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Centralia - kontext - Gesellschaft zur Förderung junger Journalisten

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Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

An der Kreuzung in <strong>Centralia</strong>s Ortsmitte, unter dem hölzernen Herz,<br />

treffen sich die ehemaligen Bewohner der Stadt, unterhalten sich über<br />

alte Zeiten, beobachten Touristen.<br />

Nachbarn der Hölle<br />

Kleinstadtidylle im Höllendunst<br />

Eine Reportage von Thorsten Arendt und Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

Es ist still und friedlich, als John Comarnitsky<br />

frühmorgens aus dem Fenster schaut. Langsam<br />

fährt er sich durch die dunklen Haare,<br />

er gähnt. Im Halbschlaf blickt er in seinen<br />

Garten, auf den allmählich weichenden<br />

Nebel. Plötzlich schält sich eine schlanke<br />

Gestalt aus dem Dunst, gewinnt an Konturen.<br />

John reibt sich die Augen, verwundert,<br />

ungläubig. Drei Meter von ihm entfernt äst<br />

ein Reh, furchtlos, ruhig, in <strong>Centralia</strong>, Pennsylvania,<br />

USA, an einem schönen Morgen im<br />

Spätsommer 2002.<br />

Vor über 40 Jahren, im Mai 1962, zünden Männer auf einer<br />

Müllkippe in <strong>Centralia</strong> Abfälle an, schütten Wasser auf die glimmende<br />

Asche. Doch das Feuer erlischt nicht. Durch ein Loch<br />

im Boden kriecht es in die ausgedehnten, verlassenen Anthrazit-Kohleminen,<br />

frisst sich weiter, hinein in die gewaltige Buck<br />

Mountain-Ader. Als die blauen Flammen entstehen und das<br />

unterirdische Glühen beginnt, ist <strong>Centralia</strong> eine typische Kleinstadt<br />

mit 1400 Bewohnern. Heute leben hier 20 Menschen und<br />

die Stadt stirbt. Das Feuer hat sich in vier Jahrzehnten eine<br />

Fläche von 35 Fußballfeldern einverleibt. Die Kohle bietet ihm<br />

Nahrung für weitere 200 Jahre.<br />

„Früher war das hier eine normale amerikanische Stadt, nun<br />

wohnen wir in einer Art Naturschutzgebiet“, sagt John Comarnitsky.<br />

Der 48-jährige Lehrer sitzt auf der Veranda seines dreistöckigen<br />

weißen Hauses, in dem er mit seiner Mutter lebt. John<br />

erzählt von einem Kolibri in seinem Garten, auf dem Weg in<br />

den Süden. Er spaziert zu einer Birkengruppe neben dem Haus.<br />

„Wilde Truthähne, acht, neun wilde Truthähne saßen gestern hier,<br />

hier in Pennsylvania“, ruft er begeistert, „einen Schwarzbären<br />

habe ich gesehen, auf der Straße.“ John lächelt. „Das gab es<br />

hier früher nicht, da waren überall Häuser“, sagt er. „Ich meine,<br />

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Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

„Das Feuer ist da oben<br />

und wir sind hier unten.“<br />

Kurz und knapp handelt<br />

John Lokitis den Anblick<br />

des Hügels hinter<br />

seinem Haus an der<br />

108 West Park Street ab.<br />

An der 108 West Park Street<br />

wohnt John Lokitis. 50 Meter<br />

hinter seinem Haus qualmt<br />

der Boden. Seine Nachbarn<br />

sind längst weggezogen.<br />

10<br />

nicht, dass ich nicht gern mehr Leute hier hätte“, nun lacht er, „aber<br />

es sollten nicht so viele sein wie früher.“<br />

Das erste Angebot, den Brandherd für 175 Dollar auszugraben,<br />

lehnen die Stadtverantwortlichen 1962 ab, wegen Beratungsbedarfs.<br />

Das Minenfeuer breitet sich rasch aus, in den mäandrierenden Luftschächten,<br />

