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OR II (Haftpflichtrecht)

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INHALT<br />

<strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>)<br />

Stoffsammlung zur Vorlesung von<br />

Dr.iur.h.c. Stephan Weber und Fürsprecher Peter Beck<br />

FS 2012<br />

HAFTUNGSARTEN ....................................................................................................................... 1<br />

SCHADEN ................................................................................................................................. 20<br />

KAUSALZUSAMMENHANG ...... ……………………………………………………………………………………………47<br />

WIDERRECHTLICHKEIT, VERSCHULDEN UND VERSCHULDENSHAFTUNG……………………… ....... 67<br />

KAUSALHAFTUNGEN…………………………………………………………………………………………………. ......... 73<br />

SCHADENERSATZBEMESSUNG UND F<strong>OR</strong>M DER ENTSCHÄDIGUNG……………………………… ....... 98<br />

PERSONENSCHADEN I ..... ………………………………………………………………………………………………….113<br />

PERSONENSCHADEN <strong>II</strong> ..... …………………………………………………………………………………………………156<br />

VERJÄHRUNG ..... ……………………………………………………….………………………………………………………177<br />

MEHRERE ERSATZPFLICHTIGE ....... ……………………………………………………………………………………195<br />

KO<strong>OR</strong>DINATIONSRECHT .................. …………………………………………………………………………………..218<br />

ANHANG: V<strong>OR</strong>ENTWURF ZUR REVISION UND VEREINHEITLICHUNG DES HAFTPFLICHTRECHTS


HAFTUNGSARTEN<br />

4A_275/2011<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Zusammenfassung<br />

Anfangs April 2001 nahm die beklagte X. das damals knapp vierjährige Nachbarskind A. zu sich nach<br />

Hause, um es während der Abwesenheit seiner Eltern zu beaufsichtigen. Während A. draussen mit<br />

ihrem fünfjährigen Sohn und einem weiteren etwas über 4 Jahre alten Kind spielte, verrichtete X.<br />

Hausarbeiten und vergewisserte sich hie und da, dass die Kinder in der Nähe ihrer Liegenschaft mit<br />

ungefährlichen Spielen beschäftigt waren. Nachdem X. kurz in die Waschküche begeben hatte, telefonierte<br />

sie und bemerkte eine Nachbarin, die am Gartenzaun aufgeregt gestikulierte. A. war beim Spielen<br />

in die nahegelegene Glatt gefallen und konnte erst 10 Min. später aus dem Fluss geborgen werden.<br />

Sie erlitt einen anoxischen Hirnschaden, war dauernd pflegebedürftig und verstarb rund 9 Jahre<br />

später. Das Bezirks- und das Obergericht sprachen X. frei vom Vorwurf der fahrlässigen schweren<br />

Körperverletzung. A., vertreten durch ihre Eltern, reichte eine Teilklage gegen X. auf Leistung einer<br />

Genugtuung ein. Die erste Instanz verurteilte X. zur Zahlung einer Genugtuung von CHF 200‘000.-mit<br />

der Begründung, diese habe bei der gefälligkeitshalber erfolgten Betreuung von A. nicht die nötige<br />

Sorgfalt walten lassen. Das Obergericht wies die Klage ab, weil A. eine Sorgfaltspflichtverletzung,<br />

mithin ein Verschulden von X. im Sinne von Art. 41 <strong>OR</strong> nicht habe beweisen können. Das Bundesgericht<br />

führt aus, wonach es in der Rechtsprechung anerkannt ist, dass im Bereich von Arbeitsleistungen<br />

unverbindliche Gefälligkeiten vorkommen, die keine Vertragsbindung entstehen lassen. Ob Vertrag<br />

oder Gefälligkeit vorliegt, entscheidet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbeso. der Art der<br />

Leistung, ihren Grund und ihren Zweck, ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Bedeutung, den Umständen,<br />

unter denen sie erbracht wird und der Interessenlage der Parteien. Für einen Bindungswillen<br />

spricht ein eigenes, rechtliches oder wirtschaftliches Interesse der Person, die die Leistung erbringt.<br />

Die Vorinstanz hat das Verhältnis zwischen den Eltern der A. und X. zutreffend als Gefälligkeit qualifiziert.<br />

Das Interesse an der kurzfristigen Betreuung ihrer Tochter lag auf seiten deren Eltern, ohne dass<br />

X. ein eigenes Interesse an dieser Betreuung bekundete (E. 4). Die Haftung aus Gefälligkeit bemisst<br />

sich nach deliktischen Regeln, insbeso. nach Art. 41 <strong>OR</strong>; die in der Lehre hiegegen vorgebrachte Kritik,<br />

die die Haftung auf eine vertragliche Grundlage stellen möchte, vermag nicht so zu überzeugen, dass<br />

die Praxis geändert werden müsste (E. 5.1). Bei der Gefälligkeit gilt, dass der Gefällige diejenige Sorgfalt<br />

aufzuwenden hat, die er auch in eigenen Angelegenheiten beachten würde; entsprechend kann<br />

von derjenigen Person, welche gefälligkeitshalber die Beaufsichtigung eines Nachbarkinds übernimmt,<br />

keine höhere Sorgfalt verlangt werden, als sie gegenüber den eigenen Kindern aufwenden<br />

würde (eigenübliche Sorgfalt oder diligentia in quam suis; E. 5. 2). Dabei entspricht es der Lebenserfahrung,<br />

dass ein mit der Aufsicht beschäftigter Elternteil nicht in regelmässigen Abständen von fünf<br />

oder zehn Minuten bewusst nach spielenden Kindern schaut. Es ist also nicht sorgfaltswidrig, wenn<br />

die beaufsichtigende Person während fünfzehn Minuten drei spielende Kinder im Alter von vier und<br />

fünf Jahren nicht an ihrem Standort kontrolliert, wenn kein konkreter Anlass dazu bestand. (E. 5.2.1<br />

und 5.2.3). Somit haftet X. nicht.<br />

4A_275/2011<br />

Urteil vom 20. Oktober 2011<br />

I. zivilrechtliche Abteilung<br />

Besetzung<br />

Bundesrichterin Klett, Präsidentin,<br />

Bundesrichter Corboz,<br />

Bundesrichterin Rottenberg Liatowitsch,<br />

1


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Bundesrichter Kolly, Bundesrichterin Kiss,<br />

Gerichtsschreiber Hurni.<br />

Verfahrensbeteiligte<br />

Erben der A. X.________, nämlich:<br />

1. B. X.________,<br />

2. C. X.________,<br />

beide vertreten durch Rechtsanwältin Cordula Spörri,<br />

Beschwerdeführer,<br />

gegen<br />

D.________,<br />

vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Silvan Fahrni,<br />

Beschwerdegegnerin.<br />

Gegenstand<br />

Haftung aus Gefälligkeit,<br />

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, <strong>II</strong>. Zivilkammer, vom 17. März<br />

2011.<br />

Sachverhalt:<br />

A.<br />

A.a Am 2. April 2001 fiel die am 8. Juli 1997 geborene (am 11. November 2010 verstorbene) A.<br />

X.________ in der Umgebung ihres Wohnortes in die Glatt. Sie konnte erst ca. 10 Minuten später aus<br />

dem Fluss geborgen werden und erlitt einen anoxischen Hirnschaden (mit Wachkoma, schwerer tetraspastischer<br />

zerebraler Bewegungsstörung etc.). Nach diesem Unfall war sie vollständig invalid und<br />

auf dauernde Pflege und Betreuung angewiesen.<br />

A.b Am Vormittag des Unfalltages vom 2. April 2001 hielt sich D.________ (Beklagte, Beschwerdegegnerin)<br />

bei C. X.________, der Mutter von A.________, auf und trank mit ihr Kaffee. Die damals<br />

noch nicht ganz vierjährige A.________ spielte mit dem 5-jährigen Sohn der Beklagten, E.________,<br />

im Freien. B. X.________, der Vater von A.________, befand sich ebenfalls zu Hause und liess seine<br />

Frau wissen, dass er mit einem Kollegen zu einem Baumarkt fahre. Gleichzeitig erklärte die Mutter<br />

von A.________, dass sie noch rasch einkaufen wolle, wobei A.________ ihre Mutter nicht begleiten<br />

wollte. Umstritten ist unter den Parteien, wer vorschlug, dass die Beklagte während der Abwesenheit<br />

der Eltern auf A.________ aufpassen sollte.<br />

A.c Die Beklagte begab sich vor elf Uhr in Begleitung von A.________ und ihrem Sohn in ihr in der<br />

Nachbarschaft gelegenes Haus zurück und verrichtete Haushaltsarbeiten, während die Kinder<br />

A.________ und E.________ weiterhin draussen spielten, wobei sich aus der Nachbarschaft noch F.<br />

Z.________ (geboren am 30. Januar 1997) zu ihnen gesellte.<br />

A.d Aufgrund des Unfalls wurde gegen die Beklagte ein Strafverfahren wegen fahrlässiger schwerer<br />

Körperverletzung eröffnet. Das Bezirksgericht Bülach sprach sie mit Urteil vom 5. Februar 2003 von<br />

diesem Vorwurf frei mit der Begründung, sie habe die nach den Umständen gebotene Sorgfalt beachtet.<br />

Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte dieses Urteil am 6. Juli 2004 in der Erwägung, dass<br />

der Unfall auch bei gebotener Sorgfalt nicht hätte vermieden werden können.<br />

B.<br />

B.a Am 12. Dezember 2006 erhob A. X.________ (Klägerin), vertreten durch ihre Eltern, beim Bezirksgericht<br />

Dielsdorf Teilklage mit dem Antrag, die Beklagte sei zu verurteilen, ihr eine Genugtuung<br />

von Fr. 300'000.-- zu bezahlen.<br />

2


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Das Bezirksgericht hiess die Klage mit Urteil vom 10. August 2009 teilweise gut und verurteilte die<br />

Beklagte, der Klägerin eine Genugtuung von Fr. 200'000.-- nebst 5 % Zins seit dem 2. April 2001 zu<br />

bezahlen; ausserdem wurde vorgemerkt, dass es sich um eine Teilklage handle und Nachklage vorbehalten<br />

sei.<br />

Das Bezirksgericht kam zum Schluss, die Beklagte habe bei der gefälligkeitshalber erfolgten Betreuung<br />

von A.________ die nötige Sorgfalt nicht walten lassen.<br />

B.b Mit Urteil vom 17. März 2011 wies das Obergericht des Kantons Zürich auf Berufung der Beklagten<br />

die Klage der Eltern, die als Erben den Prozess ihrer verstorbenen Tochter übernommen hatten,<br />

ab.<br />

Das Obergericht kam mit der ersten Instanz zum Schluss, dass die Beklagte die Betreuung der Klägerin<br />

im Sinne einer Gefälligkeit übernommen hatte und daher kein Vertrag zustande gekommen war.<br />

Sie erkannte, dass bei einer Schädigung auf Seiten des Gefälligkeitsnehmers die Regeln über die Deliktshaftung<br />

anwendbar seien und daher die Klägerin zu beweisen habe, dass sie von der Beklagten<br />

zu wenig engmaschig beaufsichtigt worden sei bzw. die Beklagte ihre Sorgfaltspflicht bei der Beaufsichtigung<br />

schuldhaft verletzt habe. Beim Massstab der Sorgfaltspflicht ist nach den Erwägungen des<br />

Obergerichts zu beachten, dass die Pflichten der hütenden Person nicht weiter gehen können als die<br />

der Eltern. Das Obergericht gelangte in Würdigung der Beweise zum Schluss, dass die Klägerin den<br />

Hauptbeweis für ihre Behauptung nicht habe erbringen können, wonach die Beklagte die Kinder<br />

nicht hinreichend sorgfältig überwacht, diese insbesondere nicht mehr gehört habe, als sie aus der<br />

Waschküche ins Haus zurückkehrte.<br />

C.<br />

Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragen die Eltern von A.________ (Beschwerdeführer) dem Bundesgericht,<br />

es das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 17. März 2011 sei aufzuheben<br />

(Ziffer 1), das Urteil des Bezirksgerichts Dielsdorf vom 10. August 2009 sei vollumfänglich zu bestätigen<br />

und die Beschwerdegegnerin sei zu verpflichten, ihnen eine Genugtuung von Fr. 200'000.-- zuzüglich<br />

Zins zu 5 % seit 2. April 2001 zu bezahlen.<br />

Sie rügen, die Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt, indem sie das Zustandekommen eines Auftrags<br />

verneint habe und indem sie den Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung falsch angewendet habe.<br />

Schliesslich habe die Vorinstanz die Beweise willkürlich gewürdigt, den Sachverhalt unrichtig festgestellt<br />

und ihnen das rechtliche Gehör verweigert.<br />

Die Beschwerdegegnerin beantragt in ihrer Vernehmlassung, die Beschwerde sei vollumfänglich abzuweisen<br />

und das angefochtene Urteil zu bestätigen. Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung<br />

verzichtet.<br />

Erwägungen [Auszug]:<br />

3.<br />

Die Beschwerdeführer rügen, die Vorinstanz habe den Sachverhalt in Bezug auf die Frage, ob eine<br />

Sorgfaltspflichtverletzung vorliege, in willkürlicher Würdigung der Beweise durch aktenwidrige, unrichtige<br />

Sachverhaltsfeststellung und unter Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 29 Abs. 2<br />

BV festgestellt.<br />

3.1 Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) verlangt insbesondere, dass das Gericht<br />

die Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch tatsächlich hört, prüft<br />

und in der Entscheidfindung berücksichtigt (BGE 134 I 83 E. 4.1 S. 88 mit Hinweisen). Der Grundsatz<br />

des rechtlichen Gehörs garantiert den betroffenen Personen ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht<br />

im Verfahren. Sie haben Anspruch auf Äusserung zur Sache vor Erlass des Entscheids, auf<br />

Abnahme ihrer erheblichen, rechtzeitig und formrichtig angebotenen Beweise und auf Mitwirkung an<br />

der Erhebung von Beweisen oder zumindest auf Stellungnahme zum Beweisergebnis (BGE 135 <strong>II</strong> 286<br />

E. 5.1 S. 293; 134 I 140 E. 5.3 S. 148; 127 I 54 E. 2b S. 56). Die Begründung des Entscheids muss zumindest<br />

kurz die wesentlichen Überlegungen nennen, von denen sich das Gericht hat leiten lassen<br />

und auf die es seinen Entscheid stützt. Dagegen wird nicht verlangt, dass sich die Begründung mit<br />

3


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich<br />

widerlegt (vgl. BGE 136 I 229 E. 5.2 S. 236; 184 E. 2.2.1 S. 188; je mit Hinweis).<br />

Die Beschwerdeführer rügen als Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV, dass die Vorinstanz ihre unbestritten<br />

gebliebenen und rechtsgenüglich behaupteten Vorbringen unbeachtet gelassen habe. Sie verkennen<br />

dabei freilich, dass das Gericht ohne Verletzung des rechtlichen Gehörs Vorbringen unbeachtet<br />

lassen kann, die es nicht als rechtserheblich erachtet.<br />

3.2 Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint<br />

oder gar vorzuziehen wäre. Das Bundesgericht hebt einen kantonalen Entscheid wegen Willkür<br />

vielmehr nur auf, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem<br />

Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in<br />

stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Dabei genügt es nicht, wenn sich nur<br />

die Begründung des angefochtenen Entscheides als unhaltbar erweist. Eine Aufhebung rechtfertigt<br />

sich nur dann, wenn der Entscheid auch im Ergebnis verfassungswidrig ist (BGE 134 <strong>II</strong> 124 E. 4.1 S.<br />

133 mit Hinweisen). Rügen betreffend die Beweiswürdigung sind nach Massgabe von Art. 106 Abs. 2<br />

BGG zu begründen (BGE 133 <strong>II</strong> 249 E. 1.4.3 S. 254 f. mit Hinweisen).<br />

3.2.1 Die Vorinstanz hat den Sachverhalt im angefochtenen Urteil spezifisch in Bezug auf die Sorgfaltspflichtverletzung<br />

gewürdigt und sich dabei namentlich mit den Vorbringen der Kläger auseinandergesetzt.<br />

Sie hat sich insbesondere mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Beklagte, als sie aus<br />

der Waschküche getreten sei, die Kinder noch gesehen oder gehört habe. Während das Bezirksgericht<br />

zum Schluss gelangte, die Beklagte habe die Kinder in diesem Zeitpunkt zwar nicht mehr gesehen,<br />

aber immerhin gehört, stellte die Vorinstanz fest, dass sich diese Frage weder bejahen noch<br />

verneinen lasse. Da die Kläger die Beweislast für die entsprechende Tatsache tragen, aus der sie eine<br />

Sorgfaltswidrigkeit ableiten, kann der Beklagten nach den Erwägungen der Vorinstanz nicht vorgeworfen<br />

werden, dass sie zu diesem Zeitpunkt die Kinder nicht gesucht oder nach ihnen Ausschau<br />

gehalten hat, womit eine Sorgfaltspflichtverletzung der Beklagten nicht bewiesen ist.<br />

3.2.2 Die Beschwerdeführer rügen in diesem Zusammenhang, sie hätten sich nicht darauf beschränkt,<br />

der Beschwerdegegnerin als Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen, dass sie sich im Zeitpunkt,<br />

als sie die Waschküche verliess, nicht mehr nach den Kindern umgesehen habe. Sie hätten<br />

vielmehr auch geltend gemacht, die Beklagte wäre spätestens ab dem Zeitpunkt, als sie aus der<br />

Waschküche trat sowie während der Dauer des gesamten Telefonats hindurch verpflichtet gewesen,<br />

die vertraglich zugesicherte Leistung der Beaufsichtigung von A.________ zu erbringen. Da die Beschwerdegegnerin<br />

nicht bestritten habe, dass sie von dem Zeitpunkt an, als sie sich von der Waschküche<br />

ins Haus begeben habe, bis zu dem Zeitpunkt, als sie eine Nachbarin (Frau Z.________) am<br />

Gartenzaun winken sah, nicht mehr gewusst habe, wo sich die Kinder aufhielten, halten die Beschwerdeführer<br />

dafür, die Vorinstanz habe willkürlich den unbestrittenen Sachverhalt bei ihrer Beweiswürdigung<br />

ignoriert.<br />

3.2.3 Die Beschwerdeführer verkennen, dass es sich nicht um eine Tatsachenfeststellung, sondern<br />

um eine Rechtsfrage handelt, wie "engmaschig" Kinder eines bestimmten Alters in bestimmten Umständen<br />

überwacht werden müssen. Sie behaupten aber selbst nicht, dass sie Tatsachen behauptet<br />

und zum Beweis verstellt hätten, aus denen sich eine bestimmte Zeitdauer ergeben würde zwischen<br />

dem Zeitpunkt, als die Beschwerdegegnerin die Waschküche verliess und dem Zeitpunkt, als sie während<br />

der Beantwortung des Telefonanrufs die gestikulierende Nachbarin am Zaun sah. Die Vorinstanz<br />

hat die Tatsachen weder offensichtlich unrichtig noch unvollständig festgestellt, wenn sie keine Feststellungen<br />

über eine Zeitdauer traf, die gar nicht behauptet wurde.<br />

3.3 Die Vorinstanz hat den Sachverhalt weder offensichtlich unrichtig noch in Verletzung des Rechts<br />

im Sinne von Art. 95 BGG festgestellt. Das Bundesgericht hat daher vom Sachverhalt auszugehen,<br />

den die Vorinstanz im angefochtenen Urteil festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG).<br />

4.<br />

Die Beschwerdeführer rügen, die Vorinstanz habe die Abmachung zwischen ihnen und der Beschwerdegegnerin<br />

vom 2. April 2001 zu Unrecht als Gefälligkeit und nicht als Auftrag qualifiziert.<br />

4


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

4.1 In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass auch im Bereich von Arbeitsleistungen unverbindliche<br />

Gefälligkeiten vorkommen, die keine Vertragsbindung entstehen lassen. Ob Vertrag oder Gefälligkeit<br />

vorliegt, entscheidet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere der Art der Leistung,<br />

ihrem Grund und Zweck, ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Bedeutung, den Umständen, unter<br />

denen sie erbracht wird und der Interessenlage der Parteien. Für einen Bindungswillen spricht ein<br />

eigenes, rechtliches oder wirtschaftliches Interesse der Person, welche die Leistung erbringt, oder ein<br />

erkennbares Interesse des Begünstigten an fachkundiger Beratung oder Unterstützung (BGE 129 <strong>II</strong>I<br />

181 E. 3.2, 116 <strong>II</strong> 695 E. 2b/bb S. 697 f.).<br />

Die Vorinstanz stellt zutreffend dar, dass die Gefälligkeit im Unterschied zum Vertrag unentgeltlich,<br />

uneigennützig und bei Gelegenheit erfolgt, ohne dass eine rechtsgeschäftliche Verpflichtung zur Leistungserbringung<br />

besteht (vgl. KRAMER, Berner Kommentar, der Allgemeinen Einleitung in das<br />

schweizerische <strong>OR</strong>, 1986, N. 63 ff.; HONSELL, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4. Aufl. 2005, § 9 N.<br />

38; GAUCH/SCHLUEP/ SCHMID, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 2008, N.<br />

353a/b; HÜRLIMANN-KAUP, Die privatrechtliche Gefälligkeit und ihre Rechtsfolgen, Diss. Fribourg<br />

1999, S. 6; ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, 2. Aufl. 1997, S. 221 f.). Als typisches Beispiel<br />

für Gefälligkeiten im täglichen Leben wird das Kinderhüten für eine beschränkte Dauer von zwei<br />

Stunden unter Freunden angeführt (HÜRLIMANN-KAUP, a.a.O., S. 83).<br />

4.2 Nach den Feststellungen der Vorinstanz wollten die Beschwerdeführer gleichzeitig wegfahren.<br />

Ihre Tochter wollte oder konnte weder mit dem Vater noch der Mutter mitgehen und weder Mutter<br />

noch Vater wollten oder konnten sie mitnehmen. Die Beschwerdegegnerin befand sich bei der Beschwerdeführerin<br />

und trank mit ihr Kaffee, während ihr fünfjähriger Sohn mit der noch nicht ganz<br />

vierjährigen Tochter der Beschwerdeführerin spielte. In dieser Situation erklärte sich die Beschwerdegegnerin<br />

bereit, auf die Tochter aufzupassen, während ihre Mutter zum Einkaufen fuhr. Die Vorinstanz<br />

hat diese Bereitschaft der Beschwerdegegnerin, die Tochter ihrer Nachbarn für eine beschränkte<br />

Zeit zu hüten, zutreffend als Gefälligkeit qualifiziert. Sie hat zutreffend berücksichtigt, dass<br />

Grund, Zweck und Interesse ausschliesslich bei den Eltern lagen, die gleichzeitig ihren Wohnort kurzfristig<br />

für Besorgungen verlassen und ihre Tochter nicht mitnehmen wollten. Die Gelegenheit, die<br />

Tochter unter diesen Umständen für die kurzfristige Abwesenheit der Aufsicht der Beschwerdegegnerin<br />

anzuvertrauen, ergab sich aus deren Besuch und dem Umstand, dass die fast gleichaltrigen<br />

Kinder miteinander spielten.<br />

4.3 Den Beschwerdeführern kann nicht gefolgt werden, wenn sie aus der Formulierung im angefochtenen<br />

Urteil, wonach sich die Parteien "auf das Hüten verständigt" hätten, ableiten wollen, es liege<br />

ein Konsens im Sinne von Art. 1 <strong>OR</strong> vor. Streitig ist gerade, ob die Verständigung auf eine rechtliche<br />

Bindung oder eine Gefälligkeit im Alltag gerichtet war. Dass das Hüten des Kindes definitionsgemäss<br />

umfasst, dieses vor Gefahren zu schützen, ist entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer zur Abgrenzung<br />

der strittigen Frage nicht geeignet. Die Vorinstanz hat vielmehr zutreffend erkannt, dass es<br />

die Beschwerdegegnerin als zufällig anwesende Nachbarin und Mutter eines etwa gleichaltrigen Kindes<br />

übernahm, die Tochter der Beschwerdeführerin kurzfristig zu beaufsichtigen. Die Beschwerdegegnerin<br />

erklärte sich bei Gelegenheit eines nachbarschaftlichen Besuchs aufgrund der kurzfristig<br />

entstandenen Situation für eine kurze Zeit zur Beaufsichtigung der Tochter der Beschwerdeführer<br />

bereit. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob die<br />

Beschwerdegegnerin in dieser Situation spontan von sich aus die Bereitschaft erklärte, auf das Mädchen<br />

aufzupassen, ob sie unter einem gewissen sozialen Druck handelte oder ob sie besonders darum<br />

gebeten wurde. Mit ihrer Kritik an einzelnen Formulierungen des angefochtenen Urteils vermögen<br />

die Beschwerdeführer die zutreffende Würdigung der Interessenlage durch die Vorinstanz nicht<br />

in Frage zu stellen: Das Interesse an der kurzfristigen Betreuung ihrer Tochter durch die Nachbarin<br />

und Mutter eines etwa gleichaltrigen Kindes lag auf Seiten der Beschwerdeführer, ohne dass ein direktes<br />

eigenes Interesse der Beschwerdegegnerin an dieser Betreuung erkennbar wäre. Die Vorinstanz<br />

hat das Verhältnis zutreffend als Gefälligkeit qualifiziert.<br />

5


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

5.<br />

Die Beschwerdeführer beanstanden sodann, die Vorinstanz habe die Haftung der Beschwerdegegnerin<br />

zu Unrecht verneint, weil sie von einem falschen Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung ausgegangen<br />

sei, wobei es ihrer Ansicht nach keine Rolle spielt, ob eine vertragliche oder deliktische Haftung<br />

greife.<br />

5.1 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung haftet die Person, welche aus Gefälligkeit eine<br />

Leistung erbringt, aus unerlaubter Handlung (BGE 116 <strong>II</strong> 695 E. 4 S. 699), während sinngemäss nach<br />

den Regeln über die Geschäftsführung ohne Auftrag haftet, wer Nutzen aus der Gefälligkeit zieht<br />

(BGE 129 <strong>II</strong>I 181 E. 4 S. 184, vgl. dazu etwa FELLMANN, HAVE 2003, S. 141; WIEGAND, ZBJV 2004, S.<br />

861 ff.; GAUCH, Bauernhilfe, in: SCHMID/SEILER [Hrsg.], Recht des ländlichen Raums, Luzerner Beiträge<br />

zur Rechtswissenschaft, Bd. 11, 2006, S. 191, 215). Dieser Praxis stimmt ein Teil der Lehre zu<br />

(vgl. ENGEL, a.a.O., S. 222; wohl auch WIEGAND, a.a.O., S. 864 f.), während ein anderer Teil der Doktrin<br />

eine vertragliche oder vertragsähnliche Haftung des Gefälligen befürwortet (vgl.<br />

GAUCH/SCHLUEP/SCHMID, a.a.O., N. 1190a; HÜRLIMANN-KAUP, a.a.O., S. 187). Die deliktische Haftung<br />

des Gefälligen ist systematisch gerechtfertigt dadurch, dass das Zustandekommen eines Vertrags<br />

gerade verneint wird und daher auch keine Vertragspflichten entstehen. Sie ist aber auch sachgerecht.<br />

Es trifft zwar zu, dass die leistende Person mit der Gefälligkeit die Verpflichtung übernimmt,<br />

bei der Leistungserbringung den Gefälligkeitsnehmer nicht zu schädigen (HÜRLIMANN-KAUP, a.a.O.,<br />

S. 144). Es ist jedoch nicht erkennbar, inwiefern sich die Art dieser Verpflichtung vom allgemeinen<br />

Verbot gemäss Art. 41 <strong>OR</strong> unterscheiden soll, niemandem widerrechtlich oder unsittlich schuldhaft<br />

Schaden zuzufügen. Dem Umstand, dass der Gefällige auch den Schutz blosser Vermögensinteressen<br />

übernehmen kann, ist mit der Anerkennung einer entsprechenden Garantenstellung hinreichend<br />

Rechnung getragen (BGE 116 <strong>II</strong> 695 E. 4 S. 699, vgl. auch GAUCH/SCHLUEP/SCHMID, a.a.O., N. 1190a<br />

mit Hinweisen). Eine Umkehr der Beweislast für das Verschulden des Gefälligen, die mit der Anerkennung<br />

einer vertragsähnlichen Haftung verbunden wäre, erscheint dagegen nicht gerechtfertigt.<br />

Die vorgebrachten Gründe überzeugen nicht, um die Praxis zu ändern. Vielmehr ist daran festzuhalten,<br />

dass der Gefällige nach Art. 41 <strong>OR</strong> haftet. Die Vorinstanz hat daher die Haftung der Beschwerdegegnerin<br />

zutreffend nach Art. 41 <strong>OR</strong> beurteilt.<br />

5.2 Wer Schadenersatz aus Art. 41 Abs. 1 <strong>OR</strong> beansprucht, hat den Schaden, die widerrechtliche<br />

Handlung, den Kausalzusammenhang sowie das Verschulden zu beweisen (BGE 132 <strong>II</strong>I 122 E. 4.1 S.<br />

130). Ergibt sich die Rechtswidrigkeit aus der Verletzung eines absoluten Rechts (BGE 133 <strong>II</strong>I 323 E.<br />

5.1 S. 330; 132 <strong>II</strong>I 122 E. 4.1; 124 <strong>II</strong>I 297 E. 5b S. 301), so hat die geschädigte Person insbesondere den<br />

- für die widerrechtliche Schädigung kausalen - Mangel an objektiv gebotener Sorgfalt zu beweisen<br />

(BGE 120 Ib 411 E. 4a S. 414, 115 Ib 175 E. 2b S. 181). Die Sorgfaltswidrigkeit ergibt sich aus dem Vergleich<br />

des tatsächlichen Verhaltens des Schädigers mit dem hypothetischen Verhalten eines durchschnittlich<br />

sorgfältigen Menschen in der Situation des Schädigers (BGE 116 Ia 162 E. 2c S. 170f; 112 <strong>II</strong><br />

172 E. 2c S. 180, vgl. auch Urteil 4A_22/2008 vom 10. April 2008 E. 3).<br />

Gemäss Art. 99 Abs. 2 <strong>OR</strong> richtet sich das Mass der Haftung nach der besonderen Natur des Geschäfts<br />

und wird insbesondere milder beurteilt, wenn das Geschäft für den Schuldner keinerlei Vorteil<br />

bezweckt. Diese systematisch in das Vertragsrecht eingereihte Bestimmung findet a fortiori auch<br />

auf Gefälligkeitshandlungen Anwendung, bei denen ein rechtsgeschäftlicher Bindungswille fehlt<br />

(HONSELL, a.a.O., § 9 N. 38). Bei Gefälligkeiten ist mithin grundsätzlich von einer verminderten Sorgfaltspflicht<br />

auszugehen (THIER, in: Honsell [Hrsg.], Kurzkommentar <strong>OR</strong>, 2008, N. 7 zu Art. 99 <strong>OR</strong>). Es<br />

muss in der Regel genügen, dass der Gefällige jene Sorgfalt aufwendet, die er auch in eigenen Angelegenheiten<br />

beachtet (sog. eigenübliche Sorgfalt oder diligentia quam in suis). Denn wer im vertragsfreien<br />

Raum um eine Gefälligkeit bittet, kann vom Gefälligen nicht verlangen, eine höhere Sorgfalt als<br />

die eigenübliche aufzuwenden.<br />

5.2.1 Ein Elternteil wird der Überwachung der Kinder die nach den Umständen gebotene Aufmerksamkeit<br />

schenken. Vorliegend ist nach den Feststellungen der Vorinstanz davon auszugehen, dass die<br />

drei vier- bis fünfjährigen Kinder im Garten der Beschwerdegegnerin und im unmittelbaren Umfeld<br />

der Liegenschaft spielten. Die Beschwerdegegnerin verrichtete Arbeiten im Haushalt und beaufsich-<br />

6


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

tigte die spielenden Kinder in der Weise, dass sie sich hie und da darüber vergewisserte, dass die<br />

Kinder sich weiterhin im Umfeld aufhielten und mit ungefährlichen Spielen beschäftigt waren. In<br />

dieser Situation wäre lebensfremd anzunehmen, der mit der Aufsicht beschäftige Elternteil schaue in<br />

regelmässigen Abständen von 5 oder 10 Minuten bewusst nach den spielenden Kindern, wie dies die<br />

Beschwerdeführer in ihrer Beschwerde zum Massstab erheben wollen. Vielmehr ist davon auszugehen,<br />

dass die Arbeiten im Haushalt die Aufmerksamkeit des Elternteils zeitweise beanspruchen, so<br />

dass diese jeweils in unregelmässigen Abständen unterbrochen werden, um sich zu vergewissern,<br />

dass mit den Kindern alles noch in Ordnung ist. Dabei wird der Elternteil eher häufiger ein Auge oder<br />

ein Ohr den Kindern widmen, wenn aufgrund ihres Verhaltens mit einer gefährlichen Situation zu<br />

rechnen ist, während eher längere Zeit den Haushaltarbeiten gewidmet werden kann, wenn die Kinder<br />

in einer ihnen vertrauten Umgebung so beschäftigt sind, dass mit abrupten Ideen konkret nicht<br />

gerechnet werden muss. Es kann daher entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer, die dem erstinstanzlichen<br />

Urteil entspricht, nicht angenommen werden, dass ein Kind im Alter von knapp vier Jahren,<br />

das mit zwei ungefähr 5-jährigen Kindern im Garten spielt, in jedem Fall nach maximal fünf Minuten<br />

an seinem Standort zu kontrollieren ist.<br />

5.2.2 Die Vorinstanz hat ihrer Entscheidung das Vorbringen der Beschwerdeführer zu Grunde gelegt,<br />

dass sich die Beklagte über den Verbleib der Kinder hätte vergewissern müssen, als sie aus der<br />

Waschküche in das Haus ging. Die Vorinstanz ist insofern der Ansicht gefolgt, dass ein durchschnittlich<br />

aufmerksamer Elternteil in der Situation der Beschwerdegegnerin nach Beendigung der Arbeit<br />

mit der Wäsche sich vergewissert hätte, dass die Kinder noch immer im Garten beim oder im Schopf<br />

spielten. Während die erste Instanz als erstellt erachtete, dass die Beschwerdegegnerin die Kinder<br />

noch hörte, als sie die Waschküche verliess, hat die Vorinstanz dies nicht als nachgewiesen erachtet.<br />

Sie hat aber erkannt, dass die Beschwerdeführer die Beweislast für die behauptete Verletzung der<br />

Sorgfaltspflicht tragen und dementsprechend mangels Beweises, dass sich die Beschwerdegegnerin<br />

sorgfaltswidrig über den Verbleib der Kinder beim Verlassen der Waschküche nicht vergewissert habe,<br />

die Folgen der Beweislosigkeit den Beschwerdeführern auferlegt. Damit hat sie keine Bundesrechtsnormen<br />

verletzt.<br />

5.2.3 Die Beschwerdeführer bringen unter Berufung auf das erstinstanzliche Urteil vor, die Beschwerdegegnerin<br />

habe während 15 Minuten die Kinder weder gesehen noch gehört, nachdem sie<br />

sich von der Waschküche ins Haus begeben hatte. Daraus leiten sie ab, die Beschwerdegegnerin habe<br />

die Kinder zu wenig engmaschig überwacht.<br />

In ihren Rechtsschriften vor den kantonalen Gerichten haben die Beschwerdeführer die angebliche<br />

Sorgfaltswidrigkeit zwar stets auf die gesamte Zeitspanne vom Moment, als die Beschwerdegegnerin<br />

in die Wachküche ging, bis zur Entdeckung der gestikulierenden Nachbarin während des Telefongesprächs<br />

bezogen. Aus den Sachverhaltsfeststellungen im angefochtenen Urteil ergeben sich aber<br />

keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdegegnerin während der - auch nach der Behauptung<br />

der Beschwerdeführer höchstens 15 Minuten dauernden - Zeitperiode nach der Rückkehr aus der<br />

Waschküche bis zur Wahrnehmung der Nachbarin am Zaun konkreten Anlass gehabt hätte, nach den<br />

Kindern zu sehen. Die Vorinstanz hat damit keine Bundesrechtsnormen verletzt, wenn sie auch insofern<br />

den Nachweis einer Sorgfaltspflichtverletzung durch die Beschwerdegegnerin, welche für den<br />

Unfall kausal gewesen sein könnte, als nicht erbracht ansah.<br />

6.<br />

Damit erweist sich die Beschwerde als unbegründet. Sie ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten<br />

ist.<br />

Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend werden die Beschwerdeführerin kosten- und entschädigungspflichtig<br />

(Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG).<br />

Demnach erkennt das Bundesgericht:<br />

1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.<br />

2. Die Gerichtskosten von Fr. 6'000.-- werden den Beschwerdeführern (in solidarischer Haftung<br />

und intern zu gleichen Teilen) auferlegt.<br />

7


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

3. Die Beschwerdeführer haben die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren (in<br />

solidarischer Haftung und intern zu gleichen Teilen) mit Fr. 7'000.-- zu entschädigen.<br />

4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, <strong>II</strong>. Zivilkammer, schriftlich<br />

mitgeteilt.<br />

Lausanne, 20. Oktober 2011<br />

Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung<br />

des Schweizerischen Bundesgerichts<br />

Die Präsidentin: Klett<br />

Der Gerichtsschreiber: Hurni<br />

BGE 122 <strong>II</strong>I 101 = Pra 85 (1996) Nr. 188<br />

188. <strong>OR</strong> 60 Abs. 1, 61 Abs. 1. Die Verantwortlichkeit des Chefarztes an einem Spital gegenüber seinen<br />

Privatpatienten können die Kantone ihrem öffentlichen Recht unterstellen, dies im Sinne einer einheitlichen<br />

Regelung, die für alle den Patienten in einem öffentlichen Spital zukommenden medizinischen<br />

Leistungen gilt. Mit dieser Regelung verjährt im vorliegenden Fall die Forderung aus unerlaubter<br />

Handlung einer Privatpatientin gegenüber einem Chefarzt mit Ablauf von einem Jahr.<br />

Sachverhalt<br />

X konsultierte als Privatpatientin Professor Y, Chefarzt am Universitätsspital in O. Vor einer Operation<br />

infolge einer vererbten Krankheit ersuchte sie diesen schriftlich, sie während dieser Operation zu<br />

unterbinden. Fast zehn Jahre später erhebt sie gegenüber Professor Y die Rüge, sie sterilisiert zu haben,<br />

ohne dass dies aus medizinischer Sicht gerechtfertigt gewesen wäre und ohne sich vorgängig<br />

vergewissert zu haben, dass sie dem Eingriff frei und in voller Kenntnis der Sache zustimmte. X klagte,<br />

Y sei zu verpflichten, ihr den Betrag von Fr. 336 000.- zu bezahlen, welcher die Rückerstattung<br />

ihrer Psychotherapiekosten, eine Entschädigung für Erwerbsausfall und Genugtuung umfasste. Das<br />

erstinstanzliche Gericht des Kantons Genf wies die Klage ab mit der Begründung, sie sei aufgrund von<br />

Art. 60 Abs. 1 <strong>OR</strong>, der als ergänzendes kantonales Recht zur Anwendung kam, verjährt. Die Vorinstanz<br />

bestätigte das angefochtene Urteil. Gleichzeitig mit einer staatsrechtlichen Beschwerde, die,<br />

soweit sie zulässig war, abgewiesen wurde, legt die Klägerin Berufung vor Bundesgericht ein. Sie beantragt,<br />

der kantonale Entscheid sei aufzuheben mit der Begründung, ihre Forderungen seien nicht<br />

verjährt, und die Sache sei zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Bundesgericht<br />

weist die Berufung ab.<br />

Aus den Erwägungen<br />

1. Die Klägerin reichte gegen den Beklagten beim erstinstanzlichen Gericht des Kantons Genf Klage<br />

ein. Sie stützte ihre Forderung auf die Art. 394 ff. und 127 <strong>OR</strong>. Weil der Fall nach Auffassung des Genfer<br />

Gerichts öffentlich-rechtlicher Natur war und das Gericht nach dem Genfer Rechtspflegegesetz<br />

auch zuständig ist, Streitigkeiten bezüglich der Haftung des Staates für die Handlungen seiner Beamten<br />

zu entscheiden, beurteilte es die Sache nach kantonalem öffentlichem Recht. In ihrer Berufung<br />

macht die Klägerin geltend, die Vorinstanz habe zu Unrecht kantonales öffentliches Recht statt Bundesprivatrecht<br />

angewandt.<br />

8


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Soweit die Klägerin behauptet, ihre Klage sei zivilrechtlicher Natur, und eine Verletzung der derogatorischen<br />

Kraft des Bundesrechts geltend macht (Art. 2 der Übergangsbestimmungen der BV [BV-<br />

UeB]), hat das Bundesgericht diese Rüge im Rahmen der Berufung zu prüfen (Poudret, Commentaire<br />

de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Bern 1990, N 1.6.1 zu Art. 43 OG). Die Wahl des Rechtsmittels<br />

darf nicht von der Natur des von der Vorinstanz angewandten Rechts abhängen, im vorliegenden<br />

Fall vom kantonalen öffentlichen Recht. Die Berufungsinstanz hat daher zu prüfen, ob die Vorinstanz<br />

Bundesprivatrecht verletzt habe, weil sie davon ausging, dass der Beklagte bei der Wahrnehmung<br />

seiner öffentlichen Aufgabe als Beamter und daher in Anwendung öffentlichen Rechts in der Verantwortung<br />

des Staates gehandelt habe.<br />

2. Nach Auffassung der Vorinstanz bestimmt sich die Verantwortlichkeit des Beklagten nach kantonalem<br />

öffentlichem Recht, weil der Chefarzt eines öffentlichen Spitals auch gegenüber seinen Privatpatienten<br />

als Beamter handle. Weil das angeblich schädigende Ereignis im Jahre 1981 erfolgte, unterliege<br />

die Verantwortlichkeit des Beklagten dem alten Genfer Gesetz über die Haftung des Staates und<br />

der Gemeinden vom 23. Mai 1900 (folgend: aSHG), das gegenüber dem Geschädigten eine konkurrierende<br />

Haftung des Staates und seiner Beamten vorsieht. Da Art. 3 aSHG auf die allgemeinen Regeln<br />

des <strong>OR</strong> verweist, betrage die Verjährungsfrist nach Art. 60 <strong>OR</strong>, der als ergänzendes kantonales Recht<br />

zur Anwendung komme, ein Jahr, und damit sei das klägerische Begehren verjährt. Die Klägerin kritisiert<br />

diese Begründung. Weil sie eine Privatpatientin war, macht sie geltend, ihre Klage betreffe nicht<br />

die amtliche sondern die als Privatarzt ausgeübte Tätigkeit des Beklagten. Seine Verantwortlichkeit<br />

richte sich daher nach Bundesprivatrecht, d.h. nach den Regeln des Auftrags (Art. 394 ff. <strong>OR</strong>), und<br />

somit betrage die Verjährungsfrist nach Art. 127 <strong>OR</strong> zehn Jahre.<br />

a) Grundsätzlich haften die öffentlichen Beamten und Angestellten für den von ihnen verursachten<br />

Schaden nach Bundesrecht (Art. 41 ff. <strong>OR</strong>). Aufgrund von Art. 61 <strong>OR</strong> können die Kantone über die<br />

Pflicht von öffentlichen Beamten und Angestellten, den Schaden, den sie in Ausübung ihrer amtlichen<br />

Verrichtungen verursachen, zu ersetzen oder Genugtuung zu leisten, auf dem Weg der Gesetzgebung<br />

von Art. 41 ff. abweichende Bestimmungen aufstellen (Abs. 1); für gewerbliche Verrichtungen<br />

können jedoch die Bestimmungen von Art. 41 ff. <strong>OR</strong> nicht geändert werden (Abs. 2). Somit gilt es<br />

festzustellen, inwieweit die Kantone von den Bestimmungen über die Haftung aus unerlaubter Handlung<br />

abweichen und welche Handlungen sie ihrem eigenen Recht unterstellen können. Insbesondere<br />

ist zu prüfen, ob sie ohne Verletzung des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts<br />

die Verantwortlichkeit der Ärzte, die berechtigt sind, Privatpatienten zu behandeln, für die Handlungen<br />

gegenüber ihren Privatpatienten regeln dürfen.<br />

aa) Nach der Rechtsprechung gilt die Behandlung von Patienten in öffentlichen Spitälern nicht als<br />

gewerbliche Verrichtung, sondern als Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe. Schäden, die dabei entstehen<br />

können, sind auf die Ausübung staatlicher Hoheit zurückzuführen; sie begründen keine Verletzung<br />

eines privatrechtlichen Vertrags, und zwar selbst dann nicht, wenn das Rechtsverhältnis zwischen<br />

dem Patienten und dem Spital einem Vertrag gleicht, weil sich der erstere verpflichtet, die<br />

Kosten des letzteren zu übernehmen und ihm eine Vergütung leistet (BGE 115 I b 175 E. 2, 111 <strong>II</strong> 149<br />

E. 3a = Pr 78 Nr. 251, 74 Nr. 208). Daher beurteilt sich in erster Linie nach dem kantonalen öffentlichen<br />

Recht, gegen wen und unter welchen Voraussetzungen der Patient wegen fehlerhafter Behandlung<br />

auf Schadenersatz und Genugtuung klagen kann (BGE 115 I b 175 E. 2 = Pr 78 Nr. 251). In den<br />

BGE 82 <strong>II</strong> 324; 102 <strong>II</strong> 45, 112 I b 334 (= , 76 Nr. 59) hat das Bundesgericht deshalb das Rechtsverhältnis<br />

zwischen dem Privatpatienten und dem Chefarzt des Spitals beurteilt, indem es sich vorerst auf<br />

kantonales Recht stützte. Als es im letzten dieser Entscheide eine kantonale Gesetzesregel interpretieren,<br />

d.h. deren Tragweite bestimmen musste, entschied es ausserdem, dass man nicht von einer<br />

Tätigkeit eines Privatarztes sprechen könne, wenn mehrere Ärzte an einer Operation beteiligt sind.<br />

Das Staatshaftungsgesetz würde seines Gehalts entleert, wenn man annehmen wollte, dass der<br />

Schaden, für den eine ganze Gruppe von Spitalärzten einstehen muss, die Staatshaftung wegen des<br />

angeblich privaten Charakters der Tätigkeit des Chefarztes nicht auslösen würde; das Opfer oder<br />

seine Rechtsnachfolger sind in aller Regel nicht in der Lage, die Rolle jeder an einer Operation betei-<br />

9


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

ligten Person zu erkennen. Während das Bundesgericht die Frage der Qualifikation der den Privatpatienten<br />

zukommenden ambulanten Pflege und der von den Chefärzten erstellten Gutachten offen<br />

liess, entschied es, dass eine unterschiedliche Regelung mit dem Sinn und Geist des Staatshaftungsgesetzes<br />

im Falle von hospitalisierten Patienten unvereinbar sei und sich demnach mit anderen Worten<br />

eine einheitliche Regelung aufdränge (BGE 112 I b 337 f E. 2c = Pr 76 Nr. 59).<br />

bb) Art. 61 Abs. 1 <strong>OR</strong> enthält einen fakulativen oder ermächtigenden Vorbehalt zugunsten des kantonalen<br />

öffentlichen Rechts (Huber, Berner Kommentar, N 103 zu Art. 6 ZGB; Liver, Berner Kommentar,<br />

N 18 zu Art. 5 ZGB; Deschenaux, Le titre préliminaire du code civil, Traité de droit privé suisse<br />

[TDP], Bd. <strong>II</strong>/1, Fribourg 1969, S. 38). Die Kantone sind demnach frei, die Handlungen der Ärzte als<br />

Beamte dem kantonalen öffentlichen Recht zu unterstellen, und sie können dies auch für die Handlungen<br />

der Ärzte gegenüber ihren Privatpatienten tun. Machen die Kantone von dieser Möglichkeit<br />

keinen Gebrauch, unterstehen die Handlungen der Ärzte subsidiär direkt Art. 41 ff. <strong>OR</strong>. Im unveröffentlichten<br />

Entscheid vom 18. April 1989, i.S. R. c. Kanton Schaffhausen hat das Bundesgericht eine<br />

einheitliche Regelung begrüsst, insbesondere unter dem Aspekt der Haftung für alle den Patienten in<br />

einem öffentlichen Spital zukommenden medizinischen Pflegeleistungen und Behandlungen, ohne<br />

Rücksicht auf die Person des Patienten oder auf die Abteilung, in der er behandelt wird. Es rechtfertigt<br />

sich daher keineswegs, den Kantonen zu verbieten, in Abweichung von Art. 61 Abs. 1 <strong>OR</strong> eine<br />

einheitliche Regelung dieser Art aufzustellen. Die private Tätigkeit der Chefärzte ist eine Nebenbeschäftigung,<br />

die der Kanton als amtliche Tätigkeit qualifizieren und der einheitlichen Regelung unterstellen<br />

kann, ob sie nun individuell oder in Mitarbeit mit anderen Beamten ausgeübt wird. Eine solche<br />

Regelung liegt ganz klar im Interesse der Patienten.<br />

cc) Daher erfolgt eine Abgrenzung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Recht in einem solchen<br />

Fall nicht nach den üblichen Theorien, namentlich der Subordinations–, der Interessens- oder<br />

der Subjektstheorie, sondern nach dem Gebrauch, den der Kanton vom Vorbehalt von Art. 61 Abs. 1<br />

<strong>OR</strong> gemacht hat. Das kantonale Recht bestimmt daher, ob das Rechtsverhältnis zwischen dem Spital<br />

und seinen Benützern ausschliesslich öffentlicher oder teilweise privater Natur ist. Er legt fest, ob<br />

und inwieweit die Chefärzte, die berechtigt sind, eine private Tätigkeit auszuüben, für den Schaden<br />

haften, den sie ihren Privatpatienten zufügen. Das kantonale Recht und gegebenenfalls seine Auslegung<br />

ist im Berufungsverfahren allerdings nicht zu überprüfen. Nur wenn es sich herausstellen würde,<br />

dass der Kanton von der in Art. 61 Abs. 1 <strong>OR</strong> vorgesehenen Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht<br />

hat, dass er die streitige schädigende Handlung des Arztes nicht dem kantonalen öffentlichen<br />

Recht unterstellt hat, müsste ein Verstoss gegen Art. 41 ff. <strong>OR</strong> durch die Berufungsinstanz überprüft<br />

werden.<br />

b) Mit separatem Entscheid vom heutigen Tag wurde die von der Klägerin eingereichte staatsrechtliche<br />

Beschwerde, soweit sie zulässig war, abgewiesen. Da die Vorinstanz das öffentliche Recht des<br />

Kantons Genf im vorliegenden Fall nicht willkürlich angewandt hat, kann die subsidiäre Anwendung<br />

von Art. 41 ff. <strong>OR</strong> nicht Platz greifen. Da sich keine Verletzung von Bundesprivatrecht feststellen lässt,<br />

ist die vorliegende Berufung abzuweisen und der angefochtene Entscheid zu bestätigen.<br />

BGE 113 <strong>II</strong> 246<br />

45. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 28. April 1987 i.S. X. gegen Luftseilbahn Zermatt-<br />

Schwarzsee-Klein Matterhorn AG (Berufung)<br />

Regeste<br />

Haftung der Bergbahnen bei Skiunfällen (Art. 41, Art. 97 <strong>OR</strong>).<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Bergbahnunternehmungen, die Skipisten anlegen und unterhalten, haften nicht nur ausservertraglich,<br />

sondern auch vertraglich für Pistensicherheit. Die Pistensicherungspflicht ist eine vertragliche<br />

Nebenpflicht zum Transportvertrag (E. 3-10).<br />

Sachverhalt<br />

A.- Am 18. Mai 1977 verunfallte der deutsche Skitourist X. schwer, indem er bei einem Ausweichmanöver<br />

über eine Schneewächte gegen einen Anbau der Talstation der Luftseilbahn Furgg-Trockener<br />

Steg stürzte. Er zog sich schwere Schädelverletzungen zu, musste sein Medizinstudium aufgeben und<br />

einen medizinischen Hilfsberuf erlernen. Ein Strafverfahren gegen Unbekannt wurde am 31. Dezember<br />

1979 mangels Nachweises einer strafbaren Handlung eingestellt.<br />

B.- Am 25. April 1984 klagte X. gegen die Luftseilbahn Zermatt-Schwarzsee-Klein Matterhorn AG auf<br />

Bezahlung von Fr. 123'041.30 Schadenersatz nebst Zins sowie Fr. 50'000.-- bis Fr. 60'000.-- Genugtuung.<br />

Auf Antrag beider Parteien beschränkte das Kantonsgericht Wallis das Verfahren auf die Frage<br />

der Verjährung. In einem sogenannten Teilurteil vom 11. April 1986 stellte es fest, dass die Beklagte<br />

für den Unfall des Klägers ausservertraglich hafte; sodann schützte es die Verjährungseinrede und<br />

wies die Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen des Klägers ab.<br />

C.- Der Kläger hat gegen das Urteil des Kantonsgerichts Berufung erhoben mit dem Antrag, es aufzuheben,<br />

die Einrede der Verjährung zu verwerfen und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz<br />

zurückzuweisen. Die Beklagte ersucht, die Berufung abzuweisen.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

3. Bergbahnunternehmungen, die wie die Beklagte Skipisten anlegen und unterhalten, haften unbestritten<br />

ausservertraglich für Pistensicherheit. Es trifft sie eine entsprechende Verkehrssicherungspflicht,<br />

die ausser den eigentlichen Pisten auch Randzonen und namentlich die unmittelbare Umgebung<br />

der Talstation umfasst (BGE 109 IV 100; BGE 101 IV 398 E. 1 und 400 E. 2b). Diese ausservertragliche<br />

Haftung schliesst eine zusätzliche vertragliche Haftung der Bahnunternehmung für den gleichen<br />

Schaden nicht aus. Wenn der Schädiger durch sein Verhalten gleichzeitig eine vertragliche<br />

Pflicht verletzt und eine unerlaubte Handlung begeht, kann sich der Geschädigte nebeneinander auf<br />

beide Haftungsgründe berufen (BGE 112 <strong>II</strong> 142 E. 3b; BGE 99 <strong>II</strong> 321 E. 5 mit Hinweisen). Ob die Haftungsgrundlage<br />

vertraglicher oder ausservertraglicher Natur sei, ändert zwar nichts am Inhalt der<br />

Verkehrssicherungspflicht, aber die Rechtsstellung des Geschädigten ist im ersten Fall bezüglich der<br />

Beweislast für das Verschulden (Art. 97 Abs. 1 <strong>OR</strong> im Vergleich zu Art. 41 <strong>OR</strong>) und bezüglich der Verjährungsfrist<br />

(Art. 127 <strong>OR</strong> im Vergleich zu Art. 60 <strong>OR</strong>) besser.<br />

4. Der Kläger erwarb von der Beklagten ein Wochenabonnement, das ihn zu unbeschränkten Bahnfahrten<br />

berechtigte. Ein vertraglicher Anspruch auf Pistensicherung müsste sich aus einer Nebenpflicht<br />

zu diesem Transportvertrag ergeben.<br />

Es folgt aus Treu und Glauben, dass der Schuldner alles tun muss, um die richtige Erfüllung der<br />

Hauptleistung und die Verwirklichung des Leistungserfolgs zu sichern (GUHL/MERZ/KUMMER, <strong>OR</strong>, 7.<br />

Aufl., S. 13; MERZ N. 260 zu Art. 2 ZGB). Im Vordergrund stehen dabei die nicht auf den Hauptleistungsinhalt<br />

bezogenen Schutzpflichten, die namentlich Leben und Gesundheit des Partners zu wahren<br />

bestimmt sind; die allgemeine Schutzpflicht dessen, der einen Gefahrenzustand schafft, wird zur<br />

vertraglichen Nebenpflicht, wenn die Gefährdung mit der Abwicklung des Vertrages im Zusammenhang<br />

steht (MERZ, a.a.O. N. 269). In diesem Sinn wurde etwa eine vertragliche Haftung des Veranstalters<br />

bei Verletzung eines Zuschauers bejaht, soweit ein Eintrittsgeld zu bezahlen war (BGE 70 <strong>II</strong><br />

216 E. 2 u. 3, vgl. BGE 79 <strong>II</strong> 69 E. 1; entsprechend für Hospitalisierungsvertrag BGE 92 <strong>II</strong> 19, für Gastaufnahmevertrag<br />

BGE 71 <strong>II</strong> 114 E. 4).<br />

Auf dieser Grundlage ist zu untersuchen, ob die Pistensicherung als vertragliche Nebenpflicht des mit<br />

einer Bergbahn abgeschlossenen Transportvertrags zu betrachten ist.<br />

11


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

5. In der Lehre sind die Auffassungen geteilt. KLEPPE (Die Haftung bei Skiunfällen in den Alpenländern,<br />

München/Berlin 1967, Nr. 169), PICHLER (Pisten, Paragraphen, Skiunfälle, Wien 1970, S. 77),<br />

WANNER (La responsabilité civile à raison des pistes de ski, Diss. Lausanne 1970, S. 32 ff.), STIFFLER<br />

(Verkehrssicherungspflicht für Skipisten, in: SJZ 67/1971 S. 103) und WELSER (Haftprobleme der Wintersportausübung,<br />

in: Sprung/König, Das österreichische Schirecht, Innsbruck 1977, S. 405 ff.) lehnen<br />

eine vertragliche Nebenpflicht ab, wobei sie teils freilich Vorbehalte je nach der Werbung der Bahnunternehmung<br />

anbringen. Auch DANNEGGER (Haftungsfragen im Recht des Skifahrers, in: Festgabe<br />

Wilhelm Schönenberger, 1968, insb. S. 241 f.) bejaht einen solchen Vertragsinhalt nur für den Fall,<br />

dass die Bahnunternehmung besonders mit den von ihr unterhaltenen Pisten werbe. Darüber hinaus<br />

und ganz allgemein bejahen schliesslich sowohl DALLÈVES (La responsabilité pour les pistes de ski,<br />

ZWR 1975 S. 474 und SJK 582, 1981) als auch entgegen seiner früheren Meinung STIFFLER (Schweizerisches<br />

Skirecht 1978, S. 130 ff.) eine vertragliche Nebenpflicht zum Pistenunterhalt. In der nämlichen<br />

Richtung scheint sich auch die deutsche Lehre zu entwickeln (BÖRNER, Sportstätten-Haftungsrecht,<br />

Berlin 1985, S. 118 ff.).<br />

Aus der Rechtsprechung kantonaler Gerichte sind insbesondere die ablehnenden Entscheide des<br />

Walliser Kantonsgerichts bekannt (Urteil vom 30. Januar 1975, ZWR 1975, S. 260 ff.; Urteil vom 28.<br />

März 1979, ZWR 1979, S. 314 ff.; Urteil vom 9. Februar 1983, ZWR 1983, S. 113 ff.), welche das Kantonsgericht<br />

im angefochtenen Urteil bestätigt und präzisiert, sowie ein Urteil des Kantonsgerichts<br />

Graubünden vom 11. August 1967, in welchem eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für einen Pistenunfall<br />

unter anderem mit einer Pistensicherungspflicht als vertragliche Nebenwirkung des Transportvertrags<br />

begründet wurde (SJZ 64/1968, S. 118 ff.; vgl. auch Urteil vom 5. März 1985, PKG 1985,<br />

Nr. 7, in welchem das Kantonsgericht offen lassen konnte, ob Art. 41 oder 97 <strong>OR</strong> anwendbar war).<br />

Eine Arbeitsgruppe des Schweizerischen Verbandes der Seilbahnunternehmungen bejahte 1976<br />

ebenfalls eine vertragliche Nebenpflicht, wobei zwischen den Parteien streitig ist, wieweit diese Ansicht<br />

heute noch Geltung hat.<br />

6. Im vorliegenden Fall geht es ausschliesslich um die Pistensicherungspflicht von Luftseilbahnen, die<br />

ein eigentliches Skigebiet erschliessen. Wieweit auch Bergbahnen, bei denen dies nicht zutrifft, entsprechende<br />

Schutzpflichten andern Inhalts (für Schlittenabfahrten, Wanderwege und ähnliches) zu<br />

erfüllen haben, bleibt offen.<br />

a) In solchen Skigebieten besteht offensichtlich ein enger Zusammenhang zwischen dem Bergtransport<br />

mit der Bahn und der Abfahrt auf Skiern. Selbst wenn eine Bahn auch im Sommer eine gute Frequenz<br />

aufweist, liegt das Hauptgewicht auf dem Winterbetrieb. Zu Recht weist der Kläger darauf hin,<br />

dass neue Konzessionen nur nach Prüfung des Skiabfahrtenprogramms erteilt werden (Art. 8, Art. 10<br />

Abs. 2 lit. d der Luftseilbahnkonzessionsverordnung; SR 743.11). Die Bedeutung der Skipisten für den<br />

wirtschaftlichen Erfolg der Bahn ergibt sich aus dem Umstand, dass der Skifahrer die Bahn gewöhnlich<br />

mehrmals täglich benützt. Die Tages- und Wochenkarten bekommen denn auch nur in Verbindung<br />

mit Pisten ihren Sinn.<br />

b) Daraus ergibt sich ohne weiteres, dass in der Regel die Bahnunternehmung auch den Pistenunterhalt<br />

und Rettungsdienst besorgt. Das Kantonsgericht erklärt dies ausdrücklich mit der Absicht, möglichst<br />

viele Skifahrer zum Abschluss von Transportverträgen zu veranlassen; besser kann der innere<br />

Zusammenhang zwischen Bergfahrt und Piste kaum umschrieben werden. Es ist auch unbestritten,<br />

dass die Bahnunternehmungen insgesamt einen erheblichen Teil ihrer Wintereinnahmen für den<br />

Pistenbetrieb aufwenden; damit sind aber auch diese Kosten im Preis der Fahrausweise eingerechnet.<br />

Wie es sich verhält, wenn ausnahmsweise andere Organisationen für den Pistendienst verantwortlich<br />

sind, braucht nicht geprüft zu werden. Jedenfalls besteht kein Grund, entsprechend einzelnen<br />

Autoren die Haftung danach zu differenzieren, ob die Bahnunternehmung selbst mit dem Hinweis<br />

auf gute Skipisten wirbt. Das dürfte zwar heute die allgemeine Regel sein, namentlich in Form<br />

von Prospekten, Hinweistafeln und dergleichen; am Eindruck für die Bahnbenützer ändert sich indes<br />

nichts, wenn dieses Werbematerial von einem örtlichen Verkehrsverein herausgegeben wird, der<br />

damit für die Bahnen wirbt.<br />

12


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

c) Nach dem Vertrauensgrundsatz darf der Benützer einer derartigen Luftseilbahn sich darauf verlassen,<br />

dass diese nicht nur die Hauptleistung des Transportes erfüllt, sondern auch als Nebenleistung<br />

für Pistensicherheit und Rettungsdienst sorgt. Es verhält sich damit nicht anders als mit der Informations-<br />

und Warnungspflicht (Pistenzustand, Lawinengefahr etc.), in der auch Autoren eine vertragliche<br />

Nebenpflicht sehen, die dies für die Pistensicherung ablehnen (WELSER, a.a.O. S. 408).<br />

7. Unerheblich ist demgegenüber, dass nicht alle Bahnbenützer mit Skiern und auf den Pisten zu Tal<br />

fahren, da ein Bahnbenützer nicht alle Nebenleistungen der Bahn in Anspruch nehmen muss. Ebensowenig<br />

kommt es darauf an, dass die Pisten auch von Skifahrern benützt werden dürfen, die nicht<br />

mit der Bahn angefahren sind. In dieser Hinsicht machen Kantonsgericht und Beklagte zu Unrecht<br />

einen Anspruch aller Pistenbenützer auf rechtsgleiche Behandlung geltend; es entspricht der Konkurrenz<br />

von vertraglicher und ausservertraglicher Haftung, dass nur letztere geltend machen kann, wer<br />

sich nicht auf einen Vertrag zu stützen vermag. Das dürfte auch dort eine angemessene Lösung ergeben,<br />

wo mehrere Bahnunternehmungen das gleiche grosse Skigebiet erschliessen; wer dabei den<br />

Pistenbereich der Bahn, mit der er einen Transportvertrag geschlossen hat, verlässt, kann allenfalls<br />

auf die ausservertragliche Haftung einer andern Unternehmung beschränkt sein; vorliegend steht das<br />

unstreitig nicht zur Diskussion.<br />

Ergibt sich nach Treu und Glauben eine vertragliche Pistensicherungspflicht, so kommt nichts darauf<br />

an, ob dies einer Übung entspricht und namentlich von den Seilbahnunternehmungen so verstanden<br />

wird. Wenn bisher derartige Unfälle ausschliesslich nach Art. 41 <strong>OR</strong> beurteilt worden sind, wie die<br />

Beklagte annimmt, so erklärt sich das unschwer daraus, dass gewöhnlich diese Bestimmung eine<br />

ausreichende Haftungsgrundlage abgibt.<br />

Da die Vertragshaftung nicht zu höheren Anforderungen an die Pistensicherung führt als die ausservertragliche<br />

Haftung, könnte auch eine Wegbedingung der vertraglichen Haftung, soweit eine solche<br />

bei einer konzessionierten Luftseilbahn überhaupt möglich ist (Art. 100 Abs. 2, Art. 101 Abs. 3 <strong>OR</strong>),<br />

der Bahnunternehmung keinen Vorteil bringen. Umgekehrt behauptet die Beklagte zu Unrecht, Art.<br />

97 <strong>OR</strong> führe praktisch zu ihrer Haftung für alle Pistenunfälle, weil sie ein Selbstverschulden des Verunfallten<br />

nur sehr schwer oder gar nie nachweisen könnte, wie sie auch nach Tagen oder gar nach<br />

zehn Jahren nicht mehr beweisen könnte, dass die Piste am Unfallort im Umfallzeitpunkt in einwandfreiem<br />

Zustand gewesen sei. Nach der genannten Bestimmung hat stets der Geschädigte die Vertragsverletzung<br />

(die ungenügende Pistensicherung) und den Kausalzusammenhang mit dem Schaden<br />

zu beweisen; erspart bleibt ihm lediglich der Nachweis eines Verschuldens, wie ihn Art. 41 <strong>OR</strong> erfordert,<br />

weil ein solches vorbehältlich Exkulpationsbeweis vermutet wird. Diese Ordnung ist einer<br />

Bahnunternehmung umso sehr zuzumuten, als sie in der Regel auch den Rettungsdienst leitet und<br />

daher am ehesten beweissichernde Massnahmen treffen kann.<br />

8. Das Kantonsgericht stellt sich auf den Standpunkt, für eidgenössisch konzessionierte Luftseilbahnen<br />

seien die Grundsätze der Eisenbahnhaftpflicht anwendbar, deren Kausalhaftung eine andere<br />

vertragliche oder ausservertragliche Haftung ausschliesse und zudem binnen zwei Jahren nach dem<br />

Unfall verjähre (Art. 14 EHG; SR 221.112.742).<br />

Zwar sind die eidgenössisch konzessionierten Luftseilbahnen dem EHG unterstellt (Art. 3 Abs. 2 PVG;<br />

SR 783.0). Dieses erfasst jedoch nur die Haftung für Unfälle beim Bau oder Betrieb der Bahn (Art. 1<br />

EHG), wobei die Konzession eine weitergehende Haftung begründen kann (Art. 21 EHG). Es regelt nur<br />

die Haftung für den Betrieb im technischen Sinn und schliesst eine solche für den gewerblichen Betrieb<br />

nicht aus. Andere vertragliche oder ausservertragliche Haftungsgründe entfallen nur soweit, als<br />

das EHG wirklich anwendbar ist (OFTINGER, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Bd. <strong>II</strong>/1 S. 305 und 325;<br />

BGE 84 <strong>II</strong> 207; als Beispiel derartiger vertraglicher und ausservertraglicher Haftung der SBB wegen<br />

Nichtanwendung des EHG vgl. BGE 91 I 234 E. IV/2 und 239 E. VI/2). Schliesslich schreibt die Luftseilbahnkonzessionsverordnung<br />

eine Haftpflichtversicherung vor (Art. 21), die nach der Praxis auch die<br />

Pistenhaftpflicht umfasst, wie das für die kantonal konzessionierten Skilifte ausdrücklich festgelegt ist<br />

(Skiliftverordnung Art. 11 Abs. 2 lit. b; SR 743.21). Das bestätigt eindeutig, dass das EHG einer derartigen<br />

Haftungsausdehnung nicht im Wege steht.<br />

13


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

9. Nach Auffassung der Beklagten steht der Annahme einer vertraglichen Haftung das seit 1. Januar<br />

1987 geltende Transportgesetz vom 4. Oktober 1985 (SR 742.40) entgegen. Sie widerspricht der an<br />

einer Konferenz geäusserten Auffassung eines Vertreters des Bundesamtes für Verkehr, wonach mit<br />

der Streichung der Beförderungspflicht im neuen Gesetz die Möglichkeit, die Haftung der Luftseilbahnunternehmen<br />

aus Transportvertrag zu begründen, verbessert worden sei. Auf diese Äusserung,<br />

die das Dargelegte höchstens bestätigen könnte, braucht nicht weiter eingegangen zu werden. Dass<br />

sodann Art. 15 des Gesetzes als Inhalt des Personentransportvertrags nur die Hauptleistung des<br />

