst im 13. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t allgemein in Gebrauch, allerdings, nach<strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> Rock lange<br />

schon die Beine mit be<strong>de</strong>ckt hatte. Die Guanchen, die alten Bewohner <strong><strong>de</strong>r</strong> canarischen<br />

Inseln, wenigstens jener von Gomore und Palma, gingen gleich <strong>de</strong>n<br />

Botoku<strong>de</strong>n in Südamerika noch zur Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> grossen spanischen und portugiesischen<br />

Ent<strong>de</strong>ckungsreisen vollständig nackt, während man heute dort nur mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne<br />

Trachten sieht. Doch genug <strong><strong>de</strong>r</strong> Beispiele für die gänzliche Umgestaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung<br />

in <strong>de</strong>mselben Klima.<br />

Die Mo<strong>de</strong> verweichlicht, sie gewöhnt an die Bedürfnisse jenes Volkes, welches<br />

die Mo<strong>de</strong> dictirt. Und da dieses Volk stets ein beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s vorgeschrittenes ist, geht<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Verweichlichungsprocess ungemein rasch und gründlich vor sich. Er kommt<br />

einer Eroberung durch Waffenmacht nahezu gleich und Krösos hatte, wie Herodot<br />

in seiner schlichten Weise erzählt, ganz recht, wenn er Cyrus auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzte,<br />

dass er die Ly<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht zu Sclaven zu machen brauche, um ihrer sicher zu sein,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n dass es genüge, ihnen <strong>de</strong>n Besitz kriegerischer Waffen zu unter-<br />

215<br />

sagen, ihnen zu gebieten, Leibröcke unter <strong>de</strong>n Mänteln zu tragen, und hohe Schuhe<br />

anzulegen, ihre Knaben im Cither- und Harfenspiel, sowie in <strong><strong>de</strong>r</strong> - Krämerei zu<br />

unterrichten. „Da wirst du sehen, o König,“ schloss Krösos seinen Rath, <strong>de</strong>n ein<br />

englischer Colonial-Minister auf <strong>de</strong>m Baumwollsacke sitzend ausgeheckt haben<br />

könnte, „da wirst du sehen, wie sie alsbald Weiber aus Männern gewor<strong>de</strong>n sind,<br />

und dann hast du nicht mehr von ihnen einen Abfall zu befürchten“.<br />

Lange Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> machen Männer weibisch. Dies beweist <strong><strong>de</strong>r</strong> ganze Orient, in <strong>de</strong>m<br />

noch je<strong>de</strong>n Sieger, trotz vortrefflicher kriegerischer Anlagen und durchaus männlichen<br />

Charakters in <strong>de</strong>m Augenblicke die Schwäche <strong>de</strong>s Besiegten überkam, als<br />

er <strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>n Männern eigene Frauenröcke anzog, von <strong>de</strong>n Persern angefangen,<br />

welche die langen Me<strong><strong>de</strong>r</strong>röcke annahmen, bis herab zu <strong>de</strong>n Türken, welche mit<br />

Byzanz auch die byzantinische Weichlichkeit erbten.<br />

Nur selten ermannte sich ein Volk zur Vereinfachung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, zur „Vermännlichung“<br />

möchten wir fast sagen. Nur Athen erlebte in seiner höchsten<br />

Blüthezeit eine solche glückliche Epoche. Thukydi<strong>de</strong>s erzählt diese<br />

216<br />

Thatsache in seiner geistvollen Geschichte <strong>de</strong>s peloponnesischen Krieges mit folgen<strong>de</strong>n<br />

Worten: „Die, welche zuerst die Waffen abgelegt und in min<strong><strong>de</strong>r</strong> strenger<br />

Lebensweise sich einer grösseren Bequemlichkeit zugewen<strong>de</strong>t haben, sind die<br />

Athener, und es ist nicht so gar lange her, seit in <strong>de</strong>n reicheren Stän<strong>de</strong>n die älteren<br />