Versorgungstunneln, aufgegebenen Stollen. Es bricht<br />

durch die Oberfl äche, bis zu 540 Grad Celsius heiß. Bis 1978 gibt<br />

Pennsylvanias Regierung 3,3 Millionen Dollar aus, um das Feuer zu<br />

kontrollieren. Die Behörden errichten unterirdische, nicht brennbare<br />

Barrieren, pumpen Flugasche und Sand in den Boden, mehrere tausend<br />

Lastwagenladungen versuchen das Feuer durch einen Wall<br />

aus Lehm aufzuhalten. Ohne Erfolg. 1983 schätzt eine unabhängige<br />

Beratungsfi rma, dass das Löschen der Glut mindestens 663 Millionen<br />

Dollar kosten würde. Stattdessen stellt der US-Kongress kurze Zeit<br />

später 42 Millionen Dollar für die Umsiedlung der Bewohner bereit.<br />

Die meisten Menschen verlassen <strong>Centralia</strong>.<br />

„Sie wollen, dass wir alle gehen“, raunt Lamar Mervine, der ehrenamtliche<br />

Bürgermeister <strong>Centralia</strong>s. Er ist 86 Jahre alt, verwaltet die<br />

Belange der 20 Einwohner, der jüngste ist 19. Lamars faltenreiches<br />

Gesicht ist braun gebrannt, der ehemalige Minenarbeiter ist schlank,<br />

fast schon dürr. „Hier ist unser Zuhause“, fl üstert er, kaum zu verstehen,<br />

lauter dann, überzeugt, mit rollendem irischen Akzent, „und wir<br />

sind nicht in Gefahr.“ Er lebt seit seiner Geburt in <strong>Centralia</strong>, 40 Jahre<br />

mit der Bedrohung. Lamar sitzt auf der Veranda, allein, seine Frau<br />

Lanna ist im Haus. „Sie hätten das Feuer löschen können, damals“,<br />

sagt er, „sie waren immer einen Tag zu spät oder hatten einen Dollar<br />

zu wenig.“ Einmal war es fast soweit, „dann kam der Labor Day dazwischen,<br />

fünf Tage frei, und das Feuer war schon wieder weiter“.<br />

Oberhalb der Häuser Mervines und seiner Nachbarn, den Moyers,<br />

Hynoskis und Womers, im Südosten, erstreckt sich der einzige Bereich,<br />

in dem im Stadtgebiet Spuren des Minenfeuers zu sehen sind. An<br />

sonnigen Tagen wirkt das hügelige Gelände wenig bedrohlich, man<br />

gewöhnt sich an den Anblick der unwirtlichen Gegend. Ungemütlicher,<br />

sogar ein bisschen unheimlich ist es bei feuchtem Wetter.<br />

Der Boden ist modrig, weich, sackt bei jedem Schritt ein wenig ein.<br />

Wenn der Regen auf die warme Erde fällt, die an manchen Stellen<br />

so heiß ist, dass man sie nicht länger als einige Sekunden berühren<br />

kann, entwickelt sich Dampf. Weiß-gräulich qualmt es zwischen<br />

den alten Flaschen, verkohlten Holzstücken, Steinbrocken, Autoreifen,<br />

Waschmaschinen. Das Gebiet, 50 Meter vom nächsten Haus<br />

entfernt, nutzen manche als Müllkippe. Der Geruch von Schwefel,<br />

faulen Eiern, nassem Holz, Lösungsmitteln liegt in jedem Lufthauch.<br />

Vor über 20 Jahren riss zum ersten Mal der Asphalt der Route 61 – fast<br />

ebenso lange ist die Straße gesperrt.<br />

Die Überreste der noch nicht umgestürzten Ahornbäume sind weiß,<br />

wie vor Schreck erstarrt. Zwischen ihnen ragen Birken hervor, nackt,<br />

die Rinde abgeschält.<br />

„Das Feuer ist da oben und wir sind hier unten.“ Kurz und knapp<br />

handelt John Lokitis den Anblick des Hügels hinter seinem Haus an<br />

der 108 West Park Street ab. Der 32-Jährige arbeitet bei der Polizei<br />

in Harrisburg, fährt jeden Tag 100 Kilometer <strong>zur</strong> Arbeit, 100 <strong>zur</strong>ück.<br />