Transportes festhält, besagt nichts gegen eine besondere Nebenpflicht. Erfolglos beruft sich die Beklagte<br />

schliesslich darauf, dass Art. 17 nur eine Haftung für Verspätungsschaden begründe und dass<br />

niemand bei der Gesetzesberatung den Einbezug der Skipistenhaftung postuliert habe, weshalb<br />

nunmehr nicht durch Interpretation eine Ausdehnung der Haftung herbeigeführt werden dürfe, die<br />

der Gesetzgeber nicht gewollt habe. Dieses Argument scheitert schon daran, dass das Transportgesetz<br />

bewusst auf eine eigene Regelung der Haftung für Personenschäden verzichtet hat (Botschaft<br />

BBl 1983 <strong>II</strong> S. 186).<br />

10. Die Beklagte haftet demnach dem Kläger auch aus Vertrag. Damit sind die eingeklagten Forderungen<br />

nach der nunmehr massgebenden zehnjährigen Frist nicht verjährt und die Berufung entsprechend<br />

gutzuheissen.<br />

BGE 131 <strong>II</strong>I 377 = Pra 95 (2006) Nr. 31<br />

Haftung aus Vertrag aufgrund der Mitwirkung einer Treuhandgesellschaft an einem Anlagegeschäft;<br />

Bemessung des Schadens und des Schadenersatzes (Art. 398 Abs. 2, 44 Abs. 1 i.V.m. Art. 99 Abs. 3<br />

<strong>OR</strong>). Kognition des Bundesgerichtes im Berufungsverfahren (E. 1). Subsidiarität der Vertrauenshaftung<br />

(culpa in contrahendo) (E. 2 und 3). Auch wenn die Treuhandgesellschaft wie eine Bank sich<br />

darauf beschränkt, punktuelle Anordnungen des Kunden auszuführen, trifft sie eine Aufklärungspflicht,<br />

wenn für sie erkennbar ist, dass der Kunde bei einer über sie abgewickelten und durch sie<br />

begleiteten Geldanlage sich der übernommenen Gefahren nicht bewusst ist oder wenn ein derartiges<br />

Vertrauensverhältnis besteht, dass der Kunde in guten Treuen eine solche Benachrichtigung erwarten<br />

kann (E. 4.1.1), was vorliegend aufgrund der Beteiligung der Treuhandgesellschaft am Anlagegeschäft<br />

zu bejahen ist (E. 4.1.2); aufgrund der Auslegung der von den Parteien getroffenen Vereinbarung<br />

nach den massgeblichen Grundsätzen (E. 4.2.1) ist auch eine vertragliche Verpflichtung der<br />

Treuhandgesellschaft zur im Vertrag nicht ausdrücklich vorgesehenen Überprüfung der für das Anlagegeschäft<br />

zur Verfügung gestellten Garantien zu bejahen (E. 4.2.2); die Nichtbeachtung dieser<br />

Pflichten durch die Treuhandgesellschaft stellt eine schwere Verletzung ihrer vertraglichen Pflichten<br />

dar, die ihre Verantwortlichkeit für den vom Kunden erlittenen Schaden rechtfertigt (E. 4.3); Berechnung<br />

des Schadens (E. 5); Bestimmung des Schadenersatzes unter Mitberücksichtigung des beidseitigen<br />

Verschuldens der Parteien (E. 6).<br />

Sachverhalt:<br />

Am 20. Januar 1997 hat B. mit C., einer von D. abhängigen panamesischen Gesellschaft, einen Anlagevertrag<br />

unterzeichnet und zugleich die Summe von USD 150 000.– freigegeben, welche monatlich<br />

erhebliche Gewinne hätte abwerfen sollen. Die dem Abschluss der Vereinbarung vorausgegangenen<br />

Verhandlungen wie auch die Unterzeichnung derselben haben in den Büros der Treuhandgesellschaft<br />

A. in Lugano stattgefunden, die auch dafür besorgt war, ein Treuhandkonto zu eröffnen, auf das die<br />

für die Anlage notwendigen Geldbeträge überwiesen wurden. Am 20. Januar 1997 hat sie sich sodann<br />

im Rahmen eines Auftrags verpflichtet, C. das auf dem erwähnten Konto hinterlegte Geld zu<br />

überweisen und die von der panamesischen Gesellschaft geleistete Garantie vor deren Übergabe an<br />

den Auftraggeber auf eigenen Namen entgegenzunehmen.<br />

14


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Nach der Überweisung der ersten vier monatlichen Zinsraten im Gesamtbetrag von USD 42 000.–<br />

stagnierte das Geschäft. Nachdem B. zur Kenntnis genommen hatte, dass die Rückzahlung des investierten<br />

Kapitals samt einem Zuschlag von 10 % – der aufgrund des Vertrages auch im Fall der Nichterfüllung<br />

geschuldet gewesen wäre – nicht erfolgen würde, hat er am 28. September 2000 das Appellationsgericht<br />

des Kantons Tessin angerufen, um von A. die Bezahlung von USD 150 000.–, welchen<br />

Betrag er im Rahmen seiner Schlussanträge auf USD 165 000.– erhöht hat, zu erlangen.<br />

Er hat der Treuhandgesellschaft in ihrer Eigenschaft als Beraterin, Sammelstelle für die investierten<br />

Gelder und Organisatorin des Geschäftes den Streit verkündet und ihr dabei insbesondere die fehlende<br />

Überprüfung der Gültigkeit der von C. geleisteten Garantie (eine sekundäre Abtretungsurkunde<br />

betreffend eine Quote von US-amerikanischer Staatspapiere), die sich als ungültig erwiesen hat,<br />

vorgeworfen.<br />

A. hat sich der Klage widersetzt, indem sie behauptete, allein als Sammelstelle der Geldmittel der<br />

Kunden von D. gedient zu haben; in der von ihr übernommenen Rolle sei ihr in Bezug auf die zur Sicherheit<br />

für das angelegte Kapital gelieferten Garantien keine Überprüfungspflicht zugekommen.<br />

Diese Argumentation wurde von den Appellationsrichtern geteilt. Sie haben in ihrem Urteil vom<br />

31. August 2004 die Behauptung zurückgewiesen, die unterbliebene Prüfung der Gültigkeit der Garantie<br />

stelle eine Vertragsverletzung dar, welche die Verantwortlichkeit der Beklagten auslöse. Sie<br />

haben A. dennoch zur Zahlung verpflichtet. Im Lichte des Ergebnisses der Untersuchung ist nämlich<br />

das kantonale Gericht zum Schluss gelangt, dass – trotz dem Fehlen einer vertraglichen Verpflichtung<br />

in diesem Sinne – die unterbliebene Prüfung der Gültigkeit der Garantie zusammen mit anderen Umständen<br />

geeignet war, eine ausservertragliche Haftung zu begründen. Nach Abwägung des jeweiligen<br />

Verschuldens der Parteien hat das Appellationsgericht schliesslich den Schadenersatz um 2/5 reduziert<br />

und dem Kläger USD 90 000.– (3/5 von 150 000.–) zuzüglich Zinsen von 5 % seit 1. Dezember<br />

1997 zugesprochen.<br />

Gegen diesen Entscheid hat A. am 1. Oktober 2004 Berufung beim Bundesgericht erklärt. Sie macht<br />

eine Verletzung von Art. 41 und 44 <strong>OR</strong> geltend. Im Hauptstandpunkt beantragt sie die Abänderung<br />

des angefochtenen Urteils im Sinne der vollständigen Abweisung der Klage, während sie im Eventualstandpunkt<br />

deren teilweise, auf USD 30 000.– beschränkte Gutheissung beantragt. Mit Antwort vom<br />

2. Dezember 2004 hat B. um Abweisung des Rechtsmittels ersucht.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

2.<br />

Wie oben bei der Darstellung des Sachverhalts vorweggenommen hat es das kantonale Gericht ausgeschlossen,<br />

dass der Beklagten wegen der unterbliebenen Prüfung der Gültigkeit der von C. gelieferten<br />

Garantie eine Vertragsverletzung vorgeworfen werden könne. Aufgrund des am 20. Januar 1997<br />

unterzeichneten Vertrages sei die Beklagte ausschliesslich gehalten gewesen, in ihrem eigenen Namen<br />

die fragliche Garantie – die nach den Angaben im gleichentags abgeschlossenen Vertrag auf den<br />

Kläger übertragen und ihm übergeben werden sollte – entgegenzunehmen; daher habe absolut keine<br />

Pflicht bestanden, hinsichtlich der Gültigkeit dieser Garantie oder in Bezug auf die Bonität der juristischen<br />

Personen, die sie geliefert hatten, besondere Überprüfungen oder Kontrollen vorzunehmen.<br />

Die Beklagte ist dennoch verurteilt worden, den vom Kläger erlittenen Schaden zu ersetzen. Unter<br />

Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtes zur Vertrauenshaftung hat die Tessiner Behörde<br />

nämlich entschieden, dass die unterbliebene Prüfung der Gültigkeit der Garantie zusammen<br />

mit anderen Umständen auf jeden Fall eine ausservertragliche Haftung zu begründen vermöge, insbesondere<br />

soweit die Beklagte dazu beigetragen habe, beim Kläger falsche Vorstellungen zu erwecken,<br />

beziehungsweise ihm falsche Informationen geliefert oder Zusicherungen gemacht habe.<br />

3.<br />

Auf der Grundlage der Rechtsprechung zur vorvertraglichen Haftung (culpa in contrahendo) hat das<br />

Bundesgericht die Rechtsfigur der so genannten Vertrauenshaftung (responsabilità fondata sulla<br />

fiducia, responsabilité fondée sur la confiance) entwickelt, die als eine Art unabhängige Haftung erscheint,<br />

die zwischen der vertraglichen Haftung und jener aus Delikt liegt, deren Bestimmungen gegebenenfalls<br />

analog anwendbar sind (Hans Peter Walter, La responsabilité fondée sur la confiance<br />

15


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

dans la jurisprudence du Tribunal fédéral, in: La responsabilité fondée sur la confiance – Vertrauenshaftung,<br />

Zürich 2001, S. 147–161, insbes. S. 151 ff.).<br />

Es handelt sich dabei um die Haftung eines vertragsfremden Dritten, bei welcher das von diesem<br />

erweckte Vertrauen die Rechtsgrundlage eines Schadenersatzanspruchs bildet, wenn es anschliessend<br />

enttäuscht wird (BGE 130 <strong>II</strong>I 345 E. 2.1 m.Hinw. auf die Rechtsprechung und Verweisen auf die<br />

Lehre; vgl. auch statt vieler Gauch/Schluep/Schmid/Rey, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner<br />

Teil, 8. Aufl., Zürich 2003, S. 201 ff. N 982a–982 n mit zahlreichen Hinweisen auf die Lehre).<br />

Mit anderen Worten tritt die Vertrauenshaftung grundsätzlich beim Fehlen einer vertraglichen Haftung,<br />

gegenüber welcher sie subsidiären Charakter hat, ein (vgl. Hans Peter Walter, Vertrauenshaftung<br />

im Umfeld des Vertrages, ZBJV 1996, S. 273 ff., insbes. S. 294).<br />

Wenn die Parteien gültig einen Vertrag geschlossen haben, muss demzufolge in erster Linie geprüft<br />

werden, ob keine vertragliche Haftung besteht.<br />

4.<br />

Im vorliegenden Fall waren die Parteien gemäss den Feststellungen der kantonalen Instanz nicht nur<br />

durch den am 20. Januar 1997 unterzeichneten Auftrag, sondern auch durch einen Depotvertrag<br />

[depositum irregulare] (vgl. Art. 481 <strong>OR</strong>) gebunden, da der Kläger dafür gesorgt hatte, dass die für die<br />

Anlage nötigen Geldmittel auf ein bei der Beklagten eröffnetes Konto flossen, wobei die Beklagte für<br />

dieses Geschäft eine Kommission kassiert hat.<br />

4.1 Die Stellung der Beklagten kommt somit derjenigen einer Bank gleich.<br />

4.1.1 Nun ist grundsätzlich die Bank, die mit ihrem Kunden nicht durch einen Vermögensverwaltungsvertrag<br />

gebunden ist – und die sich darauf beschränkt, punktuelle Anordnungen auszuführen –,<br />

nicht gehalten, diesem Gefahren anzuzeigen, die eine bestimmte Anlage mit sich bringt (BGE 119 <strong>II</strong><br />

333 = Pra 83 Nr. 60). Die Behauptung der Beklagten geht in diese Richtung. Sie weist darauf hin, dass<br />

sie am Anlagegeschäft von D. nicht beteiligt gewesen sei, und macht geltend, ihre Haftung sei ausgeschlossen,<br />

weil sie nicht ausdrücklich um Beratung und Beurteilung des laufenden Geschäfts mit all<br />

seinen Konsequenzen ersucht worden sei. Die Rechtsprechung nimmt indessen auch in solchen Fällen<br />

eine – aus den auftragsrechtlichen Bestimmungen über die Sorgfalts- und Treuepflicht (Art. 398<br />

Abs. 2 <strong>OR</strong>) fliessende – Aufklärungspflicht an, wenn für die Bank erkennbar ist, dass der Kunde sich<br />

der eingegangenen Risiken nicht bewusst ist (vgl. Entscheid 4C.108/2002 vom 23. Juli 2002 E. 2 b =<br />

Pra 2003 Nr. 51) oder wenn zwischen den Parteien ein Vertrauensverhältnis besteht, aufgrund dessen<br />

der Kunde in guten Treuen erwarten kann, in jedem Fall über die mit der von ihm gewünschten<br />

Anlage verbundenen Risiken informiert zu werden, auch ohne ausdrücklich darum ersucht zu haben<br />

(vgl. Entscheid 4C.410/1997 vom 23. Juni 1998 E. 3 b = SJ 1999, S. 205 ff.).<br />

4.1.2 Im vorliegenden Fall hat sich die Beteiligung der Beklagten nicht auf die Eröffnung des Kontos<br />

und die Überweisung des Geldes gemäss den genauen Anweisungen des Kunden beschränkt. Aus<br />

den Sachverhaltsfeststellungen der kantonalen Instanz ergibt sich, dass ihre Beteiligung am Geschäft<br />

alles andere als nur marginal gewesen ist.<br />

Die kantonalen Richter haben nämlich festgestellt, dass der Kläger, als er sich 1996 zum Sitz der Beklagten<br />

in Lugano begeben hat, von einem ihrer höheren Angestellten, E., und von D. empfangen<br />

worden ist. Sowohl die anschliessenden Besprechungen der Einzelheiten des Geschäfts als auch die<br />

Unterzeichnung der Verträge betreffend das Anlagegeschäft und den Auftrag fanden in den Büros<br />

der Beklagten in Anwesenheit einer ihrer Handlungsbevollmächtigten<br />

statt. Unter solchen Umständen kann die Beklagte nicht behaupten, völlig ausserhalb des Anlagegeschäftes<br />

zu stehen. Da es sich um eine bedeutende schweizerische Treuhandgesellschaft handelt, die<br />

verschiedenen Kontrollen untersteht, hat die Tatsache, dass sie es akzeptiert hat, dass die Verhandlungen<br />

und die Unterzeichnungen der Verträge in ihren Räumlichkeiten in Anwesenheit eines ihrer<br />

höheren Angestellten stattgefunden haben, zusammen mit der Eröffnung eines Kontos, auf das die<br />

anzulegenden Gelder fliessen sollten, dazu beigetragen, den Kläger von der Seriosität und der technischen<br />

und operativen Durchführbarkeit des ihm von D. vorgeschlagenen Geschäftes zu überzeugen.<br />

Es ist deshalb davon auszugehen, dass zwischen den Parteien ein Vertrauensverhältnis entstanden<br />

war, aufgrund dessen der Kläger in guten Treuen erwarten durfte, dass die Beklagte, auch ohne darum<br />

ersucht zu werden, ihn auf allfällige mit der betreffenden Anlage verbundene besondere Risiken<br />

aufmerksam machen würde. Indem sie es unterlassen hat ihm anzuzeigen, dass sie in Wirklichkeit<br />

16


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

weder die Partner des Geschäftes noch die Details der eigentlichen Anlage kannte und, vor allem,<br />

dass sie die Gültigkeit der Garantie nicht überprüft hatte und dies auch nicht zu tun beabsichtigte,<br />

hat die Beklagte folglich ihre Treue- und Sorgfaltspflicht verletzt (Art. 398 Abs. 2 <strong>OR</strong>).<br />

4.2 Zu entscheiden ist nun, ob – wie vom Kläger mit seiner Berufung geltend gemacht – die Beklagte<br />

gehalten gewesen wäre, die von C. geleistete Garantie zu überprüfen.<br />

Angesichts der Unmöglichkeit, den tatsächlichen und übereinstimmenden Willen der Parteien in<br />

Bezug auf die von der Beklagten übernommenen Pflichten festzustellen, haben die Tessiner Richter<br />

eine objektive Auslegung des am 20. Januar 1997 vereinbarten Auftrages vorgenommen und dabei<br />

den Sinn zu ermitteln versucht, den jede Vertragspartei den Willenserklärungen der anderen vernünftigerweise<br />

zuschreiben konnte und durfte (BGE 130 <strong>II</strong>I 417 E. 3.2 S. 424 = Pra 2005 Nr. 30). Unter<br />

Hinweis darauf, dass sich die Beklagte nicht ausdrücklich verpflichtet habe, die von der panamesischen<br />

Gesellschaft geleistete Garantie zu überprüfen, sind die Richter zum Schluss gelangt, es könne<br />

ihr keine Vertragsverletzung vorgeworfen werden.<br />

4.2.1 Die Auslegung eines Vertrages nach dem Vertrauensgrundsatz ist eine die Rechtsanwendung<br />

betreffende Frage und kann daher durch das Bundesgericht im Rahmen einer Berufung frei geprüft<br />

werden (BGE 130 <strong>II</strong>I 417 E. 3.2 S. 425 = Pra 2005 Nr. 30).<br />

Sind schriftliche Erklärungen auszulegen, hat man in erster Linie auf deren Wortlaut abzustellen (BGE<br />

129 <strong>II</strong>I 702 E. 2.4.1 S. 707). Das Vorhandensein eines klaren Wortlautes schliesst allerdings die Möglichkeit<br />

nicht aus, auf andere Auslegungsmittel zurückzugreifen. Aus Art. 18 Abs. 1 <strong>OR</strong> geht nämlich<br />

hervor, dass die verwendeten Ausdrücke, auch wenn sie klar sind, nicht notwendigerweise massgeblich<br />

sind und dass gegenteils eine rein wörtliche Auslegung untersagt ist. Auch wenn der Wortlaut<br />

einer Klausel auf den ersten Blick klar erscheint, kann sich daher aus den übrigen vom Vertrag erwähnten<br />

Bedingungen, aus dem von den Parteien verfolgten Zweck oder auch aus anderen Umständen<br />

ergeben, dass der Wortlaut der erwähnten Klausel den Sinn der Vereinbarung nicht genau wiedergibt<br />

(BGE 130 <strong>II</strong>I 417 E. 3.2 S. 425 = Pra 2005 Nr. 30). Ausser dem Wortlaut und dem Zusammenhang,<br />

in dem die Parteierklärungen formuliert worden sind, sind – in dem Umfang, als sie auch für<br />

einen Dritten erkennbar gewesen wären – auch die Umstände zu berücksichtigen, die dem Vertragsabschluss<br />

vorausgegangen sind und diesen begleitet haben (BGE 128 <strong>II</strong>I 265 E. 3 a m.Hinw.; zur objektiven<br />

Auslegung der Parteierklärungen vgl. auch Corboz, Le contrat et le juge, in: Le contrat dans<br />

tous ses états, Bern 2004, S. 269 ff., insbes. S. 273 – 276).<br />

4.2.2 Im vorliegenden Fall sah die zwischen den Parteien getroffene Vereinbarung ausdrücklich vor,<br />

dass die Beklagte beauftragt war, die für die Anlage notwendigen Gelder zu überweisen sowie die<br />

Garantie entgegenzunehmen; die Prüfung der Gültigkeit dieses Dokumentes war hingegen nicht vorgesehen.<br />

Die Gesamtheit der Umstände, welche die Erteilung des Auftrags gekennzeichnet haben,<br />

veranlasst dennoch dazu, eine entsprechende vertragliche Verpflichtung anzunehmen. Die – bedeutende<br />

– Rolle, welche die Beklagte im Rahmen der Verhandlungen, die zum Abschluss des Anlagevertrages<br />

geführt haben, innehatte, wurde schon in der vorangehenden Erwägung geschildert. Dem sei<br />

die Tatsache beigefügt, dass nach den Angaben der Zeugin F. die höheren Angestellten der Beklagten<br />

E. und G. anlässlich des Treffens – in Gegenwart der Zeugin – sagten, die Gelder würden die Treuhandgesellschaft<br />

nur verlassen, wenn solide Garantien vorhanden seien. Wie im angefochtenen Urteil<br />

zutreffend festgestellt wurde, hat die Beklagte mithin mit ihrem Verhalten den Kläger veranlasst<br />

zu glauben, dass die Anlage, wenn auch nicht gerade durch sie selber, zumindest unter ihrer Kontrolle<br />

erfolgen würde. Der Kläger durfte demnach in guten Treuen annehmen, dass die im schriftlichen,<br />

von ihm am 20. Januar 1997 unterzeichneten Auftrag vorgesehene Entgegennahme der Garantieurkunde<br />

auch deren Überprüfung auf ihre Gültigkeit hin einschliessen würde.<br />

4.3 Im Lichte des Dargelegten ist der Beklagten eine schwere Verletzung ihrer vertraglichen Pflichten<br />

vorzuwerfen, die eine Haftung für den vom Kläger erlittenen Schaden rechtfertigt. Auf der einen Seite<br />

ist sie der Informationspflicht, die ihr ihrem Kunden gegenüber oblag, nicht nachgekommen und<br />

auf der anderen Seite hat sie die mit der Unterzeichnung des Auftrags übernommene Pflicht, die<br />

Gültigkeit der von C. gelieferten Garantie zu prüfen, nicht erfüllt. Es ist deshalb nicht erforderlich, auf<br />

die Vertrauenshaftung Bezug zu nehmen.<br />

5.<br />

17


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Im Zusammenhang mit der Quantifizierung des Schadens macht die Beklagte ein offensichtliches<br />

Versehen des kantonalen Gerichts i.S.v. Art. 63 Abs. 2 OG geltend. Dieses habe der Tatsache nicht<br />

Rechnung getragen, dass das Geschäft dem Kläger USD 42 000.– eingetragen hat, welche von dem<br />

ihm zugesprochenen Betrag abgezogen werden müssten.<br />

Der Kläger widersetzt sich diesem Begehren mit dem Hinweis, dass der erwähnte Betrag ihm nicht<br />

unter dem Titel einer (teilweisen) Rückerstattung des angelegten Kapitals, sondern als Gewinn ausbezahlt<br />

worden sei. Er schliesst mit der Behauptung, dass er, seiner Ansicht nach, ausser der Rückerstattung<br />

des angelegten Kapitals auch den Ersatz des ausgebliebenen Gewinnes hätte verlangen<br />

können.<br />

5.1 Gemäss ständiger Lehre und Rechtsprechung definiert sich der Schaden – im rechtlichen Sinne<br />

des Begriffes – als eine unfreiwillige Verminderung des Nettovermögens; er entspricht der Differenz<br />

zwischen dem aktuellen Stand des Vermögens des Geschädigten und dem voraussichtlichen Stand im<br />

Fall, dass das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre (BGE 129 <strong>II</strong>I 331 E. 2.1;<br />

Gauch/Schluep/Schmid/Rey, a.a.O., N 2723).<br />

Ist der Schaden auf eine Vertragsverletzung zurückzuführen, so kann der Geschädigte den Ersatz des<br />

sog. positiven Interesses verlangen; mit anderen Worten, er hat Anspruch auf die Differenz zwischen<br />

dem aktuellen Stand seines Vermögens und dem Stand, den dieses hätte, wenn der Vertrag korrekt<br />

erfüllt worden wäre (Gauch/Schluep/Schmid/Rey, a.a.O., N 2323).<br />

5.2 Entgegen den Behauptungen in der Berufungsantwort kann der Kläger nicht die Bezahlungen des<br />

Betrages verlangen, den er erhalten hätte, wenn die Anlage gut ausgegangen wäre: Die Beklagte hat<br />

den Anlagevertrag nicht unterzeichnet.<br />

Wenn sie ihren Pflichten als Beauftragte nachgekommen wäre, hätte sie festgestellt, dass die von der<br />

panamesischen Gesellschaft gelieferte Garantie wertlos war, und demzufolge hätte der Kläger die<br />

betreffende Anlage nicht vorgenommen. Er muss daher in die Lage versetzt werden, in der er sich<br />

befunden hätte, wenn die Anlage von USD 150 000.– nicht erfolgt wäre. Das bedeutet, dass die im<br />

Zusammenhang mit dem Geschäft erlangten Vorteile angerechnet werden müssen, wie es von der<br />

Beklagten geltend gemacht wird. Es handelt sich jedoch nicht um ein offensichtliches Versehen i.S.v.<br />

Art. 63 Abs. 2 OG, da die Feststellung des kantonalen Gerichts über den gewonnenen Betrag richtig<br />

ist (zum Begriff des offensichtlichen Versehens vgl. BGE 115 <strong>II</strong> 399 E. 2 a = Pra 79 Nr. 107). Es handelt<br />

sich vielmehr um einen Fehler in der Anwendung der für die Berechnung des Schadens geltenden<br />

Grundsätze. Der Beklagten kann demgegenüber nicht gefolgt werden, soweit sie verlangt, dass der<br />

Betrag von USD 42 000.– vom Endbetrag abzuziehen sei, der von den kantonalen Behörden<br />

als Ergebnis der Abwägung des gegenseitigen Verschuldens im Entscheid über die Bestimmung des<br />

Schadenersatzes zugesprochen worden ist.<br />

Der vom Kläger erlittene Schaden beläuft sich somit auf USD 108 000.–.<br />

6.<br />

Im letzten Teil seiner Rechtsschrift kritisiert die Beklagte summarisch die Anwendung der Vorschriften<br />

über die Bestimmung des Ersatzes (Art. 43 und 44 <strong>OR</strong>) und insbesondere die im kantonalen Entscheid<br />

erfolgte Gewichtung des gegenseitigen Verschuldens, die ihrer Ansicht nach überprüft werden<br />

müsse, mit einer Reduktion von 70 % des dem Kläger zugebilligten Ersatzes.<br />

6.1 Gemäss dem – kraft des Verweises von Art. 99 Abs. 3 <strong>OR</strong> auch im Bereich der Vertragshaftung<br />

anwendbaren – Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong> kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr<br />

entbinden, wenn der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt hat oder Umstände, für<br />

die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die<br />

Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert haben.<br />

Diese Bestimmung räumt dem Sachrichter einen weiten Ermessensspielraum ein, der gemäss der<br />

geltenden Rechtsprechung mit Zurückhaltung überprüft wird. Das Bundesgericht greift nur ein, wenn<br />

der Entscheid grundlos von den in Lehre und Rechtsprechung auf dem Gebiet des freien Ermessens<br />

entwickelten Grundsätzen abweicht, sich auf Tatsachen stützt, die für den Entscheid im Einzelfall<br />

ohne jegliche Bedeutung waren, oder Umstände ausser Betracht gelassen hat, die hätten beachtet<br />

werden müssen (BGE 129 <strong>II</strong>I 715 E. 4.4 S. 725 m.Hinw.).<br />

6.2 Zur Stützung ihres Begehrens betont die Beklagte noch einmal, sich nicht vertraglich verpflichtet<br />

zu haben, in Bezug auf die Gültigkeit der Garantie oder bezüglich der Bonität der juristischen Perso-<br />

18


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

nen, die sie ausgestellt haben, besondere Feststellungen oder Kontrollen vorzunehmen, und wiederholt,<br />

dass sie nicht gehalten gewesen sei, die Einzelheiten der von D. vorgeschlagenen Anlage zu<br />

kennen, umso mehr, als der Kläger sie nie um eine Beratung in diesem Sinne ersucht habe. Angesichts<br />

seiner Tätigkeit auf dem Gebiet der Finanzvermittlung sei sich Letzterer auf der anderen Seite<br />

der hoch spekulativen Natur der Anlage, für die er – wie aus dem Auftrag hervorgehe – die volle Verantwortung<br />

übernommen habe, bewusst gewesen.<br />

6.3 Diese Erklärung kann indessen den Kläger nicht binden, weil ihm – wie in E. 4.1.2 dargelegt – im<br />

Zeitpunkt der Unterzeichnung erhebliche Umstände, welche die Beklagte ihm in schwerer Verletzung<br />

ihrer vertraglichen Pflichten (Art. 100 Abs. 1 <strong>OR</strong>) verschwiegen hatten, nicht bekannt waren.<br />

Im Übrigen ist zu bemerken, dass die einfach aufgezählten Argumente der Beklagten nicht zur Annahme<br />

veranlassen, die kantonalen Richter seien bei ihrer detaillierten Abwägung grundlos von den<br />

von Lehre und Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgewichen. Das Appellationsgericht hat<br />

dem Kläger ein nicht unbedeutendes Mitverschulden zugewiesen. Vor allem hat er übereilt gehandelt.<br />

In zweiter Linie musste er angesichts seiner Tätigkeit auf dem Gebiet der Finanzvermittlung und<br />

unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er in anderen Malen schon auf Rechnung Dritter Anlagen<br />

getätigt hatte, sich des Risikos bewusst sein, das eine Anlage wie die konkret beabsichtigte in<br />

sich birgt. Sie muss ohne weiteres als spekulativ betrachtet werden, soweit Erträge in der Grössenordnung<br />

von 10 % pro Monat beziehungsweise eine Entschädigung von 110 % im Falle der Nichterfüllung<br />

durch die Darlehensnehmer vorgesehen sind. Zudem hatte er sich ausschliesslich über den Ruf<br />

der Beklagten erkundigt, ohne sich darum zu bemühen, über D. oder die juristischen Personen, die<br />

sich am Geschäft beteiligen würden, Näheres zu erfahren. Schliesslich war er nicht einmal – oder<br />

dann höchstens in sehr vager Weise – über die Art der Anlagen, die in den Vereinigten Staaten getätigt<br />

werden sollten, auf dem Laufenden. Trotzdem hat er ein Dokument unterzeichnet, in welchem er<br />

die volle Verantwortung für die Anlage übernahm.<br />

6.4 Aus dem Dargelegten ergibt sich, dass der Kläger tatsächlich leichtsinnig gehandelt hat. Dies ändert<br />

nichts daran, dass – wie das kantonale Gericht angenommen hat – das Verschulden der Beklagten<br />

als überwiegend erscheint: Sie hat den Auftrag, der sie an den Kläger band, nicht beachtet und<br />

ihn – auch unter Ausnützung ihres Rufes – dazu bewegt, in die Durchführbarkeit des Geschäftes zu<br />

vertrauen. Die Tessiner Richter haben darüber hinaus zu Recht die Tatsache erwähnt, dass sie selber<br />

in der Folge – aber immer noch bevor das Geld der Anleger in die Vereinigten Staaten überwiesen<br />

worden war – einen spekulativen Anlagevertrag mit H. abgeschlossen hatte, der einen unglaublichen<br />

monatlichen Zinssatz von 40 % – davon ein Anteil zu ihren Gunsten – vorsah. Nun hätte dieser Umstand<br />

sie veranlassen müssen, an den von D. gemachten Beteuerungen zu zweifeln beziehungsweise<br />

weitere Kontrollen vorzunehmen. Wären diese rechtzeitig durchgeführt worden – und nicht erst zu<br />

spät, nachdem die monatlichen Auszahlungen eingestellt worden waren – hätte dies erlaubt, die von<br />

D. vorgeschlagenen Geschäfte als unhaltbar zu entlarven. Das kantonale Gericht hat nicht zuletzt<br />

hervorgehoben, dass der höhere Angestellte, der das ganze Geschäft begleitete, eingeräumt hat,<br />

niemals sein eigenes Geld im Zusammenhang mit einem Vertrag zur Verfügung zu stellen, der ihm<br />

Gewinne von 40 % pro Monat in Aussicht stellt. Dessen ungeachtet hat er es so eingerichtet, dass die<br />

Beklagte den Vertrag unterzeichnete. Unter diesen Umständen kann dem Entscheid, den dem Kläger<br />

zugesprochenen Ersatz um 2/5 – und nicht um 70 %, wie es die Beklagte verlangt – herabzusetzen,<br />

gefolgt werden.<br />

7.<br />

Entsprechend ist das angefochtene Urteil aufzuheben und abzuändern, weil dem kantonalen Gericht<br />

bei der Berechnung des Schadens insofern ein Fehler unterlaufen ist, als es den vom Kläger erzielten<br />

Gewinn nicht berücksichtigt hat. Der Betrag zu seinen Gunsten ist demgemäss auf USD 64 800.– (3/5<br />

von USD 108 000.–) herabzusetzen.<br />

8. [Kosten- und Entschädigungsfolgen]<br />

19


SCHADEN<br />

Hypothetischer<br />

Vermögensstand<br />

BGE 132 <strong>II</strong>I 359<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Schadensdefinition<br />

Schädigendes<br />

Ereignis<br />

Tatsächlicher<br />

Vermögensstand<br />

Schaden<br />

42. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. Spital Y. gegen A.X. (Berufung)<br />

4C.178/2005 vom 20. Dezember 2005<br />

Regeste<br />

Art. 394 ff. <strong>OR</strong>; Arztvertrag; Sterilisationsfehler; Haftung für die Unterhaltskosten des (ungeplanten)<br />

Kindes der Patientin.<br />

Stand der Lehre zum Vorliegen eines Schadens aufgrund der Belastung der Eltern mit den Unterhaltskosten<br />

des Kindes nach fehlgeschlagener Sterilisation (E. 3.3).<br />

Vorliegen einer unfreiwilligen Vermögensverminderung (E. 4.1).<br />

Unbegründetheit der gegen die Ersatzfähigkeit der Unterhaltskosten vorgebrachten Argumente (E.<br />

4.2-4.8).<br />

Sachverhalt<br />

Die 1966 geborene A.X. (Klägerin) und der 1955 geborene B.X. heirateten am 30. Juli 1994. Aus der<br />

Ehe gingen die Töchter C. (geboren im Dezember 1994), D. (Dezember 1996), und E. (Januar 1998)<br />

hervor. Bei allen drei Geburten musste ein Kaiserschnitt vorgenommen werden. Die Eheleute X. sind<br />

im Gastgewerbe tätig. Von Dezember 1994 bis November 1996 führten sie das Restaurant H. in L.,<br />

von Dezember 1996 bis April 2003 das Restaurant I. in M. und seit Dezember 2003 das Restaurant K.<br />

in M. Der Ehemann der Klägerin führte das Geschäft und war als gelernter Koch für die Küche zuständig;<br />

die Klägerin betreute die Kinder und half nebenbei im Geschäft aus. Für ihre betriebliche<br />

Mitarbeit bezog die Klägerin bis Ende 1999 keinen Lohn. Per 1. Januar 2000 schloss sie - vorab um<br />

einen Anspruch auf Kinderzulagen zu begründen - mit ihrem Ehemann einen schriftlichen Arbeitsver-<br />

20


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

trag als Teilzeitangestellte. Vereinbart wurde ein wöchentliches Arbeitspensum von 18 Stunden und<br />

ein monatlicher Bruttolohn von Fr. 2'001.60.<br />

Während der zweiten Schwangerschaft machten sich die Eheleute X. Gedanken über ihre Familienplanung.<br />

Sie kamen zum Schluss, dass sie kein weiteres Kind wollten. Bei diesem Entscheid standen<br />

wirtschaftliche Überlegungen im Vordergrund. Die finanziellen Verhältnisse der Familie X. sind vor<br />

allem infolge der während der Führung des Restaurants H. entstandenen Schulden angespannt, wobei<br />

die Mitarbeit der Klägerin im Restaurant K. aufgrund der Betriebsstruktur erforderlich ist. Anlässlich<br />

einer Kontrolluntersuchung im Oktober/November 1996 liessen sich die Klägerin und ihr Ehemann<br />

deshalb von Dr. F. im Spital Y., Verein mit Sitz in N. (Beklagter), über die Möglichkeit einer Sterilisation<br />

aufklären. Da für die bevorstehende Entbindung ein Kaiserschnitt erforderlich war, wurde<br />

vereinbart, dass gleichzeitig eine Eileiterunterbindung - die damals sicherste Unterbindungsmethode<br />

- durchgeführt werden sollte. Am 17. Dezember 1996 unterzeichneten die Klägerin und ihr Ehemann<br />

anlässlich eines weiteren Besuchs bei Dr. F. im Spital des Beklagten die Operationsvollmacht und das<br />

Aufklärungsprotokoll.<br />

Am 27. Dezember 1996 nahmen Dr. F. als Operateur und seine Assistenzärztin, Dr. G., den Kaiserschnitt<br />

im Spital Y. vor, unterliessen jedoch die geplante Eileiterunterbindung. Nach Angaben von Dr.<br />

F. war die schriftliche Vereinbarung umstandshalber untergegangen, d.h. die schriftliche Vollmacht<br />

war beim Erstellen des Operationsprogramms nicht vorgelegt worden. Diese Unterlassung blieb unbemerkt.<br />

In der Folge verkehrten die Eheleute X. geschlechtlich ohne Verhütungsmittel. Wegen wiederholter<br />

Übelkeit suchte die Klägerin am 23. Juni 1997 Dr. F. auf. Dieser stellte fest, dass sich die<br />

Klägerin in der 7. Schwangerschaftswoche befand und die<br />

Sterilisation unterlassen worden war. Die Klägerin hatte während dieser dritten Schwangerschaft<br />

etliche gesundheitliche Schwierigkeiten, so dass sie ab Anfang August 1997 bis Ende Januar 1998<br />

arbeitsunfähig war. Im August 1997 musste sie wegen leichter Schmierblutungen für einige Tage<br />

hospitalisiert werden. Bei einer Kontrolle am 15. Dezember 1997 wurden sehr hohe Blutdruckwerte<br />

festgestellt, was eine Spitalaufnahme per 22. Dezember 1997 zur Folge hatte. Eine am 12. Januar<br />

1998 erfolgte Kontrolle ergab wiederum erhöhte Blutdruckwerte. Am 28. Januar 1998 gebar die Klägerin<br />

ein gesundes Mädchen namens E. Am 31. Januar 1998 wurden beide aus dem Spital entlassen.<br />

Die Sterilisation wurde nachgeholt.<br />

Mit Eingabe vom 14. November 2000 gelangte die Klägerin an das Bezirksgericht Visp. Sie beantragte,<br />

es sei der Beklagte zur Zahlung von Fr. 231'000.- samt Zins zu verurteilen. Zuvor hatte der Ehemann<br />

seine vertraglichen Ansprüche gegen den Beklagten der Klägerin abgetreten. Die eingeklagte Forderung<br />

setzte sich zusammen aus den Auslagen während und unmittelbar nach der Geburt (Fr. 3'000.-),<br />

Gewinn- bzw. Verdienstausfall (Fr. 100'000.-), Genugtuung (Fr. 8'000.-) und Unterhaltskosten (Fr.<br />

120'000.-). Ihre Forderung begründete die Klägerin mit den Folgen der von den Ärzten des Beklagten<br />

vertragswidrig unterlassenen Sterilisation. Der Bezirksrichter entschied am 13. Februar 2003, er sei<br />

zur Beurteilung der Klage in erster Instanz nicht zuständig. Die Akten sandte er daraufhin zur Beurteilung<br />

an das Kantonsgericht des Kantons Wallis.<br />

Im kantonsgerichtlichen Verfahren stellte die Klägerin das Begehren, es sei der Beklagte zur Zahlung<br />

von insgesamt Fr. 201'287.- (Fr. 8'000.- als Genugtuung, Fr. 73'287.- als Schadenersatz und Fr.<br />

120'000.- als Unterhaltsersatz) samt Zins zu verurteilen. Der Beklagte schloss auf Abweisung der Klage<br />

und wandte in verfahrensrechtlicher Hinsicht ein, die Haftung beurteile sich nach dem kantonalen<br />

Verantwortlichkeitsgesetz, weshalb die Angelegenheit an das Bezirksgericht zu überweisen sei.<br />

Am 18. April 2005 verurteilte das Kantonsgericht den Beklagten zur Zahlung von Fr. 50'000.- samt<br />

Zins als Schadenersatz (Dispositivziffer 1 lit. a), Fr. 85'000.- als Unterhaltsersatz (Ziff. 1 lit. b) und Fr.<br />

5'000.- nebst Zins als Genugtuung (Ziff. 1 lit. c). Im Mehrbetrag wurde die Klage abgewiesen. Das<br />

Kantonsgericht erwog, der Rechtsstreit beurteile sich nicht nach dem ( kantonalen) Gesetz über die<br />

Verantwortlichkeit der öffentlichen Gemeinwesen und ihrer Amtsträger (GVGA), sondern nach Bundesprivatrecht.<br />

Daher sei die sachliche Zuständigkeit des Kantonsgerichts gegeben. Das Gericht kam<br />

zum Schluss, die Haftpflicht des Beklagten für die ausgewiesenen, nicht anderweitig gedeckten Kosten<br />

und Auslagen der Klägerin im Rahmen der Schwangerschaft, der Geburt sowie des Unterhalts des<br />

Kindes sei zu bejahen.<br />

Mit eidgenössischer Berufung stellt der Beklagte folgende Rechtsbegehren:<br />

21


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

"(...) Primärbegehren<br />

Es wird festgestellt, dass die Vorinstanz im vorliegenden Verfahren anstelle des kantonalen Rechts im<br />

Sinne des Verantwortlichkeitsgesetzes fälschlicherweise Bundesprivatrecht angewendet hat, weshalb<br />

die Angelegenheit an die kantonal zuständigen Gerichtsbehörden zur Ausfällung des Urteils überwiesen<br />

wird.<br />

(...) Eventualbegehren<br />

Die Zusprechung von Schadenersatz für Unterhaltskosten durch das Urteil des Kantons Wallis in der<br />

Höhe von Fr. 85'000.00 an die Berufungsbeklagte wird aufgehoben und die Berufung in diesem Sinne<br />

gutgeheissen.<br />

(...) Subeventualbegehren<br />

Die Anwendung des Kapitalisierungszinsfusses in der Höhe von 2.5 % für die Berechnung der Unterhaltskosten<br />

wird aufgehoben und die Berufung in diesem Sinne subeventual gutgeheissen.<br />

(...)"<br />

Die Klägerin schliesst auf Abweisung der Berufung.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

3. Im Eventualantrag rügt der Beklagte, er sei bundesrechtswidrig zur Leistung der Kindesunterhaltskosten<br />

in Höhe von Fr. 85'000.- an die Klägerin verpflichtet worden. Er bringt vor, die Vorinstanz habe<br />

gegen Bundesrecht verstossen, indem sie die Ersatzfähigkeit der Unterhaltskosten für das dritte,<br />

nach der (vertragswidrig) unterlassenen Sterilisation geborene Kind bejaht habe.<br />

3.1 Der Arztvertrag wird nach Rechtsprechung und Lehre als Auf trag im Sinne der Art. 394 ff. <strong>OR</strong> -<br />

mit sämtlichen daran knüpfenden Haftungsfolgen - qualifiziert (BGE 120 <strong>II</strong> 248 E. 2c mit Hinweisen;<br />

WEBER, Basler Kommentar, N. 25 ff. zu Art. 398 <strong>OR</strong>; WIEGAND, Der Arztvertrag, insbesondere die<br />

Haftung des Arztes, in: Arzt und Recht, Bern 1985, S. 84, 91; HONSELL, Schweizerisches Obligationenrecht,<br />

Besonderer Teil, 7. Aufl., Bern 2003, S. 302, 315 ff.; GUHL/SCHNYDER, Das Schweizerische Obligationenrecht,<br />

9. Aufl., Zürich 2000, § 49 N. 11 f.; HANS PETER WALTER, Abgrenzung von Verschulden<br />

und Vertragsverletzung bei Dienstleistungsobligationen, in: A. Koller [Hrsg.], Haftung aus Vertrag,<br />

St. Gallen 1998, S. 69 f.; BOLLINGER HAMMERLE, Die vertragliche Haftung des Arztes für Schäden<br />

bei der Geburt, Diss. Luzern 2004, S. 39, 59).<br />

Der Beklagte bestreitet zu Recht nicht, dass er bei gegebenen Voraussetzungen aus Vertrag haftet. Er<br />

macht einzig geltend, dass kein Schaden im Rechtssinne vorliegt. Unbestritten ist somit, dass der<br />

Beklagte (bzw. der bei ihm angestellte Arzt) den Auftrag verletzte, indem er sorgfaltswidrig die vereinbarte<br />

Sterilisation nicht vornahm. Ebenso unbestritten ist, dass diese vertragswidrige Unterlassung<br />

die für das (ungeplante) dritte Kind der Klägerin anfallenden Unterhaltskosten in adäquatkausaler<br />

Weise verursachte. Ein vertraglicher Schadenersatzanspruch der Klägerin ist somit nach Art.<br />

97 Abs. 1 i.V.m. Art. 398 Abs. 1 <strong>OR</strong> gegeben, sofern die Unterhaltskosten für das Kind als Schaden im<br />

Rechtssinne zu qualifizieren sind.<br />

3.2 Das Bundesgericht musste sich bisher nicht zur Grundsatzfrage äussern, ob die Unterhaltskosten<br />

für ein ungeplantes Kind, die durch eine (fehlgeschlagene) Sterilisation hätten vermieden werden<br />

sollen, als Schaden im Rechtssinne zu qualifizieren sind (vgl. Urteile 4C.276/1993 vom 1. Dezember<br />

1998, E. 4c, Pra 89/2000 Nr. 28 S. 163; 1P.530/1994 vom 14. Dezember 1995, E. 4b, Pra 85/1996 Nr.<br />

181 S. 670). Die Praxis der obersten Gerichte anderer Staaten ist uneinheitlich. Zum Beispiel anerkennen<br />

sowohl der deutsche Bundesgerichtshof als auch der Oberste Gerichtshof der Niederlande<br />

die Unterhaltskosten für ein ungeplantes Kind als ersatzfähigen Vermögensschaden (Urteil des BGH<br />

vom 18. März 1980, NJW 1980 S. 1450 ff.; Entscheid des niederländischen Hoge Raad vom 21. Februar<br />

1997, JZ 18/1997 S. 893 ff.). Hingegen verneint etwa das Englische House of Lords einen entsprechenden<br />

Anspruch bei einem gesunden Kind (vgl. Urteil vom 16. Oktober 2003 i.S. Rees gegen Darlington<br />

Memorial Hospital NHS Trust [2003/UKHL 52], mit Verweis auf das Urteil vom 25. November<br />

1999 i.S. MacFarlane gegen Tayside Health Board [2000/2 AC 59]). Der österreichische Oberste Gerichtshof<br />

gewährt (nur) den Eltern eines schwer behinderten, ungeplanten Kindes einen Ersatzan-<br />

22


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

spruch, weil in diesem Fall - anders als bei einem gesunden Kind - den Eltern eine besonders schwere<br />

Belastung aufgebürdet werde (Entscheid des OGH vom 25. Mai 1999, JBl 121/1999 S. 593 ff.).<br />

3.3 In der Schweiz bejaht die weit überwiegende Lehre das Vorliegen eines Schadens bzw. den Ersatzanspruch<br />

der Eltern für die Belastung mit den Unterhaltskosten des Kindes nach fehlgeschlagener<br />

Sterilisation (FRANZ WERRO, Commentaire romand, Code des obligations I, Luc Thévenoz/Franz Werro<br />

[Hrsg.], Genf/Basel 2003, N. 27 f. zu Art. 41 <strong>OR</strong>; derselbe, La responsabilité civile, Bern 2005, § 1 N.<br />

70; INGEB<strong>OR</strong>G SCHWENZER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bern 2003, 3. Aufl.,<br />

N. 14.04; DaVID Rüetschi, Haftung für fehlgeschlagene Sterilisation, AJP 1999 S. 1374 f., 1376; CHRIS-<br />

TA TOBLER/CAREL STOLKER, "Wrongful Birth" - Kosten für Unterhalt und Betreuung eines Kindes als<br />

Schaden, AJP 1997 S. 1151 f.; ROLF THÜR, Schadenersatz bei durchkreuzter Familienplanung unter<br />

Berücksichtigung der Rechtsprechung in Deutschland, England und den USA, Diss. Zürich 1996, S. 51,<br />

70 ff., 90 ff.; WALTER FELLMANN, Neuere Entwicklungen im <strong>Haftpflichtrecht</strong>, AJP 1995 S. 879 f.; derselbe,<br />

Schadenersatz für den Unterhalt eines unerwünschten Kindes, ZBJV 123/1987 S. 323, 333 ff.;<br />

CARLA MAINARDI-SPEZIALI, Ärztliche Aufklärungspflichten bei der pränatalen Diagnostik, Diss. Bern<br />

1991, S. 152 ff.; BETTINA MONOT, Parents contre leur volonté: Dommages-intérêts pour l'entretien<br />

d'un enfant non désiré dans le cas d'une stérilisation manquée, in: Recueil de travaux offert à François<br />

Gillard, Tolochenaz 1987, S. 71; WERNER E. OTT, Voraussetzungen der zivilrechtlichen Haftung<br />

des Arztes, Diss. Zürich 1978, S. 84; ROLAND SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen,<br />

Basel 1984, S. 78 f.; VITO ROBERTO, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Zürich<br />

2002, § 29 N. 769; vgl. auch HANS-JOACHIM HESS, Kommentar zum Produktehaftpflichtgesetz, Bern<br />

1996, 2. Aufl., N. 48 f. zu Art. 1 PrHG; vgl. weiter ALFRED KOLLER, Die zivilrechtliche Haftung des Arztes<br />

für das unverschuldete Fehlschlagen einer Sterilisation, in: Haftpflicht- und Versicherungsrechtstagung<br />

1997, Koller [Hrsg.], S. 8 f., N. 6 in fine; HEINZ Hausheer, Unsorgfältige ärztliche Behandlung,<br />

in: Schaden - Haftung - Versicherung, Münch/ Geiser [Hrsg.], Handbücher für die Anwaltspraxis, 5.<br />

Bd., Basel 1999, § 15 N. 15.89, der die Unterhaltskosten bei fehlgeschlagener Sterilisation als selbständigen<br />

Schadensposten neben dem Erwerbsausfall aufführt; ISABELLE STEINER, Das "Kind als<br />

Schaden" - ein Lösungsvorschlag, ZBJV 137/2001 S. 646 ff., 660, die aber die Leistung einer Genugtuungs-<br />

statt einer Schadenersatzsumme als "sachgerechte Kompensationsform" vorschlägt).<br />

Ein Teil der Lehre bejaht freilich einen vollen Ersatzanspruch nur bei Vorliegen besonderer Umstände<br />

wie etwa bei schlechten finanziellen Verhältnissen der Eltern (so KARL OFTINGER/EMIL W. STARK,<br />

Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1995, Bd. I, § 2 N. 54 f.; ALFRED KELLER,<br />

Die Behandlung des Haftpflichtfalles durch die Versicherung, in: Arzt und Recht, Wolfgang Wiegand<br />

[Hrsg.], Bern 1985, S. 137; derselbe, <strong>Haftpflichtrecht</strong> im Privatrecht, Bd. <strong>II</strong>, 2. Aufl., Bern 1998, S. 117<br />

f.); bei einer ledigen Mutter, deren Berufs- und Privatleben einschneidend verändert wird; bei der<br />

Geburt eines behinderten Kindes, das viel Aufopferung mit zusätzlichen Aufwendungen verlangt<br />

(KELLER, Behandlung des Haftpflichtfalles, a.a.O., S. 137; derselbe, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O., S. 117 f.;<br />

HEINRICH HONSELL, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4. Aufl., Zürich 2005, S. 9; THOMAS M.<br />

MANNSD<strong>OR</strong>FER, Haftung für pränatale Schädigung des Kindes, ZBJV 137/2001 S. 621 f., 629 f.; derselbe,<br />

Pränatale Schädigung, Diss. Fribourg 2000, S. 343 f., 353 f.); oder schliesslich auch, wenn die<br />

Ehefrau durch die ungewollte Schwangerschaft daran gehindert wird, einer - bereits aufgenommenen<br />

oder in Aussicht stehenden - Arbeitstätigkeit nachzugehen (so KELLER, Behandlung des Haftpflichtfalles,<br />

a.a.O., S. 137; derselbe, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O., S. 117 f.).<br />

Eine von zwei Autoren vertretene Minderheitsmeinung verneint den Anspruch auf Schadenersatz für<br />

Unterhaltskosten in grundsätzlicher Weise - d.h. selbst für ein (nicht geplantes) Kind, das behindert<br />

zur Welt kommt und besonderer Pflege sowie Behandlung bedarf - und erachtet einen Ersatzanspruch,<br />

solange das Kindesverhältnis besteht, nur für den Fall erwägenswert, dass sich niemand findet,<br />

der das behinderte Kind zu adoptieren bereit ist (so PETER WEIMAR, in SJZ 82/1986 S. 49; derselbe,<br />

Schadenersatz für den Unterhalt eines nicht erwünschten Kindes?, in: Festschrift Hegnauer,<br />

Bern 1986, S. 651/654; zustimmend M<strong>OR</strong>ITZ KUHN, Die rechtliche Beziehung zwischen Arzt und Patient,<br />

in: Heinrich Honsell [Hrsg.], Handbuch des Arztrechts, Zürich 1994, S. 36). Diese beiden Autoren<br />

verneinen bereits das Vorliegen eines Schadens mangels Unfreiwilligkeit der Vermögenseinbusse,<br />

wogegen jener Teil der Lehre, der einen Ersatzanspruch für Unterhaltskosten nur in besonderen<br />

23


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Konstellationen (Behinderung des Kindes, angespannte finanziellle Verhältnisse der Eltern usw.) zulassen<br />

will, das Vorliegen eines Vermögensschadens mit der zitierten überwiegenden Lehre ohne<br />

weiteres bejaht (HONSELL, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O., S. 9; KELLER, Behandlung des Haftpflichtfalles,<br />

a.a.O., S. 136; derselbe, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O., S. 117; MANNSD<strong>OR</strong>FER, a.a.O., ZBJV 137/2001 S.<br />

629; dersel be, Pränatale Schädigung, a.a.O., S. 353; vgl. auch OFTINGER/ STARK, a.a.O., § 2 N. 46).<br />

Schliesslich stützen zwei vom Beklagten in diesem Zusammenhang angeführte Lehrmeinungen seinen<br />

Standpunkt in keiner Weise. Denn der eine Autor bezieht an der vom Beklagten zitierten Stelle weder<br />

für noch gegen einen - vertraglichen - Schadenersatzanspruch Stellung (BREHM, Berner Kommentar,<br />

2. Aufl., Bern 1998, N. 96a zu Art. 41 <strong>OR</strong>), während der andere sogar festhält, aus dogmatischer Sicht<br />

spreche nichts gegen die Zusprechung von Unterhaltskostenersatz, wenn die Eltern - wie vorliegend -<br />

auf Dauer kein Kind mehr wollten (ROBERTO, a.a.O., § 29 N. 768 f.).<br />

4. Das schweizerische Obligationenrecht definiert den ersatzfähigen Schaden nicht. Nach konstanter<br />

Rechtsprechung entspricht der haftpflichtrechtlich relevante Schaden der Differenz zwischen dem<br />

gegenwärtigen - nach dem schädigenden Ereignis festgestellten - Vermögensstand und dem Stand,<br />

den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte (BGE 127 <strong>II</strong>I 73 E. 4a mit zahlreichen Hinweisen;<br />

vgl. statt vieler BREHM, a.a.O., N. 69 ff. zu Art. 41 <strong>OR</strong>; OFTINGER/STARK, a.a.O., § 2 N. 9; SCHNY-<br />

DER, Basler Kommentar, N. 3 zu Art. 41 <strong>OR</strong>). Der Schaden ist die ungewollte bzw. unfreiwillige Vermögensverminderung.<br />

Er kann in einer Vermehrung der Passiven, einer Verminderung der Aktiven<br />

oder in entgangenem Gewinn bestehen (BGE 129 <strong>II</strong>I 331 E. 2.1; BGE 128 <strong>II</strong>I 22 E. 2e/aa). Die Frage, ob<br />

die Vorinstanz ihrem Urteil einen zutreffenden Rechtsbegriff des Schadens zugrunde gelegt hat, kann<br />

vom Bundesgericht im Berufungsverfahren überprüft werden (BGE 128 <strong>II</strong>I 22 E. 2e).<br />

4.1 Das schädigende Ereignis (bzw. Verhalten) besteht vorliegend in der Vertragsverletzung des Beklagten,<br />

der die Sterilisation vereinbarungswidrig nicht vornahm. Die Klägerin ist als Mutter (ebenso<br />

wie ihr Ehemann als Vater) gemäss Art. 276 Abs. 1 ZGB verpflichtet, für den Unterhalt des eigenen<br />

Kindes aufzukommen (vgl. PETER BREITSCHMID, Basler Kommentar, N. 1 f. zu Art. 276 ZGB). Die gesetzliche<br />

Unterhaltspflicht ist eine Verbindlichkeit, die das Vermögen der Klägerin schmälert. Diese<br />

Einbusse war nicht gewollt, sollte durch die zum Zweck der Familienplanung vereinbarte Sterilisation<br />

doch gerade vermieden werden, für die Unterhaltskosten eines weiteren Kindes aufkommen zu müssen.<br />

Der Schutz vor dieser wirtschaftlichen Belastung war entsprechend dem Willen der Klägerin<br />

Gegenstand des unter den Parteien geschlossenen, in der Folge aber vom Beklagten nicht erfüllten<br />

Sterilisationsvertrages. Eine unfreiwillige Vermögensverminderung ist somit gegeben. Die beinahe<br />

einhellige Lehre bejaht denn auch, wie erwähnt (E. 3.3), das Vorliegen eines Schadens im Sinne der<br />

Differenztheorie. Eine Minderheitsmeinung lehnt indessen - mit unterschiedlichen Argumenten - die<br />

Zusprechung von Schadenersatz für die Unterhaltskosten eines ungeplanten Kindes ab (vgl. E. 3.3).<br />

Im Folgenden sind sowohl die vom Beklagten als auch von der Lehre ins Feld geführten Argumente<br />

einer näheren Prüfung zu unterziehen:<br />

4.2 Gegen die Zusprechung von Unterhaltsersatz wird zunächst angeführt, aufgrund der Akzeptanz<br />

des ursprünglich ungewollten Kindes durch die Mutter bzw. die Eltern liege keine unfreiwillige Vermögensminderung<br />

und damit kein Schaden (mehr) vor (WEIMAR, SJZ 82/1986 S. 49; derselbe, a.a.O.,<br />

Festschrift Hegnauer, S. 651 f.; zustimmend KUHN, a.a.O., S. 36).<br />

Dagegen wird zutreffend vorgebracht, dass mit der Sterilisation ge rade die Unterhaltskosten für ein<br />

weiteres Kind vermieden werden sollten. Das schadensstiftende Ereignis (unterlassene Sterilisation)<br />

trat gegen den Willen der Mutter bzw. der Eltern ein, was ausschliesst, die in der Folge erlittene<br />

Vermögenseinbusse (Unterhaltsverpflichtung) als gewollt anzusehen (THÜR, a.a.O., S. 74; RÜETSCHI,<br />

a.a.O., S. 1368). Der Zweck der Familienplanung besteht insbesondere auch darin, die Familiengrösse<br />

auf die jeweiligen finanziellen Möglichkeiten abzustimmen (vgl. HESS, a.a.O., N. 48 zu Art. 1 PrHG;<br />

vgl. auch OFTINGER/STARK, a.a.O., § 2 N. 46). Die Durchkreuzung der Familienplanung stellt eine<br />

Verletzung der Entscheidungsfreiheit der Mutter bzw. der Eltern dar, die als Persönlichkeitsverletzung<br />

qualifiziert wird (STEINER, a.a.O., S. 657; ROBERTO, a.a.O., N. 486; THÜR, a.a.O., S. 77/95; vgl.<br />

auch FELLMANN, a.a.O., ZBJV 123/1987, S. 325 f., 334). Die durch die vereinbarungswidrig unterlas-<br />

24


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

sene Sterilisation verursachte gesetzliche Unterhaltsverpflichtung nach Art. 276 Abs. 1 ZGB ist ungewollt.<br />

Die entsprechende Vermögenseinbusse ist ein Schaden im Rechtssinne.<br />

4.3 Die Unfreiwilligkeit der mit der gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung verbundenen Vermögenseinbusse<br />

wird teilweise auch mit der Begründung verneint, es bestehe die Möglichkeit einer Freigabe<br />

des Kindes zur Adoption (so WEIMAR, SJZ 82/1986 S. 49; derselbe, a.a.O., Festschrift Hegnauer, S.<br />

651 f.; zustimmend KUHN, a.a.O., S. 36) oder einer Abtreibung (so HONSELL, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O.,<br />

S. 9; vgl. auch Zivilgericht Basel-Stadt, Urteil vom 20. Januar 1998, E. 3.3, BJM 1998 S. 135).<br />

Dabei wird übersehen, dass nach Rechtsprechung und Lehre vom Geschädigten nur zumutbare schadensabwendende<br />

bzw. -mindernde Massnahmen verlangt werden können (BGE 107 Ib 155 E. 2b;<br />

BGE 119 <strong>II</strong> 361 E. 5b; OFTINGER/STARK, a.a.O., § 6 N. 37 ff., § 7 N. 16 f.; BREHM, a.a.O., N. 50 f. zu<br />

Art. 44 <strong>OR</strong>; LUTERBACHER, Die Schadenminderungspflicht, Zürich 2005, S. 125 ff.; WEBER, Die Schadenminderungspflicht<br />

- eine metamorphe Rechtsfigur, in: Haftpflicht- und Versicherungsrechtstagung<br />

1999, Alfred Koller [Hrsg.], S. 139 ff.; HONSELL, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O., S. 106; SCHWENZER,<br />

a.a.O., N. 16.15; REY, Ausservertragliches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 3. Aufl., Zürich 2003, N. 403 f.;<br />

GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 8. Aufl.,<br />

Zürich 2003, N. 2741). Nach herrschender Lehre stellen aber für die Mutter bzw. Eltern weder die<br />

Abtreibung des ungeborenen Kindes noch dessen Freigabe zur Adoption eine zumutbare Massnahme<br />

zur Verhinderung bzw. Verminderung der anfallenden Unterhaltskosten dar (WERRO, Commentaire<br />

romand, a.a.O., N. 27 zu Art. 41 <strong>OR</strong>; derselbe, La responsabilité civile, a.a.O., § 1 N. 70; FELLMANN,<br />

a.a.O., ZBJV 123/1987 S. 322; KELLER, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O., S. 117; WEBER, a.a.O., S. 146 Fn. 36;<br />

MANNSD<strong>OR</strong>FER, Pränatale Schädigung, a.a.O., S. 359 f.; RÜETSCHI, a.a.O., S. 1371 f.; THÜR, a.a.O., S.<br />

83 ff.; SCHWENZER, a.a.O., N. 14.04; STEINER, a.a.O., S. 654 f.; ROBERTO, a.a.O., N. 763; KOLLER,<br />

a.a.O., S. 24; TOBLER/STOLKER, a.a.O., S. 1148; so auch der deutsche Bundesgerichtshof, Urteil vom<br />

18. März 1980, E. 6, NJW 1980 S. 1452; gegen die Adoptionsfreigabe auch OFTINGER/STARK, a.a.O., §<br />

2 Fn. 68; vgl. ferner GAUCH, Grundbegriffe des ausservertraglichen <strong>Haftpflichtrecht</strong>s, recht 14/1996<br />

S. 239 Fn. 133).<br />

4.3.1 Mit der Geburt des ursprünglich nicht geplanten Kindes entsteht tatsächlich und rechtlich eine<br />

neue Situation (so auch WEIMAR, a.a.O., Festschrift Hegnauer, S. 651). Nach der Geburt des Kindes<br />

stellt dessen Weggabe durch Adoption einen völlig anders gearteten Entscheid dar, als eine im Voraus<br />

beschlossene präventive (abstrakte) Planungsmassnahme. Die Eltern können sich im Allgemeinen<br />

auf grund der mittlerweile entstandenen (konkreten) emotionalen Bindung nicht mehr unbeschwert<br />

gegen das eigene Kind bzw. gegen dessen Beibehaltung entscheiden (THÜR, a.a.O., S. 76 f.;<br />

RÜETSCHI, a.a.O., S. 1372). Es ist zwischen der Verhinderung einer vorläufig noch anonymen Vergrösserung<br />

der Familie und der Ablehnung des konkreten Kindes mit seiner individuellen Identität zu<br />

unterscheiden (TOBLER/STOLKER, a.a.O., S. 152; so auch der Oberste Gerichtshof der Niederlande:<br />

Entscheid vom 21. Februar 1997, E. 3.9, JZ 18/ 1997 S. 894). Die Freigabe zur Adoption stellt für die<br />

leiblichen Eltern eine tiefgreifende, endgültige Massnahme dar, führen doch Schwangerschaft und<br />

Geburt insbesondere bei der betroffenen Mutter zu einer erhöhten affektiven Bindung an das Kind<br />

(EICHENBERGER, Die materiellen Voraussetzungen der Adoption Unmündiger nach neuem schweizerischem<br />

Adoptionsrecht, Diss. Fribourg 1974, S. 89; THÜR, a.a.O., S. 86 f.).<br />

Die Adoption bedarf gemäss Art. 265a Abs. 1 ZGB der Zustimmung des Vaters und der Mutter des<br />

Kindes. Das Recht, die Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern, ist ein höchstpersönliches Recht<br />

der Eltern (BGE 104 <strong>II</strong> 65 E. 3; EICHENBERGER, a.a.O., S. 195; HEGNAUER, Berner Kommentar, N. 15<br />

zu Art. 265a ZGB). Im Regelfall entspricht es dem natürlichen Bedürfnis der Eltern, das Kind zu behalten<br />

und in der eigenen Familie aufzuziehen (THÜR, a.a.O., S. 87; RÜETSCHI, a.a.O., S. 1372; EICHEN-<br />

BERGER, a.a.O., S. 146 ff., insbes. S. 150 oben; vgl. auch Urteil des deutschen Bundesgerichtshofes<br />

vom 18. März 1980, E. 2a, NJW 1980 S. 1454). Keinesfalls kann die Rechtsordnung vom Einzelnen die<br />

Auflösung natürlicher Familienstrukturen zur Minderung eines Schadenersatzbetrages verlangen<br />

(ROBERTO, a.a.O., N. 763; vgl. auch EICHENBERGER, a.a.O., S. 149; THÜR, a.a.O., S. 86 f.).<br />

Die Lehrmeinung, die unter Hinweis auf die Adoptionsmöglichkeit die Unfreiwilligkeit der Vermögenseinbusse<br />

verneint, betont zwar, es sei nicht beabsichtigt, den Eltern eine Adoptionsfreigabe na-<br />

25


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

hezulegen (WEIMAR, a.a.O., Festschrift Hegnauer, S. 652; vgl. auch Zivilgericht Basel-Stadt, Urteil<br />

vom 20. Januar 1998, E. 3.3, BJM 1998 S. 135). Dies ändert jedoch nichts daran, dass ihre Auffassung<br />

die Einführung einer entsprechenden (unzulässigen) Obliegenheit mit sich bringen würde (RÜETSCHI,<br />

a.a.O., S. 1371 Fn. 103/ S. 1368; kritisch auch BOMMER, Pflicht zur Abtreibung als Pflicht zur Schadensminderung?,<br />

ZBJV 137/2001 S. 667 f.; SCHWENZER, a.a.O., N. 14.04; THÜR, a.a.O., S. 84; WERRO,<br />

Commentaire romand, a.a.O., N. 27 zu Art. 41 <strong>OR</strong>; STEINER, a.a.O., S. 655 f.).<br />

Die Freigabe des Kindes zur Adoption ist als schadensmindernde Massnahme aus den dargelegten<br />

Gründen in keinem Fall zumutbar (OFTINGER/STARK, a.a.O., § 2 Fn. 68; KELLER, <strong>Haftpflichtrecht</strong>,<br />

a.a.O., S. 117; WEBER, a.a.O., S. 146 Fn. 36; MANNSD<strong>OR</strong>FER, Pränatale Schädigung, a.a.O., S. 359;<br />

RÜETSCHI, a.a.O., S. 1371 f.; THÜR, a.a.O., S. 85 ff.; SCHWENZER, a.a.O., N. 14.04; STEINER, a.a.O., S.<br />