Leute aufgehört haben, aus Hang zur Weichlichkeit leinene Untergewän<strong><strong>de</strong>r</strong> zu<br />

tragen und <strong>de</strong>n Haarwuchs in einem Wulst vermittelst gol<strong>de</strong>ner als Heuschrecken<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 97 (170)<br />

geformter Na<strong>de</strong>ln auf <strong>de</strong>m Scheitel zu befestigen. Bei <strong>de</strong>n stammverwandten Jonern<br />

hat sich diese Tracht unter <strong>de</strong>n älteren Leuten sehr lange erhalten“.<br />

In unsere Sprechweise übersetzt, wür<strong>de</strong> Thukydi<strong>de</strong>s’ Erzählung etwa be<strong>de</strong>uten,<br />

dass mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zopfzeit auch die Leinenwäsche verschwand, weil man sie für verweichlichend<br />

hielt. Auch wir erlebten gera<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zopfs eine Sansculotte-<br />

und sodann eine Turner- (Rousseau-, Salzmann- und Jahn-) Epoche, in<br />

welcher man aller Verweichlichung <strong>de</strong>n Krieg erklärte. Aber die glücklichen<br />

Athener setzten das durch, was bei uns nur frommer Wunsch einiger edlen<br />

Schwärmer blieb. Dafür grassiren bei uns die<br />

217<br />

Kaltwasserheilanstalten, ähnlich wie in Rom von <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit ab, als <strong><strong>de</strong>r</strong> kluge Musa<br />

<strong>de</strong>m Caesar Augustus anrieth, seine von dichten, sechsfachen Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>n und warmen<br />

Bä<strong><strong>de</strong>r</strong>n geschwächte und unendlich empfindlich gewor<strong>de</strong>ne Haut durch kalte<br />

Douchen zu kräftigen. Später kamen in Rom auch noch Luftbä<strong><strong>de</strong>r</strong> auf, die Apricationes,<br />

von welchen <strong><strong>de</strong>r</strong> jüngere Plinius erwähnt: „in sole, si caret vento, ambulat<br />

nudus“. Man nahm diese Luftbä<strong><strong>de</strong>r</strong> auch im Winter, im Sonnenschein liegend<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> gehend, und gänzlich nackt. So führt das eine Extrem zum an<strong><strong>de</strong>r</strong>n!<br />

Wir haben bisher angenommen, nur <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch än<strong><strong>de</strong>r</strong>e mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong> die Empfindlichkeit<br />

seiner Haut, während das Klima genau gleich bleibe. Nach <strong>de</strong>n Ergebnissen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> neueren Naturforschung dürfte aber doch schon in historischer Zeit<br />

in allen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt eine Aen<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s Klima’s eingetreten sein. In <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Perio<strong>de</strong> von 21.000 Jahren wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt sich nämlich <strong><strong>de</strong>r</strong> Cyclus einer Aen<strong><strong>de</strong>r</strong>ung in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Stellung <strong><strong>de</strong>r</strong> grossen Achse unserer Erdbahn, welche bewirkt, dass 10.500<br />

Jahre hindurch die gleichen Jahreszeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Erdhälfte bis um sieben Tage<br />

länger wer<strong>de</strong>n. Dies hat eine grös-<br />

218<br />

sere Erwärmung <strong><strong>de</strong>r</strong> einen, eine gleichzeitig vermehrte Abkühlung <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Erdhälfte zur Folge, welche sich inzwischen bis weit von <strong>de</strong>n Polen herab mit Eis<br />

und Meeresfluth be<strong>de</strong>ckt. Diese Eiszeit lässt sich auf <strong><strong>de</strong>r</strong> nördlichen Erdhälfte in<br />

ihren Wirkungen noch genau beobachten. An <strong>de</strong>n Ufern <strong>de</strong>s Genfersee’s, welcher<br />

damals zum grössten Theile mit Gletschereis ausgefüllt war, sind die in <strong>de</strong>n Felsen<br />

eingerissenen Spuren <strong>de</strong>s Eisstroms <strong>de</strong>utlich zu erkennen. Die höchste geschichtlich<br />