An einer Wand in seinem dunklen Wohnzimmer hängen zwei große<br />

ovale Rahmen, Fotos der Eltern seines Großvaters, mit dem er bis zu<br />

dessen Tod im vergangenen Jahr zusammenlebte. Die Einwanderer<br />

aus Litauen, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach <strong>Centralia</strong> kamen,<br />

blicken stolz in die Kamera. John ist hier geboren, seine Eltern wohnen<br />

am anderen Ende der Straße. Er ist höfl ich, wirkt schüchtern, wie<br />

ein großer Junge mit muskulösen Oberarmen. Ein großer Junge, der<br />

stolz auf seine Stadt ist.<br />

Sein Heim ist ein Reihenhaus, das linke in einer Dreierkombination.<br />

In den Nachbarhäusern, Nummern 110 und 112, stehen Blumen<br />

auf der Fensterbank, eine Marienstatue, zwei Vasen, eine Schale mit<br />

künstlichen Früchten. John hat sie hingestellt, „damit es belebter<br />

aussieht“, denn seine Nachbarn sind längst weggezogen. Im Garten<br />

baut er Gemüse an. „Das Feuer ist defi nitiv nicht unter uns“, sagt er,<br />

„sonst würden die Pfl anzen als Erste sterben.“ Aus seinem Wohnzimmerfenster<br />

blickt er auf eine akkurat gemähte Wiese, dort stand<br />

einmal die St. Ignatius-Schule, ein dreistöckiges Gebäude. Nebenan<br />

erhob sich das Haus der American Legion, Posten 608, Anlaufstelle<br />

Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

Die Touristen kommen seit<br />

Jahren in die Stadt. Obwohl der<br />

Staat wegen der Dämpfe und<br />

der Einbruchsgefahr davor warnt,<br />

gehen sie bis auf die qualmenden<br />

Hügel.<br />

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Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

In den meisten Teilen <strong>Centralia</strong>s<br />

ist vom Feuer nichts zu sehen. Nur<br />

im Südosten dampft es aus der<br />

Erde, riecht es nach Schwefel und<br />

faulen Eiern.<br />

Die Route 61 führt direkt durch<br />

<strong>Centralia</strong>. Links und rechts standen<br />

früher Haus neben Haus, eine<br />

Bank, eine Gulf-Tankstelle, ein<br />

Beauty Salon, ein Supermarkt.<br />

12<br />

für die Veteranen aller Kriege. John pfl egt den Rasen und das Ehrenmal<br />

der Legion. Er steckt amerikanische Fahnen in den Boden, harkt<br />

Steinchen, sammelt Laub auf. Alles freiwillig, „weil es sonst keiner<br />

machen würde. Und weil er es dem Andenken schuldet“, sagt er.<br />

Als Teenager ging er in den „Saint Ignatius Teen Club“, unten an<br />

der South Locust Avenue, in eine alte Kirche, in der ein Basketballfeld<br />

war, wo es Pommes frites und Hamburger gab. „Meine Oma hat mich<br />

oft <strong>zur</strong> Post geschickt, daher kenne ich all die Geschäfte“, erinnert er<br />

sich, „da“, er deutet auf eine Brache, „an der nächsten Ecke, da war<br />

ein Süßigkeiten-Laden“, daneben die Pennsylvania National Bank, die<br />

Gulf-Tankstelle, der Beauty Salon an der Ecke vor dem Speed Spot,<br />

der Bestatter Joseph Stutz, Lippman´s Supermarket. Wenn er von<br />

der Vergangenheit erzählt, hat er ein lebendiges Bild von <strong>Centralia</strong><br />