654 f.; KOLLER, a.a.O., S. 24; TOBLER/STOLKER, a.a.O., S. 1148; ROBERTO, a.a.O., N. 763; WERRO,<br />

Commentaire romand, a.a.O., N. 27 zu Art. 41 <strong>OR</strong>; FELLMANN, a.a.O., ZBJV 123/1987 S. 322/334).<br />

4.3.2 Mit der (ungewollten) Schwangerschaft verändert sich die rechtliche und tatsächliche Ausgangslage<br />

ebenfalls. Die Lehre betont zu Recht, dass eine Abtreibung ein ebenso folgenreiches wie<br />

tiefgreifendes Ereignis ist und für die Schwangere als Eingriff in ein höchstpersönliches Recht unzumutbar<br />

ist (RÜETSCHI, a.a.O., S. 1371 f.; KOLLER, a.a.O., S. 24; KELLER, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O., S. 117;<br />

WERRO, Commentaire romand, a.a.O., N. 27 zu Art. 41 <strong>OR</strong>).<br />

Zwar bejahten im Jahre 1998 die Gerichte von Basel-Stadt die Zumutbarkeit einer Abtreibung (Zivilgericht<br />

Basel-Stadt, Urteil vom 20. Januar 1998, E. 3.3, BJM 1998 S. 135; bestätigt vom Appellationsgericht<br />

Basel-Stadt, Urteil vom 23. Oktober 1998, E. 3, BJM 2000 S. 309). Indessen ging es in jenem<br />

Fall nicht wie hier um eine (aus Gründen der Familienplanung vorgesehene) fehlgeschlagene Sterilisation,<br />

sondern um einen - auf dem freien Willen der Mutter beruhenden - fehlgeschlagenen Abtreibungsversuch.<br />

Die Situation einer Frau, die sich für eine Abtreibung entschieden hat, ist in Bezug auf<br />

die Zumutbarkeit eines erneuten Eingriffs zum Schwangerschaftsunterbruch nicht mit jener im vorliegenden<br />

Fall vergleichbar. Das Appellationsgericht - das die Zumutbarkeit einer zweiten Abtreibung<br />

bestätigte - betonte denn auch, dass die Klägerin und Mutter nicht wegen einer misslungenen Sterilisation<br />

schwanger geworden sei (Urteil vom 23. Oktober 1998, a.a.O., E. 4, S. 311). Damit liess das<br />

Gericht offen, ob es einen Schadenersatzanspruch bei Sterilisationsfehlern anerkennen würde (worauf<br />

MANNSD<strong>OR</strong>FER, a.a.O., ZBJV 137/2001 S. 629 Fn. 107, hinweist; zur harschen Kritik des Appellationsgerichtsurteils<br />

aus strafrechtlicher Sicht vgl. BOMMER, a.a.O., S. 664 ff.; kritisch auch STEINER,<br />

a.a.O., S. 656; sowie ROBERTO, a.a.O., N. 763).<br />

Eine Abtreibungsobliegenheit ist im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Schutz der individuellen<br />

Selbstbestimmung abzulehnen, der dem Einzelnen einen Anspruch verleiht, die wesentlichen Aspekte<br />

seines Lebens selber zu gestalten (Art. 10 Abs. 2 BV; JÖRG Paul Müller, Grundrechte in der<br />

Schweiz, 3. Aufl., Bern 1999, S. 42, 64 f.; vgl. auch BOMMER, a.a.O., S. 668 Fn. 18). Ein Kerngehalt<br />

dieses Rechts ist der Anspruch der Frau, selber - frei - über einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden<br />

(vgl. J.P. MÜLLER, a.a.O., S. 53, 64 f.; STEINER, a.a.O., S. 655; THÜR, a.a.O., S. 84). Die Zumutbarkeit<br />

einer Abtreibung als schadensabwendende Massnahme wird von der nahezu einhelligen<br />

Lehre zu Recht abgelehnt (FELLMANN, a.a.O., ZBJV 123/1987 S. 322/334, der dies als "ruchlose Zumutung"<br />

bezeichnet; ablehnend sogar WEIMAR, a.a.O., Festschrift Hegnauer, S. 651, der von<br />

"schändlich" spricht; vgl. auch WERRO, Commentaire romand, a.a.O., N. 27 zu Art. 41 <strong>OR</strong> ["choquant"];<br />

ebenfalls ablehnend KOLLER, a.a.O., S. 24; WEBER, a.a.O., S. 146; MANNSD<strong>OR</strong>FER, Pränatale<br />

Schädigung, a.a.O., S. 359; ROBERTO, a.a.O., N. 763; SCHWENZER, a.a.O., N. 14.04; KELLER, <strong>Haftpflichtrecht</strong>,<br />

a.a.O., S. 117; RÜETSCHI, a.a.O., S. 1371 f.; STEINER, a.a.O., S. 654 f.; THÜR, a.a.O., S. 83<br />

f.; TOBLER/STOLKER, a.a.O., S. 1148; a.M. HONSELL, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O., S. 9).<br />

4.3.3 Die Vorinstanz hat bundesrechtskonform sowohl die Adoptionsfreigabe wie auch die Abtreibung<br />

als in keinem Falle zumutbare Massnahmen zur Schadensminderung bzw. -abwendung erachtet,<br />

wobei zudem im vorliegenden Fall die heutige Fristenregelung zum fraglichen Zeitpunkt noch<br />

nicht in Kraft war. Der Beklagte macht zu Recht nicht geltend, die Klägerin sei ihrer Schadensminderungspflicht<br />

nicht nachgekommen.<br />

26


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

4.4 Gegen die Zusprechung von Schadenersatz für Unterhaltskosten wird zum Teil auch vorgebracht,<br />

die Geburt eines Kindes könne keinen Schaden darstellen (Bezirksgericht Arbon, Urteil vom 16. Oktober<br />

1985, E. 2, in SJZ 82/1986 S. 47 f.; zustimmend WEIMAR, SJZ 82/1986 S. 48 f.; MANNSD<strong>OR</strong>FER,<br />

Pränatale Schädigung, a.a.O., S. 353 f.). Jedenfalls könne die Geburt eines gesunden, ehelichen Kindes<br />

kein Schaden sein, weil dies einer der Zwecke der Ehe sei (OFTINGER, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>,<br />

Bd. I, Zürich 1975, S. 62).<br />

4.4.1 Bei dieser Argumentation wird verkannt, dass es im vorliegenden Zusammenhang um die durch<br />

die planwidrige Geburt eines Kindes ausgelöste Unterhaltsbelastung der Eltern geht, die durch die<br />

Sterilisation vermieden werden sollte. Den Schaden stellt nicht<br />

BGE 132 <strong>II</strong>I 359 S. 372<br />

das Kind selbst dar, sondern die gesetzliche Unterhaltsverpflichtung der Eltern gemäss Art. 276 Abs.<br />

1 ZGB (THÜR, a.a.O., S. 100; STEINER, a.a.O., S. 649 f.; MAINARDI-SPEZIALI, a.a.O., S. 152 f.; RÜE-<br />

TSCHI, a.a.O., S. 1367; SCHAER, a.a.O., S. 78; FELLMANN, a.a.O., ZBJV 123/1987 S. 322 f.; ROBERTO,<br />

a.a.O., N. 771; vgl. auch TOBLER/STOLKER, a.a.O., S. 1151; MONOT, a.a.O., S. 71; WERRO, a.a.O., N.<br />

27 zu Art. 41 <strong>OR</strong>; SCHWENZER, a.a.O., N. 14.04; ebenso die Praxis des deutschen BGH: Urteil vom 18.<br />

März 1980, E. 2, NJW 1980 S. 1451; Urteil vom 16. November 1993, E. 3, NJW 1994 S. 791; sowie des<br />

Obersten Gerichtshofes der Niederlande: vgl. Entscheid vom 21. Februar 1997, E. 3.8, JZ 18/1997 S.<br />

893). Die Wendung "Kind als Schaden" ist eine schlagwortartige und "daher juristisch untaugliche<br />

Vereinfachung" (Urteil des BGH vom 18. März 1980, E. 2a, NJW 1980 S. 1451), worauf auch die Vorinstanz<br />

zu Recht hinweist.<br />

4.4.2 In der Lehre wird zutreffend betont, dass die Zusprechung von Schadenersatz für die (ungewollte)<br />

finanzielle Belastung der Eltern in keiner Weise ein den Grundwerten unserer Gesamtrechtsordnung<br />

widersprechendes Unwerturteil über das Kind beinhaltet und dessen Würde nicht verletzt<br />

(THÜR, a.a.O., S. 100; RÜETSCHI, a.a.O., S. 1367; STEINER, a.a.O., S. 660; ebenso der deutsche BGH:<br />

Urteil vom 16. November 1993, E. 3c, NJW 1994 S. 792; sowie der niederländische Oberste Gerichtshof:<br />

Entscheid vom 21. Februar 1997, E. 3.8, JZ 18/1977 S. 893). Das Leben und die Persönlichkeit des<br />

Kindes sind unantastbare Rechtsgüter. Dass die Geburt eines Kindes oder dessen Existenz als Mensch<br />

nicht als Schaden betrachtet werden kann, ist eine Selbstverständlichkeit (RÜETSCHI, a.a.O., S. 1366;<br />

STEINER, a.a.O., S. 649, 660; MAINARDI-SPEZIALI, a.a.O., S. 152; KELLER, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O., S.<br />

117; HONSELL, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, a.a.O., S. 9; THÜR, a.a.O., S. 71/100). Dies ändert aber nichts an der<br />

Tatsache, dass die infolge der vertragswidrig unterlassenen Sterilisation erfolgte Geburt eines Kindes<br />

Unterhaltskosten nach sich zieht und diese finanzielle Belastung nach fast einhelliger Lehre für die<br />

von Gesetzes wegen dafür aufzukommenden Eltern einen Vermögensschaden darstellt (E. 3.3). Zu<br />

Recht wird auch hervorgehoben, dass es nichts Aussergewöhnliches ist, in Arzthaftungsfällen Schadenersatz<br />

in Höhe der Unterhaltskosten zuzusprechen. Das Grossziehen eines Kindes wird auch in<br />

anderen Lebensbereichen (z.B. bei Scheidungen und Unterhaltsverfahren) in Geld berechnet und<br />

insofern kommerzialisiert (WIEGAND,<br />

BGE 132 <strong>II</strong>I 359 S. 373<br />

Der Arztvertrag, a.a.O., S. 94; vgl. auch OTT, a.a.O., S. 84; SCHWENZER, a.a.O., N. 14.04; TOB-<br />

LER/STOLKER, a.a.O., S. 1151).<br />

Die Menschenwürde des ungeplanten Kindes steht einer schadenersatzrechtlichen Betrachtungsweise<br />

nicht entgegen. Insbesondere verletzt die Zusprechung von Unterhaltsersatz die Würde des Kindes<br />

nicht (vgl. ROBERTO, a.a.O., N. 764; ebenso der niederländische Oberste Gerichtshof: Entscheid vom<br />

21. Februar 1997, E. 3.8, JZ 18/1977 S. 893; so auch der erkennende Erste Senat des deutschen Bundesverfassungsgerichts:<br />

Beschluss vom 12. November 1997, E. B <strong>II</strong>. 3, NJW 1998 S. 521). Die Zusprechung<br />

von Schadenersatz dient im Gegenteil dem Kindeswohl, kann doch mit der finanziellen Sicherung<br />

die möglichst optimale Entwicklung des Kindes im natürlichen Familienverband unter gleichzeitiger<br />

Entlastung der Eltern zugunsten der gesamten Familie - einschliesslich des (zusätzlichen) Kindes<br />

- sichergestellt werden (vgl. Entscheid des Obersten Gerichtshofes der Niederlande vom 21. Februar<br />

1997, E. 3.8, JZ 18/1977 S. 893; RÜETSCHI, a.a.O., S. 1376; MONOT, a.a.O., S. 71).<br />

27


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Das Kindeswohl geniesst Verfassungsrang und gilt in der Schweiz als oberste Maxime des Kindesrechts<br />

in einem umfassenden Sinn (Art. 11 Abs. 1 BV; BGE 129 <strong>II</strong>I 250 E. 3.4.2; vgl. auch Art. 3 Abs. 1<br />

des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes [KRK; SR 0.107]; AFFOL-<br />

TER, Basler Kommentar, N. 14 zu Art. 405 ZGB; HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, 5. Aufl., Bern<br />

1999, N. 26.04a; BRAUCHLI, Das Kindeswohl als Maxime des Rechts, Diss. Zürich 1982, S. 173, 190 ff.,<br />

insb. S. 196, 198). Namentlich verpflichtet Art. 11 Abs. 1 BV als soziales Grundrecht der Kinder (auf<br />

besonderen Schutz und Förderung ihrer Entwicklung) die rechtsanwendenden Instanzen, bei der<br />

Anwendung von Gesetzen den besonderen Schutzbedürfnissen von Kindern Rechnung zu tragen<br />

(BGE 126 <strong>II</strong> 377 E. 5d S. 391; AUBERT/MAHON, Petit commentaire de la Constitution fédérale de la<br />

Confédération suisse, Zürich 2003, N. 4 zu Art. 11 BV; REUSSER/LÜSCHER, St. Galler Kommentar,<br />

2002, N. 13 zu Art. 11 BV; vgl. auch BRAUCHLI, a.a.O., S. 50, 196; HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts,<br />

a.a.O., N. 26.04a und Art. 3 Abs. 1 KRK).<br />

Die Vorinstanz hat im angefochtenen Urteil zu Recht die Frage auf geworfen, ob nicht im Gegenteil<br />

die Befreiung des Beklagten von der Haftung für Unterhaltsersatz trotz der haftungsbegründenden<br />

Vertragsverletzung dem Wohl des Kindes (und der Familie) zuwiderlaufen würde. Entgegen der Ansicht<br />

des Beklagten hat die Vorinstanz die gesellschaftspolitische Tragweite der Unterhaltsfrage genügend<br />

gewichtet. Sie hat einen entsprechenden Anspruch der Eltern nach Abwägung der angeführten<br />

Argumente und Gegenargumente - im Interesse des Kindeswohls - zutreffend bejaht.<br />

4.5 Gegen die Zusprechung von Unterhaltsersatz wird teilweise auch angeführt, das Kind würde früher<br />

oder später durch die Erkenntnis belastet, dass es von den Eltern nicht erwünscht war und Anlass<br />

zu einem Schadenersatzprozess gab (KELLER, Behandlung des Haftpflichtfalles, a.a.O., S. 136;<br />

MANNSD<strong>OR</strong>FER, Pränatale Schädigung, a.a.O., S. 355).<br />

Dagegen ist zunächst einzuwenden, dass die Befürchtung einer psychisch-emotionalen Schädigung<br />

des Kindes keineswegs gesicherten Erkenntnissen entspricht (Urteil des BGH vom 18. März 1980, E.<br />

4, NJW 1980 S. 1451; RÜETSCHI, a.a.O., S. 1373). Ausserdem kann das Erleiden eines eigentlichen<br />

Jugendtraumas in der Regel ohnehin ausgeschlossen werden (vgl. MANNSD<strong>OR</strong>FER, Pränatale Schädigung,<br />

a.a.O., S. 355 mit Nachweisen). Vor allem aber geht es nicht an, dass der Schädiger sich unter<br />

dem Vorwand einer Rücksichtnahme auf (mögliche) psychische Folgereaktionen des Kindes seiner<br />

Haftpflicht entzieht (vgl. Urteil des BGH vom 18. März 1980, E. 4, NJW 1980 S. 1451).<br />

Im Wissen um das ursprüngliche Ungeplantsein leben etliche Kinder, ohne deshalb im Allgemeinen<br />

traumatisiert oder psychisch-emotional geschädigt zu sein (vgl. RÜETSCHI, a.a.O., S. 1373 mit Hinweisen).<br />

Jedes Kind, das zehn Jahre nach seinen Geschwistern zur Welt kommt, kann sich ausrechnen,<br />

dass es ursprünglich nicht geplant (bzw. gewollt) war; gleich verhält es sich bei einem zur Adoption<br />

freigegebenen Kind; ebenso wird ein Kind einer ledigen Mutter, die den Vater für Unterhaltsbeiträge<br />

gerichtlich belangen muss, annehmen, dass es dem Vater nicht willkommen war (vgl. TOB-<br />

LER/STOLKER, a.a.O., S. 1151). Es wird denn auch darauf hingewiesen, dass die Welt von Kindern<br />

wimmelt, "die man nicht wollte und später um keinen Preis hergäbe" (KELLER, Behandlung des Haftpflichtfalles,<br />

a.a.O., S. 136).<br />

Die Aufklärung des Kindes darüber, dass es (ursprünglich) ungeplant war und sein Unterhalt von einem<br />

Dritten (teil-)finanziert wurde, liegt ausserdem in der Verantwortung der Eltern. Allfällige spätere<br />

psychische Schwierigkeiten für das Kind bei Kenntnisnahme der Belangung des Dritten sind ein<br />

Gesichtspunkt, der nicht von der Rechtsordnung, sondern von den Eltern vor Geltendmachung des<br />

Schadenersatzanspruchs zu berücksichtigen ist (OFTINGER/STARK, a.a.O., § 2 N. 53; so auch der niederländische<br />

Oberste Gerichtshof: Entscheid vom 21. Februar 1997, E. 3.9, JZ 18/1997 S. 894; ebenso<br />

der deutsche BGH: Urteil vom 18. März 1980, E. 4, NJW 1980 S. 1451; a.M. STEINER, a.a.O., S. 652).<br />

Zu Recht wird auch darauf hingewiesen, das Kind dürfte von einem gewissen Alter an - namentlich<br />

bei finanzieller Bedrängnis der Eltern - einsichtsfähig genug sein, um zu begreifen, dass nicht seine<br />

Existenz, sondern die finanzielle Belastung der Eltern mit der Unterhaltsverpflichtung den Grund für<br />

die rechtliche Belangung des Dritten bildete (vgl. STEINER, a.a.O., S. 653; vgl. auch Entscheid des<br />

Obersten Gerichtshofs der Niederlande vom 21. Februar 1997, E. 3.9, JZ 18/1997 S. 894).<br />

Insgesamt sprechen mindestens so gute Gründe dafür, dass die Nichtgewährung von Unterhaltsersatz<br />

unter Umständen negative Auswirkungen für das Kind und seine Psyche zeitigen kann. Nament-<br />

28


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

lich könnten die Eltern (und Geschwister) das Kind aufgrund der durch seine Geburt bedingten finanziellen<br />

Einengung der Familie als ungewollte Belastung empfinden, was eine positive Einstellung gegenüber<br />

dem zusätzlichen Kind erschweren und die Beziehung belasten würde (vgl. RÜETSCHI, a.a.O.,<br />

S. 1372 f.; MONOT, a.a.O., S. 71). Demgegenüber liegt die Zuerkennung von Unterhaltsersatz, wie<br />

dargelegt, im Interesse des Kindes sowie der gesamten Familie und kann deshalb zur gesunden psychischen<br />

Entwicklung des Kindes beitragen (vgl. auch TOBLER/STOLKER, a.a.O., S. 1150 ff.; THÜR,<br />

a.a.O., S. 101; so auch der deutsche BGH: vgl. Urteil vom 18. März 1980, E. 4, NJW 1980 S. 1451; sowie<br />

Urteil vom 16. November 1993, E. 3c, NJW 1994 S. 792; ebenso der niederländische Oberste<br />

Gerichtshof: Entscheid vom 21. Februar 1997, E. 3.8, JZ 18/1997 S. 893).<br />

Allfällige psychische Probleme des Kindes infolge des ursprünglichen Unerwünschtseins lassen sich<br />

jedenfalls nicht mit der Verneinung eines Schadenersatzanspruchs lösen und vermögen die Verweigerung<br />

von Unterhaltsersatz nicht zu rechtfertigen (vgl. TOBLER/ Stolker, a.a.O., S. 1151; HESS, a.a.O.,<br />

N. 49 zu Art. 1 PrHG; RÜETSCHI, a.a.O., S. 1372 f.; WERRO, La responsabilité civile, a.a.O., S. 23 f.;<br />

MONOT, a.a.O., S. 71). Die Vorinstanz erwog zutreffend, dass der<br />

BGE 132 <strong>II</strong>I 359 S. 376<br />

Zuerkennung von Unterhaltsersatz nichts Anrüchiges anhafte, zumal auch die öffentliche Hand ebenso<br />

wie private Arbeitgeber als Dritte in Anspruch genommen würden, um Eltern bei der Erfüllung<br />

ihrer gesetzlichen Unterhaltspflicht durch Kinderzulagen und Kinderzusatzrenten zu unterstützen.<br />

4.6 Weiter wird gegen die Zusprechung von Unterhaltsersatz zum Teil eingewandt, die Eltern wollten<br />

eine "Elternschaft zum Nulltarif" erlangen (WEIMAR, a.a.O., Festschrift Hegnauer, S. 652). Dieser<br />

Vorwurf erweist sich ebenfalls als unbegründet. Denn die Elternschaft ist nicht auf die Erbringung<br />

finanzieller Leistungen beschränkt. Vielmehr haben die Eltern gegenüber dem Kind auch andere Verpflichtungen<br />

zu erfüllen (Erziehung, Pflege, Fürsorge, Hausarbeit usw.), die sie in zeitlicher Hinsicht<br />

beträchtlich belasten und von denen sie durch die Zusprechung von Unterhaltsersatz nicht befreit<br />

werden (TOBLER/STOLKER, a.a.O., S. 1152; RÜETSCHI, a.a.O., S. 1370; Forschungsbericht Nr. 10/98,<br />

Bundesamt für Sozialversicherung [Hrsg.], Kinder, Zeit und Geld - Eine Analyse der durch Kinder bewirkten<br />

finanziellen und zeitlichen Belastungen von Familien und der staatlichen Unterstützungsleistungen<br />

in der Schweiz Mitte der Neunziger Jahre, Bern 1998, S. V<strong>II</strong>/IX, 144/ 185/188).<br />

Die Vorinstanz hat denn auch den von der Klägerin geltend gemachten Posten "Pflege und Erziehung"<br />

abgezogen, da die persönliche elterliche Fürsorge für das eigene Kind im Rahmen des Schadenersatzes<br />

nicht abzugelten sei. Die Höhe der von der Vorinstanz als Ersatz für die durch tatsächliche<br />

Ausgaben bedingten durchschnittlichen Unterhaltskosten (für das dritte Kind der Klägerin bis<br />

zum 18. Lebensjahr) wird im vorliegenden Verfahren nicht beanstandet. Es kann daher offen bleiben,<br />

nach welchen Kriterien der Schaden zu berechnen ist. Immerhin ist festzuhalten, dass gute Gründe<br />

bestehen, Unterhaltsersatz - wie im angefochtenen Urteil - nur für effektive Auslagen zu gewähren<br />

und dabei allenfalls auf den durchschnittlichen Grundunterhalt abzustellen (vgl. TOBLER/STOLker,<br />

a.a.O., S. 1152; vgl. auch Urteil des BGH vom 18. März 1980, E. 4, NJW 1980 S. 1455 f.). Der Anspruch<br />

auf Unterhaltsersatz besteht aber bei gegebenen Haftungsvoraussetzungen in jedem Fall, d.h. unabhängig<br />

von den jeweiligen finanziellen Verhältnissen der Eltern, der Berufstätigkeit oder dem Zivilstand<br />

der Mutter (vgl. THÜR, a.a.O., S. 99; FELLMANN, a.a.O., AJP 1995 S. 880; RÜETSCHI, a.a.O., S.<br />

1375; ROBERTO, a.a.O., N. 760).<br />

BGE 132 <strong>II</strong>I 359 S. 377<br />

4.7 Der Beklagte bringt schliesslich vor, die Unterhaltsregelung des Zivilgesetzbuches sei abschliessend<br />

und die Unterhaltspflicht eine Folge des Kindesverhältnisses, die untrennbar mit der rechtlichen<br />

Zuordnung des Kindes zu seinen Eltern verknüpft sei (so auch WEIMAR, a.a.O., Festschrift Hegnauer,<br />

S. 646).<br />

Mit diesem Vorbringen verkennt der Beklagte, dass sich die vorliegend in Frage stehende Arzthaftung<br />

infolge fehlgeschlagener Sterilisation, wie ausgeführt, nach Vertragsrecht beurteilt (d.h. nach Art.<br />

398 i.V.m. Art. 97 <strong>OR</strong>). Er übersieht, dass das Bundesgesetz über das Obligationenrecht den fünften<br />

Teil des ZGB bildet und die beiden Erlasse materiell eine Einheit bilden. Die Trennung ist bloss formeller<br />

Natur; die Bestimmungen des <strong>OR</strong> und ZGB finden - sinngemäss - gegenseitig Anwendung (vgl.<br />

29


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

RIEMER, Die Einleitungsartikel des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 2. Aufl., Bern 2003, S. 141,<br />

144; SCHMID, Basler Kommentar, N. 1/2 ff. zu Art. 7 ZGB; BGE 131 <strong>II</strong>I 106 E. 1.2; BGE 127 <strong>II</strong>I 1 E.<br />

3a/bb; zur Anwendung der Bestimmungen über die Geschäftsführung ohne Auftrag im Zusammenhang<br />

mit der elterlichen Unterhaltspflicht vgl. BGE 123 <strong>II</strong>I 161 E. 4c; vgl. ferner BGE 101 <strong>II</strong> 47 E. 2 S.<br />

53).<br />

Zwar wird das interne Verhältnis zwischen Eltern und Kind durch das ZGB geregelt; indessen sollen<br />

mit dieser Regelung keineswegs Schadenersatzansprüche der Eltern gegenüber Dritten aus Vertrag<br />

oder unerlaubter Handlung ausgeschlossen werden. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen einer Haftungsnorm<br />

des <strong>OR</strong> erfüllt, besteht auch ein entsprechender Anspruch (vgl. bereits BGE 72 <strong>II</strong> 171 E. 2<br />

S. 174; ebenso die Praxis des BGH: Urteil vom 18. März 1980, E. 2b, NJW 1980 S. 1451; vgl. auch<br />

THÜR, a.a.O., S. 99 f.).<br />

Wie die Vorinstanz zutreffend erwog, ist die Klägerin sowie ihr Ehe mann aufgrund der gemeinsam<br />

unterzeichneten Operationsvollmacht Vertragspartei im Rahmen des dem Chefarzt als Vertreter des<br />

Beklagten erteilten Auftrags zur Durchführung der Eileiterunterbindung (vgl. FELLMANN, a.a.O., ZBJV<br />

123/1987 S. 329; Bezirksgericht Arbon, Urteil vom 16. Oktober 1985, E. 1, in SJZ 82/1986 S. 47; MO-<br />

NOT, a.a.O., S. 71; KELLER, Behandlung des Haftpflichtfalles, a.a.O., S. 137). Da der Ehemann seine<br />

Ansprüche der Klägerin unbestrittenermassen abtrat, ist diese gegenüber dem Beklagten zur umfassenden<br />

Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen aus der auftragswidrig unterlassenen Sterilisation<br />

berechtigt. Die Rüge des Beklagten ist unbegründet.<br />

4.8 Die Verneinung des Anspruchs in Fällen wie dem vorliegenden würde zu einer sachlich nicht zu<br />

rechtfertigenden Sonderregelung für Ärzte bei Sterilisationsfehlern führen. Ist ein Vertrag auf ein von<br />

der Rechtsordnung erlaubtes Ziel wie die Sterilisation gerichtet, so hat der Arzt für einen von ihm im<br />

Rahmen der Vertragserfüllung zu vertretenden Fehler, durch den das Behandlungsziel nicht erreicht<br />

wird, einzustehen (vgl. BGE 120 Ib 411 E. 4a S. 413; FELLMANN, Berner Kommentar, N. 380/387 zu<br />

Art. 398 <strong>OR</strong>). In der Lehre wird zutreffend betont, dass nicht einzusehen ist, weshalb die grundsätzliche<br />

Haftung des Arztes für fahrlässige Schädigungen gerade bei einer misslungenen Sterilisation nicht<br />

greifen sollte (OTT, a.a.O., S. 84; zustimmend RÜETSCHI, a.a.O., S. 1375; TOBLER/STOLKER, a.a.O., S.<br />

1154; SCHWENZER, a.a.O., N. 14.04; sowie der niederländische Oberste Gerichtshof, Entscheid vom<br />

21. Februar 1997, E. 3.7, JZ 18/1997 S. 893; vgl. auch WERRO, Commentaire romand, a.a.O., N. 27 zu<br />

Art. 41).<br />

Die Haftung für ärztliche Behandlungsfehler mit Rücksicht auf ein dadurch bewirktes Ansteigen der<br />

Prämien der Haftpflichtversicherung der Ärzte bzw. Spitäler zu verneinen, ist ebenfalls ausgeschlossen<br />

(so aber MANNSD<strong>OR</strong>FER, Pränatale Schädigung, a.a.O., S. 356; klar ablehnend hingegen<br />

ROBERTO, a.a.O., N. 764; sowie TOBLER/STOLKER, a.a.O., S. 1154). Ebenso wenig vermag aus haftpflichtrechtlicher<br />

Sicht die Argumentation des englischen House of Lords zu überzeugen, die eine<br />

Überbeanspruchung des staatlichen Gesundheitssystems Englands zu verhindern bezweckt. Im erwähnten<br />

Entscheid wurde ein Unterhaltsanspruch für ein gesundes Kind unter anderem deshalb<br />

verneint, weil dies angesichts der knappen Mittel des National Health Service die öffentliche Meinung<br />

darüber, wie öffentliche Mittel im Rahmen des staatlichen Gesundheitssystems zu verteilen<br />

sind, verletzen würde (Urteil des House of Lords vom 16. Oktober 2003 i.S. Rees gegen Darlington<br />

Memorial Hospital NHS Trust [2003/UKHL 52]).<br />

Abzulehnen ist auch die vom österreichischen Obersten Gerichtshof getroffene Unterscheidung zwischen<br />

behindertem und gesundem Kind. Der OGH betont, es sei zu befürchten, das behinderte Kind<br />

bekomme die mangelnde Akzeptanz noch mehr zu spüren, wenn die Eltern die finanziellen Belastungen<br />

voll zu tragen hätten und die Leistung von Schadenersatz könne diesem dienlich sein, weil<br />

dadurch die wirtschaftliche Lage seiner Eltern verbessert werde (Entscheid des OGH vom 25. Mai<br />

1999, JBl/Wien 121/1999 S. 598).<br />

BGE 132 <strong>II</strong>I 359 S. 379<br />

Nicht einzusehen ist, weshalb es sich bei einem gesunden Kind anders verhalten sollte. Die Differenzierung<br />

des OGH zwischen behindertem und gesundem Kind wird denn auch als aus schadenersatzrechtlicher<br />

Sicht nicht überzeugend und von einer behindertenfeindlichen "Mitleidsmoral" geprägt<br />

kritisiert (BERNAT, JBl/Wien 126/2004 S. 316 f.; vgl. auch REBHAHN, JBl/Wien 122/2000 S. 267; gegen<br />

die Unterscheidung auch THÜR, a.a.O., S. 99).<br />

30


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Schliesslich kann die Freude der Eltern an der Geburt des Kindes nicht im Sinne einer Vorteilsanrechnung<br />

in die Schadensberechnung einbezogen und von den Unterhaltskosten abgezogen werden,<br />

zumal die Freude als immaterieller Wert nicht quantifizierbar ist (vgl. ROBERTO, a.a.O., N. 763;<br />

SCHWENZER, a.a.O., N. 14.04; vgl. auch WERRO, La responsabilité civile, a.a.O., S. 24).<br />

Aus dem Dargelegten folgt, dass die gegen den Ersatz der Unterhaltskosten angeführten Argumente<br />

nicht stichhaltig sind. Die Vorinstanz hat kein Bundesrecht verletzt, indem sie die Ersatzpflicht des<br />

Beklagten für die Unterhaltskosten des dritten Kindes der Klägerin bejahte. Die Rüge ist unbegründet<br />

und der Eventualantrag abzuweisen.<br />

BGE 129 <strong>II</strong>I 331<br />

Unerlaubte Handlung; Beschädigung von Bäumen (Art. 43 <strong>OR</strong>).<br />

Bestimmung des Schadenersatzes für die Zerstörung oder Beschädigung von Bäumen (E. 2).<br />

A.- B. und C. sind Eigentümer der Liegenschaft X., die ein Einfamilienhaus mit Garten umfasst. Der<br />

mit Bäumen und Sträuchern bewachsene Garten grenzt an einer Seite an den Garten der Liegenschaft<br />

Y., die ebenfalls mit einem Einfamilienhaus überbaut ist. In diesem Haus wohnt A. mit ihrer<br />

Familie.<br />

Auf dem Grundstück der Eheleute B. und C. stehen nahe an der Grenze zum Garten der Familie A.<br />

eine rund 25 Jahre alte Blutbuche und eine rund 30 Jahre alte Hainbuche. Am 24. und 25. Januar<br />

1996 lichtete ein im Auftrag von A. handelnder Gärtner diese Bäume aus und schnitt deren Äste zurück.<br />

Zudem fällte er eine im Grenzbereich stehende Fichte.<br />

A. wurde wegen Sachbeschädigung und Hausfriedensbruchs mit einer Busse von Fr. 500.- bestraft. Im<br />

Strafurteil wurde zudem die von den Eheleuten B. und C. adhäsionsweise geltend gemachte Zivilklage<br />

dem Grundsatz nach gutgeheissen, wobei die Parteien zur Festsetzung der Höhe des zuzusprechenden<br />

Betrages an die Zivilgerichte verwiesen wurden.<br />

B.- B. und C. stellten mit Klage vom 15. Februar 1999 den Antrag, A. zur Zahlung von Fr. 44'885.50<br />

nebst 5% Zins seit 25. Januar 1996 zu verpflichten. Mit Entscheid vom 27. Juni 2000 hiess die Gerichtspräsidentin<br />

2 des Gerichtskreises V<strong>II</strong>I Bern-Laupen die Klage gut. Auf Appellation der Beklagten<br />

hob der Appellationshof des Kantons Bern den erstinstanzlichen Entscheid auf und sprach den Klägern<br />

mit Urteil vom 25. Juni 2002 Fr. 21'605.- nebst 5% Zins seit 25. Januar 1996 zu.<br />

C.- Mit Berufung beantragt die Beklagte dem Bundesgericht, das Urteil des Appellationshofs vom 25.<br />

Juni 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen, eventuell die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz<br />

zurückzuweisen.<br />

Das Bundesgericht weist die Berufung ab.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

2.<br />

2.1 Schaden ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts die ungewollte Verminderung des<br />

Reinvermögens. Er kann in einer Verminderung der Aktiven, einer Vermehrung der Passiven oder in<br />

entgangenem Gewinn bestehen und entspricht der Differenz zwischen dem gegenwärtigen Vermögensstand<br />

und dem Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte (BGE 128 <strong>II</strong>I 22 E.<br />

2e/aa; BGE 104 <strong>II</strong> 198 S. 199; BGE 90 <strong>II</strong> 417 E. 3 S. 424, je mit Hinweisen). In BGE 127 <strong>II</strong>I 73 E. 4b ist<br />

ausgeführt worden, dass Bäume gemäss dem sachenrechtlichen Akzessionsprinzip dem Eigentümer<br />

des Grundstücks gehören, auf dem sie wachsen. Ihre Beschädigung oder Zerstörung beeinflusse daher<br />

den Wert des Grundstücks, dessen Bestandteil sie bildeten. Der Verkehrswert dieses Grundstücks<br />

31


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

könne durch die Beschädigung eines Baumes je nach Art und Nutzung der Liegenschaft unabhängig<br />

vom Wert des beschädigten Baumes selbst betroffen sein. Unter Umständen trete ein wirtschaftlicher<br />

Schaden gar nicht ein, etwa wenn durch die Zerstörung eines Baumes die Überbaubarkeit eines<br />

Grundstücks erst ermöglicht und damit dessen Wert erhöht werde. Im ersten Satz der folgenden<br />

Erwägung ist schliesslich festgehalten worden, falls die Werteinbusse des Grundstücks mit vernünftigem<br />

Aufwand nicht festgestellt werden könne, sei zur Berechnung des Schadens vom Baum selbst als<br />

der vom schädigenden Ereignis direkt betroffenen Sache auszugehen.<br />

2.2 In den zitierten Passagen von BGE 127 <strong>II</strong>I 73 E. 4b ist hervorgehoben worden, dass die Beschädigung<br />

eines Baumes einen Einfluss auf den Verkehrswert des Grundstückes haben kann. Das mag in<br />

einzelnen Fällen, beim Vorliegen besonderer Umstände zutreffen, entspricht aber nicht dem Normalfall.<br />

Handelt es sich um einen, zwei oder drei Bäume, die im mit mehreren anderen Bäumen bewachsenen<br />

Garten eines Wohnhauses stehen, hat deren Beschädigung in der Regel keine Auswirkungen<br />

auf den Verkehrswert des Grundstückes. Anders könnte es sich dagegen verhalten, wenn beispielsweise<br />

alle auf einem Wohngrundstück stehenden Bäume gefällt oder massiv beschädigt worden wären.<br />

Das in der Literatur erwähnte Beispiel des Grundstücks, das an Wert gewinnt, weil die Zerstörung<br />

des Baumes die Überbaubarkeit zur Folge hat, gehört ebenfalls in den Bereich der Extremfälle.<br />

Diese seltenen Sachverhalte dürfen nicht rechtlich verallgemeinert werden, indem die Regel aufgestellt<br />

wird, dass die Beschädigung oder Zerstörung eines Baumes nur insoweit einen Vermögensschaden<br />

bilden kann, als sie den Verkehrswert des Grundstückes mindert (gleicher Meinung HAUS-<br />

HEER/JAUN, in: ZBJV 139/2003 S. 44). Massgebend ist vielmehr, welches Interesse der jeweilige Eigentümer<br />

an der Wiederherstellung des früheren Zustandes hat. Darauf ist abzustellen, wenn darüber<br />

zu entscheiden ist, ob die Beschädigung oder Zerstörung eines Baumes als Vermögensschaden<br />

zu betrachten ist. Der vom Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung verwendete Schadensbegriff<br />

ist nicht ausschliesslich objektiv zu verstehen, sondern enthält bereits aufgrund seiner historischen<br />

Wurzeln eine subjektive, das Erhaltungsinteresse des Geschädigten berücksichtigende Komponente<br />

(HONSELL, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 3. Aufl., Zürich 2000, S. 6 ff.; HONSELL/MAYER-<br />

MALY/SELB, Römisches Recht, 4. Aufl., S. 224 Fn. 4; ROBERTO, Schadensrecht, Basel 1997, S. 11 ff.;<br />

NIKLAUS LÜCHINGER, Schadenersatz im Vertragsrecht: Grundlagen und Einzelfragen der Schadensberechnung<br />

und Schadenersatzbemessung, Diss. Freiburg 1999, S. 23 ff.). Diese subjektive Komponente<br />

erlaubt die Berücksichtigung der Interessenlage des jeweiligen Eigentümers. Hat dieser ein sachliches<br />

Interesse an der Unversehrtheit der zerstörten oder beschädigten Bäume, darf das Vorliegen eines<br />

Vermögensschadens nicht mit der Begründung verneint werden, die Zerstörung oder Beschädigung<br />

der Bäume habe den Verkehrswert des Grundstücks nicht vermindert.<br />

Lehre und Rechtsprechung betrachten denn auch übereinstimmend als sachgerecht, dass sich die<br />

Schadensbestimmung im Fall der Zerstörung oder Beschädigung von Bäumen grundsätzlich an den<br />

Kosten der Neuanpflanzung orientieren soll (BGE 127 <strong>II</strong>I 73 E. 4c; ROBERTO, a.a.O., S. 150; ALFRED<br />

KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. <strong>II</strong>, 2. Aufl., Bern 1998, S. 104 f.). Bei solchen Sachverhalten<br />

steht der Anspruch des Geschädigten auf Naturalrestitution bzw. deren Surrogat in Form des Ersatzes<br />

der Wiederherstellungskosten im Vordergrund. Wird Geldersatz verlangt, tritt dieser an die Stelle des<br />

Naturalersatzes. Der Geldersatz ist deshalb unabhängig von einer allfälligen Vermögenseinbusse im<br />

Sinne des allgemeinen Schadensbegriffes (Differenzhypothese) zu leisten (LÜCHINGER, a.a.O., S. 26<br />

ff.). Die Naturalrestitution gewährleistet das Integritätsinteresse des Geschädigten und ist am besten<br />

geeignet, den Ausgleichsgedanken zu verwirklichen (KOZIOL, Österreichisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Bd. I:<br />

Allgemeiner Teil, 3. Aufl., Wien 1997, S. 286).<br />

Die Vorinstanz hat sich an die erwähnten Grundsätze gehalten. Die Rüge der Beklagten, der angefochtene<br />

Entscheid verletze in diesen Punkten Bundesrecht, erweist sich als unbegründet.<br />

32


BGE 115 <strong>II</strong> 474<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

85. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. Oktober 1989 i.S. X. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Haftung des gewerbsmässigen Anbieters von Ferienwohnungen.<br />

1. Auf das gewerbsmässige Ferienwohnungsgeschäft finden die zum Reisevermittlungs- und zum<br />

Reiseveranstaltungsvertrag entwickelten Grundsätze Anwendung. Tritt der Anbieter von Ferienwohnungen<br />

bloss als Vermittler auf, so haftet er nur für die Sorgfalt in der Geschäftsbesorgung; ist er<br />

dagegen weitergehend als Veranstalter zu betrachten, so hat er zusätzlich für den Eintritt des Veranstaltungserfolges<br />

einzustehen (E. 2a). Umstände, die für eine Haftung als Veranstalter sprechen (E.<br />

2b). Beurteilung der Erfolgshaftung nach Mietrecht (E. 2c und d).<br />

2. Beeinträchtigungen, die - wie entgangener Feriengenuss - nicht das Vermögen betreffen, berechtigen<br />

nicht zu Schadenersatz nach Art. 41 <strong>OR</strong>; sie können höchstens - falls die Voraussetzungen des<br />

Art. 49 <strong>OR</strong> erfüllt sind - zu einem Genugtuungsanspruch führen (E. 3).<br />

3. Voraussetzungen des Feststellungs- und des Publikationsanspruchs gemäss Art. 2 aUWG (E. 4).<br />

A.- X. vermittelt Ferienhäuser, Bungalows und Ferienwohnungen an der italienischen Adria. Dreizehn<br />

verschiedene Kunden, die in den Jahren 1980 bis 1982 voneinander unabhängig solche Ferienunterkünfte<br />

buchten, belangen ihn wegen mangelhafter Leistung auf Preisrückerstattung und Schadenersatz<br />

in unterschiedlichem Ausmass.<br />

B.- Mit Klage vom 10. Dezember 1982 machten diese Kunden die Streitsache beim Handelsgericht<br />

des Kantons Zürich anhängig. In teilweiser Gutheissung ihrer Begehren verpflichtete das Gericht den<br />

Beklagten mit Urteilen vom 20. März 1987 und vom 2. Juni 1988 zur Bezahlung unterschiedlicher<br />

Beträge an die Kläger, stellte fest, dass er in seinen Prospekten, welche die Grundlage für die Buchungen<br />

der Kläger gebildet hatten, teilweise unrichtige oder irreführende Angaben gemacht hatte,<br />

und ermächtigte die Kläger, das Urteil auf Kosten des Beklagten in einer schweizerischen und in Zwei<br />

deutschen Tageszeitungen zu veröffentlichen.<br />

C.- Beide Parteien führen gegen die Urteile des Handelsgerichts eidgenössische Berufung. Die Kläger<br />

beantragen eine Erhöhung der ihnen zugesprochenen Beträge, der Beklagte die Abweisung der Klage.<br />

Das Bundesgericht weist die Berufungen der Kläger ab, soweit es darauf eintritt. Die Berufungen des<br />

Beklagten heisst es teilweise gut und weist die Klage in bezug auf das Feststellungs- und das Publikationsbegehren<br />

der Kläger ab.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

2. Das Handelsgericht hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass gemäss den Allgemeinen Geschäftsbedingungen<br />

des Beklagten die Mietverträge zwischen den Feriengästen als Mieter und den<br />

jeweiligen Eigentümern der Ferienhäuser oder -wohnungen als Vermieter abgeschlossen und vom<br />

Beklagten bloss vermittelt werden sollten; in den Vertragsdokumenten werde denn jeweils auch ein<br />

Vermieter genannt, der vom Beklagten verschieden sei. Anderseits werde aber in den Prospekten des<br />

Beklagten mit der Bezeichnung "X. - Vermietung von Bungalows" geworben; der Interessent werde<br />

mit "unser Gast" angesprochen und ihm "unser aktuelles Angebot" unterbreitet; es werde grösste<br />

Sorgfalt in der Auswahl der Objekte zugesichert; zu den angepriesenen Leistungen zähle eine umfassende<br />

Betreuung; das ganze Leistungspaket werde den Kunden zu festen Preisen in vier Preisklassen<br />

offeriert. Nach den Vertragsformularen sei zudem die Miete ausschliesslich an den Beklagten zu bezahlen.<br />

All dies erweckt nach der Auffassung des Handelsgerichts beim unbefangenen Kunden den<br />

Eindruck, der Beklagte unterbreite ihm ein eigenes Angebot an Mietobjekten und stehe als sein Ver-<br />

33


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

tragspartner für die angebotenen Leistungen ein, auch wenn er nicht als Eigentümer der vermieteten<br />

Ferienunterkünfte erscheine. Gestützt darauf hat das Handelsgericht die Rechtsbeziehungen der<br />

Parteien als gemischten Vertrag qualifiziert, der, soweit er die entgeltliche Benützung einer Ferienwohnung<br />

oder eines Ferienhauses zum Gegenstand habe, den Bestimmungen über den Mietvertrag<br />

unterstehe. Der Beklagte hält demgegenüber dafür, es seien die werkvertraglichen Bestimmungen<br />

anzuwenden. Er versucht zudem, seiner Haftung für Mängel der Mietobjekte mit verschiedenen weiteren<br />

Einwänden gegen die Ansprüche der einzelnen Kläger zu entgehen, und beruft sich dabei insbesondere<br />

auch auf eine vertragliche Haftungsbeschränkung.<br />

a) Auf das gewerbsmässige Ferienwohnungsgeschäft, d.h. auf die Geschäftstätigkeit von Firmen, die<br />

sich auf grossangelegter kaufmännischer Grundlage die Disposition über eine Vielzahl von Mietobjekten<br />

des Tourismus sichern, um sie ihren Kunden gegen Entgelt zur Verfügung zu stellen, werden in<br />

Lehre und Rechtsprechung die zum Reisevertrag entwickelten Grundsätze angewandt (GIRSBERGER,<br />

Der Reisevertrag, ZSR 105/1986 <strong>II</strong>, S. 23 f.; FRANK, Grundfragen des Reiseveranstaltungsvertrages,<br />

SJZ 77/1981, S. 142; ZR 83/1984 Nr. 12; vgl. ferner BGH in NJW 1985, S. 906 f.; TONNER,<br />

Münch.Komm., N. 88 ff. zu § 651a BGB).<br />

Für den Reisevertrag besteht im schweizerischen Recht keine besondere gesetzliche Regelung. Es<br />

wird unterschieden zwischen dem Reisevermittlungsvertrag, der als einfacher Auftrag zu qualifizieren<br />

ist, und dem Reiseveranstaltungsvertrag, welcher als Innominatkontrakt Elemente des einfachen<br />

Auftrages und des Werkvertrages aufweist (BGE 111 <strong>II</strong> 273 mit Hinweisen). Die Zuordnung beruht auf<br />

der Überlegung, dass der Veranstalter im Gegensatz zum blossen Vermittler eine Gesamtheit von<br />

Leistungen (Transport, Unterkunft, Beratung usw.) erbringt und, soweit er einen bestimmten Erfolg<br />

in Aussicht stellt, dafür auch einzustehen hat.<br />

Demgemäss gestaltet sich auch die Haftung des gewerbsmässigen Anbieters von Ferienwohnungen<br />

und -häusern unterschiedlich, je nachdem ob er bloss als Vermittler oder weitergehend als Veranstalter<br />

zu betrachten ist. Im ersten Fall hat er nur für die Sorgfalt in der Geschäftsbesorgung nach Massgabe<br />

des Auftragsrechtes einzustehen, im zweiten zusätzlich für den Eintritt des Veranstaltungserfolges.<br />

Ob das eine oder das andere zutrifft, ist aus der Sicht des Kunden zu beurteilen (BGE 111 <strong>II</strong> 273).<br />

b) Der Beklagte erklärte in seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen zwar, selbst nicht Eigentümer<br />

der vermittelten Wohnungen und Häuser zu sein. In den Prospekten strich er jedoch seinen Namen<br />

werbeträchtig heraus, hob seine Eigenleistungen hervor und bezeichnete die Mietobjekte als sein<br />

Angebot. Er nahm die Buchungen vor, regelte die Rechtsbeziehungen mit den Kunden durch seine<br />

Vertragsformulare und seine Allgemeinen Geschäftsbedingungen, setzte die Mietpreise selbständig<br />

fest und nahm auch die Zahlungen entgegen; der jeweilige Eigentümer des Mietobjektes blieb demgegenüber<br />

weitgehend anonym. All dies spricht für die Anwendung des Rechts des Reiseveranstaltungsvertrages<br />

(TONNER, a.a.O., N. 89). Für den Kunden trat der im Vertragsdokument als Vermieter<br />

bezeichnete Eigentümer vollständig in den Hintergrund; als Gesprächs- und Vertragspartner stand<br />

ihm einzig der Beklagte gegenüber (vgl. auch ZR 83/1984 Nr. 12 E. 6). Er durfte daher auch davon<br />

ausgehen, dieser gewährleiste den angepriesenen und zum Vertragsinhalt erhobenen Erfolg, gegebenenfalls<br />

neben oder solidarisch mit dem Eigentümer als formellen Partner des Mietvertrages. Darauf<br />

deutet denn auch Ziffer 8 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen hin, worin die Haftung des<br />

Beklagten oder des Vermieters, soweit gesetzlich zulässig, auf den vereinbarten Mietzins beschränkt<br />

wird. Schliesslich stellt der Beklagte selbst eine Erfolgshaftung nicht grundsätzlich in Abrede, will<br />

diese aber dem Recht des Werkvertrages und nicht, wie die Vorinstanz, dem Mietrecht unterstellen.<br />

c) Hat somit der Beklagte für den Veranstaltungserfolg einzustehen, stellt sich die Frage, welchen<br />

gesetzlichen Regeln seine Haftung untersteht. Im eigentlichen, umfassenden Reiseveranstaltungsvertrag<br />

ist die Erfolgshaftung nach Werkvertragsrecht zu beurteilen (GIRSBERGER, a.a.O., S. 53 f.). Im<br />

vorliegenden Fall rechtfertigt sich jedoch eine abweichende Betrachtungsweise. Gegenstand des<br />

erfolgsbezogenen Vertragsteils ist bei den Verträgen des Beklagten mit den Klägern einzig die Benützung<br />

einer Sache und kein vielfältiges Leistungsbündel wie beim eigentlichen Reiseveranstaltungsvertrag;<br />

es handelt sich um gemischte Verträge, umfassend einerseits ein Beratungs- und Sorgeverhältnis,<br />

anderseits - als Erfolgsleistung - die Gebrauchsüberlassung einer Wohnung oder eines Hauses<br />

gegen Entgelt.<br />

34


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Bei Störungen in der Abwicklung gemischter Verträge sind den Umständen angepasste Lösungen zu<br />

finden, wobei diejenige gesetzliche Ordnung heranzuziehen ist, welche dem in Frage stehenden Vertragsteil<br />

am ehesten entspricht (vgl. BGE 109 <strong>II</strong> 466). Dies führt im vorliegenden Fall zwangsläufig<br />

dazu, die Haftung des Beklagten für die fehlende oder herabgesetzte Benützbarkeit der seinen Kunden<br />

zur Verfügung gestellten Objekte nach Mietrecht zu beurteilen (vgl. auch ZR 83/1984 Nr. 12 S.<br />

36; FRANK, a.a.O., S. 147 f.). Mit dessen Anwendung hat das Handelsgericht mithin Bundesrecht nicht<br />

verletzt.<br />

d) Der Vermieter ist verpflichtet, die Sache in vertragsgemässem Zustand zu übergeben (Art. 254 Abs.<br />

1 <strong>OR</strong>). Kommt er dieser Pflicht nicht nach, ist der Mieter berechtigt, vom Vertrag zurückzutreten oder<br />

eine verhältnismässige Herabsetzung des Mietzinses zu verlangen (Art. 254 Abs. 2 <strong>OR</strong>). Darüber hinaus<br />

kann er gegebenenfalls nach Art. 97 ff. <strong>OR</strong> Schadenersatz fordern (SCHMID, N. 34 f. zu Art. 254/5<br />

<strong>OR</strong>; REYMOND, SPR V<strong>II</strong>/1, S. 224).<br />

Die Gewährleistungspflicht des Vermieters für Sachmängel setzt nicht wie diejenige des Verkäufers<br />

voraus, dass der Mieter die Mietsache bei der Übernahme auf ihre Beschaffenheit prüft und dem<br />

Vermieter allfällige Mängel unverzüglich anzeigt (BGE 113 <strong>II</strong> 29 E. 2a mit Hinweisen). Dagegen ist ihm<br />

der Rücktritt vom Vertrag erst gestattet, wenn er vorgängig den Vermieter erfolglos zur Behebung<br />

der Mängel aufgefordert hat, es sei denn, eine solche Aufforderung erscheine in analoger Anwendung<br />

von Art. 108 <strong>OR</strong> als unnütz (BGE 104 <strong>II</strong> 274 mit Hinweisen).<br />

Die dispositive gesetzliche Regelung wurde in Ziffer 8 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen des<br />

Beklagten wie folgt ergänzt:<br />

"Die Firma X. und der Vermieter bemühen sich, dem Mieter einen angenehmen Aufenthalt zu vermitteln<br />

und zu ermöglichen. Sollte der Mieter trotzdem Grund zu Beanstandungen haben, so beschränkt<br />

sich die Haftung der Firma X. oder des Vermieters, soweit gesetzlich zulässig, in jedem Falle<br />

auf den vereinbarten Mietzins. Voraussetzung dieser allfälligen Haftung ist, dass der Mieter seine<br />

Beanstandung unverzüglich dem örtlichen Büro der Firma X. meldet, oder, wenn ein solches nicht<br />

besteht, seine Beanstandung dem Hauptsitz zur Kenntnis bringt. Allfällige Ansprüche hat der Mieter<br />

spätestens innerhalb von 2 Wochen nach Beendigung des Mietverhältnisses beim Hauptsitz geltend<br />

zu machen."<br />

Die quantitative Haftungsbeschränkung steht unter den zwingenden Schranken des Art. 100 Abs. 1<br />

<strong>OR</strong>, ist mithin nur bei bloss leichtem Verschulden beachtlich. Im weiteren ist die in den Allgemeinen<br />

Geschäftsbedingungen enthaltene Bestimmung nach dem Vertrauensgrundsatz auszulegen, wobei<br />

der Unklarheitenregel sowie dem Grundsatz besondere Bedeutung zukommt, dass Abreden, die vom<br />

dispositiven Recht abweichen, im Zweifel eng auszulegen sind, namentlich dann, wenn sie die Stellung<br />

des Kunden verschlechtern (JÄGGI/GAUCH, N. 464 zu Art. 18 <strong>OR</strong> mit Hinweisen; KRAMER, N. 218<br />

ff. zu Art. 1 <strong>OR</strong>). Im Lichte dieser Kriterien ist die Auslegung der Vorinstanz nicht zu beanstanden,<br />

wonach die Rügepflicht am Ferienort nur bei dortiger Anwesenheit einer Hilfsperson des Beklagten<br />

und nur hinsichtlich solcher Mängel besteht, deren Behebung als möglich erscheint, im übrigen aber<br />

die Beanstandung am Hauptsitz innert zwei Wochen nach Mietende genügt.<br />

aa) Der Kläger Nr. 1 beanstandete die ihm gemäss Mietvertrag zugewiesene Wohnung, worauf ihm -<br />

gegen Aufpreis - ein Ersatzobjekt zur Verfügung gestellt wurde. Da auch dieses Mängel aufwies, erklärte<br />

er schliesslich den Rücktritt vom Vertrag. Das Handelsgericht hat seine Ansprüche auf Rückerstattung<br />

der Mietzinse und Ersatz zusätzlicher Auslagen zu Recht geschützt.<br />

Die Setzung einer Nachfrist zur Behebung der Mängel war offensichtlich nicht mehr notwendig, als<br />

sich auch das zur Verfügung gestellte Ersatzobjekt als gebrauchsuntauglich erwies. Der Feriengast ist<br />

nicht gehalten, seine Beanstandungen beliebig oft zu wiederholen, um dem Vermieter die Möglichkeit<br />

zu geben, ihm letztendlich doch noch ein geeignetes Ersatzobjekt zur Verfügung zu stellen.<br />

Nicht zu beanstanden ist die Auffassung der Vorinstanz, nach Massgabe des festgestellten Verhaltens<br />

des Beklagten und seiner Hilfspersonen könne von einem bloss leichten Verschulden nicht die Rede<br />

sein, so dass die vertragliche Haftungsbeschränkung entfalle. Entgegen der Meinung des Beklagten<br />

hat das Handelsgericht daran auch im Entscheid vom 2. Juni 1988 festgehalten, indem es auf sein<br />

erstes Urteil verwies.<br />

bb) Den Klägern Nrn. 2 und 3, 5 bis 11 und 13 hat die Vorinstanz Minderung des Mietzinses, den Klägern<br />

Nrn. 2 und 9 überdies Schadenersatz für weitere Umtriebe zugestanden.<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Die Feststellungen des Handelsgerichts zur Höhe des Minderwertes und des zusätzlichen Schadens<br />

sind tatsächlicher Natur und damit für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich (Art. 63 Abs. 2<br />

OG). Dass die Vorinstanz von unzutreffenden Rechtsbegriffen oder Berechnungsgrundlagen ausgegangen<br />

wäre (BGE 113 <strong>II</strong> 346 f.), ist weder dargetan noch ersichtlich.<br />

Der Berufung des Beklagten auf die vertragliche Haftungsbeschränkung gegenüber den Klägern Nrn.<br />

2 und 9 ist wiederum Art. 100 Abs. 1 <strong>OR</strong> entgegenzuhalten. Auch in diesem Fall kann von einem bloss<br />

leichten Verschulden bei Würdigung der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz keine Rede sein.<br />

Gegenüber den Klägern Nr. 5 wendet der Beklagte ein, diese hätten ihre Ansprüche durch Ablehnung<br />

eines Ersatzobjektes verwirkt. Das Handelsgericht hält dazu fest, die Ersatzwohnung habe sich nicht<br />

am selben Ort befunden, weshalb die Kläger zu deren Annahme nicht verpflichtet gewesen seien.<br />

Diese Auffassung ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden; es kann daher offenbleiben, ob bei Mängeln<br />

der Mietsache überhaupt eine Obliegenheit des Mieters besteht, ein Ersatzobjekt anzunehmen,<br />

wenn er einzig eine Herabsetzung des Mietzinses verlangt und weder vom Vertrag zurücktritt, noch<br />

Erfüllungsschaden im Sinne der Art. 97 ff. <strong>OR</strong> geltend macht.<br />

3. Die Kläger verlangen, soweit sie das Urteil des Handelsgerichts mit Berufung anfechten, über die<br />

ihnen von der Vorinstanz zugesprochenen Beträge hinaus Ersatz für vorenthaltenen Feriengenuss<br />

(...).<br />

a) Soweit die Kläger aus entgangenem Feriengenuss Ansprüche auf Schadenersatz ableiten wollen, ist<br />

davon auszugehen, dass Schaden im Rechtssinne eine unfreiwillige Vermögensverminderung ist und<br />

in einer Verminderung der Aktiven, einer Vermehrung der Passiven oder in entgangenem Gewinn<br />

bestehen kann. Er entspricht der Differenz zwischen dem gegenwärtigen Vermögensstand und dem<br />

Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte (BGE 104 <strong>II</strong> 199 mit Hinweisen).<br />

Einen immateriellen Schadensbegriff hat das Bundesgericht in BGE 87 <strong>II</strong> 290 ff. abgelehnt. Die herrschende<br />

Lehre und die überwiegende kantonale Rechtsprechung sind ihm in dieser Auffassung gefolgt<br />

(GAUCH, SJZ 79/1983 S. 276; OFTINGER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4. Aufl., Band<br />

<strong>II</strong>/1 S. 7 Anm. 19 und S. 508 Anm. 148 mit weiteren Hinweisen; JdT 1985 I 430 Nr. 48). In einem Entscheid<br />

aus dem Jahre 1978 hat demgegenüber das Kantonsgericht Graubünden einer Braut unter<br />

dem Titel des Versorgerschadens auch den Nachteil ausgleichen lassen, dass sie auf die Annehmlichkeiten<br />

eines eigenen Hauses verzichten musste (PKG 1978 Nr. 3). In Anlehnung an die deutsche<br />

Rechtsprechung hat sodann das Obergericht des Kantons Zürich im Jahre 1980 die Ersatzfähigkeit<br />

entgangenen Feriengenusses bejaht (ZR 79/1980 Nr. 131).<br />

Die Anerkennung ersatzfähigen immateriellen Schadens ist für das schweizerische Recht abzulehnen.<br />

Beeinträchtigungen, welche nicht das Vermögen betreffen, stellen keinen Schaden im Rechtssinne<br />

dar; die dafür allenfalls zu leistende Geldsumme ist nicht Schadenersatz, sondern Genugtuung (VON<br />

TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Band I S. 83 f.). Das muss<br />

auch dort gelten, wo eine bestimmte Aufwendung ihren inneren Wert verliert, weil der mit ihr angestrebte<br />

Zweck sich nicht oder nicht vollständig einstellt (a. M. VON TUHR/PETER, a.a.O.,<br />

bei Anm. 10); diesfalls wird nicht das Vermögen geschmälert, sondern bloss eine Erwartung enttäuscht<br />

(vgl. zum Gesamten auch STARK, ZSR 105/1986 <strong>II</strong>, S. 585 ff.).<br />

Für entgangenen Feriengenuss kann den Klägern demnach kein Schadenersatz zugesprochen werden.<br />

b) Genugtuungsrechtlich ist vorab festzuhalten, dass die eingeklagten Ansprüche auf Sachverhalten<br />

gründen, welche sich vor dem Inkrafttreten des revidierten Art. 49 <strong>OR</strong> verwirklichten. Sie sind daher<br />

nach altem Recht zu beurteilen (Art. 1 Abs. 1 SchT ZGB).<br />

Ein Genugtuungsanspruch setzt nach Art. 49 a<strong>OR</strong> eine besonders schwere Verletzung in den persönlichen<br />

Verhältnissen voraus. Eine solche liegt im vorliegenden Fall, wie das Handelsgericht zutreffend<br />

festhält, nicht vor (vgl. auch BREHM, N. 29 zu Art. 49 <strong>OR</strong>).<br />

4. Die Vorinstanz wirft dem Beklagten unlauteren Wettbewerb vor und hat in diesem Zusammenhang<br />

ein Feststellungs- und ein Publikationsbegehren der Kläger geschützt. Der Beklagte hält dies für<br />

bundesrechtswidrig.<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

a) Da die dem Beklagten zum Vorwurf erhobenen Tatsachen vor dem 1. März 1988 eingetreten sind,<br />

beurteilen sich die wettbewerbsrechtlichen Ansprüche noch nach dem Gesetz vom 30. September<br />

1943 und nicht nach dem geltenden Gesetz vom 19. Dezember 1986 (BGE 114 <strong>II</strong> 94).<br />

b) Art. 2 Abs. 2 aUWG gibt den Kunden, die durch unlauteren Wettbewerb in ihren wirtschaftlichen<br />

Interessen geschädigt sind, die in Abs. 1 dieser Bestimmung genannten Rechtsansprüche, darunter<br />

denjenigen auf Feststellung der Widerrechtlichkeit. Dieser Anspruch gilt jedoch nicht schlechthin; er<br />

setzt vielmehr ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung voraus (BGE 104 <strong>II</strong> 133 f.). Ob es gegeben<br />

ist, ist eine Frage des Bundesrechts (BGE 110 <strong>II</strong> 353). Der Feststellungsanspruch hat in erster<br />

Linie Beseitigungsfunktion und ist daher in der Regel zu gewähren, wenn die Fortdauer einer Störung<br />

zu befürchten ist (vgl. Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB; BGE 104 <strong>II</strong> 234; BGE 101 <strong>II</strong> 187 E. 4). Ein solches Beseitigungsinteresse<br />

aber besteht im vorliegenden Fall, nach Beendigung der Rechtsbeziehungen der<br />

Parteien, nicht mehr, wie auch das Handelsgericht zutreffend festhält.<br />

Die Vorinstanz bejaht jedoch ein Feststellungsinteresse der Kläger mit der Begründung, die Rüge des<br />

Verhaltens des Beklagten werde Auswirkungen in der gesamten Branche zeitigen und den Klägern<br />

damit künftigen Schutz vor anderen irreführenden Angaben gewähren. Das Interesse an einer nicht<br />

der Beseitigung einer fortdauernden Störung dienenden Feststellung ist indessen in wettbewerbsrechtlichen<br />

Streitigkeiten nur zu bejahen, wenn eine Rechtsgefährdung besteht, weil der Schutzbereich<br />

der Wettbewerbsrechte des Klägers gegenüber dem Verhalten des Beklagten umstritten ist<br />

(vgl. BGE 101 <strong>II</strong> 189 E. c); eine solche, vom Beklagten ausgehende Gefährdung aber besteht im vorliegenden<br />

Fall offensichtlich nicht. Das öffentliche Interesse hingegen, die Branche vor Missbräuchen zu<br />

warnen, reicht nicht aus, ein privates Feststellungsinteresse der Kläger zu begründen (BGE 101 <strong>II</strong><br />

190). Ebensowenig genügt der Wunsch der Verletzten nach rechtlicher Missbilligung des verletzenden<br />

Verhaltens (VON BÜREN, Kommentar zum UWG, S. 165 N. 3). Ein Feststellungsanspruch der Kläger<br />

besteht somit entgegen der Auffassung des Handelsgerichts nicht.<br />

b) Die Urteilsveröffentlichung setzt ebenfalls ein Interesse des sie verlangenden Wettbewerbsteilnehmers<br />

voraus. Auch sie dient nicht blosser Missbilligung oder Rache, sondern soll zur Wiederherstellung<br />

einer in der Öffentlichkeit ungerechtfertigterweise herabgesetzten Wettbewerbsposition<br />

beitragen. Ein bloss öffentliches Interesse an einer Klarstellung genügt nur, wenn es gilt, fortdauernde<br />

Unsicherheiten im Publikum zu beheben (BGE 81 <strong>II</strong> 72). Eine solche, vom Beklagten ausgehende,<br />

andauernde Gefährdung der Allgemeinheit weisen die Kläger indessen nicht nach. Das Handelsgericht<br />

hat demnach ihr Publikationsbegehren zu Unrecht geschützt.<br />

STEPHAN WEBER, Von der Entstehung durch unerlaubte Handlung zur Entstehung<br />

durch Schädigung, Auszug aus: Die Rechtsentwicklung am der Schwelle<br />

zum 21. Jahrhundert, Symposium zum Schweizerischen Privatrecht, hrsg. von<br />

Peter Gauch und Jörg Schmid (Zürich 2001), 253, 280 ff.<br />

V. Differenzen zur Differenztheorie<br />

1. Die gute alte Differenztheorie<br />

Der Gesetzgeber hat den Schaden selbst nicht definiert und damit offen gelassen, welche Nachteile<br />

dem Geschädigten zu ersetzen sind. In der Regel und eigentlich fast unangefochten wird er so umschrieben,<br />

wie dies in BGE 116 <strong>II</strong> 444 nachzulesen ist: „Schaden ist die ungewollte Verminderung des<br />

Reinvermögens. Er kann in einer Verminderung der Aktiven, einer Vermehrung der Passiven oder in<br />

entgangenem Gewinn bestehen und entspricht nach allgemeiner Auffassung der Differenz zwischen<br />

dem gegenwärtigen Vermögensstand und dem Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis<br />

hätte.”<br />

Hinter dieser Umschreibung steht die sog. Differenztheorie (oder Differenzhypothese) die FRIEDRICH<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

MOMMSEN in seiner Schrift "Zur Lehre vom Interesse im Jahre 1855" kreiert hat: „Unter dem Interesse<br />

in seiner technischen Bedeutung verstehen wir nämlich die Differenz zwischen dem Betrage des<br />