verbürgte Wärmezeit fiel in das Jahr 1248 nach Christi Geburt, als<br />

Friedrich II., <strong><strong>de</strong>r</strong> Hohenstaufe, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Kaiserthron inne hatte. Demnach<br />

kann das Volk Alt-Aegyptens, das dieses Land im Jahre 9252 vor Christi Geburt<br />

möglicherweise schon besie<strong>de</strong>lt hatte, seither <strong>de</strong>n Cyclus <strong><strong>de</strong>r</strong> allmäligen Erwärmung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> nördlichen Erdhälfte ganz durchgemacht haben. Wir aber befin<strong>de</strong>n uns<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Perio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Erkältung und dürfte im Jahre 11.748 unserer Zeitrechnung<br />

Paris im Polareise stecken, sonach kaum mehr in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong> tonangebend sein<br />

können. O<strong><strong>de</strong>r</strong> wird man dann vielleicht auch in <strong>de</strong>n Tropen eine Pariser Polareistracht<br />

mit Eisbären-Jaquets und Filz-<br />

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Pantalons noch nicht allzuwarm fin<strong>de</strong>n, weil sie mo<strong><strong>de</strong>r</strong>n ist?<br />

Wir dürfen uns nun wohl kaum mit Besorgnissen wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong> im Jahre<br />

11.748 beschweren. Aber so viel ist gewiss, dass gera<strong>de</strong> seit Friedrich II. Zeit die<br />

Hosentracht sich in Europa allgemein einlebte, und die mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne <strong>Kleidung</strong> nach<br />

französischem Schnitte, welche gleich <strong><strong>de</strong>r</strong> chinesischen und japanischen zur<br />

Deckkleidung zählt, die Region <strong><strong>de</strong>r</strong> Deckkleidformen tief in <strong>de</strong>n Sü<strong>de</strong>n, noch weit<br />

über das Klima Italiens hinab getragen hat, und heute schon die Hüllkleidung Indiens<br />

auf ihrem eigenen Bo<strong>de</strong>n bekämpft.<br />

Mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Deckkleidung verbreiten sich auch die gesundheitswidrigen Mie<strong><strong>de</strong>r</strong>, die<br />

füssever<strong><strong>de</strong>r</strong>ben<strong>de</strong>n Stöckelschuhe, die selbstmör<strong><strong>de</strong>r</strong>ischen Cravatten, das lächerlichste<br />

Selbstpeinigungs-Instrument: <strong><strong>de</strong>r</strong> Cylin<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Auch muss es Wun<strong><strong>de</strong>r</strong> nehmen, dass angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> hohen Stufe unserer medicinischen<br />

Kenntnisse und Erfahrungen die <strong>Kleidung</strong> als Transspirationsmittel (o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

vielmehr Trans-spirations-Hin<strong><strong>de</strong>r</strong>niss) noch nicht energischer umgestaltet wur<strong>de</strong>.<br />

Gera<strong>de</strong> weil die Haut mit<br />

220<br />

wachsen<strong><strong>de</strong>r</strong> Cultur reiner gehalten und durch Bä<strong><strong>de</strong>r</strong> und Abreibungen empfindlicher<br />

gemacht wird, musste die <strong>Kleidung</strong> für Dämpfe immer durchlässiger, für die<br />

Luftcirculation an <strong><strong>de</strong>r</strong> Körperoberfläche immer freier, d. h. weiter geschaffen<br />

wer<strong>de</strong>n. Dennoch ist <strong><strong>de</strong>r</strong> umgekehrte Fall die Regel. Die Webekunst und beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />

die Appretur verdichten die Stoffe täglich mehr, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Ruhm <strong>de</strong>s Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>machers<br />

wird in <strong><strong>de</strong>r</strong> grössten Enge, im „Anschlusse“ gesucht. So kommt es, dass<br />

wir in pappeartigen Ringen und Röhren einhergehen, ja dass die ärgsten Strafmittel<br />

<strong>de</strong>s Mittelalters, <strong><strong>de</strong>r</strong> Halsring, die Handschellen, die Fussfesseln und die eiserne<br />