vor Augen, sagt John. Ansonsten nicht. Er denkt selten an die alten<br />

Zeiten. John will nicht in der Vergangenheit leben.<br />

1966 feiert die Stadt ihr 100-jähriges Bestehen mit einer Festwoche.<br />

In der Festschrift wird das Feuer nicht erwähnt. Ein Jahr später<br />

ergeben Forschungsbohrungen, dass sich der unterirdische Brand<br />

weiter ausdehnt als vermutet. Unter der Erde entsteht Kohlenmonoxid,<br />

geruchlos und tödlich, das in die Häuser einzudringen droht. Im<br />

Mai 1969 verlassen die ersten drei Familien <strong>Centralia</strong>. Die Behörden<br />

prüfen ständig die Luftqualität, bohren 1600 Löcher, um das Gas zu<br />

kontrollieren. Sie installieren Kohlenmonoxid-Überwachungsgeräte<br />

in den Kellern; schwarze, große Kisten, hergestellt für den Einsatz in<br />

Minen. Die Menschen fühlen sich sicher und gefährdet zugleich.<br />

Die regionalen und staatlichen Behörden haben versagt, sich in<br />

Zuständigkeiten verstrickt, sagen die Menschen in <strong>Centralia</strong>. „Sie<br />

haben immer wieder dumme Sachen gemacht, die Bohrlöcher zum<br />

Beispiel.“ John Comarnitsky schüttelt den Kopf. „Sogar Geologen<br />

sagen, dass das Schwachsinn ist. Erst hatten wir nur ein kleines Problem,<br />

aber die Löcher versorgten das Feuer mit Sauerstoff, heizten<br />

es an.“ Er guckt in die Runde, wie, um sich zu vergewissern, knetet<br />

seine Hände. „Entweder sind sie wirklich dumm oder es gibt einen<br />

bösen Plan.“ Lamar wird ungeduldig. „Der einzige Grund, warum wir<br />

gehen sollen, ist die Kohle unter der Stadt“, bricht es heraus aus dem<br />

Bürgermeister, der sonst nicht viel redet. „Ein gewaltiges Kohlenfl öz“,<br />

seine Augen blitzen hinter seiner dicken Brille, „acht bis zehn Meter<br />

dick, 40 Millionen Tonnen, jede 100 Dollar wert. Die Kohle will irgend<br />

jemand haben, und deswegen müssen wir hier weg.“ „Jemand“, das<br />

ist für die Bewohner eine Allianz aus „Regierung und großen Unternehmen“.<br />

Der Staat Pennsylvania reagiert auf die Anschuldigung gelassen.<br />

Das Ministerium für Stadtentwicklung erklärt, kein Interesse an den<br />

Mineralienrechten zu haben, die heute noch bei<br />

dem Borough <strong>Centralia</strong> liegen. Es sei immer nur<br />

um die „Gesundheit und Sicherheit der Bewohner“<br />

gegangen, heißt es dort. Wenn <strong>Centralia</strong> tatsächlich<br />

unbewohnt wäre, verblieben die Rechte<br />

bei dem Borough, sagt das Ministerium. Nur ein<br />

Verfassungsakt könnte dies ändern. Anfang der<br />

80er-Jahre beschleunigt sich der schleichende Tod<br />

der Stadt. 1980 verlassen 27 Familien <strong>Centralia</strong>,<br />

das Feuer bedroht ihre Häuser am Stadtrand. Am<br />

Valentinstag, dem 14. Februar 1981, ereignet sich<br />

etwas, das die Wahrnehmung des Minenfeuers<br />

verändert. Unter dem zwölfjährigen Todd Domboski<br />

öffnet sich die Erde. Er fällt in ein 25 Meter<br />

tiefes Loch, hält sich an einer Wurzel fest, inmitten<br />

giftiger Dämpfe, bei 170 Grad Hitze. Sein Cousin<br />