Vermögens einer Person, wie dasselbe in einem gegebenen Zeitpunkte ist, und dem Betrage, welches<br />

dieses Vermögen ohne die Dazwischenkunft eines bestimmten beschädigenden Ereignisses in dem<br />

zur Frage stehenden Zeitpunkt haben würde. ”<br />

2. ... und was daraus folgt<br />

Aus der Umschreibung des Schadens als Differenz des Gesamtvermögens ergeben sich folgende Konsequenzen:<br />

Zum einen ist verlangt, dass das haftbarmachende Ereignis zu finanziellen Nachteilen<br />

führt. Das blosse Loch in der Scheibe oder im Kopf genügt noch nicht. Verheilt die Wunde, ohne dass<br />

Heilungskosten entstanden sind, liegt kein Schaden vor. Ausgegangen wird also von einer ökonomischen<br />

Betrachtung. Zum anderen geht aus dem Gesamtvermögensvergleich hervor, dass die individuellen<br />

Verhältnisse des Geschädigten, die Auswirkungen auf sein Gesamtvermögen, massgebend<br />

sind. Es darf nicht, was auch denkbar wäre und in vereinzelten Gesetzesbestimmungen auch vorgesehen<br />

ist, von einem objektiven Wert ausgegangen werden.<br />

3. Das Schreckgespenst normativer Schaden<br />

In neuerer Zeit taucht gelegentlich auch in der schweizerischen Literatur und nun auch in einem<br />

Bundesgerichtsurteil das Schreckgespenst des "normativen" sowie jene des "abstrakten" Schadens<br />

auf: „Die Besonderheit des Haushaltschadens liegt somit darin, dass er nach der Rechtsprechung<br />

auch zu ersetzen ist, soweit er sich nicht in zusätzlichen Aufwendungen niederschlägt, mithin gar<br />

keine Vermögensverminderung eintritt. Der Haftpflichtige hat insoweit für normativen Schaden einzustehen,<br />

der sich nicht konkret, sondern nur abstrakt berechnen lässt” (BGE vom 13.12.94 i.S. Jost c.<br />

Basler, teilw. publ. in Pra 1995 Nr.172, 14).<br />

Das Bundesgericht hat der vorinstanzlichen Auffassung, die von den aufgelaufenen Kosten ausgegangen<br />

ist und diese auch zur Basis der Schätzung des zukünftigen Aufwandes genommen hat, eine Absage<br />

erteilt. Das Urteil hat für etwelche Aufregung und Verwirrung gesorgt, und es ist denn auch<br />

zuzugeben, dass die Begründung nicht gerade glücklich ausgefallen ist und viele Fragen offen gelassen<br />

hat. Soweit das Bundesgericht den Begriff des normativen Schadens verwendet, weil es Schadenersatz<br />

zuspricht, obwohl kein Vermögensnachteil vorliegt, bricht es indes nicht mit den tradierten<br />

Vorstellungen. Auch wenn das Vorgehen mit der Differenztheorie kollidiert, ist anerkannt, dass der<br />

Geschädigte seine Ansprüche nicht dadurch verliert, dass er die schadenverursachenden Dispositionen<br />

nicht vornimmt oder durch solche den Schaden gerade vermeidet. Auch wer sein Auto nicht<br />

repariert, hat Anspruch auf die Reparaturkosten, und wer eine Tätigkeit ausübt, obwohl ihm dies<br />

unter dem Gesichtspunkt der Schadenminderung nicht zugemutet werden kann, erhält den Erwerbs-<br />

oder Versorgungsausfall ersetzt. So hat das Bundesgericht in BGE 119 <strong>II</strong> 366 f. jedenfalls für eine<br />

Witwe entschieden, die nach dem Tod ihres Mannes eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat.<br />

4. Notwendige Korrektur und Ergänzung der Differenztheorie<br />

Dass man für die Schadensfeststellung nicht einfach auf die Lage vor und nach dem schädigenden<br />

Ereignis abstellen kann, dass vielmehr auch der Schadensbegriff gleich wie der Kausalzusammenhang<br />

gewisser Korrekturen bedarf, kann nicht bestritten werden. Die Berechnung des Schadens reduziert<br />

sich nicht auf eine blosse Subtraktion des Gesamtvermögens, wie das durch die Differenzhypothese<br />

suggeriert wird. Auch beim Schaden handelt es sich nicht um einen wertfreien Begriff, der sich in<br />

einem blossen Kalkulationsvorgang erschöpft. Die Differenztheorie ist keine Rechenformel, denn die<br />

gesuchte Vermögensdifferenz lässt sich nicht einfach als Saldo aus dem Vergleich zweier Vermögens-<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

lagen - der hypothetischen und der realen - ablesen.<br />

Dass dem nicht so ist, wird im Problemkreis der Vorteilsanrechnung längst anerkannt, auch wenn<br />

man dort bislang nicht über topische Lösungsansätze herausgekommen ist. Die gesuchte Vermögensdifferenz<br />

basiert zudem auch nicht immer auf greifbaren Fakten bzw. auf einem konkret feststellbaren<br />

Geldabfluss, sondern vielfach auf blossen Annahmen und Prognosen, für die die Schadenberechnungstheorien<br />

die Regeln und Wertungen bereitstellen müssen. Die Methode der Schadenberechnung<br />

ist daher auch mitbestimmend für den Schadensbegriff (SCHAER ROLAND, Grundzüge des<br />

Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen, Basel/Frankfurt a.M. 1984, N 270). Dass sich die<br />

Schadensfeststellung nicht auf eine blosse Rechenopertion reduziert, bringt ja auch Art. 42 <strong>OR</strong> zum<br />

Ausdruck, der bestimmt, wie der Schaden festzulegen ist, wenn er nicht ziffernmässig feststellbar ist.<br />

Vorsicht ist aber gegenüber jenen Strömungen geboten, die aus den notwendigen Abweichungen<br />

von der Differenztheorie quasi einen Freipass ableiten. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Annahme<br />

eines Schadens ohne den erforderlichen Vermögensverlust wie auch hinsichtlich der Quantifizierung,<br />

d.h. der Berechnungsmethode. Die Ausnahmen bedürfen einer besonderen Begründung, denn es<br />

geht nicht einfach um die Korrektur einer blossen Faustregel, sondern um die notwendige Fortbildung<br />

des Schadenersatzrechts, der weitreichende Bedeutung zukommt.<br />

Der blosse Hinweis auf den sog. normativen Schaden kann eine Begründung jedenfalls nicht ersetzen,<br />

denn hinter diesem Begriff steht kein einheitlicher Lösungsansatz. Gemeinsam haben die mit diesem<br />

Etikett versehenen Schadensprobleme nur gerade, dass sie mit der Differenztheorie nicht zu vereinbaren<br />

sind. Hinter dem normativen Schaden steht keine geschlossene Theorie, die als Alternative die<br />

Differenztheorie ablösen könnte; er kann damit auch nicht als ausreichende Legitimation für das<br />

gewünschte Resultat dienen. Sofern mit dem Begriff angetönt wird, dass der Schaden nicht ein rein<br />

kalkulatorisches Problem zu begreifen ist, sondern Wertungsarbeit erfordert, ist gegen den Begriff<br />

aber nichts einzuwenden.<br />

5. Massgebende Wertungen<br />

Nach welchen Kriterien ist nun aber diese Wertungsarbeit vorzunehmen? Kehren wir zurück zu den<br />

erwähnten Beispielen, den fiktiven Reparaturkosten, der Schadenminderung und zum Haushaltschaden.<br />

Einigermassen leicht fällt die Anwort bei den fiktiven Reparaturkosten. Bei einer wirtschaftlichen<br />

Betrachtungsweise (die bei Sachschäden angebracht ist), sollten lediglich der Minderwert und nicht<br />

die höheren Reparaturkosten vergütet werden. Erst wenn der Geschädigte das Fahrzeug tatsächlich<br />

repariert, wandelt sich der Schadensanpruch in die tatsächlichen Aufwendungen um. Die Praxis folgt<br />

allerdings der gegenteiligen Auffassung, denn die Verwendung des Geldes sei nicht massgebend (vgl.<br />

auch die Revisionsdiskussion in Deutschland, DAR 2000, 109 f.). Gleich ist auch vorzugehen, wenn<br />

eine Sache gänzlich zerstört worden ist. Auch hier entscheiden die Dispositionen des Geschädigten,<br />

auf welchen Wert abzustellen ist. Entschliesst er sich, einen gleichwertigen Ersatz zu beschaffen, so<br />

ist auf den Wiederbeschaffungswert abzustellen. Es ist dem Geschädigten aber auch unbenommen,<br />

auf eine Wiederbeschaffung zu verzichten. Ob sich der Geschädigte aus Anlass des Schadenereignisses<br />

oder sonstwie zu diesem Schritt entscheidet, ist unerheblich. Der Geschädigte verhält sich bei<br />

einem Verzicht auf die Wiederherstellung so, wie wenn er die betroffene Sache verkauft hätte, so<br />

dass der Veräusserungswert massgebend ist. Die Lösung steht im Einklang mit dem Ausgleichsprinzip,<br />

das fordert, dass dem Geschädigten aus dem Schadenereignis keine Nachteile erwachsen dürfen,<br />

und sie differenziert zwischen dem Integritäts- und dem Kompensationsinteresse, die nicht identisch<br />

sind (so auch KOZIOL, SVZ, 149, mit dem zutreffenden Hinweis, dass die Regelung des Sachschadens in<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Art. 45c Abs. 1 VE <strong>OR</strong> insofern widersprüchlich ist, als trotz des Erfordernises der Gleichwertigkeit ein<br />

Amortisationsabzug erfolgen soll).<br />

Anders verhält es sich im Beispiel der Witwe, die überpflichtgemäss einer Erwerbstätigkeit nachgeht.<br />

Die entscheidende Wertung liefert hier die Schadenminderungspflicht. Man könnte freilich auch hier<br />

auf die Dispositionen des Geschädigten abstellen und müsste alsdann der fleissigen Witwe einen<br />

Abzug machen. Die Schadenminderungspflicht will aber die Dispositionen gerade beschränken und<br />

verlangt vom Geschädigten (i.S. einer Obliegenheit), dass er den Schaden im Rahmen des Zumutbaren<br />

möglichst klein hält. Die Schadensbrechnung orientiert sich hier an einem Soll-Verhalten und<br />

baut auf dieser Wertung auf.<br />

Auch bei den Reparaturkosten ist die Dispositionfreiheit nicht unbeschränkt. So können die Kosten<br />

dann nicht verlangt werden, wenn sie den Wiederbeschaffungswert übersteigen. In Deutschland<br />

beträgt der Toleranzwert 130% der Wiederbeschaffungskosten, was allerdings, auch wenn man das<br />

Prognoserisiko in Rechnung stellt, übertrieben und nur mit dem Sonderstatus zu erklären ist, den die<br />

deutsche Rechtsprechung den Ansprüchen rund ums Auto einräumt.<br />

Ganz offensichtlich wird die erforderliche Wertungsarbeit auch beim Problem der Mehrwertanrechnung.<br />

In BGE 119 <strong>II</strong> 249 hatte sich das Bundesgericht mit der Frage der Anrechung des Mehrwerts<br />

einer Baute beschäftigt, der infolge Überschreitung eines ungenauen Kostenvoranschlages entstanden<br />

war. Das Bundesgericht hat bei der Bestimmung der Rechtsfolgen dieser aufgedrängten Bereicherung<br />

nicht einfach die objektive Wertsteigerung in Anschlag gebracht, wie dies die Differenztheorie<br />

nahelegen würde, sondern ist vom subjektiven Interesse des Geschädigten ausgegangen: "Ein<br />

Mehrwert, der vom Bauherrn nicht gewollt ist und für ihn nutzlos ist, oder dessen Berücksichtigung<br />

zu einer untragbaren finanziellen Belastung des Bauherrn führt, ist daher von der Anrechnung auszunehmen".<br />

Dass sich die Schadenberechnung bei dieser Ausgangslage besonders schwierig gestaltet<br />

und Meinungsverschiedenheiten vorprogrammiert sind, hat sich in den diversen Reaktionen auf dieses<br />

Urteil gezeigt (herausgegriffen sei der Beitrag von THOMAS KOLLER, Bemerkungen zur Subjektivierung<br />

des Vermögensbegriffs im Privatrecht, recht 1994, 25 ff.; weitere Nachweise bei FELLMANN, AJP,<br />

881 Anm. 43). Mit der subjektiven Bewertung wird jedenfalls die Grenze zwischen Vermögens- und<br />

Nichtvermögensinteressen klar verwischt.<br />

6. Abstrakte Faktoren<br />

In der Praxis verwendet man häufig anstelle konkreter Daten, abstrakte Angaben, nämlich immer<br />

dann, wenn mit Tabellen und Statistiken gearbeitet wird. Paradebeispiel ist die Berechnung des Invaliditäts-<br />

oder Versorgungsschadens, wo mit der Verwendung der Barwerttafeln von STAUF-<br />

FER/SCHAETZLE für die Kapitalisierung die durchschnittliche Lebens- oder Aktivitätserwartung unterstellt<br />

wird. Auch die Höhe der Versorgungsquoten, der Wiederverheiratungsabzug und viele weitere<br />

Faktoren der Schadenberechnung (etwa der Stundenaufwand für die Haushaltführung) gründen nicht<br />

auf den individuellen Verhältnissen des Geschädigten, sondern auf Erfahrungszahlen. Die Verwendung<br />

abstrakter Faktoren, auf die wir v.a. bei der Berechnung des zukünftigen Schadens angewiesen<br />

sind, ändert grundsätzlich aber nichts an der subjektiven Ausrichtung des Schadens: "Die blosse Verwendung<br />

objektiver Elemente macht eine Schadenberechnung noch nicht zur abstrakten"(BGE 104 <strong>II</strong><br />

201).<br />

Treffender wäre allerdings, von einer gemischten oder konkret-abstrakten Berechnungsweise zu<br />

sprechen. Eine rein abstrakte Berechnung liegt erst vor, wenn die konkreten Umstände gänzlich ausgeblendet<br />

werden. Die abstrakte Berechnung führt zum objektiven Schaden, der in einzelnen Bestimmungen<br />

vorgesehen ist (Art. 104, 191 Abs. 3, 215 Abs. 2 <strong>OR</strong>, Art. 12 EHG, Art. 447 <strong>OR</strong> und weitere<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

transportrechtliche Sonderbestimmungen). Grundsatz ist aber, das folgt aus der subjektiven Ausrichtung<br />

des Schadens, die konkrete Schadenberechnung: Der Schaden muss so konkret wie möglich und<br />

so abstrakt wie nötig ermittelt werden. Schadensbegriff und Berechnungsmethoden lassen sich wie<br />

folgt darstellen:<br />

Auch und gerade beim Haushaltschaden ist man auf solche Erfahrungswerte angewiesen, namentlich<br />

hinsichtlich des benötigten Stundenaufwandes für die Haushaltführung, denn vor dem Schadenfall<br />

werden kaum je Aufzeichnungen über die Hausarbeit geführt. Soweit das Bundesgericht im zitierten<br />

Entscheid diesen Aspekt meint, liegt damit ebenfalls noch keine Abweichung vom bisherigen Schadensverständnis<br />

vor, vielmehr wird ausgesprochen, was heute schon gilt, obwohl man sich dieses<br />

Methodenpluralismus nicht immer bewusst ist.<br />

7. Abgrenzung zum immateriellen Schaden<br />

Schwierigkeiten bereitet auch die Abgrenzung zum immateriellen Schaden. Nicht zu ersetzen ist ein<br />

blosses Affektionsinteresse, der Lieberhaberwert. Lehrbuchbeispiele bilden der wertlose Familienschmuck<br />

und die Jagdtrophäe. In BGE 115 <strong>II</strong> 481 lehnte es das Bundesgericht ab, den Mietern von<br />

Ferienwohnungen an der Adria Ersatz für entgangenen Feriengenuss zuzusprechen:<br />

"Die Anerkennung ersatzfähigen immateriellen Schadens ist für das schweizerische Recht abzulehnen.<br />

Beeinträchtigungen, welche nicht das Vermögen betreffen, stellen keinen Schaden im<br />

Rechtssinne dar; die dafür zu leistende Geldsumme ist nicht Schadenersatz, sondern Genugtuung<br />

(VON THUR/PETER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Band I S. 83 f.). Das muss<br />

auch dort gelten, wo eine bestimmte Aufwendung ihren inneren Wert verliert, weil der mit ihr angestrebte<br />

Zweck sich nicht oder nicht vollständig einstellt (a.M. VON THUR/PETER, a.a.O., bei Anm. 10),<br />

diesfalls wird nicht das Vermögen geschmälert, sondern bloss eine Erwartung enttäuscht (vgl. zum<br />

Gesamten auch STARK EMIL W., ZSR 1986 <strong>II</strong> 585 ff.). Für entgangenen Feriengenuss kann den Klägern<br />

demnach kein Schadenersatz zugesprochen werden."<br />

Das Urteil, das auch einen Genugtuungsanspruch abgelehnt hat, bedeutet zugleich eine Absage an<br />

die Frustrations- und Kommerzialisierungsthese, die v.a. in Deutschland zur Überwindung der Vermö-<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

gensschadengrenze herangezogen werden. Anders als das Bundesgericht sieht es die Zürcher Justiz.<br />

So sprach das Kassationsgericht einem Ferienreisenden, der am Tag seiner Abreise unter dem Verdacht,<br />

ein Tötungsdelikt begangen zu haben, verhaftet und Stunden später entlassen wurde, zwei<br />

Drittel der für die Ferienreise getätigten Aufwendungen zu (ZR 1997, Nr. 16; vgl. die Kritik bei VITO<br />

ROBERTO, recht 1997, 108 ff.). Schon 1980 hatte das Obergericht einem Reisenden, der seine Ferien<br />

statt an der Küste in einem lärmigen Stadtzentrum verbringen musste, Ersatz der Reisekosten und<br />

sogar einen Erwerbsschaden zugesprochen (SJZ 1981, Nr. 17, 79 ff., weitere Nachweise der uneinheitlichen<br />

Gerichtspraxis bei GAUCH/SCHLUEP/REY, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner<br />

Teil, Bd. <strong>II</strong>., 7. A. Zürich 1998, N 2667 ff.).<br />

Der Grenzverlauf wird auch vom Bundesgericht nicht immer so klar gezogen, wie es die apodiktischen<br />

Aussagen des Adria-Urteils erwarten lassen. Erwähnt sei der Zuschlag beim Haushaltschaden,<br />

der mit BGE 108 <strong>II</strong> 434 eingeführt worden ist, und die höhere Qualität der "Hausfrauenarbeit" abgelten<br />

soll (man spricht daher auch vom sog. Qualitätszuschlag). Solche Differenzierungen vertragen<br />

sich nicht mehr mit dem Schadenbegriff (oder sie sind anders zu begründen), der von einem wirtschaftlichen<br />

Nachteil ausgeht und den Ausgleich von immateriellen Werten nur über die Genugtuung<br />

zulässt. Eine andere Frage ist selbstverständlich, wie die Hausarbeit zu bewerten ist, ob man dabei<br />

auf eine Ersatzkraft abstellen oder eine abstrakte Arbeitsplatzbewertung vornehmen soll (dazu auch<br />

nachstehend ...)<br />

Immaterielle Aspekte werden durchaus auch bei Restitutionsmassnahmen zugelassen. So kann bei<br />

Tieren, nicht mit der gleichen Strenge vorgegangen werden wie bei anderen Sachschäden. Würde<br />

man die Heilungskosten gleich wie die Reparaturkosten handhaben, so müsste man die Verhältnismässigkeit<br />

anhand des Markwertes festlegen, was zu stossenden Ergebnissen führen würde: "Wollte<br />

man hier auf den Marktwert des Tieres abstellen, so hätte der Rassehund Heilungschancen, von denen<br />

die Promenadenmischung nicht einmal träumen könnte. Viele Tiere dürften mangels eines<br />

Marktwertes wohl nicht einmal einer einfachen Behandlung wie der Injektion einer Spritze unterzogen<br />

werden" (WOLFGANG GRUNSKY, Wert des verletzten Rechtsguts und Begrenzung der Wiederherstellungskosten,<br />

in: 25 Jahre Karlsruher Forum, Beiheft VersR 1983, 101ff.). Das bedeutet freilich<br />

nicht, dass es bei Tieren keine Kostengrenze geben kann, die den Vorwurf der Schadenminderungspflicht<br />

auslöst. Der Vorschlag, für die Berechnung von Tierschäden eine gesonderte Regelung vorzusehen,<br />

stiess im Parlament allerdings nicht auf Zustimmung. Folgende Bestimmung sollte als dritter<br />

Absatz von Art. 42 <strong>OR</strong> angefügt werden: „Im Rahmen von Treu und Glauben können Heilungskosten<br />

für ein Tier auch dann als Schaden geltend gemacht werden, wenn sie den Wert des Tieres übersteigen“.<br />

Ausländische Rechtsordnungen räumen den Tieren bereits heute einen Sonderstatus ein, so<br />

BGB 251, der im Rahmen des Gesetzes "zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen<br />

Recht" vom 20. August 1990 abgeändert wurde: „Die aus der Heilbehandlung eines verletzten<br />

Tieres entstandenen Aufwendungen sind nicht bereits dann unverhältnismässig, wenn sie dessen<br />

Wert erheblich übersteigen.“ Ähnliche Diskussionen, bei denen die Grenze zwischen materiellen und<br />

immateriellen Aspekten verwischen, werden auch rund um die Beschädigung von Bäumen geführt<br />

(vgl. BGE vom 19.1.1998eine Genfer Eiche betreffend, Schweizer Versicherung 11-2000, 73).<br />

8. Bewertung des Haushaltschaden<br />

Besonders schwierig gestaltet sich die Schadenberechnung bei Beeinträchtigungen der Arbeitskraft,<br />

wenn diese nicht mit einem Erwerbsausfall oder anderen Vermögensnachteilen verbunden ist. Im<br />

Vordergrund stand bislang der Haushaltschaden. Als naheliegendste Möglichkeit bietet sich an, auf<br />

die Einstellung einer Ersatzkraft abzustellen. Dieser Ansatz versagt aber, wenn keine Hilfskraft eingestellt<br />

wird. Sofern man nicht auf das etwas gar plumpe Argument zurückgreifen will, dass der Geschädigte<br />

nicht in die Tasche des Schädigers zu sparen braucht, muss die ausgefallene Arbeitsleistung<br />

einer Bewertung zugeführt werden.<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Dass die Arbeit als Quelle potentieller Wertschöpfung Vermögensqualität besitzt, ist aus ökonomischer<br />

Sicht nicht zweifelhaft. Einen Vermögenswert besitzt die Arbeitskraft - auch das entspricht<br />

ökonomischem Denken - aber nur, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt verwertbar ist, d.h., wenn in Bezug<br />

auf eine bestimmte Arbeitsleistung eine Nachfrage besteht.<br />

Für die Wertbestimmung bieten sich folgende Möglichkeiten an (vgl. dazu ROBERT GEISSELER, Der<br />

Haushaltschaden, in: Haftpflicht- und Versicherungsrechtstagung, St. Gallen 1997, 72 f. und die neue<br />

Arbeit von WIDMER/GEISER/SOUSA-POZA, Gedanken und Fakten zum Haushaltschaden aus ökonomischer<br />

Sicht, ZBJV 2000, 1 ff.). Man stellt auf die Kosten ab, die durch den Einsatz einer Hilfskraft notwendig<br />

werden und entschädigt diese unabhängig davon, ob eine Ersatzkraft eingestellt wird oder<br />

nicht. Mit dieser Lösung befindet man sich noch einigermassen im Einklang mit der Differenztheorie,<br />

hat aber mit der Ungereimtheit zu leben, dass auch die fiktiven Kosten haftpflichtrechtlich relevant<br />

sind. Es stellt sich dann noch die Anschlussfrage, ob die Sozialversicherungsbeiträge auch zu entschädigen<br />

sind, wenn keine Hilfskraft eingestellt wird.<br />

Die Schadensermittlung kann aber auch im Wege einer konkreten oder abstrakten Bewertung der<br />

Hausarbeit erfolgen. Für eine solche Wertschätzung ist zum einen die Behinderung in der Hausarbeit<br />

zu ermitteln und mit Hilfe von Statistiken der Stundenaufwand für die betroffene Tätigkeiten abzuschätzen.<br />

Da es keinen Marktwert für die Hausarbeit gibt, muss sodann auf eine Tätigkeit abgestellt<br />

werden, die der Haushalttätigkeit möglichst nahe kommt. Als solche bietet sich etwa die Tätigkeit als<br />

Haushaltleiterin an, so dass dieses Einkommen der Berechnung zugrunde zu legen ist. Noch einen<br />

Schritt weiter gehen die Studien des Bundes Schweizerischer Frauenorganisationen und des Betriebswirtschaftlichen<br />

Instituts der ETH Zürich über die monetäre Bewertung der Haushaltarbeit, die<br />

eine eigentliche Arbeitsplatzbewertung vornehmen und vom Faktor Zeit und Kosten noch stärker<br />

abstrahieren.<br />

Einen Mittelweg hat das Bundesgericht gewählt. Es geht einerseits von der Aufwandmethode aus,<br />

indem der Ausfall anhand von Statistiken eruiert wird, und orientiert sich an der Ersatzkraftmethode,<br />

wenn es die Entschädigung einer Hilfskraft als Basisbetrag nimmt. Im Entscheid Blein (BGE 108 <strong>II</strong> 434)<br />

hat das Bundesgericht sodann einen Qualitätszuschlag eingeführt, denn "die Hausfrau bringt bei weitem<br />

mehr Initiative, Entschlusskraft, Aufmerksamkeit und Disponibilität mit als eine auswärtige Hilfskraft".<br />

Der Qualitätsbonus verträgt sich freilich nicht mehr mit der Ersatzmethode, denn damit wird<br />

ein immaterieller Aspekt angesteuert, der über die Genugtuung zu entschädigen ist oder einen anderen<br />

Bewertungsansatz erfordert.<br />

9. Weitere Beeinträchtigungen ohne Vermögensnachteile<br />

Vom gewählten Ansatz hängt nun, und darin liegt der springende Punkt, die Anwort auf die Frage ab,<br />

ob die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit auch in anderen Fällen Schadenersatzleistungen auslösen<br />

kann, wenn damit keine finanziellen Folgen verbunden sind. Es gibt ja nebst der Haushalttätigkeit<br />

unzählige weitere Aktivitäten, die unentgeltlich geleistet werden und für die sich die Frage nach einer<br />

Entschädigung stellt, wenn die Arbeitsfähigkeit resp. die erbrachten Arbeitsleistungen als solche,<br />

unabhängig ob sie auch vermögenswirksam sind, als entschädigungswürdig betrachtet werden.<br />

Einen Lösungsvorschlag hat ATILAY ILERI mit der "Wertschöpfungstheorie" gemacht (ILERI ATILAY, in:<br />

Collezione Assista, Genf 1998, 288 ff.), um so auch jene Tätigkeiten einzufangen, die nicht am Markt<br />

partizipieren und dadurch keinen Tausch- resp. Markwert haben. Während sich ILERI bei seiner Begründung<br />

noch auf KARL MARX berufen musste, ist kurz nach Erscheinen seines Beitrags ein Urteil des<br />

LG Karlsruhe publiziert worden (VersR 1998, 1116), das erstmals einen Schadenersatzanspruch für<br />

eine unentgeltlich geleistete, ehrenamtliche Tätigkeit zugesprochen hat: Eine damals 67-jährige Klägerin,<br />

die sich bei einem Sturz einen Trümmerbruch des linken Oberarmkopfs zugezogen hat, enga-<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

gierte sich in der Ortsgruppe eines Sozialdienstes. Das Gericht konnte sich bei seinem Entscheid zwar<br />

auf kein Urteil stützen, dafür auf die neuere Literatur, die einen solchen Anspruch überwiegend bejaht.<br />

Auch wenn die Arbeitskraft als solche kein ersatzfähiges Vermögensgut darstelle, so die Argumentation,<br />

komme dem konkreten Arbeitseinsatz bzw. dem Arbeitsergebnis ein Vermögenswert zu,<br />

wenn die Arbeitsleistung einen Markwert habe. Nicht Voraussetzung sei aber, ob der Schadenfall zu<br />

einem entgangen Gewinn oder Verdienst führe.<br />

Auch wenn sich das sorgfältig begründete Urteil eingehend auch um Abgrenzungsfragen bemüht, z.B.<br />

blosse Freizeitaktivitäten ausschliesst, in deutscher Gründlichkeit auch danach differenziert, ob die<br />

betreffende Tätigkeit einer professionellen Arbeit vergleichbar ist und allfällig verbleibenden Unterschieden<br />

bei der Quantifizierung Rechnung tragen will, bleiben Bedenken. Sie gehen dahin, ob es<br />

tatsächlich sinnvoll ist, einen Ersatzanspruch auch dann zu bejahen, wenn beim Geschädigten weder<br />

finanzielle noch anderweitige Nachteile eintreten, wie dies beim Haushaltschaden der Fall ist. Man<br />

könnte die Problematik ja auch als Reflexschaden darstellen und gestützt darauf einen Anspruch<br />

verneinen. Allerdings wird auch beim Haushaltschaden ein Teil der Arbeit unentgeltlich für andere<br />

geleistet, so dass man alsdann auch dort entsprechend differenzieren müsste. Ich weiss nun nicht, ob<br />

diese Probleme unerträglich faszinierend sind, um das Wortspiel von ROLAND SCHAER (Unerträglich<br />

faszinierend: Boderlinesyndrom der Adäqaunz oder soll zivile <strong>Haftpflichtrecht</strong> Auffangbecken für<br />

intensitätsarme Adäquanzen im Sozialversicherungsrecht sein?, in: Collezione Assista, Genf 1998,<br />

554) aufzunehmen, oder faszinierend unerträglich.<br />

Einmal mehr hat sich auch hier PETER JÄGGI als Vorreiter erwiesen, denn schon in einem Gutachten<br />

vom 14. Januar 1966 hat er für einen Angehörigen eines geistlichen Ordens, der wegen eines Verkehrsunfalls<br />

zu 10% invalid geworden war, einen Ersatzanspruch bejaht. In Anwendung von Art. 42<br />

Abs. 2 <strong>OR</strong> sei abzuschätzen, so der Lösungsansatz, wie sich die Invalidität auf den Gesamthaushalt<br />

des Ordens auswirke. "Dieser Grundsatz bildet keine Besonderheit des Schadens infolge Arbeitsunfähigkeit.<br />

Er gilt für jeden Schaden, den der "wirtschaftlich Integrierte" erleidet, so auch für die (bereits<br />

entstandenen und zukünftigen) Heilungskosten (...). Jeder Schaden, den der wirtschaftlich voll in den<br />

Orden Integirerte erleidet, schlägt eben, wegen dieser Integration, sogleich auf die Ordensgemeinschaft<br />

durch, aber nur deshalb, weil der Verunfallte seine gesamte ökonomische Kraft, insbesondere<br />

seine Arbeitskraft, voll und ganz dem Orden zuwendet. Primär liegt gleichwohl ein Schaden des Verunfallten<br />

vor, der wirtschaftliche Nachteil, den der Orden erleidet, ist bereits eine (allerdings auf<br />

intensivstem Kausalzusammenhang beruhende) Reflexwirkung des Schadens, vergleichbar der Reflexwirkung<br />

des Invaliditätsschadens eines Familienvaters auf Gattin und minderjährige Kinder."<br />

10. Klärschlamm, Tschernobyl und Samenzellen oder der Streit um die Substanz- oder Rechtsschutztheorie<br />

Die Schäden werden in drei Gruppen eingeteilt: Personen-, Sach- und Vermögensschäden. Eine solche<br />

Einteilung hat für den Schaden allerdings nur klassifikatorische Bedeutung. Der Unterscheidung<br />

kommt aber bei der Haftungsbegründung sowie der Deckungsbeurteilung im Versicherungsvertrag<br />

weitreichende Bedeutung zu. Betrifft der eingetretene Nachteil ausschliesslich das Vermögen, ohne<br />

dass Personen- oder Sachgüter der gleichen Person - die Einschränkung ist beim sog. Reflexschaden<br />

von Bedeutung - mittangiert sind, liegt also ein sog. reiner Vermögensschaden vor, so muss die Widerrechtlichkeit,<br />

die bei Personen- oder Sachschäden ohne weiteres als gegeben angenommen wird,<br />

speziell nachgewiesen werden. Der Grund liegt, wie schon erwähnt, darin, dass das Vermögen durch<br />

die Rechtsordnung nur punktuell geschützt ist (z.B. gegen betrügerische Schädigungen, nicht aber<br />

generell gegen nachteilige Vermögensdispositionen). Für die Begründung der Widerrechtlichkeit<br />

muss bei reinen Vermögensschäden die Verletzung einer solchen Schutznorm gegeben sein. Einzelne<br />

Gefährdungshaftungen schränken den Anwendungsbereich auf Personen- und Sachschäden ein. Die<br />

Restriktion ergibt sich alsdann schon aus dem Tatbestand und nicht erst bei der Widerrechtlichkeits-<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

prüfung, die ja nach hier vertretener Auffassung bei den Gefährdungshaftungen auch keinen Sinn<br />

macht (vgl. dazu auch vorstehend 8).<br />

Hinsichtlich der Abgrenzung von Sach- und Vermögensschäden bestehen allerdings nach wie vor Unsicherheiten.<br />

Diese betreffen etwa die Umwelthaftung. In BGE 118 <strong>II</strong> 180 sah sich das Bundesgericht<br />

im Rahmen eines Deckungsstreites betreffend eine Betriebshaftpflichtversicherung mit der Frage<br />

konfrontiert, ob es sich bei den Kosten für die Beseitigung von verunreinigtem Klärschlamm um<br />

Sachschaden handelt: "Die Verschmutzung des Klärschlamms stellt die Beschädigung einer Sache dar.<br />

Der Schlamm wurde in seiner Zusammensetzung so verändert, dass er nicht mehr in der Weise verwendet<br />

werden konnte, wie dies ohne eine solche Einwirkung möglich gewesen wäre. Er war infolge<br />

dieser Veränderung nicht mehr landwirtschaftlich zu gebrauchen, sondern musste aufwendig verbrannt<br />

werden. Die Kosten für die Beseitigung stellen damit eine kausale Folge der Sachbeschädigung<br />

dar."<br />

Diese Überlegungen, die auf die Substanzbeeinträchtigung abstellen - i.c. Verunreinigung durch<br />

schwermetallhaltiges Abwasser - sind wohl im Rahmen des versicherungsvertraglichen Sachschadensbegriffs,<br />

der auf die Zerstörung oder Beschädigung abstellt, zutreffend. Bei der Haftungsbegründung<br />

geht es dagegen nicht primär um die stoffliche Veränderung, sondern um den Schutz von<br />

Rechtspositionen in Gestalt von Eigentum oder Besitz. Das hat das Bundesgericht im Tschernobyl-<br />

Entscheid klargestellt. Dort verlangten Gemüseproduzenten vom Bund Schadenersatz für den Konsumrückgang<br />

nach der Reaktorkatastrophe. Die Strahlenschäden verunsicherten das Bundesgericht<br />

in der Anwendung der Substanztheorie und führten es auf den richtigen Pfad:<br />

„Auch wenn die radioaktive Verstrahlung nicht einen Sachschaden im üblichen Sinne darstellen sollte,<br />

weil die fraglichen Produkte für die grosse Mehrheit der Bevölkerung deswegen nicht ungeniessbar<br />

wurden, so wäre die Widerrechtlichkeit hier dennoch zu bejahen. Die mehrfache Erhöhung der<br />

natürlichen Radioaktivität bei den fraglichen Produkten, die zu ihrer Unverkäuflichkeit geführt hat,<br />

stellt in jedem Fall eine unzulässige Beeinträchtigung des Eigentums der Klägerin dar (...). Das Ergebnis<br />

ist für die Klägerin das gleiche, wie wenn die Radioaktivität einen Grad erreicht hätte, der das<br />

Blattgemüse und den Salat objektiv konsumuntauglich gemacht hätte“ (BGE 116 <strong>II</strong> 492).<br />

Auch die Abgrenzung von Sach- und Personenschäden kann Schwierigkeiten bereiten, das hat uns der<br />

Sperma-Entscheid des BGH (BGH 9.11.93 in VersR 1994, 55 ff., zu diesem Entscheid auch die Urteilskommentierung<br />

von ROLAND SCHAER, SVK 1995, 33 ff.) vor Augen geführt. In diesem Entscheid ging es<br />

darum, ob die Vernichtung von Samenzellen, die ein Mann im Hinblick auf eine Harnblasenkarzinomoperation,<br />

die zur Zeugungsunfähigkeit führt, konservieren liess, einen Anspruch auf Schmerzensgeld<br />

begründet. Dabei hing alles davon ab, ob das Sperma als abgetrennter Körperteil als Sachbeschädigung<br />

oder Körperverletzung zu betrachten sei oder nicht. Der BGH befürwortete eine extensive Betrachtung<br />

und bejahte das Vorliegen einer Körperverletzung und sprach in der Folge dem Betroffenen<br />

in der Folge DM 25'000 Schmerzensgeld zu. Auch diese Frage wäre überzeugender auf dem Hintergrund<br />

des Persönlichkeitsrechts, also unter dem Rechtsschutzaspekt entschieden worden.<br />

11. Revisionsvorschläge: Es bleibt fast alles beim Alten<br />

Um es vorwegzunehmen, auch die Revisionsvorschläge lösen die vielen angesprochenen Probleme<br />

und Unklarheiten rund um die Schadensfragen nicht, und das wäre wahrscheinlich auch zuviel verlangt.<br />

Der Vorentwurf steht aber der notwendigen Rechtsentwicklung auch nicht im Wege, denn<br />

auch er verzichtet, was zu begrüssen ist, auf eine Definition des Schadens. Man kann allerdings mit<br />

diesem Zustand, wie erwähnt, nur leben, wenn man sich auch über die Funktion(en) des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s<br />

Gedanken macht und die Rechtsfortentwicklung auf solchen Leitbildern aufbauen kann.<br />

Es stellt sich die grundlegende Frage, ob das <strong>Haftpflichtrecht</strong> weiterhin bloss finanzielle Einbussen<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

ausgleichen und damit den ökonomischen Lebensstandard garantieren, oder ob mit dem Einbezug<br />

nicht geldmässig spürbarer Nachteile auch für weitere Eingriffe in die Lebensführung Entschädigung<br />

geleistet werden soll. In die Überlegungen muss auch die Genugtuungspraxis einbezogen werden, die<br />

sich vielleicht allzu restriktiv bislang nur auf schwerwiegende Persönlichkeitsverletzungen und nicht<br />

auch auf weitere immaterielle Beeinträchtigungen konzentriert hat und sich im Vergleich zu anderen<br />

Rechtsordnungen auch betragsmässig am unteren Rande bewegt.<br />

Letztlich hat aber die Ausdehnung der Entschädigungspraxis, und auch das muss bedacht werden,<br />

seinen Preis, und zwar in Form von Versicherungsprämien. Das ganze <strong>Haftpflichtrecht</strong> ist ja eigentlich<br />

ein "Haftpflichtversicherungsrecht", indem die Schadenersatzleistungen ja fast durchwegs von Versicherern<br />

erbracht werden. Ist es ökonomisch sinnvoll, auch Gefahren durch ein Kollektiv aufzufangen,<br />

die bei den Betroffenen keine finanzielle Sonderbelastung auslösen? Zumindest bislang war dies auch<br />

nicht die Idee der (Schadens-)Versicherung, die der Bedarfsdeckung dienen soll.<br />

Was die Schadengrundnorm anbelangt, so wurde bereits positiv vermerkt, dass als Schaden sowohl<br />

die materiellen wie auch die immateriellen Beeinträchtigungen betrachtet werden. Was zumindest<br />

unter einer reinen Schadenoptik nicht einleutet, ist die Deklaration der Schadenminderungs- und<br />

verhütungskosten als „ergänzende Schadensposten“ (Art. 45f VE <strong>OR</strong>), die offensichtlich von der<br />

'Schadengrundnorm' Art. 45 Abs. 2 VE <strong>OR</strong> nicht erfasst werden und somit als zusätzliche Kategorie<br />

erscheinen.<br />

Ob man bei den Gefährdungshaftungen die reinen Vermögensschäden ausschliessen will, ist, wie<br />

erwähnt, ein Problem, das im Rahmen der Widerrechtlichkeitsdiskussion gelöst werden muss und<br />

kann. Wenn das Erfordernis der Widerrechtlichkeit wie im VE weiterhin auch für die Gefährdungshaftungen<br />

beibehalten wird, dann könnte man auf den Ausschluss in Abs. 3 verzichten.<br />

Bei der Umschreibung der einzelnen Schadenkategorien, hält sich der VE mehr oder weniger im<br />

Rahmen der bisherigen gesetzlichen Konzeption (Art. 45/46 <strong>OR</strong>). Die Schadensposten bei Körperverletzung<br />

und Tod, z.T. etwas andere, aber nach wir vor nicht abschliessend, werden in den Art. 45 a<br />

und b VE <strong>OR</strong> aufgeführt. Neu wird in Art. 45c VE <strong>OR</strong> auch für den Sachschaden eine Bestimmung vorgesehen.<br />

Und bereits haben sich (und daran sieht man die Gefahr, die mit einer zu starken Differenzierung<br />

und Detaillierung verbunden ist) auch Meinungsverschiedenheiten eingestellt. So sehen z.B.<br />

die einen in der Regelung eine Grundlage für den abstrakten Nutzungsausfall, während andere nur<br />

eine Konkretisierung der Schadenminderungspflicht diagnostizieren, wenn in Abs. 3 auch der Ersatz<br />

der Mietkosten geregelt wird. Das ist die Unsicherheit, mit der man bei einer Neuformulierung zu<br />

leben hat. Es zeigt sich aber auch, dass eine höhere Regelungsdichte nicht nur Klarheit schafft, sondern<br />

auch widersprüchliche Meinungen provoziert. Sie steht zudem der notwendigen Rechtsentwicklung<br />

stärker im Wege und weniger wäre daher auch hier mehr.<br />

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KAUSALZUSAMMENHANG<br />

Schaden<br />

Haftungsbegründung<br />

Ursache<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Haftungsausfüllung<br />

Kausalzusammenhang Kausalzusammenhang<br />

Widerrechtlichkeit oder<br />

Vertragsverletzung<br />

Verschulden, Mangel<br />

oder Betriebsgefahr<br />

BGE 96 <strong>II</strong> 392<br />

Primärverletzung<br />

Geschuldeter<br />

Schadenersatz<br />

Folgeverletzung<br />

Reduktion<br />

Folgeverletzung<br />

Adäquanz- , Normzweck oder<br />

Risikoerhöhungstheorie<br />

51. Urteil der I. Zivilabteilung vom 17. November 1970 i.S. Sacheli gegen Waadt-Unfall.<br />

Regeste<br />

Art. 58 und 63 Abs. 2 SVG. Haftpflicht des Motorfahrzeughalters für psychische Unfallfolgen.<br />

Natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang zwischen einem Verkehrsunfall und psychischen<br />

Störungen, die sich zu einer Begehrungsneurose entwickeln und den Verunfallten arbeitsunnfähig<br />

machen. Begehrungsreaktion als Unfallfolge, Veranlagung zu solchen Reaktionen.<br />

A.- Pietro Sacheli arbeitete seit 1961 in der Schweiz. Am 7. September 1963 nachts um 0.45 Uhr, als<br />

er sich auf dem Heimweg befand, wurde er auf der Überlandstrasse zwischen Mönchaltorf und Esslingen<br />

von einem Personenwagen, dessen Führer betrunken war, von hinten angefahren und verletzt.<br />

Halter des Fahrzeuges war Vinzenz Huser. Nach den Feststellungen des Arztes erlitt Sacheli eine<br />

Rissquetschwunde am Hinterkopf, eine Hirnerschütterung und eine Quetschung der linken Schulter.<br />

Am 27. September 1963 wurde er aus dem Bezirksspital Uster entlassen. Am 21. Oktober 1963 liess<br />

ihn die SUVA durch einen Neurologen untersuchen. Dieser stellte im Röntgenbild des Kopfes eine<br />

vertikale Aufhellungslinie fest, die wahrscheinlich einer Fraktur entspreche. Sacheli klagte über Drehschwindel,<br />

Ohrengeräusch und Vergesslichkeit. Der Arzt fand keine Anhalte für neurologische Störungen,<br />

dagegen zahlreiche Zeichen von Aggravation. Er schätzte die Arbeitsfähigkeit am Tag der<br />

Untersuchung auf 50, eine Woche später auf 75%.<br />

Sacheli nahm daraufhin die Arbeit wieder auf, wurde vom Arbeitgeber aber auf den 15. November<br />

1963 entlassen. Am 16. November 1963 klagte er beim Arzt über "Schwäche, Gedächtnisschwäche".<br />

Der Arzt fand indes, dass Sacheli die Beschwerden überwerte; er hielt ihn vom 18. November 1963<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

an für voll arbeitsfähig. Sacheli arbeitete dann während etwa elf Monaten bei der Accum AG in<br />

Gossau/ZH.<br />

Am 20. Oktober 1964 suchte er dort wegen Bauchschmerzen einen Arzt auf, der ihn am 27. Oktober<br />

1964 wegen Verdachts einer Blinddarmentzündung in das Kreisspital Wetzikon einwies. Am 20. November<br />

1964 wurde er nach einem hysterischen Anfall in die psychiatrische Universitätsklinik Burghölzli<br />

übergeführt. Vom 29. Dezember 1964 bis 18. Januar 1965 weilte er in Italien. Nach seiner<br />

Rückkehr liess ihn die SUVA in der Neurologischen Universitätsklinik Zürich untersuchen und begutachten.<br />

Er klagte über dauernde Kopfschmerzen, Schwindel und allgemeine Schwäche. Verletzungen<br />

konnten keine festgestellt werden. Da Sacheli während Monaten wieder gut arbeiten konnte, nahm<br />

der Gutachter an, es sei unwahrscheinlich, dass die psychischen Störungen auf eine unfallbedingte<br />

organische Schädigung zurückgingen; viel wahrscheinlicher sei eine vorwiegend psychische Aggravation.<br />

Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die SUVA vom 22. Februar 1965 an weitere Leistungen ab.<br />

Sacheli nahm die Arbeit bei der Accum AG wieder auf, klagte aber weiterhin über Kopfweh, Depressionen,<br />

Schlaflosigkeit und Ohnmachtsanfälle. Seine Vorgesetzten befürchteten, er suche eine Verletzung,<br />

um seine Beschwerden glaubwürdig zu machen. Er wurde deshalb am 16. März entlassen,<br />

erhielt den Lohn aber bis 2. April 1965 bezahlt. Sacheli kehrte daraufhin nach Italien zurück.<br />

B.- Mit Klage vom 20. Juni 1966 verlangte Sacheli von der Versicherungsgesellschaft "Waadt-Unfall",<br />

bei der Huser für seine Halterhaftpflicht versichert war, Fr. 100'000.-- Schadenersatz nebst 5% Zins<br />

seit 7. September 1963.<br />

Das Bezirksgericht Uster wies die Klage ab, weil ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen dem<br />

Verkehrsunfall und den heutigen Leiden des Klägers zu verneinen sei.<br />

Der Kläger appellierte an das Obergericht des Kantons Zürich. Die Beklagte zahlte ihm Fr. 500.-- und<br />

anerkannte einen weiteren Betrag von Fr. 1'000.--. Das Obergericht sprach dem Kläger unter Annahme<br />

eines leichten Selbstverschuldens eine Genugtuungssumme von Fr. 1'500.-- sowie für Kleiderschaden<br />

und (nicht gedeckten) Erwerbsausfall, den er bis 15. November 1963 gehabt habe, Fr.<br />

1'000.-- zu; die Beklagte schulde ihm somit noch Fr. 1'000.-- nebst 5% Zins seit 27. Oktober 1964.<br />

Im übrigen wies das Obergericht die Klage ab. Es begründet dies damit, für die Zeit vom 18. November<br />

1963 bis 24. Oktober 1964 fehlten Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger an Kopfschmerzen,<br />

Schwindelgefühlen oder ähnlichen Beschwerden gelitten habe. Die Störungen seien erst nachher<br />

wieder aufgetreten und beruhten nach der Auffassung des Sachverständigen nicht auf organischen<br />

Veränderungen, sondern auf einer Begehrungsneurose. Der Begehrungsneurotiker sei aber nur<br />

krank, weil der Unfall ihm Aussicht auf Leistungen Dritter gebe. Diese Bedingung, für welche die Beklagte<br />

nicht einzustehen habe, sei hier in Verbindung mit der krankhaften Veranlagung des Klägers<br />

als entscheidende Ursache der Neurose anzusehen; sie dränge den Unfall selbst in den Hintergrund<br />

und lasse ihn als inadäquate Ursache der Störungen erscheinen, mit anderen Worten: sie unterbreche<br />

den Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Neurose.<br />

C.- Der Kläger legte gegen das Urteil des Obergerichts Berufung ein. Er beantragt dem Bundesgericht,<br />

es aufzuheben und die Klage im vollen Umfange oder nach richterlichem Ermessen nebst 5% Zins seit<br />

7. September 1963 gutzuheissen; die Beklagte sei zudem zu verpflichten, den teils anerkannten, teils<br />

vom Obergericht zugesprochenen Betrag von Fr. 2'000.-- ebenfalls vom Unfalltage an zu verzinsen.<br />

D.- Die Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:<br />

1. Nach dem angefochtenen Urteil sind die gesundheitlichen Störungen des Klägers psychischer Natur.<br />

Sie sind nicht auf eine anatomische Veränderung eines Organs zurückzuführen, sondern entspringen<br />

einer hysterischen Begehrungsreaktion, die den Kläger arbeitsunfähig macht. Die Vorinstanz<br />

stellt gestützt auf das gerichtliche Gutachten des Neurologen Dr. Richter ferner fest, der heutige re-<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

gressive Zustand des Klägers sei im Anschluss an den Unfall entstanden und hange damit unmittelbar<br />

zusammen.<br />

Damit ist der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 7. September 1963 und den<br />

psychischen Störungen, an denen der Kläger leidet, verbindlich festgestellt; denn ob ein Leiden die<br />

Folge eines schädigenden Ereignisses sei, ist eine Tatfrage. Die Beklagte meint zwar, die Folgerungen<br />

des medizinischen Sachverständigen, dem sich das Obergericht angeschlossen hat, seien aktenwidrig<br />

oder unklar. Sie sieht indes mit Recht davon ab, von einer offensichtlich auf Versehen beruhenden<br />

Feststellung im Sinne von Art. 63 Abs. 2 OG zu sprechen und die Annahme des Obergerichts zu widerlegen.<br />

Dass der Unfall die alleinige oder unmittelbare Ursache der gesundheitlichen Störungen sei, ist<br />

übrigens nicht erforderlich; für den Begriff des natürlichen Kausalzusammenhanges genügt, dass das<br />

schädigende Ereignis zusammen mit andern Bedingungen die körperliche oder geistige Integrität des<br />

Klägers beeinträchtigt hat, der Unfall folglich nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die<br />

eingetretenen gesundheitlichen Störungen entfielen. Diese Voraussetzung trifft zu. Nach der Feststellung<br />

des Obergerichts ist der Unfall eine notwendige Bedingung (conditio sine qua non) für das<br />

heutige Leiden des Klägers.<br />

2. Rechtsfrage ist, ob ein Unfallereignis und daraufhin auftretende gesundheitliche Störungen zueinander<br />

in einem adäquaten Verhältnis stehen und der zwischen ihnen vorhandene ursächliche Zusammenhang<br />

darum auch rechtserheblich sei. Als adäquate Ursache ist nach der Rechtsprechung ein<br />

Ereignis dann anzusehen, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung<br />

an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der<br />

Eintritt dieses Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (BGE 66 <strong>II</strong> 172,BGE<br />

81 <strong>II</strong> 445,BGE 83 <strong>II</strong> 411,BGE 87 <strong>II</strong> 126,BGE 89 <strong>II</strong> 250).<br />

Das gilt grundsätzlich auch für psychische Unfallfolgen, insbesondere Neurosen, gleichviel ob diese<br />

unmittelbar durch den Unfallvorgang ausgelöst werden, was bei der Schreckneurose der Fall ist, oder<br />

sich, wie die Behandlungs- und Begehrungsneurose, erst nachträglich herausbilden und den Verunfallten<br />

arbeitsunfähig machen. Gewiss kommt es für die Beurteilung der Adäquanz auch in solchen<br />

Fällen auf die generelle Eignung der fraglichen Ursachen an, Wirkungen der eingetretenen Art herbeizuführen<br />

(OFTINGER, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 2. Aufl. Bd. I S. 59). Das heisst indes nicht, wie gelegentlich<br />

angenommen wird, dass ein Erfolg von der Art des eingetretenen sich regelmässig oder häufig ereignen<br />

müsse. Wie das Bundesgericht gerade in einem Falle, wo es ebenfalls um eine Begehrungsneurose<br />

ging, ausgeführt hat, darf das Erfordernis der Adäquanz nicht dazu verleiten, nur solche Folgen<br />

eines Unfalles zu berücksichtigen, die nach dem Unfallhergang und dessen Einwirkungen auf den<br />

Körper gewöhnlich zu erwarten sind. Vielmehr ist von den tatsächlichen Auswirkungen auszugehen<br />

und rückblickend zu entscheiden, ob und wiefern der Unfall noch als deren wesentliche Ursache erscheint<br />

(BGE 70 <strong>II</strong> 177). Wenn ein Ereignis an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen<br />

herbeizuführen, können selbst singuläre, d.h. aussergewöhnliche Folgen adäquate Unfallfolgen<br />

darstellen (BGE 80 <strong>II</strong> 343 f.,BGE 87 <strong>II</strong> 127).<br />

Zu beachten ist ferner, dass der adäquate Kausalzusammenhang bloss ein Korrektiv zum naturwissenschaftlichen<br />

Ursachenbegriff ist, der vom Recht als natürliche Kausalität übernommen worden ist,<br />

der aber, um für die rechtliche Verantwortlichkeit tragbar zu sein, der Einschränkung bedarf (BECKER<br />

N. 17 und 32 ff. zu Art. 41 <strong>OR</strong>). Im <strong>Haftpflichtrecht</strong> insbesondere soll der Begriff der adäquaten Verursachung<br />

eine vernünftige Begrenzung der Haftung ermöglichen (OFTINGER, a.a.O. S. 58). Wo diese<br />

Grenze zu ziehen ist, beurteilt sich aber nach rechtlichen Gesichtspunkten, nicht nach der medizinisch-biologischen<br />

Betrachtungsweise, welche nach Unfällen auftretende Neurosen in der Regel<br />

nicht als adäquate Unfallfolgen gelten lässt (QUENSEL, Unfallneurose und Rechtsprechung des<br />

Reichsgerichtes, Leipzig 1940, S. 24 ff. und dort angeführtes Schrifttum; JEAN GRAVEN, Les invalidités,<br />

Bern 1941. S. 113; ULRICH VENZLAFF, Die psychoreaktiven Störungen nach entschädigungspflichtigen<br />

Ereignissen, Berlin 1958, S. 94). Dass die Begehrungsneurose meist auf der Grundlage einer<br />

abnormen psychischen Veranlagung entsteht und der Begehrungsneurotiker nicht wegen der medizinischen<br />

Folgen des Unfalles selbst krank ist, sondern weil der Unfall ihm Aussicht auf Leistungen<br />

Dritter gibt (WYRSCH, Gerichtliche Psychiatrie, S. 219 und 312; BRUN, Allgemeine Neurosenlehre, 3.<br />

Aufl. S. 421; DUK<strong>OR</strong>, Die psychogenen Reaktionen in der Versicherungsmedizin, Schweiz. med. Wo-<br />

49


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

chenschrift 1950, Sonderabdruck S. 16/17 und 24; BLEULER, Lehrbuch der Psychiatrie, S. 516; TILL-<br />

MANN, Neurose und Unfallversicherung, Zeitschrift für Sozialversicherung 1957 S. 199 f.), kann deshalb<br />

für die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhanges nicht entscheidend sein, wie die<br />

Vorinstanz gestützt auf die herrschende medizinische Lehrmeinung anzunehmen scheint. Es geht<br />

insbesondere nicht an, durch den Unfall ausgelöste psychische Störungen deswegen von der Schadenersatzpflicht<br />

auszunehmen, weil sie auf einer besonderen Veranlagung des Betroffenen beruhen.<br />

Entscheidend ist vielmehr, ob eine unfallbedingte Störung billigerweise noch dem Schädiger oder<br />

Haftpflichtigen zugerechnet werden darf. Das ist nach der Rechtsprechung zu verneinen, wenn der<br />

Unfall bloss äusserer Anlass der Störung ist, diese im übrigen aber auf einen fehlerhaften Willen des<br />

Verunfallten zurückgeht, dagegen zu bejahen, wenn der Betroffene infolge eines auf den Unfall zurückzuführenden<br />

Zustandes getrübter Einsicht und gehemmten Willens, wovon er sich nicht frei machen<br />

kann, arbeitsunfähig wird (BGE 70 <strong>II</strong> 172und dort angeführte Urteile). Diese für das Gebiet des<br />

privaten Unfallversicherungsrechtes aufgestellten Grundsätze müssen auch für das <strong>Haftpflichtrecht</strong><br />

gelten.<br />

Das heisst nicht, dass die Abgrenzung adäquater Unfallfolgen von inadäquaten im Privatrecht gleich<br />

ausfallen müsse wie im Sozialversicherungsrecht. Dieses gehört dem öffentlichen Verwaltungsrecht<br />

an und beruht auf anderen gesetzlichen Grundlagen. Dass das Eidg. Versicherungsgericht z.B. die<br />

Schreck- und die Behandlungsneurose, nicht aber die Begehrungsneurose als abfindungswürdig im<br />

Sinne von Art. 82 KUVG gelten lässt (MAURER, Recht und Praxis der schweizerischen obligatorischen<br />

Unfallversicherung, 2. Aufl. S. 258/259), veranlasst das Bundesgericht daher weder zu einer Änderung<br />

seiner Rechtsprechung noch zu einem Meinungsaustausch gemäss Art. 16 OG. Das Eidg. Versicherungsgericht<br />

begründet seine abweichende Auffassung über die Begehrungsneurose denn auch<br />

vor allem mit dem Charakter der Sozialversicherung und der Betreuungspflicht ihrer Organe gegenüber<br />

dem Versicherten; darin, dass Begehrungstendenzen sich mit Vorliebe gerade an diese Pflicht<br />

heften, möge einer der Gründe dafür liegen, solche Neurosen im Privatrecht anders zu behandeln als<br />

im Sozialversicherungsrecht (EVGE 1960 S. 264 Erw. 2; vgl. ferner EVGE 1950 S. 80, 1962 S. 35, 1964<br />

S. 157).<br />

3. Nach dem angefochtenen Urteil leidet der Kläger an einer Begehrungsneurose, die in einer hysterischen<br />

Pseudodemenz zum Ausdruck kommt und eine hochgradige Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.<br />

In der Zeit vor dem Unfall waren beim Kläger wohl gewisse psychopathische Züge festzustellen; dass<br />

er aber schon damals an neurotisch bedingten Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Schwindel und<br />

dergleichen, gelitten habe, hält das Obergericht nicht für erwiesen. Die Beschwerden sind, wie die<br />

Vorinstanz feststellt, vielmehr erst durch den Unfall verursacht worden. Nach der Auffassung des<br />

Neurologen sodann, auf dessen Gutachten das Obergericht wiederholt verweist, beruhen die Beschwerden<br />

nicht auf Simulation oder absichtlicher Aggravation, weil beim Kläger kein bewusster Täuschungswille<br />

vorliege. Freilich hätte der Kläger, wie der Gutachter beifügt, bei gutem Willen der Entwicklung<br />

einer Begehrungsneurose widerstehen können; dieser Wille sei ihm aber nicht abzuverlangen,<br />

weil er mit einer schweren charakterlichen Fehlanlage behaftet sei.<br />

Daraus erhellt, dass der Kläger der durch den Unfall ausgelösten hysterischen Begehrungsreaktion<br />

wegen seiner psychopathischen Veranlagung nicht zu begegnen vermochte und immer mehr in einen<br />

regressiven Zustand mit infantilem Verhalten geriet. Es liegt somit kein Grund vor, ihn für seinen<br />

heutigen Zustand und das damit verbundene Fehlverhalten selbst verantwortlich zu machen. Das<br />

wäre aber der Fall, wenn sein Schadenersatz grundsätzlich abgelehnt würde. Dass eine abnorme<br />

psychische Veranlagung zu einer Herabsetzung des Schadenersatzes führt, den adäquaten Kausalzusammenhang<br />

aber nicht unterbricht (OFTINGER, a.a.O. S. 85/86), ist dem Obergericht nicht entgangen.<br />

Dagegen irrt die Vorinstanz, wenn sie glaubt, die Rechtserheblichkeit des Kausalzusammenhanges<br />

mit dem Bestehen einer Leistungspflicht, die sich als notwendige Zwischenbedingung zwischen<br />

den Unfall und die Neurose schiebe, verneinen zu dürfen. Die Leistungspflicht ist wie die konstitutionelle<br />

Prädisposition als konkurrierende Ursache der Begehrungsneurose zu werten und bei der Bemessung<br />

des Schadens entsprechend zu berücksichtigen. Sie ändert jedoch nichts daran, dass der<br />

Kläger die durch den Unfall verursachten psychischen Störungen nicht zu überwinden vermag und in<br />

einem regressiven Zustand befangen ist, der Unfall folglich als wesentliche Ursache der Neurose be-<br />

50


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

stehen bleibt. Anders verhielte es sich, wenn der Kläger sein Fehlverhalten verschuldet hätte, ihm<br />

insbesondere eine verwerfliche Willensbetätigung vorzuwerfen wäre (vgl.BGE 70 <strong>II</strong> 177). Anhalte<br />

dafür sind indes weder dem angefochtenen Urteil noch dem neurologischen Gutachten zu entnehmen.<br />

4. Das angefochtene Urteil ist deshalb gestützt auf Art. 64 Abs. 1 OG aufzuheben und die Sache zur<br />

Ermittlung und Berechnung des Schadens, insbesondere gemäss Art. 43, 44 und 46 <strong>OR</strong>, an die Vorinstanz<br />

zurückzuweisen. Die Beklagte hat nach den hiervor angeführten Grundsätzen auch für die<br />

Folgen der psychischen Störungen einzustehen, die durch den Unfall ausgelöst worden, nach dem 24.<br />

Oktober 1964 erneut aufgetreten sind und den Kläger schliesslich, als sie die Form einer Begehrungsneurose<br />

annahmen, arbeitsunfähig gemacht haben. Die Vorinstanz wird - prozesskonforme Behauptungen<br />

und Beweisanträge vorbehalten - den Schaden weiter abklären und allenfalls auch das Beweisverfahren<br />

ergänzen müssen. Sie wird ferner, nötigenfalls mit Hilfe von Sachverständigen, zu beurteilen<br />

haben, innert welcher Frist nach Abschluss des Falles eine Heilung der Begehrungsneurose<br />

zu erwarten ist. Leistungen über diesen Zeitpunkt hinaus fallen ausser Betracht.<br />

Der Kläger beantragt, die Beklagte habe den teils anerkannten, teils vom Obergericht zugesprochenen<br />

Betrag von Fr. 2'000.-- vom Unfalltage an zu verzinsen. Die Vorinstanz verpflichtete die Beklagte,<br />

dem Kläger Fr. 1'000.-- nebst 5% Zins seit 27. Oktober 1964 zu zahlen. Warum sie auf diesen Tag abstellte<br />

und dem Kläger für den von der Beklagten anerkannten Betrag keinen Zins zusprach, ist dem<br />

angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Sie hat sich darüber im neuen Entscheid ebenfalls auszusprechen.<br />

Entscheid<br />

Demnach erkennt das Bundesgericht:<br />

Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts (<strong>II</strong>. Zivilkammer) des Kantons Zürich vom<br />

9. Juni 1970 aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz<br />

zurückgewiesen.<br />

BGE 116 <strong>II</strong> 519<br />

Haftpflicht des Arztes, Genugtuung (Art. 49 <strong>OR</strong>).<br />

1. Anspruch von nahen Angehörigen auf Genugtuung infolge Verletzung in den persönlichen Verhältnissen<br />

(E. 2).<br />

2. Aufklärung des Patienten als Vertragspflicht des Arztes (E. 3).<br />

3. Unterbrechung des adäquaten Kausalzusammenhangs durch Mitverschulden eines Dritten? (E. 4).<br />

A.- J. H. (Zweitklägerin) ist die Mutter der 1978 geborenen B. H. (Erstklägerin). Nach Darstellung der<br />

Mutter befand sich das Kind vom 8. Januar 1979 bis zum 24. März 1979 in Behandlung bei Kinderarzt<br />

L. (Beklagter). Als es in der Nacht vom 21. auf den 22. März 1979 an starkem Durchfall und Erbrechen<br />

gelitten habe, habe sie am Morgen des 22. März 1979 telefonisch um eine sofortige Untersuchung<br />

durch den Beklagten gebeten. Die Arztgehilfin habe dies abgelehnt, ihr empfohlen, die Diätvorschriften<br />

strikte einzuhalten, und ihr untersagt, vor dem 26. März 1979 erneut anzurufen. Der Gesundheitszustand<br />

des Kindes habe sich indessen weiter verschlechtert. Am 24. März 1979, 07.15 Uhr, sei<br />

B. H. bewusstlos gewesen und habe unter Krampferscheinungen gelitten. Die Eltern seien mit ihr zum<br />

Beklagten gefahren, auf welchen sie in der Praxis 3/4 Stunden hätten warten müssen. Das Kind habe<br />

in letzter Minute vor dem Tod gerettet werden können, die vorangegangene Dehydration habe indessen<br />

zu schweren Hirnschäden und einer dauernden Pflegebedürftigkeit geführt.<br />

51


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

B.- Mit Klage vom 25. Mai 1988 belangten die Klägerinnen den Beklagten auf Genugtuungsleistungen<br />

von Fr. 120'000.-- an das Kind und Fr. 60'000.-- an die Mutter.<br />

Das Bezirksgericht Dielsdorf wies am 3. Mai 1989 die Klage ab, ebenso auf Berufung der Klägerinnen<br />

hin am 27. März 1990 das Obergericht des Kantons Zürich.<br />

Eine Berufung der Klägerinnen heisst das Bundesgericht teilweise gut, soweit es darauf eintritt, und<br />

weist die Streitsache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

2. a) Das Obergericht geht mit den Parteien von einer vertraglichen Haftung des Beklagten aus,<br />

nimmt einen Vertrag zugunsten Dritter an und unterstellt diesen dem Auftragsrecht. Zu Recht kritisieren<br />

die Parteien diese Rechtsauffassung und Subsumtion nicht.<br />

b) Schadenersatzansprüche liegen nicht im Streit. Mithin kann die Frage offenbleiben, ob die Mutter<br />

aus der behaupteten Vertragsverletzung und Schädigung des Kindes eigene Ansprüche unter diesem<br />

Titel geltend machen könnte, insbesondere inwieweit solche neben den Forderungen des Kindes und<br />

über deren Umfang hinaus ersatzfähig wären (für das deutsche Recht etwa BGHZ 89 S. 263 ff., 266/7<br />

und NÜSSGENS im BGB-RGRK, Anhang <strong>II</strong> zu § 823, N 7).<br />

c) Im Bereiche des Deliktsrechts haben die nahen Angehörigen eines Verletzten nach der Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichts Anspruch auf Genugtuung nach Art. 49 <strong>OR</strong>, wenn das schädigende Ereignis<br />

sie in ihren persönlichen Verhältnissen verletzt (BGE 112 <strong>II</strong> 220 Nr. 37). Das Vertragsrecht enthält<br />

keine Anspruchsnorm für eine Genugtuung, doch nimmt die Rechtsprechung an, die Verweisung von<br />

Art. 99 Abs. 3 <strong>OR</strong> erfasse ebenfalls Art. 47 und 49 <strong>OR</strong> (grundlegend BGE 54 <strong>II</strong> 481 ff.; zustimmend<br />

BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1988, S. 349 Fn. 80 mit weiteren<br />

Hinweisen; MERZ, SPR VI/1 S. 241/2). Auf diese Rechtsprechung zurückzukommen, besteht unbesehen<br />

der Kritik in einem Teil der Literatur jedenfalls vorliegend keine Veranlassung, da die Zweitklägerin<br />

eine Verletzung in ihren persönlichen Verhältnissen und damit die Beeinträchtigung eines absoluten<br />

Rechtsguts geltend macht, welches auch im Schutzbereich der ausservertraglichen Verhaltensnormen<br />

liegt (zur Kritik etwa BREHM, N 75 zu Art. 49 <strong>OR</strong> oder KELLER/GABI, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, S. 116).<br />