Jungfrau in Gestalt von Halskrägen, Cravatten, Manchetten, Gummizügen,<br />

Leibriemen und Mie<strong><strong>de</strong>r</strong>n, uns von <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen <strong>Kleidung</strong> auf Lebenszeit applicirt<br />

wer<strong>de</strong>n. Wie viele Hals-, Brust-, Magen- und Leberlei<strong>de</strong>n sind die Folge davon!<br />

Die Frauenwelt ahnt wohl kaum, wie viele Verkrüppelungen und Verkümmerungen<br />

an Körper und Geist sie <strong><strong>de</strong>r</strong> jungen Generation durch das Mie<strong><strong>de</strong>r</strong> und überhaupt<br />

die Taillenschnürung vor und in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeitperio<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwangerschaft bereitet.<br />

221<br />

Der Körper sen<strong>de</strong>t in heisser Luft o<strong><strong>de</strong>r</strong> nach grösserer Kraftanstrengimg nicht unbeträchtliche<br />

Mengen Wassers in Dampfform durch die Poren. Dieses Wasser, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schweiss, verdichtet sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Berührung mit kalten, die Haut umgeben<strong>de</strong>n Stoffen,<br />

z. B. Linnen, und wirkt dann gleich einem innern Regen auf die Haut schädlich<br />

ein. Baumwolle dagegen, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s aber Schafwolle saugen <strong>de</strong>n Schweiss bis<br />

zu einem gewissen Maasse ein. Dafür jedoch halten sie <strong>de</strong>nselben auch fest und<br />

bringen so die Haut stets mit <strong>de</strong>n ausgeschie<strong>de</strong>nen und Hautausschläge erzeugen<strong>de</strong>n<br />

Dämpfen und Gasen in Berührung. Die <strong>Kleidung</strong> muss, um diesen Uebelstän-<br />

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<strong>de</strong>n zu begegnen, in folgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Weise construirt sein: Der Haut dürften unmittelbar<br />

nur netzartige o<strong><strong>de</strong>r</strong> cannelirte crêpeartige Unterklei<strong><strong>de</strong>r</strong> aus Sei<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> Baumwolle<br />

anliegen. Schafwolle wäre wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Reibung und <strong>de</strong>s Kribbelns zu vermei<strong>de</strong>n.<br />

Ueber <strong>de</strong>m Netzklei<strong>de</strong>, welches <strong>de</strong>n ganzen Körper bis zum Halse be<strong>de</strong>cken mag,<br />

kann Linnenwäsche getragen wer<strong>de</strong>n, jedoch sollen nirgends enge Stellen o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Einschnürungen vorkommen. Darüber, in möglichster Weite, gelangen Hüllklei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

aus<br />

222<br />

Schafwoll-, o<strong><strong>de</strong>r</strong> im Sommer aus Leinen- und Baumwollstoffen, und zwar von<br />

möglichst lichten Farben (da dunkle Stoffe Contagien weit mehr festhalten sollen,<br />

als lichte).<br />

An <strong>de</strong>n Schweissstellen mögen beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Schweisssauger Platz fin<strong>de</strong>n. Die<br />

Deckkleidung hingegen wäre für immer zu beseitigen, bis auf die Schirme.<br />

Und als Ergänzung diene häufiges Wechseln <strong><strong>de</strong>r</strong> Wäsche und nicht min<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Oberkleidung nicht nur zur Nachtruhe, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch öfter bei Tage. Es ist lobenswerth,<br />

dass die Neuzeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wäsche ihre volle Aufmerksamkeit zuwen<strong>de</strong>t, ja<br />

dieselbe mit einer gewissen Vorliebe cultivirt. Nur wird in Folge ihrer Anwendung<br />

das Ba<strong>de</strong>wesen mehr vernachlässigt. Während das Mittelalter im kleinsten<br />

Dörfchen Badstuben besass, und das Ba<strong>de</strong>n auch im Winter als eine nothwendige<br />

und wenn nicht täglich, so doch min<strong>de</strong>stens allwochentlich einmal anzuwen<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Gesundheitsmassregel betrachtete, sorgen heute selbst grosse Communen nur<br />

mangelhaft für Volksbä<strong><strong>de</strong>r</strong>. Im alten Rom waren die Bä<strong><strong>de</strong>r</strong> bekanntlich grossartig<br />

und luxuriös eingerichtet, und <strong>de</strong>m Volke unentgeltlich geöffnet.<br />