zieht ihn heraus, geschockt, aber unverletzt. Die<br />

Geschichte spricht sich herum, Fernsehreporter<br />

kommen nach <strong>Centralia</strong>, Berichte erscheinen in<br />

Magazinen und Zeitungen. Einige Wochen später,<br />

an einem Märzabend, dringt Kohlenmonoxid durch<br />

die Keller in einige Häuser. Die Menschen dösen ein,<br />

zum Glück fällt einer aus dem Bett, wacht davon<br />

auf, weckt die anderen. Ein paar Minuten später<br />

wären sie wahrscheinlich erstickt.<br />

<strong>Centralia</strong> wird ein Ort des Unglücks, der Katastrophe,<br />

zu einem Mythos, der Touristen anzieht.<br />

Die Stimmung in der Stadt kippt. Auch weil der<br />

Staat nichts unternimmt, formieren sich ab April<br />

1981 Bürgerbewegungen wie die „Concerned Citizens<br />

Against the <strong>Centralia</strong> Mine Fire“. Die Zeitungen<br />

zeigen Bilder von Menschen, die in dichten<br />

Qualmwolken stehen, berichten über Streit in der<br />

Nachbarschaft, in den Bars, in der Stadtversammlung<br />

von <strong>Centralia</strong>. Manchmal kommt es fast zu<br />

Prügeleien, heißt es. Die Stadt spaltet sich in eine<br />

„heiße“ und eine „kalte“ Seite, in diejenigen, die<br />

direkt betroffen sind, und die anderen, die sich<br />

sicher vor dem Feuer fühlen.<br />

Im Oktober 1982 misst man unter dem Interstate<br />

61, einer vielgenutzten Verbindung zwischen <strong>Centralia</strong><br />

und dem benachbarten Ashland, Temperaturen von<br />

410 Grad Celsius. Ein paar Tage später zeigt sich der<br />

Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

John Lokitis fährt täglich 200 Kilometer <strong>zur</strong><br />

Arbeit nach Harrisburg. Der 32-Jährige möchte<br />

seine Heimatstadt, in der seine Familie seit rund<br />

100 Jahren lebt, nicht verlassen.<br />

„Uns macht ein bisschen misstrauisch,<br />

dass sie das Haus nicht<br />

abreißen“, sagt John Lokitis. „Vielleicht<br />

warten sie, bis sie alles in<br />

einem Abwasch machen können“,<br />

spekuliert er.<br />

13


Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

erste Riss im Asphalt, wenig später schließt die<br />

Regierung die Straße. Heute warnt ein großes<br />

gelbes Schild – vor gefährlichen Gasen und plötzlich<br />

einbrechendem Boden. In dem gesperrten<br />

Interstate sind gewaltige Risse, die sich fein geädert<br />

über 50, 60 Meter ziehen. Wieder einmal<br />

fi ndet eine Studie heraus, dass sich das Feuer<br />

weiter ausgebreitet hat als erwartet. Das Papier<br />

nennt den Preis, der für die Rettung <strong>Centralia</strong>s<br />

zu zahlen ist: 663 Millionen Dollar würde ein<br />

Graben kosten, der das Minenfeuer eindämmen<br />

könnte. Selbst wenn das Geld vorhanden<br />

„Sie wollen, dass wir alle<br />

gehen“, raunt Lamar Mervine,<br />

der ehrenamtliche Bürgermeister<br />

<strong>Centralia</strong>s. Er ist<br />

86 Jahre alt, verwaltet die<br />

Belange der 20 Einwohner,<br />

der jüngste ist 19.<br />

: Für Lamar ist es klar:<br />

„Der einzige Grund, warum<br />

wir gehen sollen, ist die<br />