Die in BGE 112 <strong>II</strong> 220 ff. entwickelten Grundsätze sind daher auf die Vertragshaftung anzuwenden<br />

und der Zweitklägerin die Aktivlegitimation an einem Genugtuungsanspruch, welcher auf der Verletzung<br />

in den persönlichen Verhältnissen gründet, zuzuerkennen. Zu bejahen ist mit der Vorinstanz<br />

auch die Berechtigung der Erstklägerin, aus der Beeinträchtigung ihrer körperlichen Integrität Genugtuung<br />

zu verlangen, selbst wenn die moralische Unbill ihr nicht bewusst geworden sein sollte (BGE<br />

108 <strong>II</strong> 422).<br />

3. a) Die Besonderheit der ärztlichen Kunst liegt darin, dass der Arzt mit seinem Wissen und Können<br />

auf einen erwünschten Erfolg hinzuwirken hat, was jedoch nicht heisst, dass er diesen auch herbeiführen<br />

oder gar garantieren müsse. Die Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht lassen sich<br />

nicht endgültig festlegen; sie richten sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalles, namentlich<br />

nach der Art des Eingriffs oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken, dem Ermessensspielraum<br />

und der Zeit, die dem Arzt im einzelnen Fall zur Verfügung stehe, sowie nach dessen objektiv<br />

zu erwartender Ausbildung und Leistungsfähigkeit. Dabei ist nach der neueren Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichts die Haftung des Arztes nicht auf grobe Verstösse gegen Regeln der ärztlichen<br />

Kunst beschränkt. Er hat Kranke vielmehr stets fachgerecht zu behandeln, zum Schutz ihres Lebens<br />

oder ihrer Gesundheit die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt zu beachten und<br />

grundsätzlich für jede Pflichtverletzung einzustehen (BGE 113 <strong>II</strong> 432 /3 mit Hinweisen).<br />

b) Zu den ärztlichen Vertragspflichten gehört unter anderen die sachgerechte Aufklärung des Patienten,<br />

welche in mehrfacher Form rechtliche Bedeutung erlangt (NÜSSGENS, a.a.O., N 44 ff.). Einmal<br />

hat der Arzt den Patienten oder dessen Betreuer im Rahmen der Behandlung über ein therapiegerechtes<br />

Verhalten aufzuklären (sogenannte Sicherungs- oder therapeutische Aufklärungspflicht),<br />

sodann ihn auf wirtschaftliche Besonderheiten aufmerksam zu machen und schliesslich über bekannte<br />

Risiken, namentlich eines chirurgischen Eingriffs, Aufschluss zu geben (Aufklärungspflicht im engeren<br />

Sinn; BGE 108 <strong>II</strong> 61 E. 2).<br />

52


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

c) Bedient der Arzt sich zur Erfüllung seiner Vertragspflichten einer Hilfsperson, haftet er für deren<br />

Verhalten wie für ein eigenes (Art. 101 <strong>OR</strong>; BGE 92 <strong>II</strong> 18 E. 2).<br />

d) Die Schädigung der Erstklägerin ist nach der Sachverhaltshypothese der Vorinstanz auf eine Dehydration<br />

zurückzuführen. Darunter ist ein absoluter oder relativer Flüssigkeitsmangel im Extra- und<br />

Interzellularraum als Störung des Wasser-Elektrolythaushalts zu verstehen (ROCHE Lexikon Medizin,<br />

S. 327). Ein solcher Flüssigkeitsverlust ist die wichtigste Komplikation in Zusammenhang mit Diarrhoe,<br />

wobei ab Verlusten von 10% des Körpergewichts ein Schock und damit ein Schädigungs- oder gar<br />

Todesrisiko droht (Der Gesundheits Brockhaus, 3. Aufl. 1984, S. 156). Namentlich Kleinkinder sind<br />

besonders dehydrationsgefährdet. Dieses Wissen gehört zum objektiv voraussetzbaren Allgemeinwissen<br />

eines Kinderarztes.<br />

aa) Nach der Sachverhaltshypothese der Vorinstanz hatte die Zweitklägerin am Morgen des 22. März<br />

1979 in der Praxis des Beklagten angerufen und um eine sofortige Untersuchung gebeten, da die<br />

Erstklägerin an Durchfall und Erbrechen leide. Die Arztgehilfin habe ihr die strikte Einhaltung von<br />

Diätvorschriften empfohlen, sie angewiesen, wegen solcher Bagatellfälle nicht immer den Arzt zu<br />

stören und frühestens am 26. März 1979 wiederum anzurufen.<br />

bb) Zu Recht erachtet die Vorinstanz die Auskunft der Arztgehilfin als ungenügend und erblickt darin<br />

eine Vertragsverletzung. Bei der Meldung der genannten Symptome eines Kleinkindes gehört zu den<br />

elementarsten ärztlichen Aufklärungspflichten, auf die Risiken einer Dehydration aufmerksam zu<br />

machen und den Betreuer anzuweisen, im Falle andauernden Wasserverlusts ärztliche Hilfe zu beanspruchen.<br />

Die gegebene Diätanweisung genügte dieser Aufklärungspflicht nicht. Dabei ist ohne Bedeutung,<br />

dass die ungenügende Auskunft nicht durch den Arzt selbst, sondern durch seine Gehilfin<br />

gegeben wurde; deren Verhalten ist vertragsrechtlich dem Geschäftsherrn zuzurechnen (Art. 101<br />

<strong>OR</strong>). Ebensowenig wird der Beklagte dadurch entlastet, dass die Auskunft bloss telefonisch und ohne<br />

Untersuchung der Erstklägerin erfolgte. Die Anweisung wurde im Rahmen eines Behandlungsvertrages<br />

gegeben. Mit dessen Annahme hatte der Beklagte eine Garantenpflicht für die Patientin übernommen,<br />

die ihn zu sorgfältiger Diagnose, Therapie und therapeutischer Aufklärung verpflichtete. An<br />

eine Telefondiagnose und eine Telefontherapie aber sind grundsätzlich dieselben Anforderungen zu<br />

stellen wie an die ärztliche Sorgfaltspflicht bei persönlicher Kontaktnahme (NÜSSGENS, a.a.O., N<br />

189). Wird einem Arzt telefonisch ein Krankheitsbild vorgetragen, hat er bei objektiv gegebenem<br />

Verdacht auf eine bestimmte Krankheit nach angenommenem Auftrag nötigenfalls die gebotenen<br />

Untersuchungen durchzuführen und bei Unvermögen des Patienten, die Praxis aufzusuchen, einen<br />

Hausbesuch vorzunehmen oder andere geeignete Massnahmen (Spitaleinweisung usw.) zu veranlassen<br />

(vgl. BGH in NJW 1979 S. 1248 ff.; MünchKomm-MERTENS, N 384 zu § 823 BGB). Mindestens<br />

aber ist er zur Aufklärung über die möglichen Risiken des ihm vorgetragenen Krankheitsbildes verpflichtet.<br />

Dieser Pflicht ist der Beklagte nicht nachgekommen. Angesichts des erheblichen Risikos und<br />

der allgemein bekannten Gefahren einer Dehydration wiegt dabei die Verletzung nicht leicht.<br />

Als Vertragsverletzung erscheint weiter die - hypothetische - Weisung der Arztgehilfin, den Arzt deswegen<br />

nicht zu belästigen und frühestens in vier Tagen wieder anzurufen. Damit wurde die Gefahr<br />

verharmlost sowie beim vernünftig denkenden Anrufer der Eindruck erweckt, besondere Risiken<br />

beständen nicht, und bei Einhaltung der Diät könnten bedenkenlos mehrere Tage abgewartet werden,<br />

bevor wiederum ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen sei (vgl. BGH in NJW 1979 1249 E. b).<br />

Diesen Eindruck zu erwecken ist angesichts der konkret nicht näher abgeklärten, theoretisch aber<br />

erheblichen Dehydrationsgefahr bei Kleinkindern unverständlich. Auch diese Vertragsverletzung<br />

wiegt nicht leicht.<br />

4. a) Beizupflichten ist der Vorinstanz darin, dass für die Schädigung des Kindes und damit auch für<br />

die Verletzung der Zweitklägerin in den persönlichen Verhältnissen ebenfalls ein Fehlverhalten der<br />

Eltern ursächlich ist. Auszugehen ist dabei wiederum von den Sachbehauptungen der Klägerinnen,<br />

wonach in der Nacht vom 23. auf den 24. März 1979 eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes<br />

des Kindes eingetreten ist und dieses am 24. März 1979, 07.15 Uhr bewusstlos war,<br />

worauf es zur Praxis des Beklagten gebracht und dort nach deren Öffnung um 8.00 Uhr behandelt<br />

wurde, die Schädigung aber nicht mehr vermieden werden konnte.<br />

53


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Das allgemeine Gebot des vernunftgemässen Handelns hätte die Eltern jedenfalls im Zeitpunkt der<br />

wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Kindes veranlassen müssen, unverzüglich<br />

einen Arzt oder die Notfallstation eines Spitals aufzusuchen. Unverständlich ist zudem, das<br />

bewusstlose und unter Krampferscheinungen leidende Kind um 07.15 Uhr in die Praxis des Kinderarztes<br />

zu bringen, von der nicht angenommen werden durfte, sie sei zu diesem Zeitpunkt bereits geöffnet,<br />

und dort 3/4 Stunden auf das Eintreffen des Arztes zu warten. Zu prüfen bleibt somit, ob das<br />

Fehlverhalten der Eltern die Vertragsverletzungen des Beklagten für die behaupteten Beeinträchtigungen<br />

der Erstklägerin in der körperlichen Integrität und der Zweitklägerin in den persönlichen Verhältnissen<br />

als inadäquat erscheinen lässt. Das Adäquanzproblem stellt sich dabei als vom Bundesrecht<br />

zu beurteilende Rechtsfrage (BGE 113 <strong>II</strong> 56 E. 2, 351 E. a).<br />

b) Das Verhalten des Geschädigten oder eines Dritten vermag im Normalfall den adäquaten Kausalzusammenhang<br />

zwischen Schaden und Verhalten des Schädigers nicht zu beseitigen, selbst wenn das<br />

Verschulden des Geschädigten oder des Dritten dasjenige des Schädigers übersteigt (BGE 112 <strong>II</strong> 141<br />

E. 3a). Auch wenn neben die erste Ursache andere treten und die Erstursache in den Hintergrund<br />

drängen, bleibt sie adäquat kausal, solange sie im Rahmen des Geschehens noch als erheblich zu<br />

betrachten ist, solange nicht eine Zusatzursache derart ausserhalb des normalen Geschehens liegt,<br />

derart unsinnig ist, dass damit nicht zu rechnen war (BGE 102 <strong>II</strong> 366; A. KELLER, Haftpflicht im Privatrecht,<br />

4. Aufl. 1979, S. 50/1 mit Hinweisen). Entscheidend ist die Intensität der beiden Kausalzusammenhänge;<br />

erscheint der eine bei wertender Betrachtung als derart intensiv, dass er den andern<br />

gleichsam verdrängt und als unbedeutend erscheinen lässt, wird eine sogenannte Unterbrechung des<br />

andern angenommen (OFTINGER, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4. Aufl. 1975, Band I, S. 108 ff.;<br />

OFTINGER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4. Aufl. 1987, Band <strong>II</strong>/1, S. 70 Rz. 223; STARK,<br />

Ausservertragliches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 2. Aufl. 1988, S. 54/5 Rz. 218 ff.; BREHM, N 132 ff. zu Art. 41 <strong>OR</strong>;<br />

DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, 2e éd. 1982, S. 63 ff. Rz. 60 ff.).<br />

c) Ihr Fehlverhalten gereicht den Eltern ohne Zweifel zum Verschulden. Dennoch wird dadurch das<br />

nicht leicht zu nehmende Fehlverhalten des Beklagten oder seiner Hilfsperson nicht derart verdrängt,<br />

dass es nach der Sachverhaltshypothese des Obergerichts als adäquat kausale Ursache der zur Beurteilung<br />

stehenden Rechtsgutverletzungen ausser Betracht fiele. Von Bedeutung ist dabei namentlich,<br />

dass der Behandlungsvertrag in doppelter Hinsicht verletzt wurde (mangelnde therapeutische Aufklärung<br />

und Verharmlosung des Krankheitsbildes), und beide Verletzungen mindestens geeignet waren,<br />

das fehlerhafte Verhalten der Eltern zu veranlassen. Der Beklagte kann sich nicht im Nachhinein<br />

darauf berufen, das zwar weisungskonforme, aber dennoch fehlerhafte Verhalten der Geschädigten<br />

oder seiner Betreuer sei als alleinige Ursache des schädigenden Ereignisses zu betrachten (BREHM, N<br />

136 zu Art. 41 <strong>OR</strong>). Die vorinstanzliche Annahme einer Inadäquanz des den Genugtuungsforderungen<br />

zugrunde gelegten Kausalzusammenhangs verletzt daher Bundesrecht. Insoweit ist die Berufung<br />

begründet und das angefochtene Urteil aufzuheben.<br />

4A_7/2007<br />

Urteil vom 18. Juni 2007<br />

I. zivilrechtliche Abteilung<br />

Besetzung<br />

Bundesrichter Corboz, Präsident,<br />

Bundesrichterinnen Klett, Rottenberg Liatowitsch,<br />

Bundesrichter Kolly, Bundesrichterin Kiss,<br />

Gerichtsschreiber Widmer.<br />

Parteien<br />

X.________ AG,<br />

Beschwerdeführerin,<br />

54


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

vertreten durch Fürsprecher Lukas Wyss,<br />

gegen<br />

A.________,<br />

Beschwerdegegner,<br />

vertreten durch Fürsprecher Gerhard Lanz.<br />

Gegenstand<br />

Art. 9 und 29 BV (Zivilprozess; Haftung; Kausalität),<br />

Beschwerde in Zivilsachen gegen das Urteil des<br />

Obergerichts des Kantons Bern, Appellationshof,<br />

2. Zivilkammer, vom 16. Januar 2007.<br />

Sachverhalt:<br />

A.<br />

A. ________ (Beschwerdegegner) arbeitete seit Juli 1990 als Bauarbeiter. Am 15. Mai 1996 wurde er<br />

von einem Hund angefallen und in den Oberschenkel gebissen. Danach klagte er über Hitzegefühle,<br />

Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen. Er wurde vom behandelnden Arzt für einige Tage arbeitsunfähig<br />

geschrieben. Der Arzt sagte als Zeuge aus, der Beschwerdegegner habe unerwartet heftig auf<br />

den Hundebiss reagiert, wobei die Beschwerden dem vegetativen Nervensystem zuzuordnen seien.<br />

Noch während der Rekonvaleszenz erlitt der Beschwerdegegner am 6. Juni 1996 einen zweiten Unfall.<br />

Ein Lavasteingrill "Barbecue 6000" - hergestellt und vertrieben von der X.________ AG (Beschwerdeführerin)<br />

- fing Feuer, als er von einer Benutzerin auf dem Balkon in Betrieb genommen<br />

wurde. Das Feuer griff auf das Haus über. Der Beschwerdegegner, der im gleichen Haus wohnte,<br />

konnte sich zunächst in Sicherheit bringen, versuchte dann aber, zusammen mit anderen Hausbewohnern<br />

den Brand zu löschen. Dabei stürzte er von einem Balkongeländer rund 5 Meter in die Tiefe<br />

auf einen Vorplatz. Die Ärzte des Inselspitals Bern diagnostizierten eine Hirnerschütterung, eine Rückenkontusion<br />

sowie eine Unterlappenatelektase rechts. Läsionen oder Frakturen wurden nicht<br />

nachgewiesen, das initiale Computertomogramm des Gehirns war unauffällig. Der Beschwerdegegner<br />

klagte über Beschwerden, welche die behandelnden Ärzte zusammenfassend als psychische,<br />

posttraumatische Belastungsstörung mit Konversionsneurose diagnostizierten. Organische Schäden<br />

oder objektiv medizinisch fassbare Behinderungen wurden ausgeschlossen. Trotz multipler, umfassender<br />

Therapieversuche nahm der Beschwerdegegner seine Tätigkeit als Bauarbeiter nicht wieder<br />

auf. Er geht seit den beiden Unfällen keiner Erwerbstätigkeit mehr nach und lebt von einer Invalidenrente<br />

und einer Pensionskassenrente seines ehemaligen Arbeitgebers. Zudem wird er vom Sozialdienst<br />

Interlaken unterstützt. Die Suva erbrachte bis Anfang März 1997 Taggeldleistungen. Danach<br />

stellte sie die Leistungen ein mit der Begründung, die psychischen Beschwerden des Beschwerdegegners<br />

seien nicht mehr kausal auf das Unfallereignis zurückzuführen.<br />

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:<br />

3.<br />

Der Beschwerdegegner belangt die Beschwerdeführerin gestützt auf das Produktehaftpflichtgesetz<br />

(PrHG; SR 221.112.944). Nach Art. 1 Abs. 1 lit. a PrHG haftet die herstellende Person (Herstellerin) für<br />

den Schaden, wenn ein fehlerhaftes Produkt dazu führt, dass eine Person getötet oder verletzt wird.<br />

Soweit das Produktehaftpflichtgesetz nichts anderes vorsieht, gelten die Bestimmungen des Obligationenrechts<br />

(Art. 11 Abs. 1 PrHG).<br />

Von den Haftungsvoraussetzungen wurde von der Vorinstanz einzig diejenige des Kausalzusammenhangs<br />

zwischen dem defekten Grill bzw. dem Grillbrand und dem Unfallereignis einerseits und zwi-<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

schen dem Unfallereignis und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Beschwerdegegners<br />

andererseits beurteilt und bejaht. Die Beschwerdeführerin bestreitet sowohl den natürlichen wie<br />

auch den adäquaten Kausalzusammenhang. Zu prüfen ist mithin, ob die behauptete Fehlerhaftigkeit<br />

des Grills in einem natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zu den psychischen Beschwerden<br />

des Beschwerdegegners steht.<br />

4.<br />

Ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht dann, wenn das schädigende Verhalten bzw. hier der<br />

behauptete Produktefehler für den eingetretenen Schaden eine notwendige Bedingung bildet (conditio<br />

sine qua non), d.h. nicht hinweggedacht werden könnte, ohne dass auch der eingetretene Erfolg<br />

entfiele (BGE 132 <strong>II</strong>I 715 E. 2.2; 128 <strong>II</strong>I 180 E. 2d S. 184; 125 IV 195 E. 2b; 117 V 369 E. 3a S. 376; 96 <strong>II</strong><br />

393 E. 1 S. 396). Ob ein natürlicher Kausalzusammenhang gegeben ist, beschlägt die tatsächlichen<br />

Verhältnisse (BGE 132 <strong>II</strong>I 715 E. 2.2; 130 <strong>II</strong>I 591 E. 5.3 mit Hinweisen). Das Bundesgericht ist an die<br />

diesbezüglichen Feststellungen des Sachgerichts - unter Vorbehalt der in Art. 97 bzw. Art. 105 Abs. 2<br />

BGG genannten Ausnahmen - gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG).<br />

Die Vorinstanz bejahte den natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis vom 6.<br />

Juni 1996 und der psychischen Beeinträchtigung des Beschwerdegegners. Sie stützte sich dabei auf<br />

die fachärztlichen Feststellungen, wonach der Sturz nicht spurlos am Beschwerdegegner vorbeigegangen<br />

sei. Gemäss dem behandelnden Arzt habe der Beschwerdegegner nach dem Zweitunfall über<br />

neue Symptome geklagt und die bereits vorhandenen Beschwerden hätten sich intensiviert. Nach<br />

dem Brand sei nach Aussage des Arztes ein eigentlicher "Sprung" zu verzeichnen gewesen, namentlich<br />

hinsichtlich Muskelverkrampfungen, zumal der Beschwerdegegner vor dem Zweitunfall nie über<br />

schmerzhafte Verspannungen geklagt habe. Der Hundebiss und der psychische Druck, der auf dem<br />

Beschwerdegegner laste, könnten, so die Vorinstanz, die gesundheitliche Beeinträchtigung des Beschwerdegegners<br />

begünstigt haben. Die heutigen Beschwerden seien aber durch den Zweitunfall<br />

zumindest mit verursacht worden. Dass ein natürlicher Kausalzusammenhang aus medizinischer Sicht<br />

bejaht werden müsse, habe auch der Kreisarzt der SUVA ausdrücklich bestätigt.<br />

Die Beschwerdeführerin rügt, dadurch dass die Vorinstanz die umfangreichen medizinischen und<br />

fremdenpolizeilichen Akten bei der Prüfung der natürlichen Kausalität (sowie der Adäquanz) schlicht<br />

ausser Acht gelassen habe, habe sie das rechtliche Gehör (Begründungspflicht) verletzt und den<br />

Sachverhalt willkürlich gewürdigt. Wie es sich damit verhält, kann offen bleiben, da es - wie zu zeigen<br />

sein wird - ohnehin an der Adäquanz des Kausalzusammenhanges zwischen der behaupteten Fehlerhaftigkeit<br />

des Grills und dem zweiten Unfallereignis fehlt.<br />

5.<br />

Die Frage nach der Adäquanz des Kausalzusammenhangs ist rechtlicher Natur und unterliegt der<br />

freien Prüfung des Bundesgerichts (vgl. BGE 132 <strong>II</strong>I 715 E. 2.2; 116 <strong>II</strong> 519 E. 4a S. 524).<br />

5.1 Ein Ereignis gilt als adäquate Ursache eines Erfolgs, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der<br />

Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen<br />

herbeizuführen, der Eintritt des Erfolgs also durch das Ereignis als allgemein begünstigt<br />

erscheint. Rechtspolitischer Zweck der Adäquanz bildet die Begrenzung der Haftung; es soll aufgrund<br />

sämtlicher Umstände im Einzelfall (Art. 4 ZGB) entschieden werden, ob eine Schädigung billigerweise<br />

noch dem Haftpflichtigen zugerechnet werden kann (BGE 123 <strong>II</strong>I 110 E. 3a mit Verweisen). Dabei<br />

genügt haftpflichtrechtlich, dass der Schädiger eine Schadensursache gesetzt hat, ohne die es nicht<br />

zum Schaden gekommen wäre, während Mitursachen wie etwa die konstitutionelle Prädisposition<br />

der geschädigten Person den adäquaten Kausalzusammenhang in der Regel weder zu unterbrechen<br />

noch auszuschliessen vermögen (BGE 123 <strong>II</strong>I 110 E. 3c S. 114 f.; 113 <strong>II</strong> 86 E. 1b S. 89 f.).<br />

5.2 Die Vorinstanz erwog, die Kausalkette führe vom Betrieb des Grills zum Brand, der einen Löschversuch<br />

mit Unfall nach sich gezogen habe, woraus schliesslich die psychische Schädigung des Klägers<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

resultiere. Ein solches Geschehen mute nicht exotisch an, könne doch ein Grill ohne weiteres Feuer<br />

fangen und einen Brand auslösen. Dass sodann beherzte Menschen bei der Feuerbekämpfung mithelfen<br />

würden, erscheine ebenso wenig aussergewöhnlich wie ein damit zusammenhängendes Unfallgeschehen.<br />

In einer solchen Situation könne auch nicht von einem groben Selbstverschulden des<br />

Geschädigten gesprochen werden. Selbst wenn dem Beschwerdegegner zunächst die Rettung vor<br />

dem Feuer gelungen sein sollte, entspreche es der natürlichen Reaktion jedes anständigen Menschen,<br />

anderen sich noch in Gefahr befindenden Personen zu helfen. Solange sich jedenfalls noch<br />

andere Personen im brennenden Haus aufhielten, sei damit zu rechnen, dass sich jemand zu einer -<br />

wenn auch gefährlichen - Rettungsaktion entschliesse.<br />

5.3 Die Beschwerdeführerin rügt eine offensichtlich unzutreffende Sachverhaltswürdigung und Verletzung<br />

der Beweisregel von Art. 8 ZGB bei der Feststellung des Unfallhergangs. Insbesondere sei die<br />

Annahme offensichtlich aktenwidrig, der Beschwerdegegner habe einen Rettungsversuch zugunsten<br />

anderer Personen unternommen. Davon sei in den Akten nirgends die Rede. Der Beschwerdegegner<br />

habe auch nie behauptet, er sei davon ausgegangen, es befänden sich noch zu rettende Personen im<br />

brennenden Haus. Die entsprechende Annahme sei von der Vorinstanz frei erfunden.<br />

Die Vorinstanz stützte sich zur Klärung des Unfallgeschehens auf den Polizeirapport vom 14. Juni<br />

1996, nachdem der Beschwerdegegner keine Angaben zum Unfallhergang habe machen können und<br />

keine Zeugen dazu einvernommen worden seien. In diesem Polizeirapport wird zwar erwähnt, dass<br />

das Kind von Frau B.________, welche den Grill auf dem Balkon ihrer Wohnung in Betrieb genommen<br />

hatte, zur Zeit des Brandausbruchs in einem Zimmer schlief. Dass der Beschwerdegegner von<br />

der Existenz dieses Kindes gewusst hatte und dieses retten wollte, geht indes mit keinem Wort daraus<br />

hervor. Bezüglich des Beschwerdegegners heisst es im Polizeirapport:<br />

"A.________, welcher im gleichen Haus im 2. Stock wohnt und derzeit unfallbedingt arbeitsunfähig<br />

ist, schlief in seinem Zimmer. Er erwachte ob des Lärms und der Hektik bei der Familie B.________<br />

unten, und er eilte zu Hilfe. Mit weiteren am Brandplatz eintreffenden Leuten zusammen versuchte<br />

er mit einem Gartenschlauch den Brand zu bekämpfen. Dabei stieg er im 1. Stock auf das Balkongeländer<br />

und stürzte etwa aus 5 m Höhe auf den Vorplatz hinunter."<br />

Damit ist in der Tat nicht nachvollziehbar, gestützt worauf die Vorinstanz eine Rettungsaktion zugunsten<br />

anderer Personen annimmt. Bei der Lektüre der entsprechenden Passage des angefochtenen<br />

Entscheids fällt denn auch auf, dass die Vorinstanz nicht konkret bezogen auf den Beschwerdegegner<br />

ausführt, er habe ein Kind retten wollen, sondern allgemein formuliert, jeder anständige<br />

Mensch helfe anderen sich in Gefahr befindenden Personen. Letztlich ist es aber für die hier zu beurteilende<br />

Frage der Adäquanz nicht ausschlaggebend, ob der Beschwerdegegner beim Löschungsversuch<br />

im Bestreben mithalf, weiteren Sachschaden zu verhindern oder auch Personen zu retten. Dieses<br />

Element beschlägt das Motiv seines Handelns und beantwortet nicht die Frage nach der Ursächlichkeit<br />

des bei seinem Handeln erlittenen Unfalls. Deshalb kann offen bleiben, ob die von der Beschwerdeführerin<br />

in diesem Zusammenhang erhobenen Rügen begründet sind.<br />

5.4 Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz steht fest, dass der Beschwerdegegner<br />

nicht unmittelbar durch den wegen des defekten Grills ausgelösten Brand verletzt wurde. Ebenso<br />

wenig stürzte er, als er sich vor dem Brand in Sicherheit brachte. Vielmehr entschloss er sich aus<br />

freien Stücken, (zusammen mit anderen Personen) den Brand mit einem Gartenschlauch zu bekämpfen.<br />

Mit seinem Entschluss, den Brand zu bekämpfen, setzte er eine selbständige Ursache, in deren<br />

Verlauf sich der Unfall ereignete. Dieser Unfall kann bei wertender Betrachtung billigerweise nicht<br />

mehr dem Hersteller des fehlerhaften Grills zugerechnet werden. Wenn die Vorinstanz argumentiert,<br />

es sei nicht aussergewöhnlich, dass beherzte Menschen bei der Feuerbekämpfung mithelfen, so kann<br />

damit noch nicht die Adäquanz im vorliegenden Fall begründet werden. Ansonsten müsste von vornherein<br />

in jedem Fall ein Schaden, den jemand beim Versuch erleidet, einem anderen zu helfen bzw.<br />

die Schädigung eines anderen abzuwenden, dem Verursacher jener Schädigung zugerechnet werden.<br />

Eine solchermassen generalisierende Zurechnung führte zu keiner vernünftigen Begrenzung der Haf-<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

tung. Entsprechend verneinte das Bundesgericht die Adäquanz in einem Fall, in dem ein Hund ein<br />

Mädchen verfolgte, und der zu Hilfe eilende Vater stolperte und sich das Bein brach (Urteil vom 10.<br />

Februar 1959, zit. bei Brehm, Berner Kommentar, N. 138a und N. 144 zu Art. 41 <strong>OR</strong>). Ebenso verwarf<br />

es im Rahmen einer Tierhalterhaftung die Adäquanz für den Sturz eines Mannes, den dieser unterwegs<br />

zum Versuch erlitt, zwei aufeinander losgehende Kühe zu trennen (BGE 67 <strong>II</strong> 119 E. 3 S. 123).<br />

Aus der kantonalen Rechtsprechung ist der Fall zu erwähnen, bei dem ein Brand zwar infolge eines<br />

Werkmangels ausgebrochen war, die Schädigung (Tod eines Feuerwehrmannes) aber bei der Brandbekämpfung<br />

eintrat; auch hier wurde die Adäquanz verneint (Urteil des Obergerichts Thurgau vom<br />

27. März 1945, SJZ 1947 S. 159; zit. bei Oftinger/Stark, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Allgemeiner<br />

Teil, Zürich 1995, § 3 N. 30).<br />

Die Vorinstanz hat deshalb den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem durch den defekten<br />

Grill verursachten Brand und dem Unfallereignis vom 6. Juni 1996 bundesrechtswidrig bejaht. Dies<br />

rügt die Beschwerdeführerin zu Recht.<br />

5.5 Nachdem es am adäquaten Kausalzusammenhang fehlt, entfällt bereits aus diesem Grund eine<br />

Haftung der Beschwerdeführerin und die Klage ist abzuweisen. Damit erübrigt es sich, auf die weiteren<br />

Rügen der Beschwerdeführerin einzugehen.<br />

BGE 115 <strong>II</strong> 440<br />

78. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 28. November 1989 i.S. C. AG gegen A. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Schadenersatzpflicht wegen Vertragsverletzung; Kausalzusammenhang zwischen vertragswidrigem<br />

Verhalten und Schaden.<br />

1. Berücksichtigung von hypothetischen Ereignissen, die unabhängig vom vertragsverletzenden Verhalten<br />

ebenfalls zum Schadeneintritt geführt hätten, als Befreiungsgrund? (E. 4)<br />

2. Kausalität von Unterlassungen: Einschränkung der Praxis, wonach auch bei Unterlassungen zwischen<br />

natürlichem und adäquatem Kausalzusammenhang zu unterscheiden ist (E. 5a). Bestätigung<br />

der Praxis bezüglich der beschränkten Anfechtbarkeit von Annahmen oder Feststellungen der Vorinstanz<br />

über hypothetische Geschehensabläufe (E. 5b).<br />

3. Die hypothetische Kausalität braucht nicht streng nachgewiesen zu werden. Es genügt, wenn der<br />

Richter die Überzeugung gewinnt, die überwiegende Wahrscheinlichkeit spreche für einen bestimmten<br />

Kausalverlauf (E. 6a).<br />

Sachverhalt<br />

A.- Am 5. September 1978 schlossen Frau A. und die Gebrüder B. & Co. AG einerseits sowie die C. AG<br />

in Gründung andererseits einen öffentlich beurkundeten Vorvertrag zum Abschluss eines Kaufvertrages<br />

über ein in D. gelegenes Grundstück. Ziffer 2 dieser Vereinbarung sah vor, dass der Abschluss des<br />

Kaufvertrages innerhalb von dreissig Tagen seit Rechtskraft einer rechtsgültigen Bewilligung für eine<br />

Überbauung des Kaufobjektes erfolgen sollte. Die Verkäufer verpflichteten sich, beim Bewilligungsverfahren<br />

mitzuwirken, soweit dies für Grundeigentümer erforderlich ist (Ziffer 3). Der Vorvertrag<br />

sollte dahinfallen, falls der Abschluss des Kaufvertrages und dessen Eintrag ins Grundbuch nicht innerhalb<br />

von vier Jahren seit der Unterzeichnung des Vorvertrages erfolgen würde (Ziffer 10). Unter<br />

bestimmten Voraussetzungen konnte die Käuferin eine Verlängerung dieser Frist um weitere zwei<br />

Jahre verlangen (Ziffer 11 Abs. 2).<br />

Ein Baugesuch vom 25. Mai 1979 für die Erstellung von zwei dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern<br />

auf einem Teil des Grundstückes stiess unter der Bevölkerung von D. auf Widerstand. In der Gemein-<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

deabstimmung vom 8. Juni 1980 nahmen die Stimmbürger eine Initiative an, wonach dieses Gebiet<br />

von der drei- in die zweigeschossige Wohn- und Gewerbezone umgezont werden sollte. Eine von der<br />

C. AG in Gründung gegen den Rekursentscheid des Regierungsrates eingereichte staatsrechtliche<br />

Beschwerde wurde vom Bundesgericht am 18. Mai 1983 gutgeheissen. Darauf liess die C. AG ein<br />

neues Projekt ausarbeiten, das am 30. September 1983 eingabebereit war (sog. 5. Projekt). Dieses<br />

Baugesuch wurde von der Gebrüder B. & Co. AG als Miteigentümerin des Grundstückes am 3. November<br />

1983 unterschrieben. Die Miteigentümerin Frau A. unterzeichnete innerhalb einer bis 4. November<br />

1983 gesetzten Frist nicht, worauf die inzwischen am 10. Oktober gegründet C. AG ihr gegenüber<br />

auf die nachträgliche Leistung verzichtete und Schadenersatz wegen Nichterfüllung des Vertrages<br />

verlangte.<br />

B.- Mit Klageschrift vom 9. April 1985 forderte die C. AG von Frau A. die Zahlung von Fr. 1'611'881.40<br />

nebst 5% Zins seit 21. März 1984. Die Klägerin verlangte damit Ersatz für nutzlos gewordene Aufwendungen<br />

und für entgangenen Gewinn wegen inzwischen eingetretener Wertsteigerung des<br />

Grundstückes. Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Das Kantonsgericht von Appenzell<br />

Ausserrhoden schützte die Klage am 3. Juli 1986 im Teilbetrag von Fr. 925'681.45. Dagegen appellierten<br />

beide Parteien unter Aufrechterhaltung ihrer ursprünglichen Rechtsbegehren an das Obergericht<br />

von Appenzell Ausserrhoden, das die Klage mit Urteil vom 24. Mai 1988 abwies.<br />

Die Klägerin hat gegen das Urteil des Obergerichts Berufung eingereicht, die vom Bundesgericht abgewiesen<br />

wird.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

4. Nach Ansicht der Vorinstanz hatte die Klägerin zu beweisen, dass das vertragsverletzende Verhalten<br />

der Beklagten Ursache des geltend gemachten Schadens ist. Dieser Beweis ist gemäss dem angefochtenen<br />

Urteil nicht erbracht worden, da es höchst wahrscheinlich sei, dass die Klägerin wegen<br />

Einwirkungen Dritter erst nach dem 5. September 1984 eine rechtskräftige Baubewilligung hätte<br />

erhalten können, selbst wenn die Beklagte innerhalb der ihr gesetzten Frist unterschrieben hätte. Die<br />

Klägerin will diese Feststellungen mit der Begründung in Frage stellen, die hypothetischen Verläufe<br />

hätten sich bei richtiger Betrachtungsweise anders abgespielt, als vom Obergericht angenommen<br />

werde. Sie vertritt die Meinung, das Problem der hypothetischen Kausalität werde in der Regel nicht<br />

den Rechtsfragen, sondern den tatsächlichen Feststellungen zugeordnet, welche im Berufungsverfahren<br />

der Überprüfung durch das Bundesgericht entzogen seien. Anders verhalte es sich aber, soweit<br />

sich die Vorinstanz auf Vermutungen über die künftige Entwicklung abstütze, da es sich dabei<br />

um Rechtsfragen handle.<br />

a) Das Obergericht geht Zutreffend vom Grundsatz aus, dass der Geschädigte gleich wie im Fall der<br />

unerlaubten Handlung auch bei einer Vertragsverletzung den natürlichen Kausalzusammenhang zwischen<br />

dieser und dem Schaden nachzuweisen hat (BGE 111 <strong>II</strong> 160).<br />

In Lehre und Rechtsprechung umstritten ist dagegen die von den Parteien und der Vorinstanz stillschweigend<br />

bejahte Rechtsfrage, ob der Schädiger zu seiner Befreiung einwenden kann, der behauptete<br />

Schaden wäre unabhängig von seinem Verhalten wegen späterer hypothetischer Ereignisse ohnehin<br />

eingetreten. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts ist uneinheitlich. Es hat zwar in einem<br />

unveröffentlichten Urteil vom 9. Mai 1989 (i.S. B.), in dem es um die Verletzung eines Mietvertrages<br />

ging, auf die im Deliktsrechts vertretene Lehrmeinung hingewiesen, dass sich der Schädiger in der<br />

Regel nicht darauf berufen könne, der gleiche Schaden wäre auch aufgrund später sich auswirkender<br />

hypothetischer Ereignisse entstanden, für die er nicht verantwortlich sei. Diese Äusserung steht indessen<br />

im Widerspruch zu mehreren Urteilen, die sowohl im Gebiet des Vertrags- wie des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s<br />

ergangen sind. So wurde in BGE 39 <strong>II</strong> 476 - im Gegensatz zum zitierten unveröffentlichten<br />

Entscheid - der Anspruch des Mieters auf Ersatz der Kosten für den vorzeitigen Umzug mit der<br />

Begründung abgelehnt, diese Kosten wären später ohnehin angefallen. In BGE 87 <strong>II</strong> 372 E. 2 wurde<br />

die Ersatzpflicht eines Anwaltes gegenüber seinem Klienten davon abhängig gemacht, dass die wegen<br />

Fristversäumnis verwirkte Klage des Klienten gutgeheissen worden wäre. In BGE 96 <strong>II</strong> 178 E. 3b<br />

hat das Bundesgericht den Einwand, eine von selbst niedergehende Lawine hätte den gleichen Scha-<br />

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den angerichtet wie die vorher künstlich ausgelöste Lawine, nicht grundsätzlich für unerheblich erklärt<br />

(entgegen BREHM, N. 149 zu Art. 41 <strong>OR</strong>), sondern als nicht bewiesen erachtet. Im <strong>Haftpflichtrecht</strong><br />

ist sodann anerkannt, dass der Einwand zugelassen werden muss, die konstitutionelle Prädisposition<br />

des Verunfallten hätte allein und unabhängig vom Unfall zum späteren Schaden oder dessen<br />

Vergrösserung geführt (BGE 113 <strong>II</strong> 92 E. 3). In BGE 113 <strong>II</strong> 339 hat das Bundesgericht schliesslich bezüglich<br />

der Ersatzforderung von Angehörigen eines tödlich verunfallten Mannes ausgeführt, die Kosten<br />

für Trauerkleider seien nicht voll zu erstatten, wenn sie ohnehin angeschafft worden wären. Bei<br />

der Schadensberechnung werden im übrigen spätere hypothetische Ereignisse in der Regel berücksichtigt;<br />

sei es aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Vorschriften (vgl. dazu OFTINGER, Schweiz. <strong>Haftpflichtrecht</strong>,<br />

Bd. I, 4. Aufl., S. 173, 194 ff. und 233 f.) oder unmittelbar aufgrund des allgemeinen<br />

Schadensbegriffes (vgl. GUHL/MERZ/KUMMER, Schweiz. Obligationenrecht, 7. Aufl., S. 64: entgangener<br />

Gewinn).<br />

In der schweizerischen Lehre sind die Meinungen geteilt. Während die ältere Literatur sich ablehnend<br />

äusserte (BECKER, N. 14 zu Art. 41 <strong>OR</strong>; OSER/SCHÖNENBERGER, N. 90 zu Art. 41 <strong>OR</strong>), wurde<br />

diese Auffassung später eingeschränkt. So halten VON TUHR/PETER (<strong>OR</strong> Allg. Teil, Bd. I, S. 92 f.) zwar<br />

am Grundsatz der Unerheblichkeit späterer hypothetischer Ereignisse unter dem Gesichtspunkt der<br />

Kausalität fest, wollen diese aber bei der Schadensberechnung berücksichtigen, "wenn das künftige<br />

schädliche Ereignis seinen Schatten vorauswirft in Gestalt einer Gefährdung der Sache".<br />

DESCHENAUX hat sich dieser Ansicht angeschlossen (Norme et causalité en responsabilité civile, in:<br />

Erhaltung und Entfaltung des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, S.<br />

405). Im Ergebnis gleich äussert sich VON BÜREN (<strong>OR</strong> Allg. Teil, S. 72 ff.). BREHM hält dagegen die<br />

sich später auswirkende hypothetische Ursache grundsätzlich für rechtlich unerheblich (N. 149 zu<br />

Art. 41 <strong>OR</strong>). Eine Meinung, die er aber in anderem Zusammenhang stillschweigend einschränkt (N. 7<br />

ff. zu Art. 45 <strong>OR</strong>: Ersatz der Bestattungskosten). Eine differenzierte Auffassung vertritt sodann OF-<br />

TINGER, der die Frage als Problem der Adäquanz des Kausalzusammenhangs behandelt (a.a.O., S. 124<br />

f.). Nach diesem Autor vermag ein hypothetischer Schadenseintritt, der sich unabhängig von der als<br />

haftungsbegründend angenommenen Ursache ereignet, die Adäquanz in der Regel nicht zu unterbrechen.<br />

Er weist jedoch auf gesetzlich geregelte Ausnahmen und den Fall der konstitutionellen Prädisposition<br />

hin und fügt bei, weitere Ausnahmen seien denkbar und von Fall zu Fall zu beurteilen.<br />

Nicht logische, sondern wertende Gesichtspunkte seien massgebend; so dürfe bei der Schadensberechnung<br />

die Berücksichtigung eines hypothetischen Schadenseintritts nur erfolgen, wenn sie sich<br />

angesichts der Umstände mit Sinn und Zweck des Schadenersatzes vertrage. STEPHAN WEBER, der<br />

sich zum Fall der konstitutionellen Prädisposition äussert, hält Reserveursachen für erheblich, soweit<br />

sie sich bereits im Zeitpunkt der Verletzung manifestiert haben (SJZ 85/1989 S. 77). KRAMER will<br />

dagegen die Berufung auf eine Reserveursache, die hypothetisch zum gleichen Schaden geführt hätte,<br />

in Anlehnung vor allem an die deutsche Literatur grundsätzlich zulassen (Die Kausalität im <strong>Haftpflichtrecht</strong>:<br />

Neue Tendenzen in Theorie und Praxis, ZBJV 123 (1987) S. 289 ff., S. 302/3). In der von<br />

diesem Autor zum Vergleich herangezogenen deutschen Lehre wird mehrheitlich eine Berücksichtigung<br />

der hypothetischen Kausalität im Prinzip befürwortet, aber nach Sachverhaltsgruppen und Art<br />

des geltend gemachten Schadens differenziert; in die gleiche Richtung geht die deutsche Rechtsprechung<br />

(vgl. LARENZ, Lehrbuch des Schuldrechts, 14. Aufl., Bd. I, S. 523 ff.; STEFFEN, RGRK, N. 99 ff. zu<br />

§ 823 BGB; GRUNSKY, Münch.Komm., Bd. 2, 2. Aufl., N. 78 ff. vor § 249 BGB; ESSER/SCHMIDT,<br />

Schuldrecht, Bd. I, Allg. Teil, 6. Aufl. S. 541 ff., § 33 IV).<br />

b) Im vorliegenden Fall ist von Bedeutung, dass der geltend gemachte Schaden mit der Weigerung<br />

der Beklagten, das Baugesuch bis zum 4. November 1983 zu unterschreiben, noch nicht eingetreten<br />

war. Vielmehr stand erst mit Ablauf des Vorvertrages am 5. September 1984 fest, dass die Beklagte<br />

nicht mehr gebunden war und die Klägerin das Grundstück nicht erwerben konnte. Von diesem Gesichtspunkt<br />

aus betrachtet geht es nicht um den Vergleich zwischen einem am 4. November 1983<br />

bereits abgeschlossenen Sachverhalt und einem anderen, hypothetischen, der erst später zu wirken<br />

begann, sondern zu beurteilen sind zwei parallele Verläufe, welche beide im gleichen Zeitpunkt zum<br />

schadenauslösenden Ereignis geführt haben würden. Der eine dieser Verläufe blieb aber hypothetisch,<br />

weil aufgrund des anderen eine notwendige Voraussetzung zu seiner Realisierung fehlte. Es<br />

muss somit nicht über die Streitfrage entschieden werden, ob auch hypothetische Ereignisse von<br />

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Bedeutung sind, die erst nach Schadeneintritt wirksam werden. Insoweit spielt deshalb die mehrheitlich<br />

ablehnende Haltung der schweizerischen Literatur für den vorliegenden Sachverhalt keine Rolle.<br />

Damit kann zudem offenbleiben, wie in solchen Fällen die Berücksichtigung späterer hypothetischer<br />

Geschehnisse in zeitlicher Hinsicht einzugrenzen wäre. Im vorliegenden Fall bestehen jedenfalls wegen<br />

der zeitlichen Nähe der hypothetischen Ereignisse insoweit keine Bedenken. Dazu kommt, dass<br />

es unter den gegebenen Umständen auch sachlich naheliegt, hypothetisch mit einer Wiederholung<br />

oder einem ähnlichen Verlauf der früheren Geschehnisse zu rechnen. Aufgrund von wertenden Gesichtspunkten,<br />

wie sie OFTINGER für massgebend hält, kann deshalb die hypothetische Kausalität<br />

berücksichtigt werden.<br />

c) Eine weitere Besonderheit liegt im Umstand, dass der Beklagten nicht eine vertragswidrige Handlung,<br />

sondern eine Unterlassung vorgeworfen wird. Im angefochtenen Urteil wird dazu auf die Rechtsprechung<br />

des Kassationshofs verwiesen, der auf eine Kritik von SCHULTZ (ZBJV 112/1976 S. 416 und<br />

113/1977 S. 534) seine frühere Praxis zum Kausalzusammenhang bei Unterlassungen geändert hat.<br />

Nach dieser früheren Rechtsprechung war auch im Fall einer Unterlassung zwischen natürlichem und<br />

adäquatem Kausalzusammenhang zu unterscheiden. Gemäss geänderter Rechtsprechung (BGE 105<br />

IV 19 /20) kann bei Unterlassungen nicht im gleichen Sinn von Kausalität gesprochen werden wie bei<br />

Handlungen, da es bei Unterlassungen nur um eine Kausalität der nicht erfolgten Handlung gehe, die<br />

hypothetisch zum eingetretenen Erfolg in Beziehung gesetzt werde. In diesem Urteil wurde sodann<br />

ausgeführt, die Kontroverse sei aber für den Ausgang der Sache ohne Belang, da es so oder anders<br />

um die objektive Zurechnung eines Erfolgs gehe und bei fahrlässigen Erfolgsdelikten jener dem Täter<br />

nur zuzurechnen sei, wenn er durch Anwendung pflichtgemässer Vorsicht höchstwahrscheinlich<br />

vermieden worden wäre; wäre er gleichwohl eingetreten, so beruhe er nicht auf der Pflichtwidrigkeit,<br />

wobei es keinen Unterschied ausmache, ob diese in einem Tun oder Unterlassen liege. Dieser<br />

Grundsatz wurde in BGE 108 IV 7 /8 dahin zusammengefasst, der Kausalzusammenhang sei nur dann<br />

gegeben, wenn die erwartete Handlung nicht hinzugedacht werden können, ohne dass der Erfolg<br />

höchstwahrscheinlich entfiele.<br />

Das Obergericht will daraus vor allem ableiten, dass der natürliche Kausalzusammenhang nicht<br />

streng, sondern nur mit hoher Wahrscheinlichkeit nachzuweisen sei. Ob das für den Zivilprozess richtig<br />

ist, bleibt noch zu prüfen. Wesentlicher und von grundlegender Bedeutung ist indessen eine andere<br />

Auswirkung der Rechtsprechung des Kassationshofes. Sie beruht nämlich auf dem Gedanken, dass<br />

der Normverstoss nur dann rechtserheblich ist, wenn nicht auch ein normgemässes Verhalten zum<br />

gleichen Erfolg geführt hätte. Wird aber ein solcher Rechtswidrigkeitszusammenhang (dazu KRAMER,<br />

a.a.O., S. 299) zwischen normwidrigen Verhalten und Erfolg verlangt, so muss folgerichtig auch der<br />

Einwand zugelassen werden, dass im Fall normgemässen Verhaltens weitere hypothetische Ereignisse<br />

trotzdem zum Eintritt des Erfolges geführt hätten, da auch dann der Sachverhalt vom Anwendungsbereich<br />

der verletzten Norm nicht erfasst wird.<br />

In diesem Sinn befürwortet KRAMER die Übernahme des Grundsatzes in das <strong>Haftpflichtrecht</strong>, weil<br />

damit Wertungseinheit mit der Strafrechtspraxis hergestellt und eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung<br />

von zwei Fallgruppen im <strong>Haftpflichtrecht</strong> vermieden werden könne (a.a.O., S. 299 f.).<br />

Seiner Auffassung ist - jedenfalls für den vorliegenden Fall - zuzustimmen. Dem steht nicht entgegen,<br />

dass es nicht um eine Schadenersatzpflicht aus unerlaubter Handlung, sondern aus Vertragsverletzung<br />

geht, denn im Vertragsrecht gelten insoweit die gleichen Zurechnungsprinzipien. Das Obergericht<br />

hat somit zu Recht geprüft, ob die Vertragsverletzung der Beklagten für die Entstehung des behaupteten<br />

Schadens nicht rechtserheblich ist, weil dieser aufgrund hypothetischer Ereignisse, für die<br />

sie nicht verantwortlich ist, auch dann eingetreten wäre, wenn sie ihrer vertraglichen Pflicht zur Unterzeichnung<br />

des Baugesuchs nachgekommen wäre.<br />

5. a) Die I. Zivilabteilung des Bundesgerichts geht im Gegensatz zum Kassationshof in ständiger Praxis<br />

davon aus, dass auch bei einer Unterlassung zwischen natürlichem und adäquatem Kausalzusammenhang<br />

unterschieden werden kann und muss (vgl. z.B. BGE 108 <strong>II</strong> 53 E. 3, BGE 103 <strong>II</strong> 244 E. 4, BGE<br />

102 <strong>II</strong> 263 E. 3, BGE 93 <strong>II</strong> 29 E. 6). In einem unveröffentlichten Urteil vom 6. März 1984, das von<br />

SCHUBARTH (Berufung und staatsrechtliche Beschwerde, BJM 1985 S. 78 ff.) auszugsweise zitiert<br />

wird, ist sodann darauf hingewiesen worden, dass der natürliche Kausalzusammenhang bei einer<br />

61


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Unterlassung auf der hypothetischen Annahme beruhe, der Schaden wäre bei rechtmässigem Handeln<br />

nicht eingetreten; die natürliche Kausalität müsse deshalb nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit<br />

und in zwingender Weise nachgewiesen werden.<br />

Nach überwiegender und richtiger Auffassung handelt es sich bei der Frage, ob eine Unterlassung<br />

natürliche Ursache einer Wirkung oder eines Erfolges sein kann, um einen blossen Streit um Worte,<br />

da Einigkeit darüber besteht, dass es nur um den hypothetischen Zusammenhang zwischen der unterlassenen<br />

Handlung und dem Erfolg gehen kann (STRATENWERTH, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I,<br />

S. 384; KRAMER, a.a.O., S. 295; Appellationshof des Kantons Bern in ZBGR 67/1986 S. 147 f.). Daraus<br />

ergibt sich aber gegenüber dem Fall der Handlung die Besonderheit, dass der Sachrichter bereits bei<br />

der Feststellung dieses Zusammenhangs in der Regel auch auf die allgemeine Lebenserfahrung abstellt<br />

und damit bestimmte, nach dieser Erfahrung unwahrscheinliche Geschehensabläufe von vornherein<br />

ausser Betracht lässt. Die wertenden Gesichtspunkte, welche sonst erst bei der Beurteilung<br />

der Adäquanz zum Tragen kommen, spielen deshalb schon bei der Feststellung der hypothetischen<br />

Kausalität eine Rolle. Aus diesem Grunde ist es im allgemeinen nicht sinnvoll, den festgestellten oder<br />

angenommenen hypothetischen Geschehensablauf auch noch auf seine Adäquanz zu prüfen, da ein<br />

solcher Vergleich den beabsichtigten Zweck einer vernünftigen Begrenzung der Haftung (BGE 107 <strong>II</strong><br />

276, BGE 96 <strong>II</strong> 396 E. 2 mit Hinweisen) nicht zu erfüllen vermag. Anders kann es sich aber verhalten,<br />

falls aufgrund von tatsächlich festgestellten Anhaltspunkten angenommen werden muss, der hypothetische<br />

Geschehensablauf hätte sich nicht so abgespielt, wie nach der allgemeinen Lebenserfahrung<br />

zu erwarten ist. Die Unterscheidung zwischen natürlicher und adäquater Kausalität ist im weitern<br />

auch dann von Bedeutung, wenn es nicht mehr um hypothetische Verläufe geht, sondern um<br />

daran anschliessende, direkt feststellbare Folgen (vgl. dazu KRAMER, a.a.O., S. 296 Fn. 27).<br />

Die zitierte Rechtsprechung zur Unterscheidung zwischen natürlichem und adäquatem Kausalzusammenhang<br />

ist demnach im Sinne der vorangehenden Erwägungen einzuschränken.<br />

b) Damit stellt sich die Frage, ob in bezug auf die Kausalität von Unterlassungen und die damit verbundenen<br />

hypothetischen Annahmen an der in ständiger Rechtsprechung befolgten Regel festgehalten<br />

werden kann, dass Feststellungen der Vorinstanz über den natürlichen Kausalzusammenhang für<br />

das Bundesgericht gemäss Art. 63 Abs. 2 OG verbindlich sind (BGE 113 <strong>II</strong> 56 mit Hinweisen).<br />

Das Bundesgericht hat sich bereits in BGE 86 <strong>II</strong> 187 E. 3d zu dieser Frage geäussert und festgehalten,<br />

Annahmen der Vorinstanz über hypothetische Geschehensabläufe seien verbindlich, da sie, gleich<br />

wie die Feststellung dessen, was sich tatsächlich ereignet habe, auf dem Wege der Beweiswürdigung<br />

getroffene Schlussfolgerungen aus konkreten Anhaltspunkten darstellten. Im späteren BGE 87 <strong>II</strong> 373<br />

/4 scheint diese Auffassung mit Hinweis auf die abweichende Rechtsprechung einer anderen Abteilung<br />

des Bundesgerichts angezweifelt worden zu sein. Es wurde aber eingeräumt, dass Hypothesen<br />

jedenfalls nur mit Zurückhaltung überprüft werden dürften, da sie naturgemäss weitgehend durch<br />

die Beweiswürdigung der Vorinstanz präjudiziert seien. Das Bundesgericht dürfe von derartigen Vermutungen<br />

höchstens dann abweichen, wenn schwerwiegende Gründe gegen sie sprächen, insbesondere<br />

wenn sie mit einer Erfahrungsregel unvereinbar seien. Diese Betrachtungsweise liegt im wesentlichen<br />

auch dem unveröffentlichten Urteil vom 6. März 1984 zugrunde, in dem ausgeführt wurde,<br />

wenn der kantonale Richter einen behaupteten Kausalverlauf gestützt auf Zeugenaussagen oder<br />

andere Beweismittel bejahe oder verneine, so liege Beweiswürdigung vor, die nicht überprüft werden<br />

könne; vorbehalten blieben nur Schlussfolgerungen, die ausschliesslich auf allgemeiner Lebenserfahrung<br />

beruhten. Daran ist trotz der Kritik von SCHUBARTH (a.a.O., S. 79) für den vorliegenden<br />

Fall festzuhalten. Ebenfalls von Bedeutung sind sodann die Erwägungen in BGE 107 <strong>II</strong> 274 E. 2b,<br />

wo klargestellt wurde, dass Schlüsse aus allgemeiner Lebenserfahrung auch bei der Beweiswürdigung<br />

eine Rolle spielen, dieser Umstand aber nicht zur Aufhebung der für das Berufungsverfahren vom<br />

Gesetz vorgeschriebenen Kognitionsbeschränkung führen darf.<br />

c) Eine Prüfung der von der Klägerin angefochtenen vorinstanzlichen Feststellungen ergibt, dass keine<br />

davon im erwähnten Sinne ausschliesslich auf allgemeiner Lebenserfahrung beruht.<br />

Das gilt zunächst für die Feststellung, das gemeindeinterne Bewilligungsverfahren dauere erfahrungsgemäss<br />

fünf bis sieben Monate, welche das Obergericht auf den Bericht der Baupolizeikommission<br />

stützt. Die Beweiswürdigung betreffen aber auch die Einwände, welche die Klägerin in bezug auf<br />

die Ausschöpfung des Rechtsmittelweges und den Zeitbedarf für das gesamte Verfahren erhebt. Die<br />

62


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

entsprechenden Feststellungen hat das Obergericht vor allem aufgrund der Aussagen der als Zeugen<br />

einvernommenen Eigentümerin eines Nachbargrundstückes und ihres Sohnes getroffen. Alle diese<br />

Feststellungen hat die Klägerin denn auch mit der staatsrechtlichen Beschwerde wegen willkürlicher<br />

Beweiswürdigung angefochten; sie ist damit aber nicht durchgedrungen.<br />

6. Mit der Berufung erhebt die Klägerin auch die Rüge einer Verletzung von Art. 8 ZGB. Zur Begründung<br />

bringt sie vor, das Obergericht habe an den Beweis des Kausalzusammenhangs zwischen der<br />

Vertragsverletzung und dem behaupteten Schaden zu hohe Anforderungen gestellt und von ihr beantragte<br />

erhebliche Beweise nicht abgenommen sowie die Beweislast falsch verteilt.<br />

a) Nach Auffassung der Klägerin durfte die Vorinstanz an den Beweis des Kausalzusammenhangs<br />

keine hohen Anforderungen stellen, weil hypothetische Geschehensabläufe zu beurteilen waren.<br />

Damit will sie offenbar rügen, die Vorinstanz hätte aufgrund des richtigen Beweismasses andere als<br />

die angenommenen Hypothesen für wahrscheinlicher halten müssen. Das Bundesgericht hat im unveröffentlichten<br />

Urteil vom 6. März 1984 festgehalten, in Fällen hypothetischer Kausalität genüge es,<br />

wenn der Richter die Überzeugung gewinne, dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen<br />

bestimmten Kausalverlauf spreche. Diese mit Lehre und Rechtsprechung übereinstimmende Ansicht<br />

(KUMMER, N. 211 zu Art. 8 ZGB; OFTINGER, a.a.O., S. 90 mit Nachweis der Rechtsprechung) liegt<br />

indessen auch dem angefochtenen Urteil zugrunde. Das Obergericht spricht zwar in der theoretischen<br />

Einleitung von einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit, der beim Nachweis des Kausalzusammenhangs<br />

erforderlich sei, wendet aber dieses Beweismass dann in Wirklichkeit nicht an, wie die<br />

nachfolgenden Erwägungen Zeigen. Das gleiche ergibt sich auch aus den Ausführungen im Zusammenhang<br />

mit der Frage, ob gegen einen positiven Entscheid der Gemeinde an den Regierungsrat<br />

rekurriert worden wäre. Aus Art. 8 ZGB oder sonst aus dem Bundesprivatrecht abgeleitete Anforderungen<br />

an das Beweismass sind somit vom Obergericht nicht verkannt worden.<br />

b) Kein Verstoss gegen Art. 8 ZGB liegt auch darin, dass die Vorinstanz nicht alle von der Klägerin<br />

beantragten Beweise abgenommen hat. Wie im Entscheid über die staatsrechtliche Beschwerde dargelegt<br />

worden ist, beruht die Verweigerung der Beweisabnahme auf antizipierter Beweiswürdigung.<br />

In einem solchen Fall ist der aus Art. 8 ZGB abgeleitete Beweisanspruch nach ständiger Rechtsprechung<br />

nicht verletzt (BGE 114 <strong>II</strong> 291 mit Hinweisen). Ebenfalls unbegründet ist schliesslich die Rüge<br />

einer Verletzung von Art. 8 ZGB durch falsche Verteilung der Beweislast. Gemäss der Praxis des Bundesgerichts<br />

ist die Frage der Beweislastverteilung gegenstandslos, wenn der kantonale Richter - wie<br />

hier - in Würdigung von Beweisen zur Überzeugung gelangt ist, eine Tatsachenbehauptung sei bewiesen<br />

oder widerlegt (BGE 114 <strong>II</strong> 291 mit Hinweisen).<br />

c) Damit ist die Feststellung des Obergerichts, die Klägerin hätte erst nach Ablauf des Vorvertrages<br />

eine rechtskräftige Baubewilligung erhalten können, für das Bundesgericht verbindlich. Das führt zur<br />

Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils.<br />

63


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Auszug aus STEPHAN WEBER, Von der Entstehung druch unerlaubte Handlung<br />

zur Entstehung durch Schädigung, in: Die Rechtsentwicklung am der Schwelle<br />

zum 21. Jahrhundert, Symposium zum Schweizerischen Privatrecht, hrsg. von<br />

Peter Gauch und Jörg Schmid (Zürich 2001), 253, 276 ff.<br />

IV. Haftungsausfüllung: Zum ‚Wieviel‘ der Haftung<br />

1. Wertungsdefizite bei der Haftungsausfüllung<br />

Während über die Haftungsbegründung verschiedene Kriterien entscheiden, wie die soeben erwähnte<br />

Widerrechtlichkeit, das Verschulden oder das charakteristische Risiko, hängt die Zurechnung der<br />

weiteren Verletzungsfolgen einzig vom Kausalzusammenhang ab. Die Verletzungsfolgen werden von<br />

den übrigen Haftungsvoraussetzungen nicht mehr erfasst. So muss bei einer Körperverletzung nur<br />

der primäre Eingriff – das Zufügen der Wunde – verschuldet sein, nicht aber die daran anschliessenden<br />

Komplikationen, etwa eine Infektion oder psychisch bedingte Störungen, und auch nicht die daraus<br />

resultierende Erwerbsunfähigkeit und der darauf basierende Schaden in Form von Heilungskosten<br />

und Erwerbsausfall.<br />

Dass eine rein kausale Zurechnung nicht genügt, muss wohl nicht weiter erläutert werden, wohl aber<br />

der Umstand, dass sich eine wertende Begrenzung der Haftung, das Bedürfnis nach einem zusätzlichen<br />

Haftungsfilter, der ja noch immer in der unsterblichen, um nicht zu sagen untödlichen, Adäquanztheorie<br />

erblickt wird, nur im Bereich der Haftungsausfüllung stellt, da sich die für die Haftungsbegründung<br />

zuständigen Zurechnungskriterien - Verschulden, Widerrechtlichkeit, charakteristisches<br />

Risiko usw. – regelmässig als restriktiver erweisen, die nötige Haftungsbegrenzung sicherstellen und<br />

daher auf eine zusätzliche Zurechnungsschranke verzichtet werden kann (dazu WEBER, Schadenszurechnung,<br />

545 f.).<br />

Die Haftungsausfüllung leidet aber noch an einem weiteren Wertungsdefizit. Die Frage, was als Schaden<br />

zu gelten hat, ist im Lichte des als tragende Idee des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s postulierten Ausgleichsprinzips<br />

zu beantworten. Die zugefügten Nachteile müssen durch die Schadenersatzleistungen vollständig<br />

ausgeglichen werden. Der Ausgleichsgedanke umfasst nicht nur die materielle Rehabilitation,<br />

sondern auch die Wiedergutmachung der immateriellen Nachteile. Jedenfalls ist es nicht zwingend,<br />

in der Genugtuung eine Ausprägung des Rache- und Sühnegedankens zu sehen. Die Forderung nach<br />

Totalrestitution und -kompensation hilft aber spätestens dann nicht mehr weiter, wenn der Schaden<br />

nicht in Form einer Vermögensdifferenz eruiert werden kann. Sie liefert durch die ideologiefreie Ausgestaltung<br />

der Leistungspflicht keine Wertungshinweise und lässt die gesuchten Lösungen nicht erkennen.<br />

Es ist offensichtlich, dass die Forderung nach Ausgleich und Wiedergutmachung zudem erst eingreifen<br />

kann, wenn die Frage der Haftung geklärt ist. Der Ausgleichsgedanke kann m.a.W. kaum etwas<br />

zur Aufhellung der Haftungsgründe beitragen. Er deckt daher nur einen Teil-aspekt der Haftungsbeurteilung<br />

ab. Das <strong>Haftpflichtrecht</strong> entscheidet „nicht nur über die Gewährung, sondern genauso über<br />

die Versagung von Ersatzansprüchen, und wer behauptet, sein "Ziel" sei Kompensation, muss im<br />

gleichen Atemzug zugeben, dass gleichberechtigtes "Ziel" die Nichtkompensation ist“ (so zutreffend<br />

KÖTZ HEIN, Deliktsrecht, 7. A., Berlin 1996, N 37). Der Ausgleichsgedanke kann daher auch nicht beigezogen<br />

werden, um die gewünschte Expansion des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s zu legitimieren.<br />

64


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

2. Renaissance der Adäquanztheorie oder der Beginn eines juristischen<br />

Kausalverständnisses<br />

Was das Haftungskorrektiv der Adäquanz anbelangt, so ist heute anerkannt, dass es sich dabei nicht<br />

um eine Kausaltheorie, sondern um zusätzliche Wertungen bei der Schadenzurechnung handelt.<br />

Nach der Adäquanztheorie ist ein Schaden dann zurechenbar, wenn er nach dem gewöhnlichen Lauf<br />

der Dinge und der allgemeinen Erfahrung geeignet ist, den eingetretenen Erfolg zu bewirken, so dass<br />

der Eintritt diese Erfolges als durch die fragliche Ursache begünstigt erscheint. Zu einem positiven<br />

Ergebnis gelangt man also dann, wenn der untersuchte Zusammenhang mit dem Erfahrungswissen<br />

korrespondiert, und zwar so, dass eine ausreichende Wahrscheinlichkeit für die kausale Verknüpfung<br />

spricht.<br />

Dieses Vorgehen führt aber zwangsläufig zu Doppelspurigkeiten mit der sog. natürlichen Kausalität,<br />

deren Feststellung ebenfalls meist nur auf Erfahrungswerten und Wahrscheinlichkeitsaussagen beruht.<br />

Dies zeigt sich sehr deutlich in der Rechtsprechung des EVG zu den psychischen Beschwerden<br />

und zu den Schleudertrauma-Fällen. Bei diesen Konstellationen geht es weniger darum, einen festgestellten<br />

Kausalnexus einzuschränken, als vielmehr darum, die mangels gesicherter bzw. objektivierbarer<br />

Befunde vorhandenen Kausalzweifel zu überwinden. Dies geschieht bekanntlich mittels einer<br />

Triagierung nach der Unfallschwere.<br />

Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden, wichtig ist lediglich die Feststellung, dass auch der<br />

Kausalzusammenhang als juristische Denkkategorie zu begreifen ist, und nicht einfach als etwas ausserrechtlich<br />

Vorgegebenes. Der Revisionsentwurf spricht in Art. 47 <strong>OR</strong> von einem „rechtlich bedeutsamen<br />

Ursachenzusammenhang“ und bringt damit das soeben Gesagte auf den Punkt. Es wird nicht<br />

einfach eine Leerformel ins Gesetz aufgenommen (so STEIN 301). Die Rechtsanwendung erleichtern<br />

würde aber, wenn das Gesetz doch auch einige Anhaltspunkte für die zu treffenden Wertungen mitliefern<br />

und damit zur Klärung der Zurechnungsfrage beitragen würde (so auch KOZIOL, SVZ, 150 f.;<br />

GAUCH, ZSR, 325). Allein die Rechtsprechung dürfte dazu ohne Anleitung nicht in der Lage sein und es<br />

ist denn auch Sache des Gesetzgebers, sich über den rudimentären Schutzbereich Gedanken zu machen<br />

und zumindest in homöopathischer Dosis Hinweise auf den Normzweck zu hinterlassen.<br />

3. Wo die Haftung für "einleuchtende Wahrscheinlichkeit" einleuchtet<br />

Eine sehr weitgehende Erleichterung für den oft schwierigen Kausalitätsnachweis findet sich in den<br />

Verfahrensvorschriften des Vorentwurfs. Nach Art. 56d Abs. VE <strong>OR</strong> kann sich das Gericht mit einer<br />

einleuchtenden Wahrscheinlichkeit begnügen und es kann ferner die Ersatzleistung nach dem Grad<br />

der Wahrscheinlichkeit bemessen. Unklar ist natürlich, welchem Wahrscheinlichkeitsgrad die einleuchtende<br />

Wahrscheinlichkeit zuzuordnen ist. Für den Kausalitätsnachweis ist keine Sicherheit erforderlich,<br />

und das ist auch angemessen, denn es gibt bekanntlich keine Sicherheit, nur verschiedene<br />