223<br />

Die Ursache dieses grossen Unterschie<strong>de</strong>s ist eben die Wäsche. So lange man<br />

Schafwollklei<strong><strong>de</strong>r</strong> unmittelbar am Leibe trägt, wie z. B. heute noch im ganzen Orient,<br />

wäscht man <strong>de</strong>n Körper, sodann aber nur mehr die innern wechselbaren Klei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

(Wäsche). Das mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Ba<strong>de</strong>leben während <strong>de</strong>s Sommers kann die Folgen<br />

dieses Rückschrittes wohl mil<strong><strong>de</strong>r</strong>n, aber gewiss nicht gut machen.<br />

Die Empfindsamkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Haut steigert sich an einzelnen Stellen zu Empfindungen<br />

von bestimmter Eigenthümlichkeit. Diese Stellen, mit wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar fein gearteten<br />

Hilfsapparaten, Uebertragungs-Vorrichtungen und Telegraphen ausgestattet, nennen<br />

wir die Sinne. Die <strong>Kleidung</strong> beeinflusst vorwiegend nur zwei Sinne: die Tastempfindung<br />

und <strong>de</strong>n Gesichtssinn.<br />

Der Tastsinn muss in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwart noch wenig entwickelt sein, <strong>de</strong>nn uns verstösst<br />

es z. B. nicht, im Gehen und Stehen, im Sitzen und Beugen von <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong><br />

arg behin<strong><strong>de</strong>r</strong>t zu sein. Auch die unangenehme Empfindung <strong>de</strong>s Reibens,<br />

Kribbeins, Kratzens vieler Stoffe, <strong><strong>de</strong>r</strong> Steifheit, ist höchstens <strong>de</strong>n Frauen geläufig,<br />

welche daher Sei<strong>de</strong>nklei<strong><strong>de</strong>r</strong>, wo sie nur können,<br />

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anstreben. Im Alterthume dagegen lässt sich auch für die Männerwelt eine Epoche<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Sei<strong>de</strong>nkleidung bei vielen Völkern nachweisen. Wie hat man doch vor Kurzem<br />

Richard Wagner verlacht und verspottet, weil er in ganz vertraulichen Briefen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Sei<strong>de</strong> nur erst in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauskleidung <strong>de</strong>s Mannes ihr Recht liess! Die einzige<br />

neue Errungenschaft <strong>de</strong>s Tastsinnes unserer Zeit sind die elastischen Wirkwaaren<br />

und die Gewebe mit eingezogenen Kautschukfä<strong>de</strong>n.<br />

Den Frauen ist auch jener feine Tastsinn vorwiegend eigen, welcher die <strong>Kleidung</strong><br />

selbst als Tastorgan zu benützen versteht, welchem <strong><strong>de</strong>r</strong> Umfang <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> wie<br />

eine Erweiterung <strong><strong>de</strong>r</strong> tasten<strong>de</strong>n Hautoberfläche erscheint. Derselbe kann allerdings<br />

auch eine Art Grössensucht im ganz buchstäblichen Sinne <strong>de</strong>s Wortes zur<br />

Folge haben. Man fühlt sich eben höher im Besitze einer hohen Kopfbekleidung<br />

und hoher Stöckel, man fühlt sich stattlicher, wenn man mit Aermelpuffen, Achsel-<br />

und Hüftenwülsten, falschen Busen und Culs, mit Reifrockglocken o<strong><strong>de</strong>r</strong> langen<br />

Spitzschuhen ausgestattet ist. Und wie son<strong><strong>de</strong>r</strong>bar, auch darin gleichen sich die<br />