Kohle unter der Stadt.“<br />

14<br />

Lamar Mervine ist der ehrenamtliche Bürgermeister<br />

<strong>Centralia</strong>s. Der 86-Jährige war früher<br />

selbst Minenarbeiter, er hat keine Angst<br />

vor dem Feuer.<br />

wäre, ist der Erfolg nicht garantiert. Schlimmer noch als die<br />

unvorstellbare Summe sind andere Zahlen: 150 Meter tief,<br />

200 Meter breit und 1300 Meter lang sollte die riesige Kluft<br />

mitten durch die Stadt sein. 1963 hätte eine weitaus kleinere<br />

Grube noch 277000 Dollar gekostet.<br />

Die Regierung schlägt vor, die Menschen umzusiedeln. Am<br />

11. August 1983 entscheiden sich die Bewohner von <strong>Centralia</strong><br />

mit 345 zu 200 Stimmen für den Verkauf ihrer Häuser. Und<br />

nun passiert etwas, worauf sie Jahrzehnte gewartet haben.<br />

Der Staat regt sich. Ende September setzen die Behörden<br />

die Gesamtsumme von 42 Millionen Dollar fest. Kurz darauf<br />

bewilligt der US-Kongress das Geld. Die Umsiedlung ist freiwillig.<br />

Arbeiter markieren die Türen der verlassenen Häuser<br />

mit roter Farbe, als Erkennungsmerkmal für die Abbruchtruppen.<br />

Ende 1984, kurz vor Weihnachten, rücken die Bulldozer<br />

an. Übrig bleiben Schlamm, Holz und Nägel. „Ich weiß<br />

nicht, wie oft ich einen Platten hatte, damals“, sagt John<br />

Cormanitsky. Er versteht, warum so viele gegangen sind. „Es<br />

war eine Menge Geld, und keiner wusste, was aus dem Ort<br />

wird.“ 1991 sind 545 Gebäude verlassen, nur noch etwa 50<br />

Häuser sind bewohnt. Im Januar 1992 lässt die Regierung<br />

per Gerichtsurteil die übrig gebliebenen Besitzer enteignen,<br />

diese legen Widerspruch ein. Das County Gericht, der State<br />

Supreme Court und schließlich auch der U.S. Supreme Court<br />

entscheiden gegen <strong>Centralia</strong>. Die Häuser und Grundstücke<br />

gehören nun dem Staat. Warum die Regierung die Bewohner seitdem<br />

nicht einfach vertrieben hat? „Die Politiker wollen keine Aufmerksamkeit<br />

für das Thema“, sagt John Lokitis, „obwohl wir im Grunde<br />

ja Hausbesetzer sind. Aber man kann in Pennsylvania nicht einfach<br />

einen älteren Mann wie Lamar aus seinem Haus verjagen, das wäre<br />

schlecht für das öffentliche Bild“. Und das zählt, glaubt er, mehr als<br />

alles andere.<br />

Das Geld, es ist schuld am Untergang der Stadt, da sind sich John,<br />

Lamar und John einig. Das Geld, das die Regierung zunächst nicht<br />

in das Löschen des Feuers stecken will oder kann. Die 42 Millionen<br />

Dollar, mit denen die Behörden die Umsiedlung der Menschen bezahlen.<br />

Auch aus Gebieten, wo das Feuer niemals hingelangt wäre. Vor<br />

allem die Kirchen hätte man nicht abreißen müssen, sagt Lamar, der<br />

jeden Sonntag zum Gottesdienst ins benachbarte Mt. Carmel fährt.<br />

„Die Minenarbeiter haben sie damals auf soliden Fels gebaut, damit<br />

sie nicht einstürzen, wenn unter ihnen eine Mine abgebaut wurde.<br />

Die wussten, was sie tun.“<br />

<strong>Centralia</strong> hat das Gerippe einer typischen Kleinstadt in den USA.<br />