Grade der Unsicherheit. Nach der Rechtsprechung zum Nachweis des natürlichen Kausalzusammenhangs<br />

genügt überwiegende Wahrscheinlichkeit (BGE 107 <strong>II</strong> 107), wobei auch dieser Begriff nicht<br />

geklärt ist und man sich stets bewusst sein muss, dass gar keine genauen Prozentangaben gemacht<br />

werden können. Zieht man die Linie bei 50 %, so ist wohl anzunehmen, dass sich Art. 56d VE <strong>OR</strong> mit<br />

einem geringeren Wahrscheinlichkeitsgrad begnügt.<br />

Auch wenn es im Bereich der Kausalität zu Beweisproblemen kommen und es nicht einfach hingenommen<br />

werden kann, dass der Betroffene alsdann auf seinem Schaden sitzen bleibt, ist hinsichtlich<br />

einer solchen Regelung, die erhebliche Zugeständnisse auf der Beweisebene macht, Skepsis angebracht.<br />

Zu begrüssen ist die Möglichkeit, den Schaden nach dem Wahrscheinlichkeitsgrad zu bemessen,<br />

um damit v.a. in den Fällen der perte d’une chance zu einer angemessenen Risikoverteilung zu<br />

gelangen. Man kann sich fragen - und die persönliche Anwort lautet "Ja" - ob nicht bereits die heutige<br />

Regelung in Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong> eine solche Lösung zulassen würde.<br />

65


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Betreffen die Kausalitätsprobleme dagegen die Haftungsbegründung, so genügt die Regelung den<br />

Anforderungen nicht, die an eine Rechtsnorm unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und<br />

Kalkulierbarkeit zu stellen sind (diesen Anforderungen kommt im <strong>Haftpflichtrecht</strong> im Hinblick auf<br />

den Versicherungsaspekt grosse Bedeutung zu). Es ist unumgänglich, die ganz unterschiedlichen Kausaldefizite<br />

(Fälle der alternativen Kausalität, objektive und subjektive Erkenntnislücken, der Gedanke<br />

der "market-share-liability" usw.) tatbestandlich zu konkretisieren und die Momente anzugegeben,<br />

die eine Zurechnung trotz "geringer" Kausalität rechtfertigen (vgl. dazu auch KOZIOL, SVZ, 154; NIGG,<br />

SVZ 1997, 30 ff., 36 ff.). Die angesprochenen Tatbestände sind nicht gleichwertig und sie dürfen daher<br />

auch normativ nicht über einen Leisten geschlagen werden, so attraktiv solch offene Formulierungen<br />

unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen Schlichtheit und der dadurch ermöglichten freien<br />

Rechtsentwicklung auch sein mögen. Die vorgeschlagene Lösung könnte zudem auch bewirken, dass<br />

in der (überwiegend vergleichsweisen) Erledigung der Schadenfälle kein voller Ersatz mehr zugestanden<br />

wird, da häufig zumindest über die Schadenfolgen keine Gewissheit besteht.<br />

66


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

WIDERRECHTLICHKEIT, VERSCHULDEN UND VERSCHULDENSHAFTUNG<br />

BGE 106 <strong>II</strong> 75<br />

16. Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. März 1980 i.S. Iff AG und ARGE gegen Rathgeb (Berufung)<br />

Regeste<br />

Art. 58 Abs. 1 SVG, Haftpflicht des Motorfahrzeughalters.<br />

Der Halter eines Motorfahrzeuges haftet gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG nur für Personen- und Sachschaden,<br />

nicht auch für sonstigen Schaden.<br />

A.- Werner Rathgeb, der in Niederbipp einen landwirtschaftlichen Betrieb führt, liess am 4. August<br />

1977 durch seinen Angestellten Laube mit einem am Traktor befestigten Tieflockerungsgerät den<br />

Boden einer gepachteten Landparzelle aufbrechen. Als Laube mit dem Gerät auf ein Hindernis stiess,<br />

von dem er annahm, es sei ein Stein oder etwas Ähnliches, fuhr er zurück und überwand es mit Anlauf.<br />

Es handelte sich dabei, wie sich später herausstellte, um eine in nur geringer Tiefe ohne besondere<br />

Markierung verlegte Leitung der Elektrizitätsversorgung Niederbipp, durch welche u.a. das Kies-<br />

und Betonwerk der Iff AG und die Asphaltaufbereitungsanlage der einfachen Gesellschaft ARGE mit<br />

Strom versorgt werden. In beiden Betrieben fiel der Strom während 25 Stunden aus, was zu einer<br />

nahezu gänzlichen Stillegung der ausschliesslich mit elektrischer Energie betriebenen Einrichtungen<br />

führte.<br />

BGE 106 <strong>II</strong> 75 S. 76<br />

B.- Im April 1979 klagten die Iff AG und die ARGE beim Appellationshof des Kantons Bern gegen<br />

Rathgeb auf Zahlung von Fr. 11'462.-- und Fr. 36'500.-- Schadenersatz nebst Zins in gerichtlich zu<br />

bestimmender Höhe seit wann rechtens.<br />

Der Beklagte anerkannte während des Prozesses die Forderung der ARGE in der Höhe von Fr. 3'973.--<br />

nebst 5% Zins seit 4. August 1977. In seinem Urteil vom 12. September 1979 hielt der Appellationshof<br />

diese Schuldanerkennung fest und wies die Klage, soweit weitergehend, ab.<br />

C.- Mit vorliegender Berufung beantragen die Klägerinnen, das Urteil des Appellationshofs aufzuheben<br />

und den Beklagten zur Zahlung von Fr. 11'462.-- und Fr. 32'527.-- je nebst 5% Zins seit 23. Juni<br />

1978 zu verpflichten oder die Sache zur Festsetzung des Schadens an die Vorinstanz zurückzuweisen.<br />

Der Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:<br />

1. Nach Auffassung des Appellationshofes haftet der Beklagte als Motorfahrzeughalter gemäss Art.<br />

58 Abs. 1 SVG nicht für jeden Schaden, sondern nur für Schaden infolge Tötung, Körperverletzung<br />

oder Sachbeschädigung. Die Vorinstanz fand, die Erstklägerin habe gemäss der betriebswirtschaftlichen<br />

Schadensbeurteilung, die der Haftpflichtversicherer des Beklagten bei Ingenieur Hösli einholte<br />

und deren Ergebnisse die Klägerinnen anerkannt hätten, weder einen Sachschaden noch einen direkt<br />

auf Sachschaden zurückzuführenden Vermögensschaden erlitten. Für die Zweitklägerin ergebe diese<br />

Beurteilung einen Sachschaden von Fr. 2'903.-- (unbrauchbar gewordener Asphalt in der Aufbereitungsanlage)<br />

und einen direkt auf den Sachschaden zurückgehenden Vermögensschaden von Fr.<br />

1'070.-- (Ausräumungskosten). Die Summe dieser Beträge entspreche dem, was der Beklagte bereits<br />

vorprozessual anerkannt habe.<br />

67


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Die Klägerinnen rügen, die Vorinstanz habe Art. 62 Abs. 1 SVG übersehen, wonach Art und Umfang<br />

des Schadenersatzes sich nach den Grundsätzen des Obligationenrechts über unerlaubte Handlungen<br />

und nicht nach allfälligen Wortinterpretationen von Art. 58 Abs. 1 SVG richteten. Der Schadenersatz<br />

erschöpfe sich bei Sachschaden nicht im Ersatz des Wertes der beschädigten Sache, sondern umfasse<br />

sowohl damnum emergens wie lucrum cessans, worüber sich Lehre und Rechtsprechung schon unter<br />

der Herrschaft der gleichlautenden Bestimmungen der Art. 37 und 41 MFG einig gewesen seien. Sodann<br />

habe die Vorinstanz unbesehen die vom Experten vorgenommene Unterscheidung in Sachschäden<br />

als direkte Folge des Stromausfalles, direkt auf Sachschäden zurückzuführende Vermögensschäden<br />

und reine, nicht auf Sachschäden zurückgehende Vermögensschäden übernommen, obgleich<br />

dem Experten als juristischem Laien die Unterteilung in Sach-, Personen- und sonstigen Schaden<br />

nicht geläufig sei, was sich aus seiner Umschreibung des reinen Vermögensschadens eindeutig<br />

ergebe. Es handle sich bei den unter diesem Titel genannten Beträgen um entgangenen Gewinn und<br />

damnum emergens, die nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Sachschaden zu zählen<br />

und vom Beklagten daher zu ersetzen seien.<br />

2. Die Auffassung der Vorinstanz, der Beklagte hafte einzig und ausschliesslich, sofern die Voraussetzungen<br />

von Art. 58 Abs. 1 SVG erfüllt sind, ist unangefochten geblieben.<br />

Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung haftet der Halter eines Motorfahrzeugs für den Schaden,<br />

wenn durch den Betrieb des Fahrzeugs ein Mensch getötet oder verletzt oder Sachschaden verursacht<br />

wird. Die sprachliche Fassung lässt die Beschränkung der Haftpflicht des Motorfahrzeughalters<br />

auf Personen- und Sachschaden klar erkennen. Das kam bereits in den parlamentarischen Beratungen<br />

sowohl zum inhaltlich gleichen Art. 37 Abs. 1 MFG (Sten.Bull. 1931 N, Voten Pfister S. 213 und<br />

214, Meuli, S. 221, Schaerer, S. 222, Häberlin, S. 227 und Baumann, S. 231) wie auch zum jetzt geltenden<br />

Art. 58 Abs. 1 SVG (Sten.Bull. 1957 N, Voten Guinand, S. 221, Eggenberger, S. 224 und Guinand,<br />

S. 233; Sten.Bull. 1958 S, Votum Müller, S. 118) unübersehbar zum Ausdruck. Die Lehre geht,<br />

soweit diese Frage überhaupt berührt wird, übereinstimmend dahin, im Rahmen von Art. 58 Abs. 1<br />

SVG werde nur für Personen- und Sachschaden gehaftet (OFTINGER, Schweiz. <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Bd.<br />

<strong>II</strong>/2, 2. Auflage, S. 512; KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, 3. Auflage, S. 45; TERCIER, De la distinction<br />

entre dommage corporel, dommage matériel et autres dommages, Festschrift Assista 1968-1978, S.<br />

258), und diese Auffassung herrscht auch in der Versicherungspraxis vor (OSWALD, Versicherungsleistung<br />

und Schadenersatz, Schweizerische Versicherungszeitschrift 1976, S. 5; SCHAER, Das gerissene<br />

Stromleitungskabel, Versicherungskurier 2/1979, S. 52). Die Beschränkung der Haftpflicht des<br />

Motorfahrzeughalters auf Personen- und Sachschaden ist offensichtlich nicht zufällig, sondern vom<br />

Gesetzgeber gewollt und systemgerecht, ist doch in weiteren Bestimmungen (Art. 61, 63, 64 und 70<br />

SVG) stets von Personen- und Sachschaden die Rede.<br />

Die Klägerinnen vermögen dem nichts Stichhaltiges entgegenzusetzen. Der von ihnen angeführte Art.<br />

62 Abs. 1 SVG umschreibt nicht die Voraussetzungen der Haftung, bezieht sich nach seiner eindeutigen<br />

Fassung namentlich nicht auf den Schaden, sondern handelt lediglich von "Art und Umfang des<br />

Schadenersatzes" und verweist nur insoweit auf die Grundsätze des Obligationenrechts über unerlaubte<br />

Handlungen (Sten.Bull. 1957 N, Votum Eggenberger, S. 234). Auch diese Bestimmung ändert<br />

demnach nichts daran, dass die Frage, für welche Schäden der Motorfahrzeughalter haftet, ausschliesslich<br />

von Art. 58 Abs. 1 SVG geregelt wird. Deshalb ist auch der Hinweis darauf unbehelflich,<br />

dass grundsätzlich jeder Nachteil zu ersetzen sei, den der Schadensbegriff erfasse, bei Sachschaden<br />

also sowohl damnum emergens wie lucrum cessans (vgl. OFTINGER, a.a.O., Bd. I, 4. Auflage, S. 57).<br />

Die Dreiteilung des Schadens in Personen-, Sach- und sonstigen Schaden ist im schweizerischen Recht<br />

allgemein geläufig (OFTINGER, a.a.O., I, S. 61; KELLER, a.a.O., S. 44; TERCIER, a.a.O., S. 251), und was<br />

den einzelnen dieser Schadensarten zuzuordnen ist, durchwegs einheitlich umschrieben (OFTINGER,<br />

a.a.O., I, S. 61; KELLER, a.a.O., S. 44; TERCIER, a.a.O., S. 252 ff.). Der Hinweis der Klägerinnen auf OF-<br />

TINGER (a.a.O., I, S. 61 Fussnote 38), der die Terminologie KELLERS (a.a.O., S. 39 ff.) als persönlich<br />

gefärbt bezeichnet, geht fehl, da OFTINGER offensichtlich nicht auf diese Unterscheidung, die er selber<br />

auch macht, Bezug nimmt. Was schliesslich unter der Herrschaft anderer Haftungsbestimmungen<br />

entschieden worden ist, beispielsweise gestützt auf Art. 55 <strong>OR</strong> (BGE 102 <strong>II</strong> 85) oder Art. 22 MO (BGE<br />

101 Ib 252), kann für den Gehalt von Art. 58 Abs. 1 SVG nicht entscheidend sein, wenn er eine Haf-<br />

68


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

tung des Motorfahrzeughalters eben nur für den Fall vorsieht, dass ein Mensch getötet oder verletzt<br />

oder Sachschaden verursacht worden ist. Geschädigter im Sinne dieser Bestimmung kann nur sein,<br />

wer einen Personen- oder Sachschaden erlitten hat, nicht ausserdem, wer von einem sonstigen<br />

Schaden betroffen worden ist, selbst wenn dieser mit dem einem anderen erwachsenen Sachschaden<br />

mittelbar zusammenhängt.<br />

3. Der Erstklägerin ist gemäss der bei Ingenieur Hösli eingeholten betriebswirtschaftlichen Schadensbeurteilung,<br />

deren Ergebnisse die Klägerinnen nach der Feststellung der Vorinstanz anerkannt haben,<br />

offensichtlich kein Sachschaden im Sinne von Art. 58 Abs. 1 SVG erwachsen. Als solcher fiele nur ein<br />

Schaden in Betracht, der aus Zerstörung, Beschädigung oder Verlust einer ihr gehörenden Sache sich<br />

ergeben hat (OFTINGER, a.a.O., I, S. 61; KELLER, a.a.O., S. 45; TERCIER, a.a.O., S. 253).<br />

Die Zweitklägerin hat insofern einen Sachschaden erlitten, als der Asphalt, der sich in der Aufbereitungsanlage<br />

befand, unbrauchbar wurde und aus ihr entfernt werden musste. Dass dieser Sachschaden<br />

mehr als die vom Beklagten anerkannten Fr. 3'973.-- betrage, darin insbesondere der entgangene<br />

Gewinn oder andere zu berücksichtigende Rechnungsgrössen nicht verrechnet wurden, macht die<br />

Zweitklägerin nicht geltend. Der weitere Schaden, den der Experte als reinen, nicht direkt auf Sachschäden<br />

zurückzuführenden Vermögensschaden bezeichnete, steht in keinem ursächlichen Zusammenhang<br />

mit dem der Zweitklägerin erwachsenen Sachschaden und erweist sich demnach eindeutig<br />

als sonstiger Schaden, der gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG nicht zu ersetzen ist. Es trifft daher nicht zu,<br />

dass der Experte in seiner Beurteilung von Schadensbegriffen ausgegangen ist, die vor Bundesrecht<br />

nicht standhalten, und die Vorinstanz unbesehen darauf abgestellt hat.<br />

Entscheid<br />

Demnach erkennt das Bundesgericht:<br />

Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationshofes (I. Zivilkammer) des Kantons<br />

Bern vom 12. September 1979 bestätigt.<br />

BGE 114 <strong>II</strong> 376<br />

71. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. November 1988 i.S. Mittel-Thurgaubahn-<br />

Gesellschaft gegen Waadt Versicherungen und X. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Art. 58 Abs. 1 SVG. Beschädigung von Eisenbahnanlagen durch den Betrieb einer Mähmaschine.<br />

1. Ein landwirtschaftlicher Traktor mit einer fest angeschlossenen Mähmaschine, die mit dem Motor<br />

des Traktors angetrieben wird, ist auch ausserhalb öffentlicher Strassen als Motorfahrzeug anzusehen<br />

(E. 1a).<br />

2. Wird dort während des Mähens ein Unfall verursacht, so hängt die Kausalhaftung des Halters davon<br />

ab, ob der Schaden einem Betriebsvorgang des Fahrzeugs im Sinne von Art. 58 Abs. 1 SVG zuzuschreiben<br />

ist (E. 1b-d). Umstände, unter denen dies zu verneinen ist (E. 1e).<br />

A.- Der Landwirt X. mähte am 6. Juli 1984 in Weinfelden, neben der Eisenbahnlinie der Mittel-<br />

Thurgaubahn (MThB) eine Wiese. Er benutzte dazu einen Kreiselmäher der Marke "Zeegers", ein an<br />

einem landwirtschaftlichen Traktor fest angeschlossenes<br />

Schneidegerät mit zwei rotierenden Tellern, die durch den Motor des Fahrzeuges über eine Zapfwelle<br />

angetrieben wurden. Während der Fahrt lösten sich an einem Teller zwei Messer, die weggeschleudert<br />

wurden; das eine durchschlug an einem Nachbarhaus eine Fensterscheibe, das andere durchtrennte<br />

die Fahrleitung der MThB. Diese Leitung fiel herunter und löste einen Kurzschluss aus. Dabei<br />

69


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

wurden insbesondere auch Kabel- und Signalanlagen beschädigt, der Bahnverkehr zudem erheblich<br />

gestört.<br />

In einem Teilvergleich vom 3. April 1985 einigte sich die Bahngesellschaft mit X. und der "Waadt"<br />

Versicherungsgesellschaft, bei welcher der Landwirt für seine Halterhaftpflicht versichert war, auf<br />

einen Schadensbetrag von Fr. 81'465.--. Die Frage der Haftung liessen die Parteien ausdrücklich offen.<br />

B.- Im August 1985 klagte die Bahngesellschaft gegen die "Waadt" und X. auf Zahlung dieses Betrages<br />

nebst Zins. Mit Urteil vom 27. Juli 1987 bejahte das Bezirksgericht Weinfelden die solidarische Haftung<br />

der Beklagten aus Art. 58 Abs. 1 SVG für den eingeklagten Schaden, welcher der Höhe nach<br />

anerkannt blieb.<br />

Die Beklagten appellierten an das Obergericht des Kantons Thurgau, das am 16. Februar 1988 die<br />

Klage abwies. Das Obergericht fand, dass nicht nur ein Betriebsvorgang im Sinne von Art. 58 Abs. 1<br />

SVG, sondern mangels Verschulden auch eine Haftung des Landwirts aus Art. 41 <strong>OR</strong> zu verneinen sei.<br />

C.- Die Klägerin hat gegen das Urteil des Obergerichts Berufung eingereicht, mit der sie an ihrem<br />

Rechtsbegehren festhält.<br />

Das Bundesgericht weist die Berufung ab und bestätigt das angefochtene Urteil.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

1. Die Klägerin beruft sich in der Begründung ihres Anspruchs, wie schon im kantonalen Verfahren,<br />

vorweg auf die Kausalhaftung des Motorfahrzeughalters gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG. Diese Haftung sei<br />

hier vorbehaltlos zu bejahen, da der Schaden durch den Betrieb eines Motorfahrzeuges verursacht<br />

worden und einzig dessen mangelhaftem Zubehör zuzuschreiben sei.<br />

a) Es ist unbestritten, dass der landwirtschaftliche Traktor des Beklagten samt dem angebauten Kreiselmäher<br />

als Motorfahrzeug im Sinne von Art. 58 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 SVG anzusehen ist<br />

und daher an sich der Haftungsordnung dieses Gesetzes untersteht. Der Traktor ist insbesondere<br />

nicht den landwirtschaftlichen Arbeitsmaschinen zuzurechnen, die nicht für den Verkehr auf öffentlichen<br />

Strassen bestimmt sind und von der gesetzlichen Haftungsordnung nur erfasst werden, wenn<br />

sie auf einer solchen Strasse erscheinen. Die Kausalhaftung des Halters wird vorliegend auch nicht<br />

dadurch ausgeschlossen, dass das Fahrzeug auf einer Wiese, d.h. ausserhalb des öffentlichen Verkehrs<br />

eingesetzt worden ist (OFTINGER, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 3. Aufl. Bd. <strong>II</strong>/2 S. 464 und<br />

467/68). Unbestritten ist ferner, dass Art. 58 Abs. 2 SVG zum vornherein ausscheidet, da es nicht um<br />

die Folgen eines Verkehrsunfalls im Sinne dieser Bestimmung geht. Davon ist zu Recht auch das<br />

Obergericht ausgegangen.<br />

Streitig ist dagegen, ob ein Betriebsvorgang des Traktors als Ursache des Schadens anzusehen oder<br />

dieser bloss der besonderen Betriebsgefahr des Kreiselmähers zuzuschreiben und daher von der Kausalhaftung<br />

des Halters gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG auszunehmen sei. Nach Auffassung der Klägerin<br />

ergibt sich diese Haftung nicht nur aus der betriebstechnischen Einheit von Fahrzeug und Zubehör,<br />

sondern auch daraus, dass der Betrieb des Schneidegerätes unmittelbar von der Motorkraft und der<br />

Fortbewegung des Traktors abhing; das geschossartige Wegfliegen der Messer gehe daher ebenfalls<br />

auf den Gebrauch und die Funktionsweise der maschinellen Einrichtung zurück. Das Obergericht hingegen<br />

ist zusammen mit den Beklagten der Meinung, dass bloss eine dem Zusatzgerät eigene Gefahr<br />

sich ausgewirkt habe, die unbekümmert um die Fortbewegung des Traktors nicht mit dessen Betriebsgefahr<br />

verwechselt werden dürfe.<br />

b) Die Kausalhaftung des Halters gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG setzt voraus, dass der Schaden "durch<br />

den Betrieb eines Motorfahrzeuges" verursacht worden ist. Dieses aus Art. 37 MFG übernommene<br />

Erfordernis ist nicht im verkehrstechnischen Sinn zu verstehen; es heisst insbesondere nicht, dass ein<br />

auf öffentlicher Strasse verkehrendes Fahrzeug solange "in Betrieb" sei, als es sich auf einer solchen<br />

Strasse befindet. Auszugehen ist vielmehr vom maschinentechnischen Betriebsbegriff; das besondere<br />

Erfordernis der Kausalhaftung ist deshalb nur dann als erfüllt anzusehen, wenn das schädigende Ereignis<br />

in seiner Gesamtheit betrachtet als adäquate Folge der Gefahr erscheint, die durch den Ge-<br />

70


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

brauch der maschinellen Einrichtungen (Motor, Scheinwerfer usw.) des Fahrzeuges geschaffen wird<br />

(BGE 97 <strong>II</strong> 164 E. 3 mit Zitaten). Trifft dies zu, so kommt nichts darauf an, ob das Fahrzeug sich im<br />

Zeitpunkt des Unfalls in Bewegung befand oder stillstand und ob seine maschinellen Einrichtungen<br />

ordnungsgemäss funktionierten oder nicht. Das eine wie das andere erhellt insbesondere aus den<br />

Sachverhalten, dieBGE 113 <strong>II</strong> 325 ff. undBGE 110 <strong>II</strong> 423 ff. zugrunde lagen (vgl. zu letzterem auch JdT<br />

1985 I S. 411/12). Zu verneinen ist das besondere Erfordernis dagegen, wenn sich bloss anlässlich des<br />

Betriebes eines Motorfahrzeuges ein Unfall ereignet, dieser also schon in tatsächlicher Hinsicht nicht<br />

einem Betriebsvorgang des Fahrzeuges zuzuschreiben ist (BGE 107 <strong>II</strong> 271 unten und 275 E. 2c).<br />

Abgrenzungsschwierigkeiten können sich ergeben, wenn Motorfahrzeuge insbesondere ausserhalb<br />

öffentlicher Strassen als Arbeitsmaschinen eingesetzt werden, ihre motorische Kraft auch für die<br />

Arbeitsleistung verwendet wird und ein Unfall mit einer solchen Leistung zusammenhängt. InBGE 106<br />

<strong>II</strong> 75 ff. ging es um die Beschädigung eines Stromleitungskabels, das der Angestellte eines Landwirts<br />

gerissen hatte, als er mit einem Tieflockerungsgerät, das an einem Traktor befestigt war, den Boden<br />

einer Landparzelle bearbeitete. Das Bundesgericht unterstellte den Schaden, von dem es die Folgen<br />

des Stromausfalls ausnahm, ohne nähere Begründung der Haftungsordnung des Art. 58 Abs. 1 SVG.<br />

Das Kantonsgericht St. Gallen entschied am 11. März 1965, dass Motorfahrzeuge, die gleichzeitig als<br />

Baumaschinen verwendbar sind, sich nicht im Sinne dieser Bestimmung "im Betrieb" befinden, solange<br />

ihre motorische Kraft nicht zur Fortbewegung, sondern ausschliesslich zur Arbeitsleistung gebraucht<br />

wird (SJZ 65/1969 S. 12).<br />

Die Meinungen im schweizerischen Schrifttum sind geteilt. Einen weiten Betriebsbegriff befürwortet<br />

namentlich KELLER (Haftpflicht im Privatrecht, 3. Aufl. S. 229 f.), der alle Schäden aus dem Betrieb<br />

einer selbstfahrenden Arbeitsmaschine, selbst wenn sie stehenden Arbeitsvorgängen entspringen,<br />

der Kausalhaftung des SVG unterstellen möchte. Gleicher Auffassung ist offenbar BUSSY, der ebenfalls<br />

für einen weiten Betriebsbegriff eintritt und dabei vor allem auf das Kriterium der Fortbewegung<br />

abstellt (SJK Nr. 909 S. 9 Ziff. 3 und S. 10 Ziff. 5). Auch BUSSY/RUSCONI (N. 4.1 zu Art. 58 SVG) und<br />

GREC (La situation juridique du détenteur de véhicule automobile en cas de collision de responsabilités,<br />

S. 39) halten das Merkmal der Fortbewegung für wesentlich, verneinen die Kausalhaftung aber<br />

für Schäden aus Betriebsvorgängen des stehenden Fahrzeuges. Nach OFTINGER (S. 463/64) und<br />

DESCHENAUX/TERCIER (La responsabilité civile, 2. Aufl. S. 146 Rz. 36) sind gewerbliche Arbeitsmaschinen,<br />

die nicht ortsgebunden sind, grundsätzlich wie Motorfahrzeuge zu behandeln, wobei OF-<br />

TINGER, von einem eher verkehrstechnischen Betriebsbegriff ausgehend, reine Arbeitsvorgänge ausserhalb<br />

öffentlicher Strassen aber von der Gefährdungshaftung auszunehmen scheint (S. 468). Nach<br />

STREBEL sodann sind Motorfahrzeuge, deren Triebkraft auch zum Verrichten von Arbeiten eingesetzt<br />

werden kann, nicht in Betrieb, solange sie zu diesem Zweck gebraucht werden (N. 13 zu Art. 37<br />

MFG). SCHAER (in Schweiz. Versicherungskurier 33/1979 S. 3) schliesslich möchte die Kausalhaftung<br />

offenbar allgemein verneinen, wenn das Fortbewegungsrisiko sich nicht ausgewirkt hat.<br />

c) Nach der Rechtsprechung in Deutschland, wo der maschinentechnische Betriebsbegriff wie in Österreich<br />

durch eine verkehrstechnische Betrachtungsweise ergänzt wird (STARK, in SJZ 55/1959 S.<br />

338 ff.), ist die Kausalhaftung nach dem Beförderungszweck der Betriebseinrichtung einzugrenzen.<br />

Massgebend ist, ob der durch den Betrieb des Motorfahrzeugs verursachte Schaden, für den Ersatz<br />

verlangt wird, vom Schutzbereich der Norm erfasst wird. Das lässt sich nach der Rechtsprechung<br />

nicht sagen, wenn das Fahrzeug als Arbeitsmaschine eingesetzt wird, bei der Schadensverursachung<br />

folglich diese Funktion im Vordergrund steht und ein Zusammenhang mit der Bestimmung des Fahrzeugs<br />

als Beförderungsmittel nicht mehr zu ersehen ist. Für Gefahren, die nicht mit der Eigenschaft<br />

des Motorfahrzeugs als Verkehrsmittel zusammenhängen, sich insbesondere nicht aus seiner Fortbewegung<br />

mittels Motorkraft oder aus seiner Teilnahme am Verkehr ergeben, wird deshalb die verkehrsrechtliche<br />

Kausalhaftung als sachlich nicht mehr gerechtfertigt verneint.<br />

Von dieser Haftung ausgenommen werden z.B. Schäden, die entstehen, wenn ein Silo (VersR 1975 S.<br />

945 f.) oder ein Heizöltank mit Hilfe des Fahrzeugmotors gefüllt (BGHZ 71 Nr. 31), ein Tanklastwagen<br />

damit entladen (BGHZ 75 Nr. 7), ein Entladeschlauch, der die Strasse quert, von einem Verkehrsteilnehmer<br />

übersehen wird (WUSSOW, Unfallhaftpflichtrecht, 13. Aufl. Rz. 691) oder ein Drachenflieger,<br />

der von einem Motorfahrzeug ausserhalb der Verkehrsfläche gezogen wird, abstürzt (VersR 1981 S.<br />

989). Diese Rechtsprechung beruht auf der Überlegung, dass von adäquater Verursachung keine<br />

71


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Rede sein kann, ein Schaden sich folglich nicht mehr dem Betrieb des Motorfahrzeugs zuordnen lässt,<br />

wenn sich weder dessen Fahrweise noch dessen Fahrbetrieb samt der ihm eigenen Gefahren auf ein<br />

Unfallgeschehen ausgewirkt hat (VersR 1982 S. 1200 f.). Diese Auffassung scheint nun auch in der<br />

deutschen Lehre vorzuherrschen (GREGER, N. 26 ff. zu § 7 StVG; BECKER/BÖHME, Kraftverkehrs-<br />

Haftpflicht-Schäden, 16. Aufl. S. 8 f. Rz. 14; WUSSOW, Rz. 691).<br />

d) Für die Auslegung des Art. 58 Abs. 1 SVG ist entscheidend, dass der Gesetzgeber den von der<br />

Rechtsprechung entwickelten maschinentechnischen Betriebsbegriff, wie aus den Revisionsarbeiten<br />

zum SVG erhellt, beibehalten hat. Das Bundesgericht hat die an diesem Begriff geübte Kritik, dass er<br />

zu eng sei, anhand der Gesetzesmaterialien denn auch abgelehnt (BGE 97 <strong>II</strong> 165 E. 3b mit Zitaten).<br />

Neu ist dagegen, dass die Kausalhaftung des Motorfahrzeughalters in Art. 58 Abs. 2 SVG durch eine<br />

selbständige Regel ergänzt worden ist, die über die Haftung für Betriebsgefahren des Fahrzeuges<br />

hinausgeht (BGE 107 <strong>II</strong> 272). An die Wertungen, die sich aus dieser Regelung der Haftung ergeben,<br />

hat der Richter sich auch bei deren Abgrenzung zu halten (BGE 112 <strong>II</strong> 170 E. 2b mit Hinweisen); es<br />

geht insbesondere nicht an, den maschinentechnischen Betriebsbegriff auf dem Umweg über Art. 58<br />

Abs. 2 SVG weiter als bisher auszulegen.<br />

Dieser Begriff besagt freilich weder, dass jedes Auftreten eines Motorfahrzeuges im Verkehr zu dessen<br />

Betrieb gehört, noch dass jeder Betriebsvorgang in einem Schadenfall genügt, die Kausalhaftung<br />

zu begründen. Die Abgrenzung ergibt sich aus der rechtspolitischen Grundlage des Gesetzes, das die<br />

Rechtsfolge der Schädigung wegen der Risiken des Fahrzeugbetriebes als Gefährdungshaftung kennzeichnet.<br />

Entscheidend ist die vom Gesetz als gefährlich vorausgesetzte Eigenart des Motorfahrzeugs,<br />

das latente Schädigungspotential, das im Fahrzeug zu erblicken ist, wenn dieses sich mit selbständig<br />

entwickelten und umgesetzten Kräften fortbewegt. Die Anwendung des Art. 58 Abs. 1 SVG<br />

rechtfertigt sich daher nur, wo einem technischen Vorgang des Fahrzeugs diese ihm eigene Betriebsgefahr<br />

anhaftet. Das trifft zu, wenn ein Unfall schlechthin auf die motorische Fortbewegung des<br />

Fahrzeugs oder mindestens auf Gefahren zurückgeht, die sich aus dem Zusammentreffen der verwendeten<br />

Kräfte mit der Fortbewegung ergeben (OFTINGER, S. 532 ff. und 540).<br />

Daran ändert nichts, dass das Gesetz auch Arbeitsmaschinen der Kausalhaftung unterstellt. Es erfasst<br />

von vornherein nur Maschinen, die sich selbständig fortbewegen können, und auch sie nur wegen<br />

dieser Möglichkeit (Art. 7 Abs. 1 SVG, Art. 3 Abs. 4 und 5 BAV; SR 741.41). Reine Arbeitsvorgänge bei<br />

stillstehendem Fahrzeug sind daher selbst dann, wenn dazu die der Fortbewegung dienenden Kräfte<br />

eingesetzt werden, von der Gefährdungshaftung des SVG auszunehmen. Das muss auch gelten, wenn<br />

die Arbeitsmaschine sich zwar fortbewegt, der Schaden aber ausschliesslich auf den Arbeitsvorgang<br />

zurückzuführen ist, folglich nicht mehr als adäquate Folge der spezifischen Betriebsgefahr erscheint,<br />

auf der diese Haftung beruht. Ist ein Unfallgeschehen aber weder der besondern Betriebsgefahr des<br />

Fahrzeugs noch deren Folgewirkungen zuzuschreiben, so bleibt für die Annahme einer Gefährdungshaftung<br />

nach SVG kein Raum mehr, zumal wenn der Arbeitsvorgang sich ausserhalb des Verkehrsgeschehens<br />

abspielt, das von diesem Gesetz erfasst wird.<br />

e) Im vorliegenden Fall wurde der Schaden der Klägerin durch ein weggeschleudertes Messer des<br />

Zusatzgerätes verursacht. Die mässige Geschwindigkeit des Traktors, dessen Fahrweise dem Arbeitsvorgang<br />

angepasst werden musste, wirkte sich weder auf die Entstehung noch auf die Grösse des<br />

Schadens aus; den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ist dafür denn auch nichts zu entnehmen.<br />

Das Obergericht hält vielmehr für erwiesen, dass das streitige Messer sich wegen Materialabnützung<br />

aus der Halterung gelöst hat und fortgeschleudert worden ist. Daraus erhellt, dass der Schaden<br />

der Klägerin nach den hiervor umschriebenen Grundsätzen nicht einer spezifischen Betriebsgefahr<br />

des Motorfahrzeugs, sondern ausschliesslich einem blossen Arbeitsvorgang zuzuschreiben ist.<br />

Damit ist einer Haftung der Beklagten nach Art. 58 Abs. 1 SVG der Boden entzogen.<br />

72


KAUSALHAFTUNGEN<br />

BGE 110 <strong>II</strong> 456<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

87. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. Oktober 1984 i.S. F. gegen H. AG (Berufung)<br />

Regeste<br />

Art. 55 <strong>OR</strong>. Haftung des Geschäftsherrn für Schäden aus Produktemängeln.<br />

1. An den Befreiungsbeweis des Geschäftsherrn sind auch dann erhöhte Anforderungen zu stellen,<br />

wenn die Arbeit der Hilfspersonen als solche nicht gefährlich ist, Fehler bei der Herstellung des Produktes<br />

aber zu einer Gefahr für Personen, die es bestimmungsgemäss verwenden, führen können (E.<br />

2b).<br />

2. Die vom Geschäftsherrn gemäss Art. 55 Abs. 1 <strong>OR</strong> verlangte Sorgfalt beschränkt sich nicht auf richtige<br />

Auswahl, Überwachung und Instruktion der Hilfspersonen, sondern der Geschäftsherr hat darüber<br />

hinaus für eine zweckmässige Arbeitsorganisation und nötigenfalls für die Endkontrolle seiner<br />

Erzeugnisse zu sorgen, wenn damit eine Schädigung Dritter verhindert werden kann (E. 3a).<br />

3. Ist eine Endkontrolle der Produkte nicht möglich oder unzumutbar, muss der Geschäftsherr eine<br />

Konstruktionsart wählen, die Fabrikationsfehler und die sich daraus ergebende Schädigungsgefahr<br />

mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschliesst (E. 3b).<br />

Christian F., Arbeitnehmer der Baufirma Gebrüder F. & B., erlitt am 14. Oktober 1980 bei Bauarbeiten<br />

an der Allmendstrasse in Reutigen einen Unfall. F. war zusammen mit anderen Arbeitern damit beschäftigt,<br />

einen 690 kg schweren, exzentrischen Schachtrahmen aus armiertem Beton mit Hilfe eines<br />

Baggers hochzuheben und auf dem Schacht anzubringen. Dabei riss eine der beiden etwa in der<br />

Schwerelinie des Rahmens einbetonierten Aufhängeschlaufen aus, worauf der Rahmen herabfiel und<br />

den rechten Fuss von F. zerquetschte.<br />

Nach dem Unfall befand sich F. während rund drei Monaten im Spital und war bis 25. Oktober 1981<br />

arbeitsunfähig. Die Unfallverletzungen führten zu einer schweren Deformation des rechten Fusses. F.<br />

muss einen speziellen orthopädischen Schuh tragen und ist gehbehindert. Er arbeitet heute wieder<br />

bei der gleichen Bauunternehmung als Maschinist, ist aber für manuelle Arbeiten wie zum Beispiel<br />

Schaufeln und Pickeln nicht mehr voll einsatzfähig. Die SUVA setzte am 13. Juni 1983 die Erwerbsunfähigkeit<br />

von F. auf 30% fest und sprach ihm eine monatliche Invalidenrente von Fr. 606.-- zu. Für die<br />

unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit zahlte die SUVA ein Krankengeld von 80% des ausgefallenen Lohnes<br />

aus.<br />

Im Februar 1983 erhob F. beim Appellationshof des Kantons Bern Klage gegen die H. AG, welche den<br />

Schachtrahmen hergestellt hatte. Er verlangte Schadenersatz von rund Fr. 69'000.-- und eine Genugtuung<br />

von Fr. 15'000.--. Zur Begründung der Klage machte er geltend, die Beklagte hafte aufgrund<br />

von Art. 55 <strong>OR</strong>, weil die Aufhängeschlaufe wegen eines Fehlers bei der Herstellung des Schachtrahmens<br />

ausgerissen sei.<br />

Der Appellationshof wies die Klage am 31. August 1983 mit der Begründung ab, die Beklagte habe<br />

beweisen können, dass sie alle erforderlichen und zumutbaren Massnahmen getroffen habe, um das<br />

Ausreissen der Aufhängeschlaufe zu verhindern.<br />

Der Kläger hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, die gutgeheissen wird.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

1. Die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz sind, soweit sie im folgenden wiedergegeben werden,<br />

von keiner Partei bestritten. Danach stellt die Beklagte verschiedene Arten von Schachtrahmen<br />

seit mehr als zwanzig Jahren in Stückzahlen von heute jährlich insgesamt 200 bis 250 her. Für den<br />

73


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Herstellungsvorgang bestehen keine schriftlichen Anweisungen. Fabriziert werden die Rahmen von<br />

zwei langjährigen und bewährten Arbeitern. Beide gelten als zuverlässig und werden nicht speziell<br />

überwacht. Das Vorgehen bei der Rahmenherstellung ist einfach. Zunächst wird in die entsprechende<br />

Form eine erste Schicht Beton eingefüllt und eine Lage Armierungseisen eingelegt. Dann werden die<br />

vorfabrizierten Aufhängeschlaufen eingesetzt, die aus acht Millimeter dickem Armierungsstahl von<br />

ca. 45 cm Länge bestehen. Die Schlaufen weisen die Form einer unten offenen Acht auf; der obere<br />

runde Teil dient als Öse, die mit den zwei unteren Enden im Beton verankert wird. Nach dem Einsetzen<br />

der Schlaufen wird eine weitere Schicht Beton eingeschaufelt, die zweite Lage Armierung eingelegt<br />

und nochmals Beton eingefüllt, der jedesmal gestampft oder vibriert wird. Dann wird mit einer<br />

Schablone eine runde Vertiefung in den Rahmen gepresst, welche für das Einsetzen des eisernen<br />

Gussdeckels bestimmt ist. Schliesslich wird der Rahmen nach Erhärtung des Betons, d.h. nach ein bis<br />

zwei Tagen, mit einem Hubstapler ins Freie gebracht und auf dem Fabrikgrundstück gelagert.<br />

Seit 1979 oder 1980 wird der unterste Teil der Schlaufenenden in Form von Widerhaken nach oben<br />

gebogen. Zudem werden heute bei exzentrischen Schachtrahmen anstelle von zwei Aufhängeschlaufen<br />

deren drei eingesetzt. Der Rahmen, welchen die Beklagte der Firma Gebrüder F. & B. am 1. September<br />

1980 geliefert hatte, war mit zwei Schlaufen ohne Widerhaken versehen. Wann genau und<br />

von welchem Arbeiter er hergestellt wurde, ist nicht bekannt.<br />

Dieser Rahmen war rund ein Monat vor dem Unfall von Arbeitern der Firma Gebrüder F. & B. an der<br />

Allmendstrasse auf das Schachtrohr aufgesetzt worden. Auch damals hatte ein Bagger den Rahmen<br />

an einem durch die Schlaufen gezogenen Seil hochgehoben und auf dem Schachtrohr abgesetzt. Am<br />

Tag des Unfalls wurde der Rahmen wieder abgenommen, weil das Schachtrohr verkürzt werden sollte.<br />

Für das Durchziehen des Drahtseiles war es notwendig, die Schlaufen etwas hochzubiegen. Der<br />

Rahmen wurde dann neben dem Schachtrohr abgesetzt. Nach der Verkürzung des Rohres wurde der<br />

Rahmen vom Bagger hochgezogen und über dem Schacht in die richtige Lage gebracht. Dabei stand<br />

der Kläger neben dem Rahmen, um beim Richten zu helfen, und während des Absenkens ereignete<br />

sich der Unfall.<br />

Auch die Feststellungen des Appellationshofes über die Ursache des Ausreissens der Aufhängeschlaufe<br />

sind von beiden Parteien unbestritten. Die Vorinstanz stellte dazu auf ein Gutachten vom<br />

17. Mai 1982, die Aussagen des Gutachters und den Augenschein bei der Beklagten ab. Nach dem<br />

Gutachten lagen drei Fabrikationsfehler vor. Erstens war die ausgerissene Schlaufe um ca. 35o verdreht<br />

eingesetzt worden, wodurch ein Schlaufenende allein den Grossteil der Last tragen musste; das<br />

heisst der Winkel zwischen Betonoberfläche und Schlaufenenden betrug nicht wie normal etwa 55o,<br />

sondern für das eine Ende ca. 20o und für das andere ca. 90o. Zweitens waren die Schlaufenenden<br />

ungleich lang. Während das eine rund 15 cm mass, wies das andere, beinahe senkrecht im Beton<br />

eingesetzte, eine Länge von rund 11 cm auf. Drittens waren die Schlaufenenden nicht vollständig<br />

vom Beton umgeben, weil die Schlaufe nicht genügend einvibriert worden war. Diese Fehler waren<br />

von aussen nicht zu erkennen. Nach den Aussagen des Gutachters hätte das kürzere Schlaufenende<br />

auch allein die Last tragen können, wenn es vollständig von Beton umgeben gewesen wäre. Der Gutachter<br />

gab an, die Schlaufe müsse nach dem Einsetzen, während des Härtens des Betons verschoben<br />

und nachher der Beton nicht mehr vibriert oder gestampft worden sein. Beim Augenschein stellte<br />

der Appellationshof fest, dass eine Schlaufe in diesem Stadium des Herstellungsvorgangs durch ein<br />

blosses Anschlagen mit der Pflasterkelle verschoben werden kann. Der Gutachter hatte sich auch<br />

dazu geäussert, ob die Haftung zwischen Beton und Schlaufe durch das Niederdrücken und Wiederaufbiegen<br />

der Schlaufe habe geschwächt werden können. Er bezeichnete dies als möglich, aber nicht<br />

nachweisbar. Im angefochtenen Urteil wird ausgeführt, das Gutachten enthalte insofern einen Widerspruch,<br />

als an einer Stelle eine Schwächung der Haftbrücke zwischen Stahl und Beton grundsätzlich<br />

für möglich gehalten werde, an einer anderen Stelle aber festgehalten werde, das Um- und Wiederaufbiegen<br />

beanspruche nur den Stahl; nach den Aussagen des Gutachters bei der Befragung müsse<br />

die Schwächung jedoch für möglich gehalten werden. Im restlichen Teil des Urteils kommt der<br />

Appellationshof nicht mehr auf diese Bemerkung zurück; offenbar weil er die Frage für unerheblich<br />

hielt. Die Parteien äussern sich nicht dazu. Unter diesen Umständen muss davon ausgegangen werden,<br />

dass eine - nach Feststellung des Gutachters nicht nachweisbare - Schwächung der Haftung zwi-<br />

74


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

schen Beton und Schlaufe durch das Niederdrücken und Wiederaufbiegen als Ursache des Ausreissens<br />

ausser Betracht fällt.<br />

2. Gemäss Art. 55 Abs. 1 <strong>OR</strong> haftet der Geschäftsherr für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder<br />

andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verpflichtungen verursacht<br />

haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt zur Schadenverhütung<br />

angewendet hat, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten<br />

wäre. Der Appellationshof weist zutreffend darauf hin, dass es sich dabei um eine Kausalhaftung<br />

handelt, die kein Verschulden der Hilfsperson oder des Geschäftsherrn voraussetzt (BGE 97 <strong>II</strong> 223 mit<br />

Hinweisen).<br />

In bezug auf den Befreiungsbeweis hält die Vorinstanz fest, die vom Geschäftsherrn geforderte Sorgfalt<br />

werde im allgemeinen in die Trilogie cura in eligendo, instruendo vel custodiendo gegliedert;<br />

darüber hinaus könne sich der Geschäftsherr in der Regel nicht befreien, wenn er die Arbeit in seinem<br />

Betrieb unzweckmässig organisiert habe, ungeeignetes Material oder Werkzeug zur Verfügung<br />

gestellt, die Hilfsperson überanstrengt oder zu Arbeiten angehalten habe, denen sie nicht gewachsen<br />

sei oder die schlechthin gefährlich seien, ohne dass er gleichzeitig die im Interesse Dritter erforderlichen<br />

Schutzmassnahmen getroffen habe. An den Befreiungsbeweis seien strenge Anforderungen zu<br />

stellen, und die geforderte Sorgfalt sei um so grösser, je wichtiger oder gefährlicher die Arbeit der<br />

Hilfsperson sei. Vom Geschäftsherrn dürfe aber nicht Unzumutbares verlangt werden. Gegen diese<br />

Ausführungen, die mit Lehre und Rechtsprechung übereinstimmen, bringt der Kläger mit Recht nichts<br />

vor.<br />

a) Nach Auffassung des Appellationshofes kann der Beklagten bezüglich Auswahl der Arbeiter, denen<br />

die Herstellung der Schachtrahmen übertragen war, kein Vorwurf gemacht werden. Auch die Überwachung<br />

durch den Vorarbeiter, der Stichproben gemacht habe, sei nicht ungenügend gewesen. Die<br />

seit Jahren mit dem Arbeitsvorgang vertrauten Arbeiter hätten beste Gewähr dafür geboten, die<br />

einfache und alltägliche Verrichtung ordnungsgemäss auszuführen. Es sei weltfremd zu fordern, dass<br />

während des gesamten Herstellungsvorgangs stets jemand hinter den Arbeitern hätte stehen und sie<br />

überwachen müssen. Eine Verletzung der cura in instruendo liege ebenfalls nicht vor. Die Arbeiter<br />

hätten aufgrund ihrer langen Erfahrung den Produktionsvorgang bestens gekannt. Die einfache und<br />

ihnen geläufige Arbeit habe nicht erfordert, dass ihnen stets die Weisung erteilt werde, namentlich<br />

bei der Einbetonierung der Schlaufen besondere Vorsicht walten zu lassen, denn das sei für die Arbeiter<br />

selbstverständlich gewesen.<br />

b) Diesen Erwägungen kann insoweit ohne Bedenken beigestimmt werden, als sich die Beklagte auf<br />

ihre zuverlässigen, langjährigen Arbeiter verlassen durfte, ohne sie ständig zu ermahnen und zu<br />

überwachen. Es stellt sich aber die Frage, ob die Hilfspersonen ausreichend instruiert worden sind.<br />

Ursache für die ungenügende Haftung zwischen der ausgerissenen Schlaufe und dem Beton war nach<br />

der Aussage des Gutachters eine Unachtsamkeit bei der Herstellung: Die Schlaufe war während des<br />

Härtevorgangs versehentlich berührt und verschoben worden, und danach war der Beton nicht noch<br />

einmal gestampft oder vibriert worden. Es sind auch dann erhöhte Anforderungen an die Pflicht zur<br />

Erteilung von Anweisungen zu stellen, wenn die Arbeit der Hilfspersonen als solche nicht gefährlich<br />

ist, Fehler bei der Herstellung des Erzeugnisses aber zu einer Gefahr für Leib und Leben der Personen,<br />

die es bestimmungsgemäss verwenden, führen können (vgl. BGE 64 <strong>II</strong> 261/2). Dass das Ausreissen<br />

einer Aufhängeschlaufe während des Hochhebens des 690 kg schweren Schachtrahmens fatale<br />

Folgen haben konnte, musste der Beklagten bewusst sein. Es könnte deshalb mit guten Gründen die<br />

Auffassung vertreten werden, sie hätte ihre Arbeiter nachdrücklich darauf hinweisen müssen, dass<br />

auch ein geringfügiges Versehen beim Härtevorgang die Funktionstüchtigkeit der Schlaufen in Frage<br />

stelle. Mit der Vorinstanz ist aber davon auszugehen, dass unter den gegebenen Umständen der Fabrikationsfehler<br />

durch das Erteilen derartiger Anweisungen nicht hätte verhindert werden können.<br />

3. Der Kläger wirft dem Appellationshof vor, er habe unzureichend geprüft, ob die Beklagte hafte,<br />

weil sie die Schachtrahmen nach der Herstellung nicht habe kontrollieren lassen. Ein kurzes abruptes<br />

Hochheben und Absenken der Rahmen an ihren Schlaufen durch einen Gabelstapler hätte zur Prüfung<br />

der Festigkeit der Schlaufen genügt. Eng mit der Kontrollpflicht hänge die zweckmässige Organisation<br />

des Betriebes zusammen. Inhalt dieser "Organisationshaftung" sei sicher einmal der korrekte<br />

75


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Ablauf der Herstellungsphase. Weiter habe der Geschäftsherr aber schon organisatorisch eine Kontrolle<br />

der Produkte vorzusehen. Die cura in custodiendo umfasse die sorgfältige Ausführung der Kontrolle,<br />

das Gebot der zweckmässigen Organisation jedoch das Vorsehen einer Kontrolle.<br />

Nach Ansicht des Appellationshofes hätte der Fabrikationsfehler durch eine Kontrolle der Schlaufen<br />

nicht entdeckt werden können. Die Vorinstanz leitet diese Annahme aus dem Umstand ab, dass die<br />

Schlaufen mindestens zweimal gehalten hatten. Der mangelhafte Schachtrahmen müsse als sogenannter<br />

Ausreisser betrachtet werden, dessen Fehler durch zumutbare Kontrolle nicht feststellbar<br />

gewesen sei. Im übrigen könne auch nicht behauptet werden, der Betrieb der Beklagten sei unzweckmässig<br />

organisiert gewesen.<br />

a) In BGE 90 <strong>II</strong> 90 wurde festgehalten, der Geschäftsherr habe zur Haftungsbefreiung insbesondere<br />

nachzuweisen, dass er seinen Betrieb zweckmässig organisiert habe. Für die Beurteilung jenes Falles<br />

war diese Frage aber ohne Bedeutung. In einem früheren Entscheid zu Art. 62 alt <strong>OR</strong> wurde der Direktion<br />

eines Betriebes ein Verschulden vorgeworfen, weil sie die Arbeit der Hilfspersonen mangelhaft<br />

organisiert hatte. Der Mangel wurde darin gesehen, dass keine Personen bezeichnet worden<br />

waren, welche regelmässig eine bestimmte Arbeit auszuführen hatten und daher damit vertraut waren,<br />

sondern dass die Arbeiter vielfach wechselten und einige von ihnen dazu berufen wurden, die<br />

mit der Sache nur ganz ausnahmsweise zu tun hatten (BGE 31 <strong>II</strong> 701). Unter dem Begriff des Organisationsmangels<br />

wurde somit das Fehlen von Anweisungen darüber verstanden, wer die Arbeit regelmässig<br />

auszuführen habe. In der Literatur zur Produzentenhaftung, auf welche sich die Einwände<br />

des Klägers abstützen, wird dagegen der Begriff der Organisation wesentlich weiter gefasst. Diese<br />

Autoren gehen davon aus, die Arbeitsabläufe bei der industriellen Massenproduktion seien derart<br />

kompliziert und für einen Aussenstehenden unübersichtlich, dass der Beitrag des einzelnen Arbeiters<br />

unter dem Aspekt der Haftung des Herstellers für Schäden aus mangelhaften Erzeugnissen in den<br />

Hintergrund trete. Wichtiger als die Frage, ob der Geschäftsherr den Fehler des einzelnen Arbeiters<br />

hätte verhindern können, sei deshalb, ob er den Betrieb so organisiert habe, dass keine fehlerhaften<br />

Produkte das Unternehmen verlassen. Folgerichtig wird daher verlangt, eine zweckmässige Organisation<br />

habe auch die Kontrolle der fertigen Produkte zu umfassen (BARBARA MERZ, Analyse der Haftpflichtsituation<br />

bei Schädigung durch Medikamente, Diss. ZH 1980, S. 27 ff.; HANS NATER, Die Haftpflicht<br />

des Geschäftsherrn gemäss <strong>OR</strong> 55 angesichts der wirtschaftlich-technischen Entwicklung, Diss.<br />

ZH 1970, S. 62 ff.; FRANZ BURKI, Produktehaftpflicht nach schweizerischem und deutschem Recht,<br />

Diss. BE 1976, S. 145 ff.).<br />

Diese Überlegungen können nicht ohne weiteres auf den vorliegenden Sachverhalt übertragen werden.<br />

Sie sind auf Produktionsverhältnisse zugeschnitten, wie sie in Grossbetrieben mit weitgehend<br />

automatisierten Arbeitsabläufen gegeben sein mögen. Zudem wird von den erwähnten Autoren, die<br />

de lege ferenda eine strenge Produzentenhaftung postulieren, im allgemeinen zu wenig beachtet,<br />

dass die Anforderungen an den Befreiungsbeweis des Geschäftsherrn gemäss Art. 55 Abs. 1 <strong>OR</strong> nach<br />

den tatsächlich gegebenen Umständen bestimmt werden müssen; es geht daher nicht an, die vom<br />

Geschäftsherrn im Einzelfall geforderte Sorgfalt an Massstäben zu messen, die auf allgemeinen Annahmen<br />

über die Arbeitsabläufe bei der Herstellung von Massenprodukten beruhen. Aus dem gleichen<br />

Grunde darf die Tatsache, dass nachträglich - das heisst aufgrund der Kenntnis über die Ursache<br />

des Produktemangels - im allgemeinen leicht festzustellen ist, durch welche Massnahme der Fehler<br />

hätte entdeckt und der Schaden verhindert werden können, nicht dazu verleiten, von vornherein<br />

unerfüllbare Anforderungen an den Befreiungsbeweis zu stellen (vgl. EMIL W. STARK, Einige Gedanken<br />

zur Produktehaftpflicht, in Festgabe für Karl Oftinger, S. 292 f.). Auf die erwähnten Lehrmeinungen<br />

kann dagegen auch im vorliegenden Fall insoweit abgestellt werden, als sie mit Recht unterstreichen,<br />

dass sich die vom Geschäftsherrn gemäss Art. 55 Abs. 1 <strong>OR</strong> verlangte Sorgfalt nicht auf richtige<br />

Auswahl, Überwachung und Instruktion der Hilfspersonen beschränkt, sondern der Geschäftsherr<br />

darüber hinaus für eine zweckmässige Arbeitsorganisation und nötigenfalls für die Endkontrolle der<br />

Produkte zu sorgen hat, wenn damit eine Schädigung Dritter verhindert werden kann. Der Appellationshof<br />

hat dem zu wenig Beachtung geschenkt und zudem nicht berücksichtigt, dass der allgemeine<br />

Grundsatz des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s, wonach die Schaffung oder Unterhaltung gefährlicher Zustände zum<br />

Ergreifen von Schutzmassnahmen verpflichtet, auch für die Geschäftsherrenhaftung wegleitend sein<br />

muss (OFTINGER, Schweiz. <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Bd. <strong>II</strong>/1, 3. Auflage, S. 154/5).<br />

76


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

b) Wie bereits festgehalten, musste der Beklagten bewusst sein, dass Herstellungsfehler, die sich auf<br />

die Festigkeit der Aufhängeschlaufen auswirkten, zu einer Gefahr bei der Handhabung der Schachtrahmen<br />

führen konnten. Die Arbeiter, die sich vor allem beim Ausrichten des Rahmens auf dem<br />

Schachtrohr im direkten Gefahrenbereich des Rahmens befinden, müssen darauf vertrauen können,<br />

dass die Aufhängeschlaufen unter allen Umständen der Belastung standhalten. Die Beklagte war<br />

deshalb verpflichtet, alle nötigen und zumutbaren Massnahmen zu ergreifen, um Herstellungsfehler<br />

zu verhindern, oder zu verunmöglichen, dass mangelhafte Erzeugnisse verkauft wurden. Wird mit der<br />

Vorinstanz angenommen, ein Fabrikationsfehler, wie er im vorliegenden Fall unterlief, hätte selbst<br />

mit einer anderen Organisation des Herstellungsvorgangs nicht vermieden werden können, so drängte<br />

sich die Vornahme einer Endkontrolle auf.<br />

Die Beklagte bestreitet nicht, dass sie die Festigkeit der Aufhängeschlaufen nicht prüft. Sie bringt<br />

indes vor, die Schachtrahmen würden nach der Fertigung aus der Fabrikhalle auf den Lagerplatz<br />

transportiert, indem sie an den Schlaufen angehoben und weggeführt würden. Dieser bewährte innerbetriebliche<br />

Vorgang komme einer Testanordnung nahe. Der Kläger weist demgegenüber mit<br />

Recht darauf hin, dass bei einer eigentlichen Kontrolle zu prüfen wäre, ob die Schlaufen einer höheren<br />

als der normalen Belastung standhalten. Aus diesem Grund überzeugt auch das Argument des<br />

Appellationshofes nicht, dass eine Kontrolle nichts gebracht hätte, weil die mangelhafte Schlaufe vor<br />

dem Unfall mindestens zweimal gehalten habe; denn das besagt nichts darüber, ob der Mangel auch<br />

bei höherer Belastung nicht entdeckt worden wäre. Unklar ist aber, wie eine zweckmässige, vom<br />

Aufwand her zumutbare und technisch realisierbare Endprüfung zu gestalten wäre. Der Vorschlag<br />

des Klägers scheint zwar tauglich zu sein, es fragt sich aber, ob die Kontrolle auf diese Weise durchgeführt<br />

werden könnte, ohne dass gerade durch die Prüfung die Verankerung der Schlaufe im Beton -<br />

von aussen nicht erkennbar - gelockert und damit erst die Gefahr eines späteren Unfalls geschaffen<br />

würde. Ob mit anderen Untersuchungsmethoden, wie etwa Durchleuchten, eine ungenügende Haftung<br />

der Schlaufen im Beton festgestellt werden könnte, ist bisher nicht geklärt worden.<br />

Die Frage, wie eine Nachkontrolle auszugestalten wäre, kann jedoch offen bleiben. Denn sollte es<br />

keine tauglichen und zumutbaren Möglichkeiten einer derartigen Prüfung gegeben haben, so durfte<br />

die Beklagte nicht darauf verzichten, ohne durch eine sicherere Konstruktion die Gefahr, dass eine<br />

Schlaufe ausreisst, auf ein Minimum zu reduzieren. Mit anderen Worten hätte also die Beklagte die<br />

Konstruktion der Schachtrahmen so verändern müssen, dass ein Ausreissen der Schlaufen auch dann<br />

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschliessen war, wenn deren Festigkeit nicht<br />

geprüft wurde oder geprüft werden konnte. Dass eine sicherere Konstruktion ohne grossen Mehraufwand<br />

möglich ist, beweisen die Änderungen, welche die Beklagte seit 1979 oder 1980 bezüglich<br />

der Aufhängeschlaufen vorgenommen hat. Sie versieht seither die Schlaufen mit Widerhaken und<br />

setzt bei exzentrischen Rahmen statt zwei deren drei ein. Die Widerhaken vermindern die Gefahr,<br />

dass die Schlaufen bei ungenügendem Einvibrieren ausreissen, und die dritte Schlaufe bietet mehr<br />

Sicherheit für den Fall, dass eine der Schlaufen der Belastung nicht standhält.<br />

c) Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die Beklagte im Hinblick auf die Funktion der<br />

Schlaufen, ein Einsetzen der Schachtrahmen ohne Schädigung der beteiligten Arbeiter zu ermöglichen,<br />

verpflichtet war, entweder durch eine Nachkontrolle allfällige Fehler bei der Produktion aufzuspüren,<br />

oder, wenn sie eine solche Kontrolle nicht vornehmen wollte oder konnte, eine sicherere<br />

Konstruktion zu wählen. Ihre Haftung ist demnach aufgrund von Art. 55 Abs. 1 <strong>OR</strong> zu bejahen. Damit<br />

braucht die vom Appellationshof verneinte Frage, ob die Klage auch auf Art. 41 <strong>OR</strong> gestützt werden<br />

könnte, nicht entschieden zu werden.<br />

77


BGE 131 <strong>II</strong>I 115<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

15. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. X. gegen L. (Berufung)<br />

4C.268/2004 vom 4. Oktober 2004<br />

Regeste<br />

Art. 56 Abs. 1 <strong>OR</strong>; Tierhalterhaftung.<br />

Haftungsvoraussetzungen und Befreiungsbeweis des Tierhalters; Anforderungen an die Umzäunung<br />

einer Pferdeweide (E. 2 und 3).<br />

Der damals fünfjährige L. verbrachte den Nachmittag des 11. November 2000 bei einem jüngeren<br />

Spielgefährten in einem benachbarten Wohnhaus. Kurz vor 16.00 Uhr wies ihn seine Mutter telefonisch<br />

an, nach Hause zu kommen. L. machte sich ohne Begleitung einer erwachsenen Person auf den<br />

knapp 200 Meter langen Heimweg von der S.-strasse 30 zur S.-strasse 3 in Einsiedeln. Sein Weg führte<br />

an einer talseitig über eine Länge von 50 Metern an die S.-strasse<br />

grenzenden Wiese vorbei, auf welcher die X. gehörenden Pferde weideten. L. begab sich auf die Wiese<br />

zu den wenige Meter von der Strasse entfernten Tieren, wo ihn ein ausschlagendes Pferd am Kopf<br />

traf und schwer verletzte. Durch ein Hirntrauma mit Trümmerfraktur erlitt er teilweise irreversible<br />

Schäden.<br />

Im Unfallzeitpunkt war die Weide eingegrenzt durch einen Elektrozaun, bestehend aus einem dünnen,<br />

elektrisch geladenen Plastikband, das im fraglichen Bereich durchschnittlich 124 cm über dem<br />

Boden befestigt war. Der 110 cm grosse L. konnte von der Strasse her aufrecht unter dem Zaun hindurchgehen.<br />

Am 25. Februar 2002 klagten die Eltern von L. als gesetzliche Vertreter in dessen Namen vor dem<br />

Bezirksgericht Einsiedeln gegen X. als Tierhalter auf Zahlung von Fr. 148'492.- nebst 5 % Zins seit dem<br />

1. Juni 2001, wobei sie sich das Nachklagerecht vorbehielten. Der Beklagte bestritt seine Haftung und<br />

verkündete den Eltern des Klägers im Hinblick auf allfällige spätere Regressansprüche den Streit. Mit<br />

Vorurteil vom 17. März 2003 erklärte das Bezirksgericht den Beklagten nach Art. 56 <strong>OR</strong> für haftbar<br />

und grundsätzlich ersatzpflichtig für den durch den Unfall vom 11. November 2000 entstandenen<br />

Schaden. Auf Berufung des Beklagten bestätigte das Kantonsgericht Schwyz das erstinstanzliche Urteil<br />

am 1. Juni 2004 im Sinne der Erwägungen.<br />

Der Beklagte hat das Urteil des Kantonsgerichts vom 1. Juni 2004 mit eidgenössischer Berufung angefochten.<br />

Das Bundesgericht weist die Berufung ab.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

2.<br />

2.1 Nach Art. 56 Abs. 1 <strong>OR</strong> haftet für den von einem Tier angerichteten Schaden, wer dasselbe hält.<br />

Der Halter wird jedoch von der Haftung befreit, wenn er nachweist, dass er alle nach den Umständen<br />

gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung des Tieres angewendet hat oder der Schaden<br />

auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre. Die Haftung setzt die Verletzung einer<br />

objektiven Sorgfaltspflicht voraus (WERRO, Commentaire Romand, N. 1 zu Art. 56 <strong>OR</strong>; OFTIN-<br />

GER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Allgemeiner Teil, Bd. <strong>II</strong>/1, 4. Aufl., § 17, Rz. 6 ff.; WID-<br />

MER in: Münch/Geiser (Hrsg.), Schaden - Haftung - Versicherung, Rz. 2.16 f.). Ob es sich bei der Tierhalterhaftung<br />

um eine gewöhnliche Kausalhaftung mit Befreiungsmöglichkeit oder um eine Verschuldenshaftung<br />

mit umgekehrter Beweislast handelt, hat lediglich dogmatische, aber kaum praktische<br />

Bedeutung (vgl. zum Meinungsstreit REY, Ausservertragliches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 3. Aufl., Rz. 979<br />

mit Hinweisen), denn so oder anders sind an den Entlastungsbeweis strenge Anforderungen zu stellen.<br />

Der Tierhalter kann sich nicht darauf berufen, das allgemein Übliche an Sorgfalt aufgewendet zu<br />

haben. Vielmehr hat er nachzuweisen, dass er sämtliche objektiv notwendigen und durch die Um-<br />

78


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

stände gebotenen Massnahmen getroffen hat. Bleiben über die entlastenden Tatsachen Zweifel bestehen,<br />

muss die Haftung des Halters bejaht werden (BGE 126 <strong>II</strong>I 14 E. 1b; BGE 110 <strong>II</strong> 136 E. 2a S. 139;<br />

BGE 102 <strong>II</strong> 232 E. 1 S. 235; BGE 85 <strong>II</strong> 243 E. 1 S. 245, mit Hinweisen; BREHM, Berner Kommentar, 2.<br />

Aufl., N. 51 ff. zu Art. 56 <strong>OR</strong>; SCHNYDER, Basler Kommentar, 3. Aufl., N. 15 zu Art. 56 <strong>OR</strong>; OFTIN-<br />

GER/STARK, a.a.O., § 21 Rz. 86; WERRO, a.a.O., N. 17 zu Art. 56 <strong>OR</strong>). Die konkreten Sorgfaltspflichten<br />

richten sich in erster Linie nach geltenden Sicherheits- und Unfallverhütungsvorschriften. Fehlen<br />

gesetzliche oder reglementarische Vorschriften und haben auch private Verbände keine allgemein<br />

anerkannten Vorschriften erlassen, ist zu prüfen, welche Sorgfalt nach der Gesamtheit der konkreten<br />

Umstände geboten ist (BGE 126 <strong>II</strong>I 14 E. 1b mit Hinweisen).<br />

2.2 Nach dem angefochtenen Urteil hat der Beklagte im kantonalen Verfahren weder seine Haltereigenschaft<br />

noch die Verursachung des Schadens durch eines seiner Tiere bestritten. Die Vorinstanz<br />

stellte zudem fest, die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) habe Empfehlungen<br />

für die Haltung von Pferden herausgegeben. Diese sähen für Pferdeweiden Umzäunungen mit<br />

einer Mindesthöhe von 150 cm sowie mit mehreren gut sichtbaren Bändern oder Holzlatten vor, die<br />

in einem vertikalen Abstand von je ca. 40 cm zu befestigen sind. Diesen Anforderungen habe die vom<br />