Menschen unter allen Himmelsstrichen, bei<br />

225<br />

allen Völkern! Perrücke und Chignon waren in Alt-Aegypten Bestandteile <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Festtracht. Horaz, <strong><strong>de</strong>r</strong> römische Dichter, erzählt eine Geschichte von <strong><strong>de</strong>r</strong> Zaubertrank-Brauerin<br />

Sagana, welche einstmals davonlief, und dabei ihren Chignon verlor.<br />

Zu Ovid’s Zeiten waren grosse Coiffüren in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong>, und beim Beginne <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Regierung <strong>de</strong>s Tiberius verbarg die berüchtigte Giftmischerin Martina ihr Giftfläschchen<br />

im Chignon, als sie in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefangenschaft zu Brundusium durch<br />

Selbstmord ihr Leben en<strong>de</strong>te. Die Perrücke, welche Frankreich und die civilisirte<br />

Welt an<strong><strong>de</strong>r</strong>thalb Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te hindurch beherrschte, soll zu En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts<br />

zur Be<strong>de</strong>ckung <strong><strong>de</strong>r</strong> Glatzen aufgekommen sein, welche die Franzosenkrankheit<br />

hinterliess. Ihr eigentlicher Zweck war jedoch: Cultur <strong>de</strong>s Grössenwahns. Der<br />

Perrücke folgte als Pendant bei <strong>de</strong>n Frauen die Fontange nach. (Siehe Fig. 56 a b,<br />

57.)<br />

Die steife Glocke fin<strong>de</strong>t sich ebenfalls in Alt-Aegypten, und <strong><strong>de</strong>r</strong> cul <strong>de</strong> Paris (?)<br />

ward nach Athenäus’ Beschreibung schon in Alt-Hellas zur Verschönerung gewisser<br />

leichtfertiger Damen angewen<strong>de</strong>t. Das Corsett, dieser Kürass, blieb <strong>de</strong>m<br />

Alterthum unbekannt, das sich mit Brust-<br />

226<br />

bän<strong><strong>de</strong>r</strong>n begnügte; es kam zuerst als Fischbein-Corsett durch Katharina von Medicis<br />

(geboren 1519, gestorben 1589) in Frankreich in Aufnahme. Dann kamen die<br />

puffs (Bausche) und vertugadins (Wülste) hinzu.<br />

Die Schleppe ist noch älter. In Alt-Griechenland wur<strong>de</strong> sie mit reizen<strong><strong>de</strong>r</strong> Grazie<br />

getragen. (Vergl. Fig. 2.) Sie hiess Tarantinidion. Die Schleppe <strong>de</strong>s Männerrockes<br />

war zu König Sverris Zeit (1184-1202) im hohen Nor<strong>de</strong>n seuchenartig hereingebrochen,<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> König sah sich veranlasst, seine Birkibeiner <strong>de</strong>shalb zu ta<strong>de</strong>ln; er<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 100 (170)


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sagte: Früher trugen die Birkibeiner keine Schleppröcke (dragkyrtlana), son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

sie hatten kürzere und behen<strong><strong>de</strong>r</strong>e Kyrtel und bessere Herzen! Die weibische Männerschleppe,<br />

zugleich auch Aermelschleppe war im 14. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t in Frankreich<br />

Mo<strong>de</strong>tracht. (Vergl. Fig. 27.) Die Frauenschleppe aber machte alle Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te<br />

hindurch <strong>de</strong>n Predigern wie <strong>de</strong>n Magistraten ununterbrochen zu schaffen. (Fig.<br />

10.)<br />

Das höchste Alter jedoch dürften die Stöckel für sich in Anspruch nehmen, <strong>de</strong>nn<br />

sie waren in Alt-Indien aus uralter Zeit her gebräuchlich. Zu Strabo’s Zeiten trugen<br />

sie die Städter in<br />

227<br />

Indien zu weissen Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>n und weissen Schuhen buntgefärbt und hoch. Mit <strong>de</strong>m<br />

Stöckel ist das Stäbchen beinahe immer vereint, <strong>de</strong>nn <strong><strong>de</strong>r</strong> unsichere Stöckelgang<br />

erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t die Stütze.<br />

Figur 27: Mann mit Schleppe zur Zeit Karl VI. von Frankreich. (En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 14. Jahhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts.)<br />