Rechtwinklig sind die breiten Straßen angelegt. Aber die Menschen<br />

fehlen und die Häuser. Zehn, zwölf stehen noch, wie das von Lamar,<br />

schmal, weiß, verletzlich, ohne seine stützenden Nachbarn. Die Straßen<br />

gehen ins Leere, gesäumt von Schutthaufen, aus denen teilweise<br />

der alte Gehweg aus roten Ziegeln hervorblitzt. Kurze geteerte<br />

Stücke, die ehemaligen Hauszugänge und Garageneinfahrten, führen<br />

auf leere Wiesen. Auf einer weich abfallenden Wiese stoßen einige<br />

Metallröhren aus dem Boden, Überreste von Schaukeln und Wippen.<br />

„Stadtpark“ nennt John Lokitis die Fläche. Die Flutlichtmasten der<br />

beiden Basketballfelder recken sich in die Höhe, einige blau gestrichene<br />

Bänke, im Schatten von Kiefern, deren Zapfen auf dem Boden<br />

liegen. „Hier habe ich früher gespielt“, sagt John, und er wirkt traurig.<br />

Auch die gemalten Linien der Plätze sind noch zu erkennen. Überall<br />

ist Unkraut, dort, wo Kanten und Dehnungsfugen im Teer sind. Einen<br />

halben Meter schießt es in die Höhe.<br />

Der letzte Laden <strong>Centralia</strong>s, ein Motorradshop, der „Speed Spot“,<br />

schließt vor zwei Jahren. Der langgezogene Bau, verkleidet mit grauer<br />

Dachpappe, steht immer noch. Ein Schild hängt neben der Tür, „Use<br />

door at soda machine“, aber der Getränkeautomat ist weg, die Tür<br />

ebenso mit Tischlerplatten verrammelt wie alle anderen Eingänge<br />

und Fenster. „Uns macht ein bisschen misstrauisch, dass sie das<br />

Haus nicht abreißen“, sagt John Lokitis. „Vielleicht warten sie, bis<br />

sie alles in einem Abwasch machen können“, spekuliert er. Er denkt<br />

Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

Der Basketballkorb ist weg,<br />

die Linien des Platzes sind aber<br />

noch zu erkennen. Der ehemalige<br />

Stadtpark ist einer von<br />

vielen Orten in der Stadt, die an<br />

das Leben in <strong>Centralia</strong> erinnern.<br />

Nur noch die Gartenmauer<br />

steht vom American Legion,<br />

Posten 608. Die amerikanischen<br />

Veteranen aller Kriege<br />

gingen hier ein und aus. John<br />

Lokitis mäht den Rasen, pfl egt<br />

die Erinnerung.<br />

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Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

„Früher war das hier<br />

eine normale amerikanische<br />

Stadt, nun<br />

wohnen wir in einer<br />

Art Naturschutzgebiet“,<br />

sagt John<br />

Comarnitsky.<br />

16<br />

Der letzte Laden <strong>Centralia</strong>s, der noch vor zwei Jahren geöffnet hatte, war<br />

der „Speed Spot“. Ein Motorradshop an der Hauptkreuzung der Stadt.<br />

aber nicht darüber nach, sagt er zumindest. „Nur manchmal, wenn<br />

etwas passiert.“<br />

Wie die Sache mit der Postleitzahl, Mitte September vergangenen<br />

Jahres, als die Einwohner von <strong>Centralia</strong> einen Brief bekommen.<br />

Der U.S. Postal Service will <strong>Centralia</strong> die „17927“ wegnehmen, der<br />

Name der Stadt soll nicht mehr auf Briefen erscheinen, der Bezirk<br />

der nahe gelegenen Stadt Ashland zugeschlagen werden. John<br />

Lokitis mobilisiert die zuständigen Abgeordneten, die Presse. Ein<br />

Teilerfolg, der Name <strong>Centralia</strong> bleibt, die Postleitzahl allerdings ist<br />

weg, ab September 2003. Nach dem Beschluss überlegt John kurz,<br />

fährt dann <strong>zur</strong> Hauptkreuzung der Stadt. Er schreibt in weißer Schrift<br />

„<strong>Centralia</strong>“ auf eine Bank. Mit Klebebuchstaben, deren bronzefarbener<br />