Beklagten angebrachte Einzäunung mit lediglich einem einzigen dünnen, elektrisch geladenen Plastikband<br />

auf einer Höhe von durchschnittlich 124 cm nicht entsprochen.<br />

2.3 Die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) wurde 1984 als selbständige<br />

Stiftung konzipiert. Basierend auf Art. 51 der Verordnung vom 19. Dezember 1983 über die Verhütung<br />

von Unfällen und Berufskrankheiten (Verordnung über die Unfallverhütung [VUV; SR 832.30])<br />

hat sie als Fachorganisation gemäss Vertrag mit der SUVA die Aufgabe übernommen, die Arbeitssicherheit<br />

auf landwirtschaftlichen Betrieben zu fördern.<br />

Diese Beratungsstelle ist für den Erlass einschlägiger Empfehlungen ohne Zweifel kompetent. Die<br />

erwähnte Empfehlung zeigt auf, wie ein Pferdeweiden eingrenzender Zaun beschaffen sein muss,<br />

damit die von weidenden Pferden ausgehende Gefährdung möglichst gering gehalten wird. Sie konkretisiert<br />

damit das Mass der Sorgfalt, dem ein Pferdehalter im Sinne von Art. 56 <strong>OR</strong> diesbezüglich zu<br />

genügen hat. Der vom Beklagten tatsächlich verwendete Elektrozaun wird diesen Anforderungen<br />

bereits von seiner äusserlichen Beschaffenheit her nicht gerecht. Davon abgesehen bot er aber unter<br />

den gegebenen Umständen auch nicht die gleiche Sicherheit, wie sie mit der von der Beratungsstelle<br />

empfohlenen Einzäunung bestanden hätte. Namentlich im Hinblick auf die Lage der Pferdeweide in<br />

unmittelbarer Nähe zu einer Strasse in einem Wohngebiet ist offensichtlich, dass der Elektrozaun des<br />

Beklagten im Vergleich zur von der Beratungsstelle empfohlenen Einzäunung mit einem höheren<br />

Risiko verbunden ist. Dass im Übrigen mit der empfohlenen Sicherung nicht zugewartet werden darf,<br />

bis ein Pferd Schaden stiftet, wie der Beklagte anzunehmen scheint, bedarf keiner weiteren Erörterung.<br />

Ebenso wenig vermöchte der gutmütige Charakter der weidenden Tiere, wie er vom Beklagten<br />

behauptet wird, einen geringeren Sicherheitsstandard bezüglich der Umzäunung zu rechtfertigen, da<br />

nichts darauf hinweist, dass sich die Empfehlungen der Beratungsstelle nur an die Halter von Pferden<br />

mit bösartigem Charakter richten. Der Beklagte zieht die Relevanz dieser Empfehlungen im Grundsatz<br />

denn auch nicht in Zweifel. Mit der insoweit unangefochtenen Feststellung der Vorinstanz darüber,<br />

dass der Beklagte die Empfehlungen missachtet hat, ist daher die Verletzung der Sorgfaltspflicht<br />

gemäss Art. 56 Abs. 1 <strong>OR</strong> erstellt.<br />

Der Beklagte hatte bereits im kantonalen Verfahren eingewendet, dass die Empfehlungen der Beratungsstelle<br />

ausschliesslich den Zweck hätten, das Ausbrechen der Pferde zu verhindern, dagegen<br />

nicht dazu bestimmt seien, Kinder vom Betreten der Pferdeweide abzuhalten. Diesen Einwand hat<br />

die Vorinstanz zu Recht verworfen. Zwar ist einzuräumen, dass der Hauptzweck der Umzäunung darin<br />

liegt, die Pferde am Verlassen der Weide zu hindern. Zugleich soll die Umzäunung einer Pferdeweide<br />

aber gegen Aussen signalisieren, dass es sich um ein diesen Tieren vorbehaltenes Gebiet handelt,<br />

dessen Betreten für den Menschen gefährlich sein kann. Dieser Doppelfunktion muss die Umzäunung<br />

einer Pferdeweide in besonderem Masse gerecht werden, wenn sie - wie im vorliegenden<br />

Fall - in der unmittelbaren Nähe eines Wohngebietes liegt, wo mit der Anwesenheit von Kindern zu<br />

rechnen ist.<br />

79


3.<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

3.1 Misslingt der Sorgfaltsbeweis, kann sich der Tierhalter gemäss Art. 56 Abs. 1 <strong>OR</strong> von der Haftung<br />

befreien, indem er nachweist, dass der Schaden auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt eingetreten<br />

wäre (vgl. zum analogen Befreiungsbeweis des Geschäftsherrn BGE 97 <strong>II</strong> 221 E. 1). Damit<br />

spricht das Gesetz etwas Selbstverständliches aus, nämlich dass die Sorgfaltsverletzung kausal für<br />

den Schaden gewesen sein muss (WERRO, a.a.O., N. 16 zu Art. 56 <strong>OR</strong> mit Hinweisen; HONSELL,<br />

Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 3. Aufl., Zürich 2000, § 13 Rz. 8). Es kodifiziert den allgemein geltenden<br />

Grundsatz, dass keine Haftung greift, wenn der präsumtiv Haftpflichtige beweist, dass ein<br />

rechtmässiges Alternativverhalten denselben Schaden bewirkt hätte wie das tatsächlich erfolgte<br />

rechtswidrige Verhalten (BREHM, a.a.O., N. 85 zu Art. 56 <strong>OR</strong>; BERNARD STUDHALTER, Die Berufung<br />

des präsumtiven Haftpflichtigen auf hypothetische Kausalverläufe: hypothetische Kausalität und<br />

rechtmässiges Alternativverhalten, Diss. Zürich 1995, S. 273; KRAMER, Die Kausalität im <strong>Haftpflichtrecht</strong>:<br />

Neuere Tendenzen in Theorie und Praxis, ZBJV 123/1987 S. 300; Urteil des Bundesgerichts<br />

4C.322/1998 vom 11. Mai 1999, E. 2). Dogmatisch wird auch vom Nachweis der fehlenden Kausalität<br />

der Unterlassung oder des fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhangs gesprochen (BGE 122 <strong>II</strong>I 229<br />

E. 5a/aa; Urteil des Bundesgerichts 4C.276/1993 vom 1. Dezember 1998, E. 4a, publ. in: Pra 89/2000<br />

Nr. 28 S. 163 ff.).<br />

3.2 Die Vorinstanz erwog, aufgrund der gegebenen Situation sei die Annahme "nicht abwegig", dass<br />

eine Umzäunung mit mehreren breiten Bändern oder Latten entsprechend der Empfehlung der BUL<br />

den Unfall verhindert hätte, denn eine solche Umzäunung wäre vom fünfjährigen Kläger sehr viel<br />

deutlicher als Absperrung wahrgenommen worden sowie als Hindernis, das nur durch Unterschreiten<br />

oder Überklettern hätte überwunden werden können. Die geringen finanziellen Aufwand erfordernde<br />

Umzäunung nach den Vorgaben der BUL hätte das Unfallrisiko zumindest herabgesetzt. Aus diesen<br />

Gründen hielt die Vorinstanz den Entlastungsbeweis des rechtmässigen Alternativverhaltens für<br />

gescheitert.<br />

3.3 Der Beklagte bringt mit der Berufung vor, Neugierde und der Berührungsdrang gegenüber weidenden<br />

Pferden sei bei Kindern viel grösser als die Abschreckung durch Plastikbänder. Diesem Drang<br />

hätte der Kläger auch nachgegeben, wenn ein zweites Band angebracht gewesen wäre. Damit habe<br />

er den Beweis, "mindestens jedoch die Glaubhaftmachung" dafür erbracht, dass sich der Unfall auch<br />

bei anderer Umzäunung ereignet hätte.<br />

Diese Ausführungen laufen darauf hinaus, dass der Beklagte dem Bundesgericht seine eigene Sicht<br />

der Dinge darlegt, ohne dass er aufzeigt oder dass ersichtlich wäre, weshalb die Beurteilung der Vorinstanz<br />

gegen Bundesrecht verstossen soll. Insbesondere im Hinblick darauf, dass auch der Entlastungsbeweis<br />

betreffend rechtmässiges Alternativverhalten strikt zu erbringen ist, muss dieser Beweis<br />

als gescheitert betrachtet werden, wenn sich im konkreten Fall ergibt, dass der Schaden auch bei<br />

Anwendung der erforderlichen Sorgfalt möglicherweise eingetreten wäre. Die damit verbleibende<br />

Möglichkeit, dass der Schadenseintritt dennoch vermieden worden wäre, schliesst die Haftungsbefreiung<br />

aus (BGE 110 <strong>II</strong> 136 E. 2a mit Hinweisen; E. 2.1 hiervor). Dass mehrere deutliche Markierungen,<br />

die optisch eine klare Abschrankung anzeigen, ihre Signalwirkung auf ein fünfjähriges Kind nicht<br />

verfehlt hätten, ist mindestens ebenso wahrscheinlich wie die Hypothese, dass sich das Kind unter<br />

allen Umständen über oder unter den Bändern hindurch auf die Wiese begeben hätte. Die Beurteilung<br />

durch das Kantonsgericht, das zum gleichen Schluss gekommen ist, verstösst mithin nicht gegen<br />

Bundesrecht.<br />

3.4 Auch die übrigen in der Berufung erhobenen Einwände helfen dem Beklagten nicht weiter, soweit<br />

es sich dabei nicht ohnehin um unzulässige neue Tatsachenbehauptungen oder um allgemein gehaltene<br />

Rechtserörterungen ohne konkreten Bezug zu den Erwägungen der Vorinstanz handelt, welche<br />

die Begründungsanforderungen von Art. 55 Abs. 1 lit. c OG nicht erfüllen (vgl. dazu BGE 116 <strong>II</strong> 745 E.<br />

3). So hat die Vorinstanz entgegen der Annahme des Beklagten keine generelle Pflicht statuiert,<br />

80


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

sämtliche Tierhaltungen so auszugestalten, dass kein Unbefugter in die Nähe der Tiere gelangen<br />

kann. Auf die diesbezüglichen Vorbringen des Beklagten ist deshalb nicht weiter einzugehen. Soweit<br />

er geltend macht, wenn man den Schlussfolgerungen der Vorinstanz folgte, würde die Tierhalterhaftung<br />

zur reinen Gefährdungshaftung mutieren, übergeht er offensichtlich, dass das Kantonsgericht<br />

seine Haftung gerade nicht mit der blossen Haltung der Pferde, sondern mit der Unterlassung der<br />

gebotenen Einzäunung begründete. Sein Hinweis auf die Kritik am Vorentwurf zur Revision des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s,<br />

soweit darin die Entlastungsbeweise abgeschafft werden sollen (vgl. NICOLE PAYLLIER,<br />

Der Tierhalter und dessen besondere Befreiungsmöglichkeiten [Art. 56 Abs. 1 <strong>OR</strong>], Diss. Zürich 2003,<br />

S. 139 ff.; a.M. ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 6. Aufl., S. 189), fällt mithin ins Leere.<br />

Die Berufung erweist sich auch in diesem Punkt als unbegründet.<br />

BGE 130 <strong>II</strong>I 193<br />

24. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y. AG (Berufung)<br />

4C.224/2003 vom 23. Dezember 2003<br />

Regeste<br />

Verkehrssicherungspflicht; Haftung der Sportbahnunternehmen für die Sicherheit der Skipisten.<br />

Natur, Inhalt und Umfang der Verkehrssicherungspflicht (E. 2.2-2.3).<br />

Räumlicher Geltungsbereich der Verkehrssicherungspflicht gemäss den einschlägigen Richtlinien (E.<br />

2.4.1-2.4.2).<br />

Räumliche Ausdehnung der Verkehrssicherungspflicht bei atypischen oder besonders grossen Gefahren<br />

und einer durch die Geländeverhältnisse indizierten Möglichkeit, dass auch vorsichtige Pistenbenützer<br />

ungewollt in den Einzugsbereich von ausserhalb der Piste und des Pistenrandbereichs gelegenen<br />

Gefahrenstellen geraten können (E. 2.4.3).<br />

Vorliegend keine Ermessensüberschreitung des Sachgerichts mit Bezug auf die Frage, ob die örtlichen<br />

Verhältnisse erhöhte Sicherheitsvorkehren erfordert hätten (E. 2.5).<br />

A. Im Januar 1997 verbrachte X. (Kläger) im Skigebiet des Kantons Glarus seine Ferien. Zur Benützung<br />

der Skilifte und Skipisten besass er eine Wochenkarte der Y. AG (Beklagte). Am 8. Januar 1997 stürzte<br />

er im untersten, relativ steilen Teil einer der Pisten und verlor mit aller Wahrscheinlichkeit beim Aufprall<br />

auf der hart gefrorenen Unterlage das Bewusstsein. In der Folge rutschte er unkontrolliert rund<br />

75 Meter weit die Piste hinunter und rund zwölf Meter über den Pistenrand hinaus und glitt dann<br />

über eine Böschung in einen sechzehn Meter tiefen Geländeeinschnitt (Runse), wo er auf ein dort<br />

angebrachtes Rohr aufschlug und sich einen offenen Schädelbruch zuzog. Der Unfall machte einen<br />

längeren Spitalaufenthalt erforderlich und hat zu einer voraussichtlich bleibenden Gehbehinderung<br />

geführt.<br />

B. Nach erfolglosem Sühneverfahren beantragte der Kläger im November 2000 beim Kantonsgericht<br />

des Kantons Glarus, die Beklagte sei zur Zahlung von Schadenersatz in der Höhe von DM 475'000.-<br />

nebst Zins zu verpflichten. Das Kantonsgericht wies die Klage mit Urteil vom 28. Januar 2002 ab. Dagegen<br />

legte der Kläger beim Obergericht des Kantons Glarus Berufung ein, wobei er das Begehren<br />

auf umgerechnet EUR 192'931.- nebst Zins reduzierte. Mit Urteil vom 21. März 2003 wies das Obergericht<br />

die Berufung ab.<br />

C. Der Kläger beantragt dem Bundesgericht mit Berufung, das Urteil des Obergerichts aufzuheben<br />

und die Sache zur neuen Beurteilung, insbesondere zur Bemessung des Schadenersatzes, ans Obergericht<br />

zurückzuweisen. Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung.<br />

Das Bundesgericht weist die Berufung ab.<br />

81


Auszug aus den Erwägungen:<br />

2.<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

2.1 Die Vorinstanz nimmt an, die Beklagte habe ihre Sicherungspflicht nicht verletzt. Nach ihrer Auffassung<br />

würde es zu weit führen, von der Beklagten zu verlangen, bei einer zwölf Meter abseits der<br />

Piste gelegenen Gefahrenstelle Sicherungsvorkehren anzubringen. Dies ergebe sich auch aus den<br />

einschlägigen Richtlinien, wonach bei Absturzgefahr nur der Pistenrand und der Randbereich im Umfang<br />

von zwei Metern Breite zu sichern sei. Der vorliegende Unfall habe auf einer Verkettung unglücklicher<br />

Umstände beruht. Der Kläger macht demgegenüber geltend, die Sicherung der Unfallstelle<br />

sei erforderlich und zumutbar gewesen.<br />

2.2 Wie die Vorinstanz bereits zutreffend ausführte, sind Bergbahn- und Skiliftunternehmen, welche<br />

Pisten erstellen und diese für den Skilauf öffnen, grundsätzlich verpflichtet, die zur Gefahrenabwehr<br />

zumutbaren Vorsichts- und Schutzmassnahmen vorzukehren. Diese so genannte Verkehrssicherungspflicht<br />

ist vertraglicher Natur. Bergbahn- und Skiliftunternehmen sind im Sinne einer Nebenpflicht<br />

des mit Pistenbenützern (Skifahrern, Snowboardern) abgeschlossenen Transportvertrages<br />

verpflichtet, auch für die Pistensicherheit und den Rettungsdienst zu sorgen. Der Aufwand für diese<br />

Dienste ist im Preis der zur Benützung der Skipisten angebotenen Tages- und Wochenkarten, wie der<br />

Kläger eine besass, jeweils inbegriffen (BGE 113 <strong>II</strong> 246 E. 3-10 S. 247 ff.; BGE 126 <strong>II</strong>I 113 E. 2a/bb S.<br />

115).<br />

Die Verkehrssicherungspflicht hat aber auch eine Grundlage im Deliktsrecht und ergibt sich aus der<br />

allgemeinen Schutzpflicht dessen, der einen Zustand schafft, woraus angesichts der erkennbaren<br />

konkreten Umstände ein Schaden entstehen könnte (BGE 126 <strong>II</strong>I 113 E. 2a/aa S. 115 mit Hinweisen).<br />

Von der Rechtsprechung noch nicht abschliessend geklärt und in der Lehre umstritten ist die Frage,<br />

ob Skipisten Werkcharakter haben und Bergbahn- und Skiliftunternehmen neben der allgemeinen<br />

Deliktshaftung (Art. 41 <strong>OR</strong>) auch aus der Werkeigentümerhaftung (Art. 58 <strong>OR</strong>) belangt werden können<br />

(vgl. BREHM, Berner Kommentar, N. 31 ff. zu Art. 58 <strong>OR</strong>; SCHNYDER, Basler Kommentar, 3. Aufl.,<br />

N. 12 zu Art. 58 <strong>OR</strong>; OFTINGER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong> - Besonderer Teil, Bd. <strong>II</strong>/1, §<br />

19 N. 86). Sie kann auch hier offen bleiben.<br />

Auf welche Grundlage sich die vorliegende Klage auch immer stützt, interessiert einzig, ob die Skipiste,<br />

auf welcher der Kläger verunfallte, den massgebenden Sicherheitsanforderungen entsprach. Bei<br />

der Werkeigentümerhaftung handelt es sich zwar, im Gegensatz zur Haftung aus Vertrag und aus<br />

allgemeinem Deliktsrecht, nicht um eine Verschuldens-, sondern um eine Kausalhaftung. Doch wird<br />

die Sicherung von Verkehrsanlagen gegenüber natürlichen Gefahrenherden in der Werkeigentümerhaftung<br />

praxisgemäss an den Kriterien der Verhältnismässigkeit und Zumutbarkeit gemessen (BGE<br />

129 <strong>II</strong>I 65 E. 1.1 S. 67; BGE 126 <strong>II</strong>I 113 E. 2b S. 116), was die Kausalhaftung zumindest mit einem Verschuldenselement<br />

kombiniert.<br />

2.3 Zum einen verlangt die Verkehrssicherungspflicht, dass Pistenbenützer vor nicht ohne weiteres<br />

erkennbaren, sich als eigentliche Fallen erweisenden Gefahren geschützt werden (BGE 121 <strong>II</strong>I 358 E.<br />

4a S. 360; BGE 115 IV 189 E. 3c S. 194). Zum andern ist dafür zu sorgen, dass Pistenbenützer vor Gefahren<br />

bewahrt werden, die selbst bei vorsichtigem Fahrverhalten nicht vermieden werden können<br />

(BGE 121 <strong>II</strong>I 358 E. 4a S. 361; BGE 111 IV 15 E. 2 S. 16). Die Grenze der Verkehrssicherungspflicht bildet<br />

die Zumutbarkeit. Schutzmassnahmen können nur im Rahmen des nach der Verkehrsübung Erforderlichen<br />

und Möglichen verlangt werden, wenn auch ein Mindestmass an Schutz immer gewährleistet<br />

sein muss (BGE 121 <strong>II</strong>I 358 E. 4a S. 361; BGE 115 IV 189 E. 3c S. 193). Eine weitere Schranke der<br />

Verkehrssicherungspflicht liegt in der Selbstverantwortung des einzelnen Pistenbenützers. Gefahren,<br />

die dem Schneesport inhärent sind, soll derjenige tragen, der sich zur Ausübung des Schneesports<br />

entschliesst (BGE 111 IV 15 E. 2 S. 16 f.). Auch das Fehlverhalten eines Pistenbenützers, der in Verkennung<br />

seines Könnens und der vorgegebenen Pisten- und Wetterverhältnisse oder in Missachtung<br />

von Signalisationen fährt, stürzt und dabei verunfallt, ist der Selbstverantwortung zuzurechnen (BGE<br />

117 IV 415 E. 5a S. 416).<br />

82


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Wie weit die Verkehrssicherungspflicht im Einzelnen reicht, hängt von den Gegebenheiten des Einzelfalles<br />

ab. Als Massstab zieht das Bundesgericht jeweils die von der Schweizerischen Kommission für<br />

Unfallverhütung auf Schneesportabfahrten ausgearbeiteten Richtlinien für Anlage, Betrieb und Unterhalt<br />

von Schneesportabfahrten (SKUS-Richtlinien) und die von der Kommission Rechtsfragen auf<br />

Schneesportabfahrten der Seilbahnen Schweiz herausgegebenen Richtlinien bei (SBS-Richtlinien,<br />

ehemals SVS-Richtlinien; BGE 126 <strong>II</strong>I 113 E. 2b S. 116; BGE 121 <strong>II</strong>I 358 E. 4a S. 361). Obwohl diese<br />

Richtlinien kein objektives Recht darstellen, erfüllen sie eine wichtige Konkretisierungsfunktion im<br />

Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung der Verkehrssicherungspflicht (BGE 126 <strong>II</strong>I 113 E. 2b S. 116;<br />

BGE 117 IV 415 E. 5b S. 417). Beide Richtlinien wurden letztmals im Jahr 2002 herausgegeben. Da<br />

sich der Skiunfall des Klägers im Jahr 1997 ereignete, sind die damals geltenden Ausgaben der Richtlinien<br />

aus dem Jahr 1995 massgebend.<br />

Allerdings können die örtlichen Verhältnisse einen höheren Sicherheitsstandard erfordern, als es die<br />

genannten Richtlinien vorsehen (vgl. BGE 87 <strong>II</strong> 301 E. 5a S. 313). Das Bundesgericht ist an die Richtlinien<br />

nicht gebunden, sondern entscheidet selbst, welche Sorgfalt im Einzelfall geboten war, wobei<br />

das Sorgfaltsmass eine flexible, sich stets nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu richtende Grösse<br />

bildet (OFTINGER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong> - Allgemeiner Teil, Bd. I, § 5 N. 98 ff.). Dabei<br />

ist im Wesentlichen aber eine Frage des sachgerichtlichen Ermessens, ob die in einem bestimmten<br />

Zeitpunkt zu beurteilende örtliche Situation erhöhte Sicherheitsvorkehren erfordert hätte. In<br />

diesen Beurteilungsspielraum greift das auf eine reine Rechtskontrolle beschränkte Bundesgericht<br />

nur mit Zurückhaltung dann ein, wenn die Auffassung der Vorinstanz als unvertretbar erscheint (BGE<br />

129 <strong>II</strong>I 380 E. 2 S. 382; BGE 127 <strong>II</strong>I 153 E. 1a S. 155, mit Hinweisen).<br />

2.4 Gemäss den Feststellungen der Vorinstanz lag die Stelle, wo der Kläger abstürzte, nicht unmittelbar<br />

neben, sondern rund zwölf Meter weit entfernt von der Piste. Streitig ist, wie weit der räumliche<br />

Geltungsbereich der Verkehrssicherungspflicht reicht. Dabei ist davon auszugehen, dass die Verkehrssicherungspflicht<br />

zunächst die Pistenfläche und den Pistenrandbereich beschlägt (BGE 122 IV<br />

193 E. 2a S. 194).<br />

2.4.1 Gemäss den SKUS-Richtlinien (Ausgabe 1995, Ziff. 21; Ausgabe 2002, Ziff. 27) muss im Falle von<br />

Hindernissen oder Absturzgefahr der Pistenrand gekennzeichnet und gesichert werden. Die Pflicht<br />

zur Sicherung des Pistenrandes bei Absturzgefahr oder Hindernissen fliesst auch aus den SVS- resp.<br />

SBS-Richtlinien (Ausgabe 1995, Ziff. 19; Ausgabe 2002, Ziff. 20). Der Pistenrand ergibt sich aus den<br />

natürlichen Geländeverhältnissen (Waldränder, Einschnitte etc.), aus künstlich angebrachten Markierungen<br />

oder aus den Schneespuren, wenn die präparierte Piste durch häufiges Befahren ausgeweitet<br />

worden ist (vgl. BGE 109 IV 99 E. 1a S. 100). Haben die Verantwortlichen den Pistenrand nicht mit<br />

Markierungen gekennzeichnet, so gilt auch der um die Fahrspuren erweiterte Bereich als Skipiste.<br />

Entsprechend verlagert sich der Pistenrand und dehnt sich die Verkehrssicherungspflicht auf den<br />

ausgefahrenen Pistenbereich aus (SVS- resp. SBS-Richtlinien: Ausgabe 1995, Ziff. 20; Ausgabe 2002,<br />

Ziff. 21; HANS-KASPAR STIFFLER, Schweizerisches Schneesportrecht [im Folgenden: Schneesportrecht],<br />

3. Aufl., Bern 2002, N. 571).<br />

2.4.2 Gemäss den SKUS-Richtlinien (Ausgabe 1995, Ziff. 21; Ausgabe 2002, Ziff. 27) sowie den SVS-<br />

resp. SBS-Richtlinien (Ausgabe 1995, Ziff. 21; Ausgabe 2002, Ziff. 22) erstreckt sich die Verkehrssicherungspflicht<br />

auch auf den unmittelbaren Grenzbereich der Piste, wobei ein Randstreifen von zwei<br />

Metern Breite gemeint ist. Zweck der Sicherung dieses zusätzlichen Randbereichs ist es, den Pistenbenützern<br />

ein gefahrloses Abschwingen und Stehenbleiben unmittelbar am Pistenrand zu ermöglichen.<br />

Zudem sollen Pistenbenützer, die infolge eines Sturzes in der Nähe des Pistenrandes geringfügig<br />

über die Piste hinausgeraten, vor Gefahrenstellen geschützt werden, die nicht erkennbar oder<br />

selbst für verantwortungsbewusste Pistenbenützer schwer vermeidbar sind (STIFFLER, Schneesportrecht,<br />

a.a.O., N. 574).<br />

Eigentliche Sturzräume, d.h. abgesicherte Geländeteile ausserhalb der präparierten Piste zur Reduktion<br />

der Sturzdynamik eines gestürzten Pistenbenützers bis zum Stillstand, müssen nicht geschaffen<br />

werden (so ausdrücklich die SKUS-Richtlinien, Ausgabe 2002, Ziff. 27; SVS- resp. SBS-Richtlinien, Aus-<br />

83


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

gabe 1995, Ziff. 21; Ausgabe 2002, Ziff. 22). Pistenbenützer, die zu schnell fahren, dadurch unkontrolliert<br />

über den Pistenrand hinausgeraten und stürzen, haben die Folgen eines solchen Risikoverhaltens<br />

selber zu tragen. Das Vermeiden einer Überschreitung des Pistenrandes ist den Pistenbenützern<br />

grundsätzlich möglich und zumutbar, vor allem durch die Einhaltung einer entsprechenden Fahrweise<br />

(STIFFLER, Schneesportrecht, a.a.O., N. 575; WILLY PADRUTT, Grenzen der Sicherungspflicht für<br />

Skipisten, in: ZStrR 103/1986 S. 397). Aus dieser eingeschränkten Funktion der Pistenrandsicherung<br />

erklärt sich auch die verhältnismässig geringe, gemäss SKUS-Richtlinien maximal zwei Meter betragende<br />

Breite des Randstreifens, auf den sich die erweiterte Sicherungspflicht erstreckt. Die Breite<br />

dieses Streifens reicht zur Gewährleistung der Sicherheit von verantwortungsbewussten Pistenbenützern<br />

in der Regel aus (vgl. PETER REINDL/JOHANNES Stabentheiner, Neues zum Pistenrand -<br />

Randnetze, Fangzäune und Schneezäune - Sturz eines Pistenbenützers - Windenpräparierung, in:<br />

Zeitschrift für Verkehrsrecht 2000 S. 405).<br />

2.4.3 Indessen können die konkreten Umstände im Einzelfall einen höheren als den in den genannten<br />

Richtlinien vorgesehenen Sicherheitsstandard erfordern und den Schutz der Pistenbenützer nicht nur<br />

vor unmittelbar neben dem Pistenrand, sondern vor weiter entfernt liegenden Absturzgefahren bedingen.<br />

Voraussetzung für eine ausnahmsweise und punktuelle Erweiterung der Verkehrssicherungspflicht<br />

über den engeren Pistenrandbereich hinaus ist erstens das Vorliegen einer atypischen oder besonders<br />

grossen Gefahr für Leib und Leben, wie dies die bundesgerichtliche Rechtsprechung auch mit<br />

Bezug auf die Pflicht zur klaren Kennzeichnung des Pistenrandes bei aussergewöhnlichen oder besonders<br />

grossen Gefahren auf Pistennebenflächen verlangt (vgl. BGE 122 IV 193 E. 2b S. 195; BGE 117<br />

IV 415 E. 5a S. 416; BGE 115 IV 189 E. 3b S. 192). Zweite Voraussetzung ist eine durch die Geländeverhältnisse<br />

indizierte Möglichkeit, dass auch vorsichtige Pistenbenützer ungewollt in den Einzugsbereich<br />

dieser ausserhalb der Piste gelegenen Gefahrenstelle geraten können. In einem solchen Fall<br />

sind wirksame Sicherungsmassnahmen zu ergreifen, damit vorsichtige Pistenbenützer nicht ungewollt<br />

in den Gefahrenbereich geraten. Diese unter den genannten Voraussetzungen ausnahmsweise<br />

erweiterte Verkehrssicherungspflicht entspricht im Grunde dem Sorgfaltsmassstab, auf welchem<br />

auch die SKUS- und die SVS- resp. SBS-Richtlinien basieren. Die Richtlinien beabsichtigen den Schutz<br />

des eigenverantwortlichen Pistenbenützers vor Absturzgefahren. Kann die Gefahrenstelle aber selbst<br />

von einem vorsichtigen Pistenbenützer bei einem allfälligen Sturz auf der Pistenfläche nicht vermieden<br />

werden, darf es in Bezug auf die Verkehrssicherungspflicht keinen Unterschied machen, ob die<br />

Absturzgefahr unmittelbar im Pistenrandbereich oder im näheren Umfeld von Skipisten liegt (in diese<br />

Richtung HANS-KASPAR STIFFLER, Sportunfall, insbesondere Skiunfall, in: Geiser/Münch [Hrsg.],<br />

Schaden - Haftung - Versicherung, Basel u.a. 1999, N. 13.29). Eine Erweiterung der Verkehrssicherungspflicht<br />

über den engeren Pistenrandbereich hinaus wird bei besonderen, nicht vermeidbaren<br />

Gefahren auch in Österreich und Deutschland befürwortet (vgl. für Österreich: die am Rechtssymposium<br />

des Fachverbandes der Seilbahnen geäusserten Thesen, besprochen bei<br />

REINDL/STABENTHEINER, a.a.O., S. 405; PATRICK SCHENNER, Skiunfall! Wer haftet für Deutschland:<br />

GERHARD DAMBECK, Piste und Recht, 3. Aufl., DSV-Schriftenreihe, Bd. 6/1996, N. 213; KARL-HEINZ<br />

HAGENBUCHER, Die Verletzung von Verkehrssicherungspflichten als Ursache von Ski- und Bergunfällen,<br />

München 1984, S. 91). Bei dem zwei Meter breiten Randstreifen, in dem die Pistenbenützer vor<br />

Gefahren geschützt werden müssen, handelt es sich nach dort vertretener Auffassung ebenfalls nur<br />

um eine Richtgrösse im Rahmen des beweglichen Systems, welches die für die Sicherungspflicht massgebenden<br />

tatsächlichen Umstände bilden. In Ausnahmesituationen kann der von der Verkehrssicherungspflicht<br />

erfasste Randbereich somit möglicherweise breiter als zwei Meter sein (vgl. insbesondere<br />

REINDL/ STABENTHEINER, a.a.O., S. 406; SCHENNER, a.a.O., S. 57).<br />

2.5 Gemäss den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz befand sich die Stelle, an welcher der<br />

Kläger abstürzte, zum Zeitpunkt des Unfalls ungefähr zwölf Meter entfernt vom Pistenrand, wobei<br />

die Piste ausgefahren und der Pistenrand daher nicht präzis auszumachen war. Die Absturzgefahr lag<br />

somit nicht weit entfernt, aber jedenfalls ausserhalb des gemäss den SKUS- und SVS-Richtlinien zu<br />

sichernden, zwei Meter breiten Randbereichs. Gemäss der Vorinstanz lagen keine Anhaltspunkte<br />

84


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

dafür vor, dass der Kläger die Skipiste, auf der sich der Unfall ereignete, unvorsichtig, d.h. mit einer<br />

dem persönlichen Können und den Gelände- und Schneeverhältnissen am Unfalltag nicht angepassten<br />

Fahrweise, befahren hätte. Ein Selbstverschulden des Klägers muss daher ausgeschlossen werden.<br />

Zu prüfen ist, ob besondere Umstände vorlagen, welche die Beklagte zum Ergreifen von<br />

Schutzmassnahmen über den engeren Pistenrandbereich hinaus verpflichtete.<br />

Die kantonalen Gerichte gehen in der Beurteilung der örtlichen Verhältnisse übereinstimmend davon<br />

aus, dass im Zeitpunkt des Unfallgeschehens keine besonders grosse oder atypische Gefahrenlage<br />

bestand. Dem angefochtenen Urteil ist lediglich zu entnehmen, dass durch die Anlage der Piste in der<br />

näheren Umgebung der Unfallstelle ein Absturzrisiko nicht ausgeschlossen war, da die Piste am Fuss<br />

des Zielhangs gegen aussen geneigt war und der angrenzende Pistenrand keine Erhöhung aufwies,<br />

welche einen in der Falllinie abrutschenden Pistenbenützer vor dem Abgleiten über die Böschungskante<br />

in den Geländeeinschnitt aufgehalten hätte. Nach Auffassung der Vorinstanz genügte die Piste<br />

den Sicherheitsanforderungen, die unter den lokalen Gegebenheiten erwartet werden konnten. Steile<br />

Abhänge und Böschungen seien für das alpine Gelände charakteristisch. Deshalb führe es zu weit,<br />

von den Sportbahnunternehmen zu verlangen, überall Abschrankungen anzubringen, wo das Gelände<br />

etwas abseits der Piste steil abfällt. Es habe einer für die Beklagte nicht vorhersehbaren Ausnahmesituation<br />

bedurft, dass der Kläger nach dem Sturz auf der Piste direkt in den Geländeeinschnitt<br />

abgetrieben worden sei. In diese Beurteilung der Vorinstanz greift das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung<br />

ein.<br />

Der Standpunkt der Vorinstanz, dass im alpinen Gelände überall mit Absturzgefahren gerechnet werden<br />

muss und der zwölf Meter vom Pistenrand entfernt liegende Geländeeinschnitt von daher keine<br />

besonders grosse oder aussergewöhnliche Gefahr darstellte, ist vertretbar. Bei jeder Piste, die nicht<br />

in der Falllinie einen Hang hinunterführt, sondern quer zum Hang verläuft, fällt das Gelände jenseits<br />

des talseitigen Pistenrandes ab. Dem angefochtenen Urteil ist nicht zu entnehmen, dass die Piste im<br />

Unfallbereich spezielle Tücken aufwies, welche die Wahrscheinlichkeit eines Sturzes erhöht hätten.<br />

Lag aber keine besonders grosse oder atypische Gefahr vor, war die Beklagte nicht verpflichtet, zusätzliche<br />

Sicherungsvorkehren zu treffen. Die Pistensicherungspflicht besteht nur im Rahmen des<br />

Erforderlichen und Zumutbaren. Es wäre unverhältnismässig und nicht zumutbar, wenn bei quer zum<br />

Tal verlaufenden Pisten talseitig durchgehende Sicherungen selbst gegen mehr als zwei Meter vom<br />

Pistenrand entfernt liegende Absturzgefahren angebracht werden müssten. Der Sicherungspflichtige<br />

haftet nicht für ein ganzes Schneesportgebiet schlechthin (vgl. BGE 121 <strong>II</strong>I 358 E. 4a S. 361; STIFFLER,<br />

Schneesportrecht, a.a.O., N. 570). Gefahren, die einer Skiabfahrt als solcher eigen sind, trägt der Pistenbenützer<br />

selbst. Dies gilt selbst dann, wenn er nicht mit exzessiver Geschwindigkeit fährt oder<br />

sich auf eine vereiste Piste begibt. Zu den dem Schneesport inhärenten Gefahren gehört auch das<br />

Risiko, bei vereisten Pistenabschnitten die Kontrolle über die eigenen Skier zu verlieren. Dass Pisten<br />

aufgrund der Witterungsverhältnisse vereisen, ist nicht aussergewöhnlich und darf grundsätzlich<br />

nicht zu einer Verschärfung der Haftung führen. Im vorliegenden Fall wies die Bezeichnung "FIS-<br />

Strecke" den Kläger überdies unmissverständlich darauf hin, dass es sich bei der betreffenden Piste<br />

um eine Wettkampfstrecke handelte, die erhöhte Anforderungen an die Geschicklichkeit der Pistenbenützer<br />

stellte. Die Vorinstanz hat ihr Sachverhaltsermessen somit nicht überschritten, wenn sie<br />

davon ausgeht, der Unfall habe sich aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände zugetragen.<br />

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz das Bundesrecht nicht verletzte, indem sie es<br />

aufgrund der örtlichen Verhältnisse als nicht erforderlich und als unzumutbar erachtete, Sicherheitsvorkehren<br />

zum Schutz gegen die zwölf Meter vom Pistenrand entfernt liegende Absturzgefahr zu<br />

ergreifen, und die Haftung der Beklagten aus Vertrag und aus Delikt demzufolge verneinte.<br />

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BGE 113 <strong>II</strong> 323<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

60. Urteil der I. Zivilabteilung vom 2. Juni 1987 i.S. Frau X. und ihre drei Kinder gegen Versicherungsgesellschaft<br />

Z. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Zusammenstoss von zwei Lastwagen, Tod eines Lenkers, Haftung.<br />

1. Art. 59 Abs. 2 SVG und Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong>. Verteilung des Schadens auf die Haftpflichtigen: Bedeutung<br />

des beidseitigen Verschuldens (E. 1) und der Betriebsgefahren, wenn es um solidarische Haftung<br />

geht und eine der beiden Halterfirmen sich auf das Privileg des Art. 129 Abs. 2 KUVG berufen kann (E.<br />

2).<br />

2. Art. 45 Abs. 3 <strong>OR</strong>. Versorgerschaden der Witwe: Massgebliches Einkommen, Bedeutung und Berechnung<br />

der Teuerung (E. 3a); Ermittlung der Witwenquote (E. 3b); Abzug wegen Aussichten auf<br />

eine Wiederverheiratung (E. 3c); Berechnung des Schadens durch Kapitalisierung, anzurechnende<br />

Renten (E. 4).<br />

3. Art. 45 Abs. 1 <strong>OR</strong>. Bestattungskosten: Umstände, unter denen Auslagen für Trauerkleider voll zu<br />

berücksichtigen sind; die Kosten für den Grabunterhalt sind nicht zu ersetzen (E. 5).<br />

4. Art. 47 <strong>OR</strong>. Genugtuungssummen bei Unfalltod des Versorgers, Angemessenheit der Summen (E.<br />

6).<br />

5. Vorprozessuale Anwaltskosten unterliegen in Haftpflichtprozessen der allgemeinen Herabsetzung<br />

gemäss Art. 59 Abs. 2 SVG (E. 7).<br />

6. Zahlungen der belangten Haftpflichtversicherung sind vorweg auf die bereits fälligen Zinsen und<br />

nur im Restbetrag auf die Hauptforderung anzurechnen (E. 8).<br />

7. Art. 157 OG und Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong>. Regelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des kantonalen<br />

Verfahrens durch das Bundesgericht; Bedeutung des Veranlassungsprinzips, der finanziellen Lage der<br />

Parteien und des Schadensnachweises (E. 9).<br />

Sachverhalt<br />

A.- Am 9. Dezember 1980, etwa um neun Uhr, fuhr X. mit einem Lastwagen seiner Arbeitgeberin, der<br />

Firma A., auf der Autobahn von Sissach Richtung Egerkingen. Nach 133 m Fahrt im Ebenrain-Tunnel,<br />

der in einer leichten Rechtsbiegung der Autobahn liegt, prallte er mit seinem Fahrzeug gegen einen<br />

stillstehenden Lastenzug, bestehend aus einem Volvo-Lastwagen und einem Anhänger. X. wurde auf<br />

der Stelle getötet. Er war damals 36 Jahre alt und hinterliess eine 33jährige Ehefrau mit drei minderjährigen<br />

Kindern.<br />

Der Lastenzug, geführt von B., war wegen eines technischen Defektes kurz vorher im Tunnel stehengeblieben.<br />

Da er nur schwach beleuchtet war, wollte B. ihn nach einem Versuch, den Motor wieder in<br />

Gang zu setzen, mit einem Pannendreieck sichern, wozu die Zeit aber nicht mehr reichte. Der Lastenzug<br />

gehörte der Firma C., die für ihre Halterhaftpflicht bei der Versicherungsgesellschaft Z. versichert<br />

war.<br />

B.- Im April 1983 klagten die Witwe X. und ihre drei Kinder gegen diese Versicherung auf Zahlung von<br />

Fr. 232'399.20 Schadenersatz und Genugtuung nebst Zins. Die Beklagte anerkannte die Haftung nur<br />

in der Höhe von Fr. 38'898.-- nebst Zins, die sie in vier Malen bezahlte.<br />

Das Bezirksgericht Sissach verpflichtete die Beklagte am 25. Oktober 1984, den Klägern Fr. 88'650.90<br />

nebst Zins zu bezahlen, wovon der bereits bezahlte Betrag abzuziehen war.<br />

Beide Parteien appellierten an das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft, das den Klägern am 19.<br />

November 1985 nach Abzug des bereits bezahlten Betrages Fr. 46'087.85 nebst 5% Zins seit 24. November<br />

1983 sowie Fr. 4'024.80 für vorprozessuale Anwaltskosten zusprach.<br />

86


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

C.- Die Kläger haben gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, mit der sie an ihrem Klagebegehren<br />

vollumfänglich festhalten, den<br />

BGE 113 <strong>II</strong> 323 S. 326<br />

bezahlten Betrag vor allem auf fällige Zinsen angerechnet und das angefochtene Urteil bezüglich der<br />

vorprozessualen Anwaltskosten bestätigt wissen wollen.<br />

Die Beklagte hat sich der Berufung mit dem Antrag angeschlossen, die Klage abzuweisen, soweit sie<br />

den Betrag von Fr. 40'927.70 übersteige.<br />

Jede Partei widersetzt sich auch ausdrücklich den Anträgen der andern.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:<br />

1. Das Obergericht prüfte vorweg das Verschulden der Beteiligten und fand, dass der Verunfallte mit<br />

einem, B. und seine Arbeitgeberin dagegen mit zwei Dritteln zu belasten seien. Die Parteien lassen<br />

diese Verteilung nicht gelten: Die Beklagte möchte das beidseitige Verschulden gleich gewichten,<br />

während die Kläger eine volle Verschuldenskompensation verlangen.<br />

a) Nach dem angefochtenen Urteil und dessen Hinweisen auf ergänzende Feststellungen des Bezirksgerichts<br />

ist der Unfall vor allem darauf zurückzuführen, dass der Lastenzug des B. wegen seines<br />

schlechten Allgemeinzustandes und insbesondere eines Defektes der Lichtmaschine im Tunnel stehenblieb.<br />

Dieser Defekt hatte schon bei Antritt der Fahrt in Pratteln zur Folge gehabt, dass der Lastenzug<br />

mit Hilfe der Batterie eines andern Lastwagens hatte starten müssen. Unterwegs fiel die<br />

Stromversorgung aus und führte, als B. mangels genügender Stromzufuhr nicht mehr von einem<br />

Gang in einen andern schalten konnte, zum Stillstand des Lastenzuges.<br />

Unter diesen Umständen wirft das Obergericht dem B. mit Recht vor, dass er trotz Kenntnis des<br />

schlechten Fahrzeugzustandes die Autobahn gewählt und die Fahrt nicht abgebrochen hat, als die<br />

Lichtmaschine die Batterie nicht mehr zu speisen vermochte und eine Kontrollampe ihm dies anzeigte.<br />

Beizupflichten ist der Vorinstanz auch darin, dass die Firma C. als Halterin ebenfalls ein Verschulden<br />

trifft, weil sie den Lastenzug unbekümmert um die erwähnten Mängel verkehren liess und B., der<br />

sie auf die defekte Lichtmaschine aufmerksam gemacht hatte, sogar anhielt, die Fahrt gleichwohl<br />

fortzusetzen. Nach Auffassung der Kläger hat es B. zudem pflichtwidrig unterlassen, sofort das Pannendreieck<br />

aufzustellen. Die Annahme der Vorinstanz, dies sei ihm zeitlich nicht mehr möglich gewesen,<br />

beruht auf der Tatsache, dass vom Stillstand des Lastenzuges bis zur Kollision nur 100 Sekunden<br />

vergingen. Zu beachten ist ferner, dass der Lastenzug 133 m nach dem Tunneleingang stehenblieb,<br />

das Pannendreieck wegen der unterschiedlichen Lichtverhältnisse aber nahe beim Eingang hätte<br />

angebracht werden müssen, um nicht übersehen zu werden. Dafür war die Zeit jedoch zu knapp,<br />

weshalb offenbleiben kann, ob B. vom Versuch, den Motor wieder in Gang zu bringen, hätte absehen<br />

sollen.<br />

b) Der vom Verunfallten gesteuerte Lastwagen der Firma A. war in gutem Zustand; ein Verschulden<br />

der Halterin scheidet daher aus. Dagegen bejaht das Obergericht zu Recht ein Verschulden des X.,<br />

weil er ohne Rücksicht auf die besonderen Lichtverhältnisse vom Unfalltag mit über 80 km/h in den<br />

Tunnel gefahren ist. Die Auswertung seines Fahrtschreibers hat ergeben, dass er 1300 m vor der Unfallstelle<br />

mit 94 km/h und 560 m davon entfernt noch mit 86 km/h gefahren ist, diese Geschwindigkeit<br />

in den letzten acht Sekunden oder auf den letzten 185 m vor dem Anprall aber nur auf 81 km/h<br />

herabgesetzt hat. Der schroffe Lichtwechsel im Bereiche des Tunneleinganges hätte ihn jedoch zu<br />

einer erheblich langsameren Fahrweise veranlassen müssen, um einem unvermutet auftauchenden<br />

Hindernis in seiner Fahrbahn rechtzeitig ausweichen zu können.<br />

Nach den Feststellungen des Untersuchungsrichters, von denen auch die Kläger ausgehen, wurde<br />

man am Unfalltag als Fahrer wegen des schönen Wetters durch einen schneebedeckten Hang vor der<br />

Tunneleinfahrt stark geblendet, weshalb man trotz Tunnelbeleuchtung zunächst völlig im Dunkeln<br />

gefahren sei, bis das Auge sich von der Blendung erholt und der Beleuchtung angepasst habe. Diese<br />

Feststellungen stützen sich zwar auf die Lichtverhältnisse eine Stunde nach dem Unfall. Entgegen der<br />

Ansicht der Beklagten herrschten beim Tunneleingang, wie der Untersuchungsrichter in seinem Be-<br />

87


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

richt über den Unfallhergang beifügte, schon um neun Uhr ähnliche Sichtverhältnisse. Unter diesen<br />

Umständen war es höchst unvorsichtig, den Tunnel mit kaum verminderter Geschwindigkeit durchfahren<br />

zu wollen. Es ist offensichtlich, dass X. nicht etwa wegen der leichten Rechtsbiegung, sondern<br />

wegen des jähen Lichtwechsels von dem seit 100 Sekunden stillstehenden Lastenzug überrascht<br />

wurde und den Zusammenstoss nicht mehr vermeiden konnte.<br />

Rücksichten auf nachfolgende Fahrzeuge und das Erfordernis eines gleichmässigen Verkehrsflusses,<br />

auf welche die Kläger sich berufen, vermögen das Verhalten des X. nicht zu entschuldigen, da alle<br />

Fahrer die Geschwindigkeit den bestehenden Sichtverhältnissen anzupassen haben. Dies gilt umso<br />

mehr, als X. nach den Feststellungen des Obergerichts den Tunnel gekannt hat und bei einem vorausgehenden<br />

Tunnel am Unfalltag ähnliche Lichtverhältnisse bestanden haben. Dass im Tunnel eine<br />

generelle Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h signalisiert ist, hilft ihm ebenfalls nicht, zumal für<br />

Lastwagen eine solche von 80 km/h gilt. Erst recht unbeachtlich, ja bedenklich ist der Einwand, diese<br />

Geschwindigkeit sei ohnehin toter Buchstabe und wenig sinnvoll. Der schwere Unfall zeigt, wohin<br />

eine solche Auffassung führen kann.<br />

c) Die Abwägung des beidseitigen Verschuldens durch die Vorinstanz kann vom Bundesgericht frei<br />

überprüft werden (BGE 111 <strong>II</strong> 90 E. 1 mit Hinweisen), ist aber nicht zu beanstanden. Die von den Klägern<br />

verlangte Verschuldenskompensation scheitert schon am Grundgedanken des Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong>,<br />

der in Fällen wie dem vorliegenden nur eine Ermässigung der Ersatzpflicht zulässt (BGE 60 <strong>II</strong> 201;<br />

VON TUHR/PETER, <strong>OR</strong> I S. 110/11; OFTINGER, <strong>Haftpflichtrecht</strong> I S. 265 Anm. 18;<br />

DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, S. 253; STARK, Skriptum N. 330). Dass X. nicht nur<br />

übersetzte Geschwindigkeit, sondern auch ungenügende Aufmerksamkeit vorzuwerfen sei, wie die<br />

Beklagte behauptet, ergibt nichts zu ihren Gunsten. Die pflichtwidrige Fahrweise gereicht X. zum<br />

gleichen Verschulden, gleichviel ob er bloss infolge der Blendung oder auch aus Unachtsamkeit zu<br />

spät gebremst hat; sie rechtfertigt angesichts des primären Verschuldens des B. und dessen Arbeitgeberin<br />

jedoch keine höhere Schuldquote als die vom Obergericht angenommene.<br />

Diese Quote ist entgegen der Annahme der Kläger aber auch nicht deswegen zu kürzen oder gar<br />

durch Kompensation beidseitigen Verschuldens aufzuheben, weil die Beklagte eine Haftpflichtversicherung<br />

sei. Gewiss ist in BGE 104 <strong>II</strong> 188 E. 3a berücksichtigt worden, dass der Geschädigte in bescheidenen<br />

wirtschaftlichen Verhältnissen lebte und der Pflichtige gegen seine Haftpflicht versichert<br />

war. Der Versicherungsschutz kann indes nicht dazu führen, dass die Haftung das allgemeine Mass<br />

übersteigt. Daran ändert selbst der Umstand nichts, dass es im Versicherungsfall dem Belangten und<br />

erst recht dem Versicherer verwehrt ist, sich auf eine Notlage gemäss Art. 44 Abs. 2 <strong>OR</strong> zu berufen<br />

(BGE 111 <strong>II</strong> 303 E. 3a mit Hinweisen).<br />

2. Vor Bundesgericht ist nicht mehr streitig, dass der Unfall trotz Stillstand des Lastenzuges noch auf<br />

dessen Betrieb zurückzuführen ist (BGE 107 <strong>II</strong> 272 E. 1a mit Zitaten). Umstritten ist dagegen, wie der<br />

Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge Rechnung zu tragen ist. Nach Auffassung der Vorinstanz<br />

kann die Beklagte weder aus der Betriebsgefahr des Lastwagens des X. noch aus dem Haftungsprivileg<br />

der Halterfirma gemäss Art. 129 Abs. 2 KUVG etwas für eine Kürzung ihrer Haftung herleiten. Die<br />

Beklagte lässt das nicht gelten; sie ist vielmehr der Meinung, dass beides sich zu ihren Gunsten auswirken<br />

müsse. Die Kläger sodann beharren darauf, dass die Betriebsgefahr des Lastwagens des X.<br />

zulasten der Beklagten gehe, weil beide Halterfirmen dem Verunfallten gegenüber solidarisch hafteten.<br />

a) Da X. nicht Fahrzeughalter war, haften die übrigen Beteiligten, darunter die beiden Halterfirmen,<br />

seinen Hinterbliebenen solidarisch (Art. 60 Abs. 1 SVG). Sowohl nach Art. 60 Abs. 2 Satz 2 als auch<br />

nach Art. 61 Abs. 1 SVG ist der Schaden den beteiligten Haltern zu gleichen Teilen aufzuerlegen,<br />

wenn nicht besondere Umstände, namentlich das Verschulden, eine Abweichung rechtfertigen. Diese<br />

Regel beruht auf der Vermutung, dass die Betriebsgefahren der am Unfall beteiligten Fahrzeuge<br />

meistens einigermassen gleich und daher zu kompensieren sind (BGE 99 <strong>II</strong> 95 E. 2b). Sie findet aber<br />

keine Anwendung, wenn sich Halter über die Haftung streiten; diesfalls sind die Betriebsgefahren<br />

vielmehr in die Würdigung aller Umstände gemäss Art. 59 Abs. 2 SVG einzubeziehen. Dann stehen<br />

hier den Hinterbliebenen des Verunfallten grundsätzlich auch Ansprüche aus der Betriebsgefahr zu,<br />

die dem Lastwagen des X. innewohnte. Das entspricht auch der herrschenden Lehre (ALFRED KELLER,<br />

88


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Haftpflicht im Privatrecht, S. 246; DESCHENAUX/TERCIER, S. 147 Ziff. 43/44; STARK, N. 903 und 915;<br />

OSWALD, in BJM 1967 S. 8; GREC, La situation juridique du détenteur de véhicule automobile en cas<br />

de collision de responsabilités, S. 128 f.).<br />

Die Beklagte beruft sich auf eine abweichende Äusserung OFTINGERS (<strong>II</strong>/2 S. 649 f.), der dem Verunfallten<br />

in einem Falle wie hier die Betriebsgefahr "seines" eigenen Fahrzeugs zurechnen möchte,<br />

analog einem Selbstverschulden gemäss Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong>. Andere Stellen OFTINGERS (z.B. I S. 276<br />

und <strong>II</strong>/2 S. 669) können freilich, wie die Kläger mit Recht einwenden, gegenteilig verstanden werden.<br />

Einem verunfallten Lenker, der nicht Halter ist, die seinem Fahrzeug innewohnende Betriebsgefahr<br />

anzulasten, geht indes entgegen BGE 69 <strong>II</strong> 159 E. 3 schon deshalb nicht an, weil dies der Haftung des<br />

Halters gegenüber dem Lenker widerspricht. Wegen der bestehenden Solidarität aller Beteiligten<br />

muss sich die Beklagte daher grundsätzlich auch die Betriebsgefahr des Lastwagens des X. anrechnen<br />

lassen. So ist auch das Obergericht vorgegangen; es hat die Haftungsquote der Beklagten nur gestützt<br />

auf das Verschulden des X. gekürzt, die Betriebsgefahr der beiden Fahrzeuge dagegen auf seiten<br />

der Beklagten in die Würdigung der Umstände einbezogen.<br />

b) Die Besonderheit des vorliegenden Falles liegt nun darin, dass die Halterin des Lastwagens, in welchem<br />

X. verunfallt ist, zugleich dessen Arbeitgeberin war und sich deshalb auf das Haftungsprivileg<br />

des Art. 129 Abs. 2 KUVG berufen kann. Die Parteien stimmen zu Recht mit dem Obergericht darin<br />

überein, dass das Privileg nicht nur eine Klage der Hinterbliebenen gegen die Firma A., sondern auch<br />

einen Rückgriff der SUVA oder der Beklagten auf sie ausschliesst; diese Firma fällt mithin aus der<br />

Solidarhaft heraus (OFTINGER, I S. 437; STARK, in ZSR 86/1967 <strong>II</strong> S. 66 Anm. 141). Nach Auffassung<br />

der Beklagten ist deshalb der Anspruch der Kläger um den Betrag zu kürzen, den sie ohne das Privileg<br />

von der Firma A. hätte verlangen können. Die Beklagte kann sich dafür auf verschiedene Autoren<br />

stützen (STARK, in ZSR 86/1967 <strong>II</strong> S. 66 ff., Skriptum N. 1018; STOESSEL, Das Regressrecht der AHV/IV<br />

gegen den Haftpflichtigen, S. 60). Andere Autoren, auf welche die Vorinstanz und die Kläger sich berufen,<br />

lehnen eine Kürzung des Anspruchs, den der Geschädigte gegen den Haftpflichtigen hat, ab<br />

und wollen dem Pflichtigen zulasten des Regressanspruchs der SUVA einen Ausgleich gewähren<br />

(OSWALD, in Schweiz. Zeitschrift für Sozialversicherung 1962 S. 277/78; R. SCHAER, Grundzüge des<br />

Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen, Rz. 982 ff.; STEIN, Haftungskompensation, in ZSR<br />

102/1983 S. 108).<br />

Ein solcher Ausgleich liegt in der Tat nahe. Er setzt jedoch voraus, dass ein Regressanspruch der SUVA<br />

gegeben und nicht etwa wegen des Quotenvorrechts des Geschädigten (BGE 113 <strong>II</strong> 91 E. 2 und BGE<br />

96 <strong>II</strong> 360 E. <strong>II</strong>I) ausgeschlossen ist; eine befriedigende Lösung muss auch darauf Rücksicht nehmen. Es<br />

bleibt dann die entscheidende Frage, ob die Haftungsquote, die dem Privileg des Art. 129 Abs. 2<br />

KUVG entspricht, letztlich zulasten des Geschädigten oder des Haftpflichtigen gehen soll. Dass dem<br />

Geschädigten deren Tragung zuzumuten sei, weil er in den Genuss der SUVA-Leistungen komme,<br />

lässt sich entgegen den Einwänden der Beklagten zum vornherein nicht sagen; denn diese Leistungen<br />

werden ihm gestützt auf Art. 100 KUVG so oder anders auf den Haftpflichtanspruch angerechnet. In<br />

diesem offenkundigen Dilemma ist nicht gegen, sondern zugunsten des Geschädigten zu entscheiden.<br />

Ein solidarisch haftender Halter kann auch faktisch, insbesondere wegen Zahlungsunfähigkeit,<br />

sein Rückgriffsrecht auf Mithaftende verlieren. Es entspricht aber dem Wesen der Solidarität und<br />

auch der Billigkeit, dass in einem solchen Fall er und nicht der Geschädigte den Ausfall zu tragen hat<br />

(BGE 112 <strong>II</strong> 144 E. 4, BGE 97 <strong>II</strong> 416). Im gleichen Sinn wird dem Haftpflichtigen nach der neuern<br />

Rechtsprechung keine Herabsetzung wegen mitwirkenden Drittverschuldens oder leichten Selbstverschuldens<br />

des Geschädigten gewährt (BGE 112 <strong>II</strong> 144, 98 <strong>II</strong> 104 Nr. 14). Nach dem Sinn und Zweck der<br />

Solidarhaft rechtfertigt es sich auch vorliegend, der Beklagten eine Kürzung des klägerischen Anspruchs<br />

infolge des Haftungsprivilegs zu versagen, selbst wenn sie dafür beim Regress der SUVA nicht<br />

zum Ausgleich kommen sollte; ob ein solcher überhaupt gegeben ist, braucht deshalb nicht entschieden<br />

zu werden.<br />

c) Bei der Abwägung von Verschulden und Betriebsgefahren hat das Obergericht zu Recht vor allem<br />

auf das Verschulden abgestellt (BGE 99 <strong>II</strong> 97 E. 2c mit Hinweisen). Das gilt nicht nur für B. und seine<br />

Arbeitgeberin, sondern auch für die pflichtwidrige Fahrweise des X. Die erhöhte Betriebsgefahr der<br />

beteiligten Fahrzeuge erforderte zudem beiderseits erhöhte Vorsicht und Aufmerksamkeit. Ob die<br />

Betriebsgefahr des Lastenzuges, der wegen fehlerhafter Beschaffenheit im Tunnel steckenblieb, oder<br />

89


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

jene des zu schnell fahrenden Lastwagens sich stärker auf den Unfall ausgewirkt habe, ist übrigens<br />

eine müssige Frage, weil die Beklagte nach dem Gesagten so oder anders für beide Gefahren solidarisch<br />

haftet. Auf dieser Grundlage geht es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht an, die Haftung<br />

hälftig zu verteilen. Es rechtfertigt sich aber auch nicht, auf jeden Abzug zulasten der Hinterbliebenen<br />

zu verzichten, wie dies von den Klägern verlangt wird. Als angemessen erscheint vielmehr das<br />

angefochtene Urteil, das die Betriebsgefahren mit einem Drittel, die Verschuldensanteile dagegen<br />

mit zwei Dritteln gewichtet und letzteres zu einem Drittel den Klägern anlastet. Der Anspruch der<br />

Kläger ist daher insgesamt um zwei Neuntel zu kürzen, während die Anteile Betriebsgefahren und<br />

Restanteil Verschulden der Beklagten zuzurechnen sind. Berufung und Anschlussberufung erweisen<br />

sich auch insoweit als unbegründet.<br />

BGE 116 <strong>II</strong> 422<br />

78. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. September 1990 i.S. M. gegen D. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Art. 58 <strong>OR</strong>. Werkeigentümerhaftung.<br />

Werkmangel bejaht bei einem sog. "Plauschbad", wo die bauliche Anlage und das Betriebskonzept<br />

jugendliche Badegäste dazu verleitet, an einer gefährlichen Stelle ins Wasser zu springen, und wo die<br />

Werkeigentümerin trotz erkannter Gefahr keine zumutbaren Schutzvorkehren trifft (E. 1 und 2). Bedeutung<br />

des Selbstverschuldens für den Kausalzusammenhang (E. 3) und die Bemessung des Schadenersatzes;<br />

Verschuldenskompensation (E. 4).<br />

Sachverhalt<br />

A.- Im Wellenbad S. in A., das der M. St. Gallen gehört, sprang der damals fünfzehnjährige D. am 5.<br />

Februar 1987 am südlichen Bassinrand aus 1,3 m Höhe kopfvoran in das 1,6 m tiefe Wasser. Er zog<br />

sich dabei eine Querschnittläsion zu und ist seither Tetraplegiker.<br />

B.- Am 5. Juli 1988 erhob D. beim Bezirksgericht Gossau gegen die Werkeigentümerin Teilklage auf<br />

Zahlung von Fr. 35'786.90 Schadenersatz, entsprechend den wegen Selbstverschuldens um 25% reduzierten,<br />

durch die IV nicht gedeckten Kosten für ein Auto mit Rollstuhlausbau, für die invalidengerechte<br />

Ausgestaltung der elterlichen Liegenschaft und für einen Personalcomputer, zu dessen Bedienung<br />

die motorischen Funktionen des Klägers noch ausreichten. Das Bezirksgericht reduzierte die<br />

Ersatzforderung wegen Selbstverschuldens um einen Drittel und schützte die Klage für Fr. 31'810.55<br />

nebst Zins. Auf Berufung der Beklagten hin bestätigte das Kantonsgericht St. Gallen am 10. Januar<br />

1990 das erstinstanzliche Urteil. Die Beklagte führt gegen den Entscheid des Kantonsgerichts erfolglos<br />

Berufung beim Bundesgericht.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

1. Gemäss Art. 58 Abs. 1 <strong>OR</strong> haftet der Werkeigentümer für den Schaden, der durch fehlerhafte Anlage<br />

oder Herstellung oder durch mangelhaften Unterhalt des Werkes verursacht wird. Ob ein Werk<br />

fehlerhaft angelegt oder mangelhaft unterhalten ist, hängt vom Zweck ab, den es zu erfüllen hat, da<br />

es einem bestimmungswidrigen Gebrauch nicht gewachsen zu sein braucht. Ein Werkmangel liegt<br />

deshalb vor, wenn es beim bestimmungsgemässen Gebrauch keine genügende Sicherheit bietet (BGE<br />

106 <strong>II</strong> 210 E. 1a mit Hinweisen). Ein Werk gilt nur dann als mängelfrei, wenn es mit denjenigen baulichen<br />

und technischen Schutzvorrichtungen versehen ist, die notwendig sind, um eine sichere Benutzung<br />

zu gewährleisten (BGE 106 <strong>II</strong> 210 E. 1a mit Hinweisen, BGE 77 <strong>II</strong> 311 E. 2; OFTINGER/STARK,<br />

90


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Bd. <strong>II</strong>/1, S. 203 Rz. 69; zu Badeanlagen im besonderen DIETER WE-<br />

BER, Zivilrechtliche Haftung öffentlicher und privater Badeanstalten, Diss. Bern 1977, S. 19).<br />

Wohl darf der Werkeigentümer mit einem vernünftigen und dem allgemeinen Durchschnitt entsprechenden<br />

vorsichtigen Verhalten der Benützer des Werkes rechnen und braucht geringfügige Mängel,<br />

die bei solchem Verhalten normalerweise nicht Anlass zu Schädigungen geben, nicht zu beseitigen<br />

(OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 209 f. Rz. 81 mit zahlreichen Hinweisen). Schaffen indessen wie im vorliegenden<br />

Fall die Konzeption und Zweckbestimmung der Anlage, der vom Werkeigentümer angesprochene<br />

Kreis der Benützer und das von einem Teil dieser Benützer zu erwartende unvernünftige<br />

Verhalten einen gefährlichen Zustand, kann sich der Werkeigentümer entgegen der Auffassung der<br />

Beklagten nicht darauf berufen, bei vernünftiger Benützung liege kein oder nur ein geringfügiger<br />

Mangel vor. Sind solche Umstände gegeben, ist vielmehr alles Zumutbare vorzukehren, damit sich<br />

die Gefahr nicht verwirklicht. Allein der Umstand, dass Badeunfälle einen grossen Teil aller Sportunfälle<br />

ausmachen, zeigt, dass gerade Badeanstalten nicht zu unterschätzende Gefahren bergen, denen es<br />

zum Schutz der Badegäste mit allen Mitteln zu begegnen gilt, sofern sich diese im Rahmen des wirtschaftlich<br />

und technisch Zumutbaren bewegen. Fehlt es an zumutbaren Schutzvorkehren, so liegt ein<br />

Werkmangel vor, für den der Werkeigentümer nach Art. 58 <strong>OR</strong> haftet.<br />

Besonders strenge Sicherheitsanforderungen sind zu stellen, wenn die Gefährdung wie im vorliegenden<br />

Fall zutage tritt (OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 205 Rz. 72). Dabei kann diese Gefährdung auch auf<br />

ein Verhalten der Benützer zurückzuführen sein, das von der ursprünglichen Zweckbestimmung des<br />

Werkeigentümers abweicht. Trifft der Werkeigentümer trotz erkannter Gefahr keine Massnahmen,<br />

um die Benützer an einem solchen Verhalten zu hindern, kann er sich nicht auf den Zweck berufen,<br />

für den er die Anlage bestimmt hat, sondern muss sich die als gefährlich erkannte tatsächliche Benützung<br />

entgegenhalten lassen, wenn er nichts dagegen unternimmt (BGE 74 <strong>II</strong> 155 Nr. 26, vollständig<br />

publiziert in: SJ 1949 S. 181 ff., insbesondere S. 187 f. E. 1c). Die Duldung einer erkannten Gefahr<br />

begründet sodann regelmässig einen Schuldvorwurf mit der Folge, dass bei einem schädigenden<br />

Ereignis auch die Haftungsvoraussetzungen nach Art. 41 <strong>OR</strong> gegeben sind (WEBER, a.a.O., S. 69 f.).<br />

2. In der Berufung gibt die Beklagte das angefochtene Urteil unvollständig wieder. Das Kantonsgericht<br />

begnügt sich keineswegs mit der Feststellung, der Mangel habe darin bestanden, dass an der<br />

Einsprungstelle keine Verbotstafel angebracht gewesen sei.<br />

a) Aufgrund von Augenscheinen stellt die Vorinstanz, die für den Sachverhalt ergänzend auf den erstinstanzlichen<br />

Entscheid verweist, in tatsächlicher Hinsicht für das Bundesgericht vorbehältlich der<br />

Ausnahmen von Art. 63 Abs. 2 OG verbindlich fest, dass sich am südlichen Kopfende des Bassins, wo<br />

das Wasser mit 1,6 m am tiefsten und der Abstand zwischen Wasserspiegel und Bassinrand mit 1,3 m<br />

am grössten sei, ein aus ästhetischen Gründen angebrachtes, nischenartiges Plätzchen von gut 2 m<br />

Tiefe befinde, das von hinten über ein paar Treppenstufen bequem zugänglich sei und gegen das<br />

Bassin hin durch einen Pflanzentrog abgegrenzt werde. In Blickrichtung zum Bassin hin seien im linken<br />

Teil des Pflanzentrogs Steine, rechts vom Pflanzentrog Felsblöcke aufgeschichtet, die ein Weiterkommen<br />

unmöglich machten. Hingegen befinde sich zwischen den Steinen und den Felsblöcken ein<br />