Und nun zu <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>n Sinnen! Im Gebiete <strong>de</strong>s Geruchsinns kommt <strong>de</strong>m Klei<strong>de</strong><br />

nur geringer Einfiuss zu. Die Parfümirung <strong><strong>de</strong>r</strong> Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> ist heute noch nur Stutzer<br />

und Frauenschwäche. Nur diese freuen sich daran, über<br />

228<br />

das luftige Sommerkleid noch ein Duftkleid zu breiten, unsichtbar und doch so<br />

wirksam, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> sparsame, griesgrämige Technologe Plinius die Salbe (<strong>de</strong>n Parfüm)<br />

<strong>de</strong>n Stoff zu <strong>de</strong>n überflüssigsten aller Ueppigkeiten nennt, „<strong>de</strong>nn die Perlen<br />

und E<strong>de</strong>lsteine gehen doch auf <strong>de</strong>n Erben über, die Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> dauern eine zeitlang,<br />

die Salben aber verdunsten sogleich und sterben schon nach Stun<strong>de</strong>n ab“.<br />

Es gibt Frauen, welche sich für ihr ganzes Leben nur einen Parfüm wählen, etwa<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 101 (170)


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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 102 (170)<br />

so, wie sie auch zuweilen nur eine Lieblingsfarbe tragen, und durch diesen specifischen<br />

Duft ganz bezaubernd wirken.<br />

Das Gehör kann die <strong>Kleidung</strong> nur in geringem Maasse anregen. Lüsterne Gemüther,<br />

zu <strong>de</strong>nen auch Gutzkow seiner Selbstbiographie zufolge in seiner Jugend<br />

gezählt haben mag, bezeichnen das Rauschen eines sei<strong>de</strong>nen Damenklei<strong>de</strong>s als<br />

Sphärenmusik. Die Orientalen hören wollustvolle Melodien erklingen, wenn die<br />

sei<strong>de</strong>nen, bis zu <strong>de</strong>n Knöcheln in reichen Falten nie<strong><strong>de</strong>r</strong>fallen<strong>de</strong>n Beinklei<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Frauen beim Gehen ein Rauschen und Knistern verursachen. Ja die Ozbegen hängen<br />

noch heute ihren Frauen<br />

229<br />

schwere Amulete und Schmuckgegenstän<strong>de</strong> aus Metall um, und erfreuen sich an<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en Geläute und Gerassel, wie es im 14. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t die vornehme Welt Europa’s<br />

that, welche sich in die Schellentracht klei<strong>de</strong>te.<br />

Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Damen fin<strong>de</strong>n es nicht unter ihrer Wür<strong>de</strong>, steifleinene Unterröcke wie<br />

fernen Wellenschlag rauschen, und le<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Schuhstöckel wie Störche klappern zu<br />

lassen, während die Antike alle Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> lautlos trug, und die Römer sogar Sohlen<br />

von Wolle (soleae laneatae) erfan<strong>de</strong>n, damit sie geräuschlos bedient wur<strong>de</strong>n.<br />

Auf <strong>de</strong>n Gesichtssinn zu wirken, bil<strong>de</strong>t hingegen wohl eine <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptaufgaben<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung. Begann diese doch überhaupt mit <strong>de</strong>m Bemalen <strong><strong>de</strong>r</strong> Haut, und<br />

sodann mit <strong>de</strong>m Tätowiren. Im hohen Nor<strong>de</strong>n, in England wur<strong>de</strong>n zur Römerzeit<br />

die Kaledonier Picti, d. h. Bemalte genannt, weil sie ihren nackten Körper mit<br />

blauer Farbe anstrichen. Die Tätowirung, d. h. das Ritzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Haut und Einträufeln<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Farbe, muss als be<strong>de</strong>uten<strong><strong>de</strong>r</strong> Fortschritt betrachtet wer<strong>de</strong>n. Dass die<br />