Hintergrund in der Sonne glänzt, klebt er die alte Postleitzahl auf.<br />

Autofahrer, Fremde, halten an. Sie applaudieren.<br />

Das Leben ist langsam in der sterbenden Stadt. Unten brennt das<br />

Feuer und oben kommt die Natur <strong>zur</strong>ück. <strong>Centralia</strong> ist ein Paradies.<br />

„Genau“, ruft John Cormanitsky, und ein bisschen leiser, „vielleicht“.<br />

Er wird noch ein wenig ruhiger. „Der einzige Grund, warum ich umziehen<br />

würde“, sagt er, „wäre der Zustand meines Hauses. Wenn es total<br />

kaputt wäre, würde ich umziehen.“ Der Staat Pennsylvania möchte<br />

ihn und die anderen lieber früher als später im Umzugswagen sehen.<br />

Das Ministerium für Stadtentwicklung wartet momentan auf die<br />

Ergebnisse einer Kommission, die den Wert der verbliebenen Häuser<br />

schätzen soll. Wann diese Arbeit beendet ist, weiß<br />

keiner, die Behörde hofft jedenfalls, dass anschließend<br />

alle Bewohner <strong>Centralia</strong> verlassen. Dazu gibt<br />

es keine Alternative, denn das Feuer ist immer noch<br />

gefährlich, sagen die Offi ziellen. Ob sie die Bewohner<br />

zwingen wollen, wenn diese sich weigern, sagen sie<br />

nicht, vernebeln die Zukunft lieber. „Der Staat hat<br />

verschiedene Optionen“, heißt es, „aber wir erwarten,<br />

dass die Bewohner das Recht achten und freiwillig<br />

gehen werden“.<br />

In <strong>Centralia</strong>s Ortsmitte herrscht Durchgangsverkehr,<br />

es ist laut. An der einen Ecke steht ein großer<br />

Baum, mit zwei grau angepinselten Bänken, mehreren<br />

Gartenstühlen. Hier treffen sich die ehemaligen<br />

Bewohner von <strong>Centralia</strong>, tauschen Neuigkeiten aus.<br />

An dem Baum hängt ein großes Herz, geschnitzt aus<br />

Holz. Rot angepinselt, mit blauweißem Rand, in den<br />

Farben des Stars- and Stripes-Banners, das ebenfalls<br />

an das Herz genagelt ist. „We love <strong>Centralia</strong>“, steht<br />

darauf, über einem künstlichen Blumenstrauß. In<br />

der Mitte, von oben nach unten, beginnt das Herz<br />

zu brechen. Noch leben sie hier, John Comarnitsky<br />

und seine Mutter, Lamar und Lanna Mervine, John<br />

Lokitis, seine Eltern, die Moyers, die Hynoskis und<br />

die Womers. Aber <strong>Centralia</strong> ist schon tot.<br />

Fotos und Text ©<br />

Thorsten Arendt, Marc-Stefan Andres<br />

Biografi e<br />

Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

„Das Feuer ist defi nitiv<br />

nicht unter uns“, sagt<br />

John, „sonst würden die<br />

Pfl anzen als Erste<br />

sterben.“<br />

Thorsten Arendt studierte in Dortmund und Münster Foto- und Grafi k-Design. Seit 1997<br />

arbeitet er als selbstständiger Fotograf an Dokumentationen und Reportagen. Er veröffentlicht<br />

in zahlreichen Kunstkatalogen, Zeitungen und Magazinen wie DIE ZEIT, Neue<br />

Zürcher Zeitung, brand eins, Süddeutsche Zeitung, Artforum (New York) oder diario di<br />

settimana (Mailand).<br />

Marc-Stefan Andres studierte in Münster und Bochum, volontierte bei der Münsterschen<br />

Zeitung und den Ruhr Nachrichten und hospitierte bei DIE ZEIT. Er arbeitet als freier<br />

Journalist und Texter u.a. für DIE ZEIT, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung oder<br />

brand eins in den Ressorts Reportage, Bildung, Wirtschaft, <strong>Gesellschaft</strong>.<br />

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