Hautmalerei schon als Bekleidung gelte, beobachtete Alexan<strong><strong>de</strong>r</strong> von Humboldt<br />

bei <strong>de</strong>n Indianern am Orinoco, die<br />

230<br />

sich nur dann nackt vorkamen und schämten, wenn sie nicht bemalt waren. Humboldt<br />

fügt bei, dass man am Orinoco die grösste Dürftigkeit mit <strong>de</strong>n Worten ausdrückte:<br />

„<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch ist so elend, dass er seinen Leib nicht einmal zur Hälfte bemalen<br />

kann!“ Und solche Bemalung wird noch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Perio<strong>de</strong> voller Bekleidung<br />

beibehalten. So bemalen sich die Mädchen auf <strong>de</strong>n Tonga-Inseln, welche in die<br />

feinsten Zeuge gehüllt, mit San<strong>de</strong>lholzöl gesalbt sind, an <strong>de</strong>n Füssen, Hän<strong>de</strong>n und<br />

im Gesichte mit <strong><strong>de</strong>r</strong> orangegelben Farbe (Turmerin). Viele Orientalen benutzen<br />

gerne gelbe Farben. Und wie? Galt die Schminke zu Zeiten nicht schon als unentbehrlicher<br />

Bestandtheil <strong>de</strong>s Anzuges, war dies nicht sogar in <strong>de</strong>n dreissiger Jahren<br />

unseres Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall? Und die Schönheits-Pflästerchen, und die gefärbten<br />

Augenbrauen, Ohrläppchen, Augenli<strong><strong>de</strong>r</strong> und Lippen -?<br />

Im Sinne <strong><strong>de</strong>r</strong> Schminke wirkt auch das Scheeren und Färben <strong><strong>de</strong>r</strong> Haare und <strong>de</strong>s<br />

Bartes. Die Neger von Ashra halten sich nur dann für schön, wenn ihre Köpfe<br />

kahl geschoren sind. An<strong><strong>de</strong>r</strong>e Neger wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zieren sich mit verschie<strong>de</strong>nen, auf <strong>de</strong>m<br />

Scheitel künstlich ausgeschorenen<br />

www.<strong>mo<strong>de</strong>theorie</strong>.<strong>de</strong><br />

Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 102 (170)


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www.<strong>mo<strong>de</strong>theorie</strong>.<strong>de</strong><br />

Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 103 (170)<br />

Figuren, o<strong><strong>de</strong>r</strong> mit zopf- und büschelförmigen Haarverknotungen. Pu<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

Goldstaub und dunkle Bartfarben sind heute wie im alten Rom Schmuckmittel<br />

und auch bei uns beginnt die Kunst, die Haare nach <strong>de</strong>m Belieben <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong><br />

blond, roth, braun o<strong><strong>de</strong>r</strong> schwarz o<strong><strong>de</strong>r</strong> aschfarben zu färben, Freun<strong>de</strong> zu gewinnen.<br />

Die Indier fan<strong>de</strong>n an weissen, grünen, dunkelblauen und purpurroth gefärbten<br />

Bärten Geschmack, während wir nur <strong>de</strong>m Blaubarte eine gewisse, für Frauen gruselige<br />

Be<strong>de</strong>utung beimessen. Aber wie weit ist man heute voran in <strong><strong>de</strong>r</strong> Färbung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Haut, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kunst, sie mit sanftem Rosenhauche zu verschönen, o<strong><strong>de</strong>r</strong> weiss<br />

und translucid zu machen, wie transluci<strong>de</strong>s Email!<br />

Von <strong>de</strong>n Farbenwirkungen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong> selbst wird weiter unten die Re<strong>de</strong> sein.<br />

Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, farbige Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> zu schauen, dass wir ungefärbte,<br />

d. h. naturfarbige, kaum an<strong><strong>de</strong>r</strong>s beurtheilen wür<strong>de</strong>n, als die Indianer am<br />

Orinoco die Ornamentik jener elen<strong>de</strong>n Genossen, welche so arm sind, dass sie<br />

ihren Leib nicht einmal zur Hälfte bemalen können!<br />

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Herrrmann, <strong>Naturgeschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Kleidung</strong>, 1878, 103 (170)

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