90 cm breiter "Durchgang" zum Wasser, durch den die über die Treppe kommenden Badegäste trotz<br />

"den paar im Pflanzentrog eingesteckten Blattwedeln" aus Plastik "geradewegs auf das Blau des<br />

Schwimmbads" blickten. Beschränkt gewesen sei der Zugang zum Wasser im Unfallszeitpunkt im<br />

Bereich dieser 90 cm abgesehen von der "Bepflanzung" lediglich durch den 28 cm hohen und einschliesslich<br />

Umfassungen knapp 1 m "breiten" Pflanzentrog; die auf der Bassinseite 31 cm und auf<br />

der anderen Seite 40 cm breite Umfassung sei mit griffigen, nicht unangenehm zu betretenden Keramikplatten<br />

bedeckt. Dieser "Durchgang", wo der Kläger ins Wasser gesprungen sei, habe als "eigentliche<br />

Einladung zum Hineinspringen empfunden" werden können, zumal das Wellenbad S. über<br />

keine Sprunganlage verfüge und diese praktisch die einzige Stelle sei, von der aus ein sportliches<br />

Eintauchen als möglich erscheine. Das Fehlen von zumutbaren Vorkehren wie Verbotstafeln und<br />

Abschrankungen in diesem kritischen Bereich stelle einen Werkmangel dar, der nicht bloss als geringfügig<br />

zu bezeichnen sei.<br />

91


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

aa) Unbegründet ist die in der Berufung erhobene Rüge, die Vorinstanz nehme aus offensichtlichem<br />

Versehen im Sinne von Art. 55 Abs. 1 lit. d OG an, die vom Kläger zu überwindende "Breite" des 28<br />

cm hohen Pflanzentrogs habe knapp 1 m betragen, obwohl insgesamt 1 m "Tiefe" zu überwinden<br />

gewesen sei. Ob die Distanz von knapp einem Meter als Breite oder als Tiefe bezeichnet wird, hängt<br />

vom Standpunkt des Betrachters ab. Von oben betrachtet ist das 28 cm hohe Hindernis knapp 1 m<br />

breit, von der Nische her betrachtet knapp 1 m tief.<br />

bb) Den festgestellten Tatsachen widersprechend und damit unzulässig (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG) ist<br />

die Berufung insoweit, als die Beklagte den Werkmangel mit der Behauptung bestreitet, bei der "Bepflanzung"<br />

habe es sich um eine wirksame Schranke in Form eines "grünen Vorhangs" gehandelt.<br />

Dass die "Bepflanzung" keineswegs undurchdringlich, sondern mit Leichtigkeit zu überwinden war,<br />

wird ausserdem durch die vorinstanzliche Feststellung bestätigt, dass die Plastikpflanzen öfters durch<br />

ins Wasser springende Badegäste beiseite gedrückt worden seien, weshalb sie vom Bademeister<br />

wiederholt hätten gerichtet und ersetzt werden müssen.<br />

b) Nachdem feststeht, dass die Beklagte mit der baulichen Gestaltung ihrer Anlage einen "ziemlich<br />

starken" Anreiz schuf, an der fraglichen Stelle, die angesichts der geringen Wassertiefe und der Einsprunghöhe<br />

von 1,3 m für Kopfsprünge unstreitig gefährlich ist, ins Wasser zu springen, sprechen die<br />

Berufungsvorbringen über den bestimmungsgemässen Gebrauch der Anlage nicht gegen, sondern für<br />

einen Werkmangel:<br />

aa) Die Beklagte beruft sich wie bereits im kantonalen Verfahren auch noch in der Berufungsschrift<br />

und ihrem Parteivortrag vor Bundesgericht mit Nachdruck darauf, dass ihre Anlage ein "Plausch- und<br />

Vergnügungsbad" und nicht ein Sportbad sei. Nach den vorinstanzlichen Feststellungen liegt der Anlage<br />

die Philosophie zugrunde, dass das Freiheitsgefühl der Benutzer nicht eingeengt werden solle,<br />

wobei sich das Angebot des Wellenbades S. nicht nur an ein älteres Publikum, sondern auch an Kinder<br />

und Jugendliche richte. Nebst der entspannten Atmosphäre trügen die malerisch angeordneten<br />

Steinblöcke, die Felsen mit der tropischen Bepflanzung und das intensive Blau des Wassers das ihre<br />

dazu bei, Kinder und Jugendliche zu übermütigen Handlungen zu stimulieren.<br />

bb) War die Anlage dazu bestimmt, die Besucher zu uneingeschränktem Badevergnügen, zu dem bei<br />

Kindern und Jugendlichen selbstredend auch das Hineinspringen gehört, zu stimulieren, hatte die<br />

Beklagte insbesondere nach erkannter Gefährdung alles vorzukehren, um ein gefahrloses Vergnügen<br />

zu gewährleisten. Hielt die Beklagte Verbotstafeln mit ihrer "Plauschphilosophie" für unvereinbar, so<br />

hatte sie durch bauliche Massnahmen dafür zu sorgen, dass das Bad sicher benutzt werden konnte,<br />

beispielsweise durch eine Abschrankung oder dadurch, dass die Umfassung des Pflanzentrogs statt<br />

mit Keramikplatten mit spitzen Steinen, die nicht zum Daraufstehen eingeladen hätten, belegt worden<br />

wäre. Das Fehlen derartiger, für die Beklagte ohne weiteres zumutbarer Massnahmen stellte in<br />

Anbetracht der baulichen Anlage, des freiheitlichen Betriebskonzepts, der jugendlichen Benützer und<br />

der Tatsache der erkannten Gefahr einen erheblichen Werkmangel dar, für den die Beklagte als Werkeigentümerin<br />

einzustehen hat.<br />

Ein gewisses, freilich mit grosser Zurückhaltung zu bewertendes Indiz dafür, dass die Beklagte ihre<br />

Anlage selbst als mangelhaft anerkennt, ergibt sich aus der vorinstanzlichen Feststellung, dass an der<br />

Unfallstelle nachträglich ein - entsprechend der "Plauschphilosophie" - diskretes Hinweisschildchen<br />

mit der Aufschrift "Hier springen wir nicht hinein" angebracht und ein Seil gespannt worden sei (OF-<br />

TINGER/STARK, a.a.O., S. 212 Rz. 85 mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung in Fn. 310).<br />

3. Wurden jugendliche Badegäste durch die bauliche Anlage und das Betriebskonzept der Beklagten<br />

dazu verleitet, an der fraglichen Stellen ins Wasser zu springen, so ist das Verhalten des Klägers entgegen<br />

den Berufungsvorbringen nicht derart abwegig und unvernünftig, dass der Werkmangel als<br />

Unfallursache völlig in den Hintergrund gedrängt würde und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge<br />

und der Lebenserfahrung nicht mehr als adäquate Schadensursache erschiene (BGE 108 <strong>II</strong> 54 E. 3 mit<br />

Hinweisen).<br />

4. Ebenso unbegründet ist das in der Berufung gestellte Eventualbegehren, das Selbstverschulden<br />

des Klägers gestützt auf Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong> wenigstens als Grund zur Herabsetzung des Schadenersatzes<br />

von zwei Dritteln auf einen Viertel zu berücksichtigen. Nach den vorinstanzlichen Feststellungen<br />

92


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

war für den damals 15jährigen Kläger die Annahme verständlich, er dürfe gleich andern, von der Aufsicht<br />

so wenig wie er abgehaltenen Badbesuchern den Sprung von jener Stelle aus wagen. Ob bei<br />

einer Sprunghöhe von 1,3 m eine Wassertiefe von 1,6 m ausreicht, hängt entscheidend vom Eintauchwinkel<br />

ab; dass sie unter Umständen ungenügend sein könnte, hat jedoch der Kläger laut Vorinstanz<br />

mangels Hinweisen der Beklagten nicht erkennen können. Zum Verschulden, das bei Kindern<br />

und Jugendlichen ohnehin milder beurteilt wird (BGE 102 <strong>II</strong> 368), gereicht ihm daher allein das Ausserachtlassen<br />

der Tatsache, dass der Ort seines Absprunges offensichtlich nicht als Einsprungsort<br />

konzipiert war. Eine Herabsetzung seines Anspruches um mehr als einen Drittel rechtfertigt sich<br />

deswegen nicht. Sie wird bereits durch die Tatsache ausgeschlossen, dass ein Werkmangel vorlag, an<br />

dem die Beklagte, die nach den vorinstanzlichen Feststellungen trotz erkannter Gefahr keine Schutzvorkehren<br />

getroffen und das Bad nur lückenhaft überwacht hat (BGE 113 <strong>II</strong> 427 f. E. 1c; WEBER,<br />

a.a.O., S. 71 und 86), zusätzlich auch ein Verschulden trifft, welches das Selbstverschulden des Klägers<br />

zu einem grossen Teil kompensiert. Praxisgemäss findet bei leichtem Verschulden eine Reduktion<br />

um einen Viertel bis zu einem Drittel statt (BGE 106 <strong>II</strong> 212 E. 3, BGE 103 <strong>II</strong> 246 E. 5, BGE 91 <strong>II</strong> 212<br />

E. 5c, BGE 60 <strong>II</strong> 348 E. 5; vgl. auch die Zusammenstellung bei BREHM, N 29 zu Art. 44 <strong>OR</strong>).<br />

Seitens des Klägers ist das Ausmass der Reduktion nicht angefochten. Daher kann offenbleiben, ob<br />

und wieweit das Verschulden der Beklagten das Selbstverschulden des Klägers nicht weitergehend zu<br />

kompensieren vermöchte (BGE 111 <strong>II</strong> 443 E. 3b, zurückhaltend BGE 113 <strong>II</strong> 328 E. 1c).<br />

BGE 133 <strong>II</strong>I 81 = Pra 96 (2007) Nr. 93<br />

8. Extrait de l'arrêt de la Ire Cour civile dans la cause X. contre Y. AG (recours en réforme)<br />

4C.298/2006 du 19 décembre 2006<br />

Regeste<br />

Produktehaftpflicht; Mangel (Art. 4 PrHG); Beweis.<br />

Begriff des Mangels. Beweislastverteilung (E. 3).<br />

Der Geschädigte hat nicht die Ursache des Mangels zu beweisen, sondern es genügt, wenn er aufzeigt,<br />

dass das Produkt die berechtigten Sicherheitserwartungen des durchschnittlichen Konsumenten<br />

nicht erfüllte. Kommt es im Zusammenhang mit dem Gebrauch eines Produktes zu einem Unfall,<br />

beurteilt sich der Beweis des Geschehensablaufs, der zum Unfall geführt hat, im Prinzip nach dem<br />

Gesichtspunkt der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (E. 4).<br />

Sachverhalt<br />

Im März 2000 kaufte sich Frau X. im Geschäft G. in Genf eine Filterkaffeemaschine der Marke V., Modell<br />

U. Sie bewahrte weder die Verpackung noch die Gebrauchsanweisung auf. Im Jahr 1999 hatte die<br />

Y. AG (nachstehend Y.) ca. 15 000 Kaffeemaschinen dieses Typs von B. Ltd. in Hong Kong erworben.<br />

Die Gebrauchsanweisung enthielt folgende «Sicherheitshinweise und wichtige Mitteilungen»:<br />

«Vermeiden sie es, die Maschine fallen zu lassen oder sie Schlägen auszusetzen. Stellen sie das noch<br />

heisse Glasgefäss nie auf eine kalte oder nasse Ablage, denn das Glas könnte zerspringen. Ersetzen<br />

sie das Gefäss unverzüglich durch ein gleichartiges Modell, sobald sich der Griff zu lösen beginnt oder<br />

das Glas beschädigt wird.»<br />

Vor dem Export durchlief das Modell U. erfolgreich eine Qualitätskontrolle.<br />

Am 8. Juni 2001 hatte X. das Ehepaar D. sowie E. zum Nachtessen eingeladen. Nach dem Essen begab<br />

sie sich in die Küche, um dort mit der erwähnten Maschine einen Kaffee zuzubereiten. Die Gäste<br />

blieben im Esszimmer. Den Aussagen von X. zufolge stellte sie das Glasgefäss mit dem zubereiteten<br />

Kaffee auf die Küchenablage und setzte den Deckel darauf. In der Folge explodierte der Krug und X.<br />

zog sich an der linken Hand ernsthafte Verletzungen zu. Unverzüglich ins Kantonsspital Genf eingelie-<br />

93


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

fert, wurde sie operiert. Als sie am Tag darauf nach Hause kam, stellte sie fest, dass die Gäste die<br />

Küche gereinigt und die Glasscherben in den Abfalleimer geworfen hatten.<br />

Der Operationsbericht spricht von einer Wunde in der linken Handfläche mit einer subtotalen Durchtrennung<br />

des tiefen Beugemuskels sowie von einer Durchtrennung des kollateralen radialen Nervs<br />

des Ringfingers, was bei diesem Finger zu Empfindungsstörungen führte. In der Folge suchte die Patientin,<br />

welche Linkshänderin ist, verschiedene Ärzte auf, um die Schmerzen und Behinderungen, welche<br />

sie beim Gebrauch ihrer Hand verspürte, behandeln zu lassen.<br />

Am 17. November 2003 klagte X. gegen Y. AG, die Herstellerin der Kaffeemaschine, auf Zahlung von<br />

CHF 720 948.70.– zuzüglich Zinsen, davon CHF 66 634.15 als Ausgleich für den bereits erlittenen<br />

Schaden, CHF 7 876.80 als Genugtuung sowie CHF 646 437.75 für zukünftigen kapitalisierten Schaden.<br />

Die Klage stützte sich auf das Bundesgesetz vom 18. Juni 1993 über die Produkthaftpflicht<br />

(PrHG; SR 221.112.944).<br />

Mit Urteil vom 13. Oktober 2005 wies das erstinstanzliche Gericht des Kantons Genf die Klage ab.<br />

Nachdem X. dagegen Berufung erhoben hatte, bestätigte die Zivilkammer des Cour de justice den<br />

erstinstanzlichen Entscheid.<br />

Mit eidgenössischer Berufung gelangt X. ans Bundesgericht. Das Bundesgericht heisst die Berufung<br />

gut, hebt den kantonalen Entscheid auf und weist die Sache zwecks neuer Entscheidung an die Vorinstanz<br />

zurück.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

1.– 2. [. . .]<br />

3.<br />

Das PrHG basiert weitgehend auf der Richtlinie 85/374/EWG vom 25. Juli 1985 und schafft eine verschuldensunabhängige<br />

Haftung, welche allein an die Fehlerhaftigkeit des Produktes anknüpft (Franz<br />

Werro, La responsabilité civile, S. 184 f. N 705 f.; Gilles Petitpierre, Genèse d'une nouvelle réglementation,<br />

in: Responsabilités objectives, Journée de la responsabilité civile 2002, S. 23 f.). Die Fehlerhaftigkeit<br />

spielt somit bei der Produktehaftpflicht eine zentrale Rolle (Hansjörg Seiler, in: Münch/Geiser<br />

[Hrsg.], Schaden – Haftung – Versicherung, S. 948 N 19.23; Catherine Weniger, La responsabilité du<br />

fait des produits pour les dommages causés à un tiers aus sein de la Communauté Européenne, Diss.,<br />

Lausanne 1994, S. 122; Fellmann/von Büren-von Moos, Grundriss der Produkthaftpflicht, S. 72 N<br />

172).<br />

3.1 Gemäss Art. 4 Abs. 1 PrHG ist ein Produkt fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man<br />

unter Berücksichtigung aller Umstände zu erwarten berechtigt ist. Namentlich von Bedeutung sind<br />

dabei seine Präsentation (lit. a), der Gebrauch, mit dem vernünftigerweise gerechnet werden darf<br />

(lit. b) sowie der Zeitpunkt, in dem es in Verkehr gebracht wurde (lit. c). Diese Definition wurde praktisch<br />

wörtlich von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG übernommen. Wie aus den einführenden<br />

Erwägungen dieser Richtlinie hervorgeht, zielt die Produktehaftpflicht darauf ab, «den Konsumenten<br />

davor zu schützen, dass fehlerhafte Produkte seine Gesundheit oder sein Eigentum schädigen» (Erwägung<br />

1). Infolgedessen bestimmt sich die Fehlerhaftigkeit nicht «nach der Gebrauchstauglichkeit,<br />

sondern nach dem Mangel an Sicherheit, auf welche das Publikum berechtigterweise vertrauen<br />

darf». Dabei wird präzisiert, dass «bei der Bestimmung dieser Sicherheit jegliche nach den Umständen<br />

unvernünftige missbräuchliche Verwendung des Produktes ausgeschlossen ist» (Erwägung 6).<br />

Denn es geht auch darum, die Risiken zwischen der geschädigten Person und dem Hersteller gerecht<br />

zu verteilen» (Erwägung 7). In Anbetracht der offensichtlichen Analogie zwischen der europäischen<br />

Richtlinie und dem Schweizerischen Recht sind diese Erwägungen auch bei der Bestimmung des vom<br />

PrHG angestrebten Zwecks massgebend.<br />

Die Sicherheit, mit der man vernünftigerweise rechnen darf, ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Es<br />

ist Aufgabe des Richters, in Würdigung aller Umstände des Einzelfalles den für ein Produkt nötigen<br />

Sicherheitsgrad festzustellen (BSK <strong>OR</strong> I-Fellmann, 3. Aufl., N 2 zu Art. 4 PrHG; Rey, Ausservertragliches<br />

<strong>Haftpflichtrecht</strong>, 3. Aufl., S. 266 f. N 1190; AndreasBorsari, Schadensabwälzung nach dem<br />

schweizerischen Produkthaftpflichtgesetz, Diss., Zürich 1998, S. 110; Hans-Joachim Hess, Kommentar<br />

zum Produktehaftpflichtgesetz, 2. Aufl., N 4 zu Art. 4 PrHG, S. 240; Lukas Wyss, Der Fehlerbegriff im<br />

94


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

schweizerischen Produktehaftpflichtgesetz, recht 1996, S. 119; Fellmann/von Büren-von Moos,<br />

a.a.O., S. 76 N 185). Das Pronomen «man», welches in Art. 4 PrHG verwendet wird, verweist auf die<br />

Sicherheitserwartung des Durchschnittskonsumenten und nicht auf die Sicherheitserwartungen des<br />

Geschädigten oder einer Gruppe von besonders qualifizierten oder unqualifizierten Verwendern. Die<br />

in einem konkreten Fall massgebende Sicherheitserwartung bestimmt sich nach objektiven Kriterien<br />

(Erdem Büyüksagis, La notion de défaut dans la responsabilité du fait des produits, Diss., Fribourg<br />

2005, S. 248 – 250; Werro, a.a.O., S. 194 N 749; Rey, a.a.O., S. 266 N 1190; Hess, a.a.O., N 7 ff. zu Art.<br />

4 PrHG, S. 241 ff.; Fellmann/von Büren-von Moos, a.a.O., S. 75 N 182 f.).<br />

Im Übrigen hat der Richter «alle Umstände» zu berücksichtigen. Art. 4 Abs. 1 PrHG nennt davon ausdrücklich<br />

drei besonders wichtige (Rey, a.a.O., S. 267 N 1190; Borsari, a.a.O., S. 119; Fellmann/von<br />

Büren-von Moos, a.a.O., S. 82 N 207).<br />

Die Art und Weise, in der das Produkt dem Publikum präsentiert wird (lit. a), umfasst namentlich<br />

auch die vom Hersteller gelieferte Gebrauchsanweisung. In diesem Zusammenhang ist die Aufmerksamkeit<br />

des Konsumenten deutlich auf die vorhersehbaren, mit dem Gebrauch verbundenen Gefahren<br />

und deren Verhütung zu lenken (Rey, a.a.O., S. 267 N 1192; Borsari, a.a.O., S. 127; Hess, a.a.O., S.<br />

265 f. N 66 – 68; Fellmann/von Büren-von Moos, a.a.O., S. 91 f. N 240 – 245). Diese Informationspflicht<br />

stellt jedoch keine Alternative zur Verpflichtung des Herstellers dar, sichere Produkte zu entwerfen<br />

und herzustellen (Fellmann, a.a.O., N 15 zu Art. 4 PrHG; Borsari, a.a.O., S. 132; Wyss, a.a.O., S.<br />

114; Fellmann/von Büren-von Moos, a.a.O., S. 93 N 247; vgl. auch Werro, a.a.O., S. 197 N 762). Bei<br />

Produkten des gewöhnlichen Gebrauchs, von denen das Publikum eine bestimmte minimale Sicherheit<br />

erwartet, darf sich der Hersteller nicht mittels eines Sicherheitshinweises im Voraus von seiner<br />

Haftung befreien (vgl. Art. 8 PrHG; Fellmann, a.a.O., N 15 zu Art. 4 PrHG; Borsari, a.a.O., S. 132); man<br />

denke beispielsweise an das Explosionsrisiko einer Glasflasche, welche kohlensäurehaltiges Wasser<br />

enthält (Fellmann/von Büren-von Moos, a.a.O., S. 93 f. N 248). Ein anderes Kriterium, welches der<br />

Richter anzuwenden hat, ist der Gebrauch, mit dem vernünftigerweise zu rechnen ist (Art. 4 Abs. 1<br />

lit. b PrHG). Dieser Begriff beinhaltet nicht nur die zweckgerechte Verwendung, sondern auch einen<br />

anderen Gebrauch («Fehlgebrauch»), mit dem der Hersteller vernünftigerweise rechnen muss (Beispiel:<br />

Verwendung eines Stuhls als Schemel). Umgekehrt entfällt die Produktehaftpflicht bei missbräuchlichem<br />

Gebrauch (beispielsweise Trocknung eines Hundes in einem Mikrowellenofen; Rey,<br />

a.a.O., S. 267 f. N 1194 f.; Borsari, a.a.O., S. 139 ff.; Fellmann/von Büren-von Moos, a.a.O., S. 96 ff. N<br />

257– 264).<br />

Der dritte Umstand, welcher in Art. 4 Abs. 1 PrHG erwähnt wird, ist der Zeitpunkt, in welchem das<br />

Produkt in Verkehr gebracht wurde (lit. c). Hat ein fehlerhaftes Produkt einen Schaden verursacht,<br />

vermutet das Gesetz, dass der Fehler schon zum Zeitpunkt vorhanden war, in dem das Produkt in<br />

Verkehr gebracht wurde (vgl. Art. 5 Abs. 1 lit. b PrHG; Rey, a.a.O., S. 272 N 1211).<br />

Nebst den in Art. 4 Abs. 1 PrHG ausdrücklich genannten Kriterien können auch technische Normen<br />

und Sicherheitsvorschriften bei der Beurteilung der Fehlerhaftigkeit eine Rolle spielen. Tatsächlich<br />

darf der durchschnittliche Konsument darauf vertrauen, dass der Hersteller diese Normen einhält<br />

und so sicherstellt, dass eine minimale Produktesicherheit gewährleistet ist (Fellmann, a.a.O., N 27 zu<br />

Art. 4 PrHG; Rey, a.a.O., S. 268 N 1199).<br />

3.2<br />

Die Lehre unterteilt die Fehler im Allgemeinen nach ihrer Ursache (vgl. auch BGer, 4C.307/2005 vom<br />

25. Januar 2006 E. 3). Ein Fabrikationsfehler liegt vor, wenn im Fabrikationsprozess eines an sich sicher<br />

konzipierten Produktes ein Fehler passiert (Werro, a.a.O., S. 196 N 755; Seiler, a.a.O., S. 940 N<br />

19.6; Hess, a.a.O., S. 253 N 37). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn im Glas einer kohlensäurehaltigen<br />

Mineralwasserflasche ein kleiner Riss auftritt, und zwar selbst wenn es sich dabei um einen statistisch<br />

unvermeidbaren Ausreisser handelt (BGH, Urteil vom 9. Mai 1995, in: NJW 1995, S. 2162;<br />

Büyüksagis, a.a.O., S. 285 f.). Ein anderes Beispiel für einen Fabrikationsfehler ist der Riss einer vorfabrizierten<br />

Aufhängeschlaufe, die in einer Betonplatte eingefügt war, und zwar nachdem bereits<br />

eine grosse Anzahl identischer Betonplatten hergestellt worden waren und die Aufhängeschlaufen<br />

immer gehalten und nie Probleme verursacht hatten (vgl. BGE 110 <strong>II</strong> 456 = Pra 74 Nr. 101).<br />

Ein Konstruktionsfehler bezieht sich auf die Planung eines Produktes (Werro, a.a.O., S. 196 N 757). So<br />

wie das Produkt konzipiert wurde, weist es eine Beschaffenheit auf, welche gefährlich ist, und zwar<br />

95


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

bei zweckkonformem Gebrauchs oder bei einem anderen Gebrauchs, mit dem der Hersteller vernünftigerweise<br />

rechnen musste (Seiler, a.a.O., S. 949 N 19.26; Hess, a.a.O., S. 248 N 22). Ein Beispiel<br />

für einen Konstruktionsfehler findet sich im Urteil des Bundesgerichts C.564/1984 vom 14. Mai 1985:<br />

Der Stuhl eines Zahnarztes liess unter dem Gewicht eines Patienten nach, weil die Nieten, die die<br />

beweglichen Teile des Stuhles hätten halten sollen, aus einem Metall waren, welches im Rahmen der<br />

Abnützung nicht den nötigen mechanischen Widerstand aufwies.<br />

Ein Instruktionsfehler betrifft Produkte, welche nicht mit einer geeigneten Information hinsichtlich<br />

der gegenüber dem Konsumenten bestehenden Risiken versehen sind (Werro, a.a.O., S. 197 N 759;<br />

Plüss/Jetzer, Die Produktehaftpflicht, S. 46 f. N 120)<br />

Das PrHG unterscheidet nicht nach der Ursache des Fehlers. Dies bedeutet, dass den vorerwähnten<br />

Kategorien keine normative Bedeutung zukommt (Rey, a.a.O., S. 269 N 1202; Fellmann, a.a.O., N 4 zu<br />

Art. 4 PrHG; Fellmann/von Büren-von Moos, a.a.O., S. 81 N 202; a.M. Hess, a.a.O., S. 247 N 21). Dennoch<br />

sind diese Unterscheidungen nicht ohne Nutzen, denn sie erlauben dem Richter, den Sachverhalt<br />

besser zu erfassen (Plüss/Jetzer, a.a.O., S. 45 N 115).<br />

3.3<br />

Im Gegensatz zur Richtlinie 85/374/EWG (vgl. Art. 4) enthält das PrHG keine Bestimmung, welche<br />

dem Geschädigten den Beweis des Fehlers auferlegt. Im schweizerischen Produktehaftpflichtrecht<br />

ergibt sich eine derartige Verteilung der Beweislast allerdings aus dem allgemeinen Grundsatz von<br />

Art. 8 ZGB (Pierre Wessner, Quelques propos erratiques sur des questions liées à la responsabilité du<br />

fait des produits défectueux, in: Responsabilités objectives, Journée de la responsabilité civile 2002,<br />

S. 68; Fellmann/von Büren-von Moos, a.a.O., S. 73 N 176). Der Schaden an sich beweist noch keinen<br />

Produktefehler (Wyss, a.a.O., S. 111). Steht allerdings fest, dass das Produkt bei der Entstehung des<br />

Schadens eine Rolle gespielt hat, so hat der Geschädigte ein bedeutendes Indiz für das Bestehen<br />

eines Fehlers geliefert, und zwar in Anwendung des Grundsatzes «res ipsa loquitur» (Wessner, a.a.O.,<br />

S. 68 a.E.; vgl. auch Fellmann/von Büren-von Moos, a.a.O., S. 73 f. N 178). Eine kohlensäurehaltige<br />

Mineralwasserflasche, die explodiert, und ein Auto, dessen Bremsen nicht funktionieren, sind zweifelsohne<br />

fehlerhafte Produkte (Hess, a.a.O., S. 249 N 24). In Anwendung des nationalen Rechts, welches<br />

im Zuge der Richtlinie 85/374/EWG erlassen worden war, entschied ein französisches Gericht,<br />

dass die Scheibe eines Cheminées, welche explodierte, fehlerhaft sei, und zwar unabhängig von<br />

Rauchabzug oder Zimmerlüftung (Entscheid mitgeteilt in: Receuil Le Dalloz 2001, S. 3092 N 38).<br />

4.<br />

4.1<br />

Vorliegend hatte die Klägerin – entgegen der Vorinstanz – nicht mittels Gutachten zu beweisen, dass<br />

das Glasgefäss der Kaffeemaschine einen Fabrikations- oder Konstruktionsfehler aufwies. In der Tat<br />

hätte die Analyse der Glassplitter möglicherweise die Existenz von kleinen Rissen zu Tage gebracht,<br />

welche einen Fabrikationsfehler darstellen würden. Ebenso hätte die Untersuchung einer gleichartigen<br />

Kaffeemaschine bezüglich der Qualität des verwendeten Glases vorliegend einen Konstruktionsfehler<br />

belegen können. Hätte die Klägerin auf diese Weise einen Fabrikations- oder Konstruktionsfehler<br />

beweisen können, so hätte die Fehlerhaftigkeit des Produktes zweifelsohne festgestanden. Dies<br />

bedeutet aber nicht, dass das Fehlen der Sicherheit, welche der Konsument berechtigterweise erwarten<br />

darf, nur auf diesem Umweg bewiesen werden kann. Wie bereits dargelegt, kommt den Begriffen<br />

«Fabrikations- bzw. Konstruktionsfehler» keine normative Bedeutung zu. Der Geschädigte hat nicht<br />

die Ursache des Fehlers zu beweisen, sondern lediglich, dass das Produkt nicht die Sicherheit aufwies,<br />

die der Durchschnittskonsument unter Berücksichtigung der Umstände berechtigterweise erwarten<br />

durfte. Daraus folgt, dass die Vorinstanz vorliegend von einem Fehlerbegriff ausgegangen ist,<br />

welcher mit Art. 4 PrHG nicht zu vereinbaren ist.<br />

4.2<br />

Vorliegend gilt es zu prüfen, ob die Klägerin aufgrund der im angefochtenen Entscheid enthaltenen<br />

Tatsachen bewiesen hat, dass die streitige Kaffeemaschine einen Fehler i.S.v. Art. 4 PrHG aufwies,<br />

d.h. dass sie nicht den Erwartungen entsprach, die ein Durchschnittskonsument berechtigterweise<br />

haben durfte, und zwar unter Berücksichtigung der Präsentation sowie des Gebrauchs, der vernünftigerweise<br />

erwartet werden kann.<br />

4.2.1<br />

96


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Zum Unfallzeitpunkt benutzte die Klägerin die Kaffeemaschine seit etwas mehr als einem Jahr. Es<br />

handelte sich somit um eine noch ziemlich neue Maschine. Das Modell durchlief erfolgreich Qualitätstests,<br />

wodurch ein Fehler i.S.v. Art. 4 PrHG jedoch nicht ausgeschlossen werden kann. Als der<br />

Glasbehälter explodierte, bereitete die Klägerin Kaffee zu. Folglich benutzte sie die Maschine zweckkonform.<br />

Im Gegensatz zu den vorgenannten Fällen betreffend eine kohlensäurehaltige Mineralwasserflasche<br />

sowie eine Cheminéescheibe erfolgte die Explosion, als die Klägerin die Kaffeemaschine<br />

betätigte. Es stellt sich somit die Frage, ob die Geschädigte die Kaffeemaschine korrekt betätigte,<br />

namentlich ob sie die Sicherheitsvorkehrungen des Herstellers beachtet hat, es sei denn, diese erscheinen<br />

als inakzeptable Beschränkungen der Herstellerhaftung.<br />

Der angefochtene Entscheid enthält keinerlei Feststellungen über den Unfallhergang. In der Tat hat<br />

die Vorinstanz festgestellt, dass die Ursachen der Explosion nicht mit Sicherheit festgestellt werden<br />

konnten. Die Klägerin, die sich zu diesem Zeitpunkt allein in der Küche aufhielt, erklärte, dass sie das<br />

mit heissem Kaffee gefüllte Glasgefäss auf der Arbeitsfläche aus Marmor abgestellt und den Deckel<br />

aufsetzt habe. In diesem Augenblick sei das Glasgefäss explodiert.<br />

4.2.2<br />

Es ist Sache der Klägerin, den Fehler zu beweisen. Dies beinhaltet vorliegend namentlich die Umstände<br />

des Unfalls.<br />

Grundsätzlich gilt eine Tatsache als bewiesen, wenn sich der Richter von der Wahrheit der Behauptung<br />

überzeugt hat. Gesetz, Lehre und Rechtsprechung haben Ausnahmen zu dieser Beweiswürdigungsregel<br />

aufgestellt. Bei Beweisnot sind Beweiserleichterungen gerechtfertigt. Eine solche liegt<br />

vor, wenn aufgrund der Natur der Sache ein Vollbeweis nicht möglich ist oder vernünftigerweise<br />

nicht verlangt werden kann, namentlich wenn die von der mit dem Beweis belasteten Partei behaupteten<br />

Tatsachen nur indirekt oder mittels Indizien bewiesen werden könne (BGE 132 <strong>II</strong>I 715 E. 3.1 S.<br />

720; 130 <strong>II</strong>I 321 E. 3.2 S. 324, m.Hinw.). Dies kann etwa bei einem Schadensfall im Rahmen einer<br />

Diebstahlsversicherung vorkommen (BGE 130 <strong>II</strong>I 321 E. 3.2 S. 325 m.Hinw.) sowie bei Vorliegen eines<br />

natürlichen bzw. hypothetischen Kausalzusammenhangs (BGE 132 <strong>II</strong>I 715 E. 3.2 S. 720 m.Hinw.). Das<br />

erforderliche Beweismass beschränkt sich in diesem Falle auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit,<br />

welche höheren Anforderungen unterliegt als die blosse Glaubhaftmachung. Überwiegende Wahrscheinlichkeit<br />

bedeutet, dass bei objektiver Betrachtungsweise wichtige Gründe für die Wahrheit der<br />

Behauptung sprechen, ohne dass andere Möglichkeiten von grosser Bedeutung wären oder vernünftigerweise<br />

in Betracht zu ziehen sind (BGE 132 <strong>II</strong>I 715 E. 3.1 S. 720; 130 <strong>II</strong>I 321 E. 3.3 S. 325).<br />

Im Rahmen von Art. 8 ZGB kommt der Partei, welche nicht mit dem Beweis belastet ist, das Recht<br />

zum Gegenbeweis zu. So wird sie versuchen, die Umstände zu beweisen, welche geeignet sind, beim<br />

Richter ernsthaft Zweifel am Wahrheitsgehalt der Behauptungen hervorzurufen, welche Gegenstand<br />

des Hauptbeweises sind. Für den Erfolg des Gegenbeweises genügt es, dass der Hauptbeweis erschüttert<br />

und die in ihm enthaltenen Tatsachen nicht mehr als überwiegend wahrscheinlich erscheinen<br />

(BGE 130 <strong>II</strong>I 321 <strong>II</strong>I E. 3.4 S. 326).<br />

4.2.3<br />

Wenn sich bei Gebrauch des Produktes ein Unfall ereignet, kann der Konsument den Sachverhalt oft<br />

nur mit seinen eigenen Aussagen belegen. In diesem Fall kann vom Geschädigten vernünftigerweise<br />

nicht erwartet werden, dass er einen strikten Beweis hinsichtlich der Abläufe erbringt, welche zum<br />

Schaden geführt haben. Grundsätzlich hat der Richter somit die vom Geschädigten behaupteten Tatsachen<br />

nach dem Prinzip der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu beurteilen.<br />

Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie von<br />

der Klägerin verlangte, den Sachverhalt mit Sicherheit zu beweisen. Folglich ist die Berufung gutzuheissen,<br />

der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz<br />

zurückzuweisen, damit diese unter dem Gesichtspunkt der überwiegenden Wahrscheinlichkeit die<br />

Beweise neu würdige. Hierbei hat sie auf die den Schadensfall betreffenden Aussagen der Klägerin,<br />

sowie das – teilweise indirekte – Zeugnis der Eheleute D. sowie von E. abzustellen. Der Beklagten<br />

steht ihrerseits das Recht zum Gegenbeweis zu. In dessen Rahmen kann sie nachweisen, dass die<br />

Behauptungen der Geschädigten nicht überwiegend wahrscheinlich sind.<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

SCHADENERSATZBEMESSUNG UND F<strong>OR</strong>M DER ENTSCHÄDIGUNG<br />

Schadenersatzbemessung<br />

Berechneter<br />

Schaden<br />

BGE 132 <strong>II</strong>I 249<br />

Reduktion<br />

Schadenersatz<br />

29. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y. (Berufung)<br />

4C.212/2005 vom 11. Oktober 2005<br />

Regeste<br />

Art. 46 Abs. 1 VRV; Art. 59 Abs. 2 und 49 Abs. 1 SVG; Unfall auf einer Strasse ohne Trottoir; Selbstverschulden<br />

des nicht links auf der Fahrbahn gehenden Fussgängers.<br />

Bedeutung der einzelnen Mitursachen im Rahmen von Art. 59 Abs. 2 SVG; quotenmässige Aufteilung<br />

des Gesamtschadens (E. 3.1).<br />

Auslegung des in Art. 49 Abs. 1 SVG enthaltenen und in Art. 46 Abs. 1 VRV konkretisierten Gebots des<br />

Linksgehens bei fehlendem Trottoir (E. 3.2 und 3.3).<br />

Bemessung des Schadenersatzes im Rahmen von Art. 59 Abs. 2 SVG; Festlegung der Haftungsquote;<br />

Gewicht des Selbstverschuldens (E. 3.5).<br />

Sachverhalt<br />

A. X. (Kläger, Berufungskläger und Zivilkläger) spazierte am 17. Dezember 2000, um 17.20 Uhr, entlang<br />

der rechten Seite der A.-strasse in Richtung B. Ihm folgte der Zeuge C. Im Bereich der D. näherte<br />

sich der von E. kommende und auf der A.-strasse nach B. fahrende Y. (Beklagter, Berufungsbeklagter<br />

und Angeklagter) in seinem Personenwagen. Er erfasste mit seinem Fahrzeug den Zivilkläger, der bei<br />

dieser Kollision schwer verletzt wurde. Der Angeklagte hatte den Zivilkläger nicht gesehen und vorerst<br />

angenommen, er habe einen Pfosten gerammt.<br />

Am 29. Mai 2002 sprach das Bezirksgericht Aarau den Angeklagten schuldig in folgenden Punkten:<br />

der fahrlässigen schweren Körperverletzung gemäss Art. 125 Abs. 2 StGB; der fahrlässigen Führerflucht<br />

nach Verkehrsunfall mit Verletzten gemäss Art. 55 Abs. 1 VRV und Art. 51 Abs. 1 und 2 in Verbindung<br />

mit Art. 92 Abs. 2 SVG und Art. 100 Ziff. 1 SVG; des Führens eines Personenwagens in nicht<br />

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betriebssicherem Zustand gemäss Art. 29 in Verbindung mit Art. 93 Ziff. 2 SVG und Art. 57 Abs. 1 VRV<br />

(Dispositiv-Ziffer 2). Der Angeklagte wurde zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten und einer Busse<br />

von Fr. 800.- verurteilt (Dispositiv-Ziffer 3). Es wurde richterlich festgestellt, dass der Angeklagte<br />

für den dem Zivilkläger verursachten Schaden hafte. Der Entscheid über Schadenshöhe und Schadensmass<br />

wurde auf den Zivilweg verwiesen (Dispositiv-Ziffer 8).<br />

Das Obergericht des Kantons Aargau hiess am 28. August 2003 die Berufung des Zivilklägers gut, hob<br />

Ziffer 8 des Urteilsdispositivs des Bezirksgerichts Aarau vom 29. Mai 2002 auf und wies die Sache an<br />

das Bezirksgericht zurück. Das Bezirksgericht Aarau fasste darauf mit Urteil vom 10. März 2004 Ziffer<br />

8 des Urteilsdispositivs vom 29. Mai 2002 neu. Es stellte richterlich fest, dass der Angeklagte dem<br />

Zivilkläger für den verursachten Schaden vollumfänglich hafte.<br />

B. Mit Urteil vom 3. Mai 2005 hiess das Obergericht des Kantons Aargau die Berufung des Angeklagten<br />

teilweise gut und änderte das erstinstanzliche Urteil dahingehend ab, dass richterlich festgestellt<br />

wurde, der Angeklagte hafte dem Zivilkläger für den verursachten Schaden zu 90 %. Das Gericht hielt<br />

aufgrund der Aussagen für erstellt, dass der Zivilkläger kurz vor der Kollision auf dem sich verjüngenden,<br />

etwa 30 cm breiten Kiesstreifen rechts der nach B. führenden Strasse spazierte und sich nicht<br />

auf, sondern unmittelbar neben der Fahrbahn und damit am Strassenrand befand, als der Angeklagte<br />

ihn erfasste. Das Gericht würdigte dieses Verhalten als Verstoss gegen Art. 49 Abs. 1 SVG und lastete<br />

es dem Zivilkläger als leichtes Verschulden an. Selbst wenn er diese Verkehrsregel nicht verletzt hätte,<br />

wäre ihm nach den Erwägungen des Gerichts vorzuwerfen, dass er zivilrechtlich fahrlässig den im<br />

Volksmund bekannten Slogan "links gehen - Gefahr sehen" nicht beachtet habe; jedenfalls hätte es<br />

dem allgemeinen Sorgfaltsstandard entsprochen, weiter rechts in der nicht sehr hohen, ebenen Wiese<br />

zu gehen, wie dies der Zeuge C. gemäss eigener Aussage getan hatte.<br />

C. Mit eidgenössischer Berufung stellt der Zivilkläger das Begehren, das Urteil des Obergerichts des<br />

Kantons Aargau (3. Strafkammer) vom 3. Mai 2005 sei aufzuheben und es sei in Bestätigung des erstinstanzlichen<br />

Urteils richterlich festzustellen, dass der Angeklagte ihm für den verursachten Schaden<br />

vollumfänglich hafte. Er rügt im Wesentlichen eine Verletzung von Art. 59 Abs. 2 SVG in Verbindung<br />

mit Art. 44 <strong>OR</strong> und beanstandet, dass ihm die Vorinstanz zu Unrecht ein Selbstverschulden vorgeworfen<br />

und jedenfalls die beidseitigen Verschulden falsch abgewogen habe.<br />

Das Bundesgericht heisst die Berufung gut.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

Aus den Erwägungen:<br />

3. Der Zivilkläger rügt, die Vorinstanz habe ihm bundesrechtswidrig ein (Selbst-)Verschulden am Unfall<br />

angelastet und damit Art. 59 Abs. 2 SVG bzw. Art. 44 <strong>OR</strong> verletzt. Er bestreitet insbesondere, dass<br />

ihm eine Verletzung von Art. 49 SVG vorgeworfen werden könne.<br />

3.1 Nach Art. 58 Abs. 1 SVG haftet der Halter für den Schaden, wenn durch den Betrieb seines Motorfahrzeugs<br />

ein Mensch getötet oder verletzt oder Sachschaden verursacht wird. Beweist der Halter,<br />

dass ein Verschulden des Geschädigten beim Unfall mitgewirkt hat, so bestimmt der Richter gemäss<br />

Art. 59 Abs. 2 SVG die Ersatzpflicht unter Würdigung aller Umstände. Er kann bei dieser Würdigung<br />

den Halter im Unterschied zur allgemeinen Norm des Art. 44 <strong>OR</strong> von der Haftpflicht nicht völlig befreien,<br />

wenn die Voraussetzungen nach Art. 59 Abs. 1 SVG nicht vorliegen (BGE 124 <strong>II</strong>I 182 E. 4c S.<br />

185). Im Übrigen ist auch im Rahmen von Art. 59 Abs. 2 SVG grundsätzlich der Gesamtschaden von<br />

100 % auf die einzelnen haftpflichtrechtlich relevanten Ursachen zu verteilen, wobei allerdings über<br />

die Methode nicht völlige Einigkeit besteht (vgl. etwa REY, Ausservertragliches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 3.<br />

Aufl., Zürich 2003, Rz. 1331; SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts,<br />

Bd. <strong>II</strong>, Bern 1988, N. 1316 f.). In der Rechtsprechung des Bundesgerichts wird in der Regel jeder Mitursache<br />

ein Anteil am Gesamtschaden quotenmässig zugewiesen (vgl. BGE 129 <strong>II</strong>I 65 E. 7.3 S. 70; BGE<br />

113 <strong>II</strong> 323 E. 1c S. 328; BGE 95 <strong>II</strong> 573 E. 3 S. 580; vgl. BREHM, Berner Kommentar, 2. Aufl., N. 34 ff. zu<br />

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Art. 44 <strong>OR</strong>). Dieses Vorgehen wird von einem überwiegenden Teil der Lehre befürwortet (OFTIN-<br />

GER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Bd. I, 5. Aufl., Zürich 1995, S. 468 ff.; BUSSY/RUSCONI,<br />

Code Suisse de la circulation routière, 3. Aufl., Lausanne 1996, N. 2.2 zu Art. 59 SVG; DESCHE-<br />

NAUX/TERCIER, La responsabilité civile, 2. Aufl., Bern 1982, § 28 Rz. 29; WERRO, La responsabilité<br />

civile, Bern 2005, N. 1227-1229; ebenso wohl auch SCHAFFHAUSER, a.a.O., N. 1321). Ein anderer Teil<br />

der Lehre geht davon aus, dass grundsätzlich der kausal Haftpflichtige den gesamten Schaden zu<br />

tragen hat; je nach Art und Mass des Selbstverschuldens des Geschädigten wird ein Abzug vom vollen<br />

Schadenersatz gemacht. Ein zusätzliches Verschulden des Fahrzeuglenkers (das dem Halter in<br />

jedem Fall nach Art. 58 Abs. 4 SVG anzurechnen ist) fällt bei dieser Methode (nur) insoweit in Betracht,<br />

als es das ersatzmindernde Selbstverschulden des Geschädigten neutralisiert, das heisst den<br />

Abzug wegen Selbstverschuldens reduziert oder aufhebt (so MERZ, Schweizerisches Privatrecht, Bd.<br />

VI/1, Basel 1984, S. 224 f.; KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 6. Aufl., Bern 2002, S. 316 f.;<br />

GUHL/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 9. Aufl., Zürich 2000, § 10 N. 74 unter Verweis<br />

auf BGE 111 <strong>II</strong> 429 E. 3 S. 442 ff.; BGE 88 <strong>II</strong> 131 E. 2 S. 134 ff.). Der Vorinstanz ist beizupflichten, wenn<br />

sie mit Verweis auf die in der Lehre mehrheitlich vertretene Ansicht davon ausgeht, dass der Gesamtschaden<br />

"sektoriell" auf jede der einzelnen erheblichen Mitursachen zu verteilen sei, wobei sich<br />

mit der zunehmenden Anzahl derartiger haftpflichtrelevanter Ursachen jeder einzelne Anteil entsprechend<br />

verringert. Denn den einzelnen Mitursachen kann im Rahmen von Art. 59 Abs. 2 SVG (Art.<br />

44 Abs. 1 <strong>OR</strong>) nicht unbesehen der konkreten Umstände allein aus ihrer haftpflichtrechtlichen Begründung<br />

grössere oder geringere Bedeutung beigemessen werden. Auch diese quotenmässige Aufteilung<br />

des Gesamtschadens schliesst aber nicht aus, einer sehr untergeordneten Ursache (namentlich<br />

einem sehr leichten Selbstverschulden) eine derart geringe Quote zuzuordnen, dass sie praktisch<br />

unbeachtet zu bleiben hat (vgl. BREHM, a.a.O., N. 35 f. zu Art. 44 <strong>OR</strong>).<br />

3.2 Die Vorinstanz hat das Selbstverschulden des Zivilklägers mit der Verletzung von Art. 49 Abs. 1<br />

SVG begründet. Nach dieser Bestimmung müssen Fussgänger die Trottoirs benützen. Wo solche fehlen,<br />

haben sie am Strassenrand und, wenn besondere Gefahren es erfordern, hintereinander zu gehen<br />

("A défaut de trottoir, ils longeront le bord de la chaussée et, si des dangers particuliers l'exigent,<br />

ils circuleront à la file."/"In mancanza di questi [sc. marciapiedi] essi [sc. pedoni] devono tenersi sul<br />

margine della strada e, se è richiesto da particolari pericoli, circolare in fila indiana."). Wenn nicht<br />

besondere Umstände entgegenstehen, haben sie sich an den linken Strassenrand zu halten ("sur le<br />

bord gauche de la chaussée"/"sul margine sinistro della strada"), namentlich ausserorts in der Nacht.<br />

Diese Bestimmung wird in Art. 46 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962<br />

(VRV; SR 741.11) konkretisiert. Nach Art. 46 Abs. 1 VRV haben die Fussgänger auf der Fahrbahn ("la<br />

chaussée"/"sulla carreggiata") rechts statt links zu gehen, "wenn sie nur dort die Möglichkeit zum<br />

Ausweichen haben oder wenn sie ein Fahrzeug, ausgenommen einen Kinderwagen, mitführen. Sie<br />

vermeiden ein häufiges Wechseln der Strassenseite." Strassen sind nach Art. 1 Abs. 1 VRV die von<br />

Motorfahrzeugen, motorlosen Fahrzeugen oder Fussgängern benutzten Verkehrsflächen. Der dem<br />

Fahrverkehr dienende Teil der Strasse ist nach Art. 1 Abs. 4 VRV die Fahrbahn ("la chaussée"/"la carreggiata").<br />

Während der Wortlaut von Art. 49 Abs. 1 SVG in der deutschen und italienischen Fassung<br />

darauf hindeuten könnte, dass das Gebot an die Fussgänger, bei fehlendem Trottoir grundsätzlich auf<br />

der linken Seite zu gehen, sich auf die ganze Strassenfläche bezieht, ergibt sich aus dem französischen<br />

Wortlaut, dass sich dieses Gebot nur auf die Fahrbahn, also auf den dem Fahrverkehr vorbehaltenen<br />

Teil der Strasse, bezieht. Dem französischen Wortsinn entspricht die Konkretisierung in Art.<br />

46 Abs. 1 VRV, der die Ausnahmen vom Grundsatz des Gebots, links zu gehen, in sämtlichen drei<br />

Sprachen ausdrücklich für die Benützung der Fahrbahn ("chaussée"/"carreggiata") regelt. Strassenrand<br />

in Art. 49 Abs. 1 SVG ist daher - ebenso wie in Art. 34 Abs. 1 SVG - zu verstehen als "Fahrbahnrand"<br />

(vgl. SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. I, 2. Aufl.,<br />

Bern 2002, N. 672). Die französische Fassung, wonach das Gebot des Linksgehens nur besteht, wenn<br />

der Fussgänger mangels Trottoir die Fahrbahn benützen muss, entspricht dem Sinn und Zweck der<br />

Regelung. Kann der Fussgänger eine Fläche neben der Fahrbahn benützen, so kann er auf dieser - da<br />

sie dem Fahrverkehr nicht zur Verfügung steht - ebenso wie auf einem Trottoir gehen, ohne grundsätzlich<br />

mit dem motorisierten Verkehr in Konflikt zu geraten. Der Zivilkläger ging nach den Feststel-<br />

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lungen im angefochtenen Urteil neben der Fahrbahn; er hat die Verhaltensregel von Art. 49 Abs. 1<br />

SVG nicht verletzt.<br />

3.3 Der Vorinstanz kann auch nicht gefolgt werden, wenn sie dem Zivilkläger eventualiter vorwirft, er<br />

habe den im Volksmund bekannten Slogan "links gehen - Gefahr sehen" und damit eine elementare<br />

Vorsichtsmassregel missachtet. Die beim Erlass des SVG von der nationalrätlichen Kommission ins<br />

Gesetz aufgenommene Regel sollte nach dem historischen Willen des Gesetzgebers den Fussgänger<br />

nicht verpflichten, unter allen Umständen links zu gehen. Es sollte ihm vielmehr die Freiheit belassen<br />

werden, auf der rechten Seite zu gehen, insbesondere wenn er dort besser geschützt ist, weil z.B.<br />

links direkt an der Strasse eine Mauer entlangführt oder eine Böschung oder ein Graben besteht,<br />

während rechts die Flur frei und offen ist; gleiches gilt, wenn der Fussgänger nach kurzer Distanz<br />

rechts abzweigen muss (Berichterstatter Müller, in: Sten.Bull. 1958 S, S. 110). Dass die Regel, auf der<br />

Fahrbahn links zu gehen, von den konkreten örtlichen Verhältnissen abhängig ist, ergibt sich aus der<br />

Vorschrift von Art. 49 Abs. 1 SVG selbst, welche das Gebot von den Umständen abhängig macht und<br />

namentlich auch aus der Konkretisierung in Art. 46 Abs. 1 VRV, der typische Fälle für Ausnahmen<br />

aufführt, in denen das Gegenteil gilt. Es wird denn auch in der Lehre die Ansicht vertreten, der - im<br />

Rahmen des Anwendungsbereichs von Art. 49 Abs. 1 SVG - rechts gehende Fussgänger dürfe in der<br />

Regel davon ausgehen, dass Fahrzeuge mit genügendem seitlichem Abstand an ihm vorbeifahren<br />

bzw. ihm rechtzeitig ausweichen, wenn er sich selbst möglichst nahe am Strassenrand hält (SCHAFF-<br />

HAUSER, a.a.O., N. 959; BUSSY/RUSCONI, a.a.O., N. 3.3.5 zu Art. 49 SVG). Dies gilt erst recht, wenn<br />

die Regel von Art. 49 Abs. 1 SVG keine Anwendung findet, weil sich der Fussgänger nicht auf der<br />

Fahrbahn, sondern daneben fortbewegt. Dem Zivilkläger kann nicht grundsätzlich vorgeworfen werden,<br />

dass er elementare Vorsichtsmassnahmen ausser Acht liess, weil er nach den Umständen nicht<br />

gefahrlos auf der rechten Strassenseite hätte gehen können. Denn nach der Feststellung der Vorinstanz<br />

hätte er gleich wie sein Begleiter - Zeuge C. - die Möglichkeit gehabt, statt auf dem schmalen<br />

Kiesstreifen unmittelbar neben der Fahrbahn zu marschieren, sich weiter rechts zu halten und die<br />

ebene Wiese zu benützen, welche mit nicht sehr hohem Gras bewachsen war.<br />

3.4 Dem Zivilkläger kann aufgrund der im vorliegenden Verfahren für das Bundesgericht verbindlichen<br />

tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz nicht vorgeworfen werden, dass er eine Verkehrsregel<br />

verletzte oder elementare Vorsichtsmassnahmen ausser Acht liess. Es kann ihm höchstens vorgeworfen<br />

werden, dass er nach den Umständen nicht genügend Vorsicht zu seinem eigenen Schutz<br />

walten liess, indem er keinen hinreichend grossen Abstand zur Fahrbahn auch für den Fall einhielt,<br />

dass ein Fahrzeug seinerseits keinen genügenden Abstand zum rechten Fahrbahnrand beachten<br />

würde. Der Zivilkläger hätte nach den Feststellungen der Vorinstanz die Kollision vermeiden können,<br />

wenn er - wie sein Begleiter - einen grösseren Abstand zur Fahrbahn gehalten hätte. Die Vorinstanz<br />

hat es bei dieser Sachlage zwar im Ergebnis zutreffend abgelehnt, dem Zivilkläger ein mehr als leichtes<br />

Verschulden anzulasten. Sie ist bei ihrer Würdigung aber zu Unrecht davon ausgegangen, dass<br />

der Zivilkläger eine Verkehrsregel oder doch eine elementare Vorsichtsmassnahme verletzt habe,<br />

indem er die bereits Kindern beigebrachte Verhaltensregel "links gehen - Gefahr sehen" missachtet<br />

habe. Der Zivilkläger hat die Kollision lediglich begünstigt, indem er keinen grösseren Abstand zum<br />

Fahrbahnrand einhielt. Dieses Verhalten vermag zwar die Adäquanz der vom Zivilkläger zu vertretenden<br />

tatsächlichen Mitursache nicht von vornherein auszuschliessen; indessen ist der geringen Intensität<br />

der Unfallursache jedenfalls im Zusammenspiel mit den andern, vom Angeklagten zu vertretenden<br />

Ursachen im Rahmen der Schadenersatzbemessung gebührend Rechnung zu tragen (BGE 123 <strong>II</strong>I<br />

110 E. 3c S. 115).<br />

3.5 Das Bundesgericht prüft die Bemessung des Schadenersatzes im Rahmen von Art. 59 Abs. 2 SVG<br />

ebenso wie nach Art. 44 <strong>OR</strong> grundsätzlich frei. Da der Entscheid aber weitgehend auf der Ausübung<br />

richterlichen Ermessens beruht (Art. 4 ZGB), greift das Bundesgericht nur ein, wenn das Sachgericht<br />

grundlos von in Lehre und Rechtsprechung anerkannten Grundsätzen abgewichen ist, wenn es Tatsachen<br />

berücksichtigt hat, die für den Entscheid im Einzelfall keine Rolle hätten spielen dürfen oder<br />

umgekehrt Umstände ausser Betracht gelassen hat, die hätten beachtet werden müssen; ausserdem<br />

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greift das Bundesgericht in Ermessensentscheide ein, wenn sich der Entscheid als offensichtlich unbillig,<br />

in stossender Weise ungerecht erweist (BGE 128 <strong>II</strong>I 390 E. 4.5 S. 399; BGE 130 <strong>II</strong>I 182 E. 5.5.2, je<br />

mit Hinweisen). Die Vorinstanz hat mit der Bemessung der Haftungsquote des Zivilklägers ihr Ermessen<br />

rechtsfehlerhaft ausgeübt. Sie hat zunächst das Gewicht des Selbstverschuldens des Zivilklägers<br />

unzutreffend gewürdigt, indem sie annahm, er habe eine Verkehrsregel verletzt oder eine elementare<br />

Vorsichtsmassnahme unbeachtet gelassen; diese Qualifikation beeinflusst die Bemessung der Haftungsquoten.<br />

Die Vorinstanz hätte aufgrund der von ihr verbindlich festgestellten Umstände das<br />

Selbstverschulden des Zivilklägers nicht nur als leicht, sondern als im Verhältnis zu den übrigen erheblichen<br />

Mitursachen mit deutlich weniger als 10 % - und damit als vernachlässigbar - bewerten<br />

müssen. Denn abgesehen von der Betriebsgefahr - welche die Vorinstanz mit 30 % wohl zu niedrig<br />

bemessen hat - hat der Angeklagte nach den Erwägungen der Vorinstanz mehrere Verkehrsregeln<br />

verletzt, indem er insbesondere keinen genügenden Abstand zum rechten Strassenrand einhielt (Art.<br />

34 Abs. 1 und 4 SVG i.V.m. Art. 7 VRV), nicht genügend aufmerksam (Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3<br />

Abs. 1 VRV) und aufgrund eines Blutalkoholgehalts von mindestens 0,73 Promille in herabgesetztem<br />

Masse fahrfähig war (Art. 31 Abs. 2 SVG). Schliesslich benutzte der Angeklagte nach den Feststellungen<br />

der Vorinstanz ein Fahrzeug, von dem er wusste, dass die Lichtanlage vorne rechts defekt war,<br />

weil nur das Standlicht funktionierte. Mit einem derartigen Verhalten muss kein anderer Verkehrsteilnehmer<br />

rechnen. Das nur leichte Verschulden des Zivilklägers - dem entscheidend (nur) vorgeworfen<br />

werden kann, dass er einen zu geringen Abstand zum Fahrbahnrand einhielt - tritt bei dieser<br />

Sachlage als Unfallursache derart in den Hintergrund, dass es nur mit einer Quote von weniger als 10<br />

% bemessen werden kann und daher unberücksichtigt zu bleiben hat.<br />

BGE 127 <strong>II</strong>I 446<br />

76. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Juli 2001 i.S. Eidgenössische Invalidenversicherung<br />

gegen Versicherung X. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Gefälligkeit als Grund für eine Haftungsreduktion.<br />

Auch nach der anlässlich der Revision vom 20. März 1975 erfolgten Streichung von Art. 59 Abs. 3 SVG<br />

ist die Gefälligkeit des Halters gegenüber Fahrzeugentlehnern als die Schadenersatzpflicht herabsetzender<br />

"Umstand" im Sinne von Art. 43 Abs. 1 <strong>OR</strong> zu qualifizieren (E. 4b/bb).<br />

Sachverhalt<br />

A. verursachte am 11. September 1992 in einer scharfen Linkskurve mit dem von ihm gelenkten Audi<br />

100 einen Unfall. Der Lenker erlitt dabei erhebliche Verletzungen und wurde arbeitsunfähig. Seit dem<br />

1. September 1993 bezahlt ihm die Eidgenössische Invalidenversicherung (Klägerin) eine volle IV-<br />

Rente, eine Zusatzrente für die Ehefrau und zwei Kinderrenten. Halter des Fahrzeugs ist der Cousin<br />

des verunfallten Lenkers, B., der bei der Versicherung X. (Beklagte) obligatorisch haftpflichtversichert<br />

ist. Die Klägerin nahm für ihre Leistungen Regress auf die Beklagte und belangte diese am 27. Januar<br />

1999 auf Zahlung von Fr. 712'381.80 nebst 5 % Zins ab 1. November 1998 vor dem Handelsgericht<br />

des Kantons Zürich, welches die Klage am 5. Dezember 2000 abwies. Mit eidgenössischer Berufung<br />

beantragt die Klägerin im Wesentlichen die Aufhebung des Urteils des Handelsgerichts des Kantons<br />

Zürich vom 5. Dezember 2000, die Rückweisung der Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und die<br />

Gutheissung der Klage.<br />

Das Bundesgericht weist die Berufung ab.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

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4. a) Die Vorinstanz billigte dem Halter gestützt auf Art. 43 Abs. 1 <strong>OR</strong> eine weitere Haftungsreduktion<br />

von 30% zu, weil er dem Geschädigten mit der ohne Eigeninteresse erfolgten unentgeltlichen Überlassung<br />

des Fahrzeugs eine Gefälligkeit erwies, die das selbst unter Verwandten allgemein übliche<br />

Mass an Grosszügigkeit überstieg. Das Handelsgericht hob hervor, der Sachverhalt gestalte sich wesentlich<br />

anders als in BGE 117 <strong>II</strong> 609, wo eine Gefälligkeit verneint wurde. Das Fahrzeug sei vorliegend<br />

nicht von einem Lebenspartner, sondern von einem Cousin zur Verfügung gestellt worden. Die<br />

unentgeltliche Überlassung des Autos sei daher nicht von vornherein selbstverständlich. Zudem wurde<br />

es nicht nur für wenige Stunden, sondern für immerhin acht bis zehn Tage übergeben, in denen<br />

eine erhebliche Strecke zurückgelegt werden sollte. Die Vorinstanz ging daher von einer haftungsreduzierenden<br />

Gefälligkeit aus. Bei der Bemessung der Herabsetzung würdigte sie namentlich den Grad<br />

der Uneigennützigkeit und erwog, das Mitführen von Gegenständen für die Eltern des Halters stelle<br />

seinerseits eine Selbstverständlichkeit dar und sei nicht Bedingung der Wagenleihe gewesen. Sie<br />

veranschlagte den Haftungsabzug zufolge der Gefälligkeit auf 30% und setzte die Schadenersatzpflicht<br />

des Halters insgesamt auf 40% des Gesamtschadens fest.<br />

b) Die Klägerin beanstandet diese Herabsetzung im Grundsatz und der Höhe nach.<br />

aa) Soweit sie sich dabei auf einen gegenüber dem von der Vorinstanz festgestellten erweiterten<br />

Sachverhalt stützt und daraus auf die Selbstverständlichkeit der Fahrzeugüberlassung schliesst, ist<br />

auf ihr Vorbringen nicht einzutreten. Sodann verkennt die Klägerin die Argumentation der Vorinstanz<br />

zum (fehlenden) Eigeninteresse des Halters, wenn sie meint, es sei abzuklären, ob ein Warentransport<br />

stattgefunden habe. Nach Auffassung der Vorinstanz wurde dies als gegeben unterstellt, jedoch<br />

nicht als geeignet befunden, die grosszügige Geste des Halters herabzuwürdigen. Eine Verletzung von<br />

Art. 8 ZGB ist daher nicht auszumachen.<br />

bb) Das Bundesgericht hat sich in BGE 117 <strong>II</strong> 609 E. 5c mit der anlässlich der Revision vom 20. März<br />

1975 erfolgten Streichung von Art. 59 Abs. 3 SVG (SR 741.01), welcher die Gefälligkeit als Reduktions-<br />

oder Ausschlussgrund der Haftung ausdrücklich vorsah, befasst und dargelegt, dass sich auch nach<br />

der Abschaffung von Art. 59 Abs. 3 SVG die Mehrheit der Autoren in Anwendung von Art. 43 Abs. 1<br />

<strong>OR</strong> grundsätzlich für eine Ermässigung der Haftpflicht bei Gefälligkeit ausspricht (vgl. die Nachweise<br />

in BGE 117 <strong>II</strong> 609 E. 5c/aa S. 618 f.). Es nahm indes nicht abschliessend Stellung, da es eine Gefälligkeit<br />

ohnehin verneinte (BGE 117 <strong>II</strong> 609 E. 5c/cc S. 619).<br />

Die Anerkennung der Gefälligkeit als Grund für eine Reduktion der Haftung stellt einen der Billigkeit<br />

entsprechenden Leitgedanken des Obligationenrechts dar, welcher in Art. 99 Abs. 2 <strong>OR</strong> und in Art.<br />

248 <strong>OR</strong> ausdrücklich kodifiziert wurde (BREHM, Berner Kommentar, N. 55a zu Art. 43 <strong>OR</strong>; OFTIN-<br />

GER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Bd. I, 5. Aufl., S. 411 Rz. 69). Nichts steht daher entgegen,<br />

die Gefälligkeit des Halters gegenüber Fahrzeugentlehnern auch nach Aufhebung der entsprechenden<br />

Sonderbestimmung als einen die Schadenersatzpflicht herabsetzenden "Umstand" im Sinne<br />

von Art. 43 Abs. 1 <strong>OR</strong> zu qualifizieren. Diese Auffassung herrscht auch in der Lehre vor<br />

(GUHL/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 9. Aufl., S. 88 Rz. 92; BREHM, Berner Kommentar,<br />

N. 56 zu Art. 43 <strong>OR</strong>; DÄHLER/SCHAFFHAUSER, Verkehrsunfall, in: Münch/Geiser [Hrsg.],<br />

Schaden - Haftung - Versicherung, S. 511 Rz. 10.39; BUSSY/RUSCONI, Code Suisse de la circulation<br />

routière, 3. Aufl., N. 4.6 zu Art. 59; OFTINGER/STARK, a.a.O, S. 411 Rz. 69; vgl. auch Rey, Ausservertragliches<br />

<strong>Haftpflichtrecht</strong>, S. 286 Rz. 1304; a.A. ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 5.<br />

Aufl., S. 282). Für die von der Klägerin vertretene Ansicht, wonach es bei der Abschaffung von Art. 59<br />

Abs. 3 SVG dem gesetzgeberischen Willen entsprochen habe, Kürzungen wegen Gefälligkeitshandlungen<br />

zu unterbinden, lassen sich in den Materialien jedenfalls für die hier einzig interessierende<br />

unentgeltliche Überlassung des Fahrzeugs keine Belege finden (GEISSELER, Haftpflicht und Versicherung<br />

im revidierten SVG, Diss. Freiburg 1980, S. 19 und S. 41). Art. 62 Abs. 1 SVG, welcher auf die<br />

Regeln zur Bemessung des Schadenersatzes auf das <strong>OR</strong> und damit namentlich auf Art. 43 Abs. 1 <strong>OR</strong><br />

verweist (BUSSY/RUSCONI, a.a.O., N. 1.5 zu Art. 62 SVG), wurde in der Revision von 1975 denn auch<br />

nicht verändert. Die Berufung ist insoweit unbegründet.<br />

cc) Weshalb die Vorinstanz aufgrund der festgestellten Gegebenheiten mit der Annahme einer Gefälligkeit<br />

und mit deren Bewertung ihr Ermessen überschritten haben soll, zeigt die Klägerin nicht auf<br />

und ist auch nicht ersichtlich.<br />

103


BGE 113 <strong>II</strong> 86<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

16. Urteil der I. Zivilabteilung vom 31. März 1987 i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt gegen<br />

Zürich Versicherungsgesellschaft (Berufung)<br />

Regeste<br />

Motorfahrzeughaftpflicht, Regressrecht der SUVA.<br />

1. Art. 91 KUVG, Art. 42 ff. <strong>OR</strong>. Vorbestehendes Leiden, das die Invalidität des Verunfallten vergrössert<br />

und daher bei der Ermittlung des Schadens zu beachten ist. Tat- und Rechtsfragen; natürlicher<br />

und adäquater Kausalzusammenhang (E. 1).<br />

2. Art. 100 KUVG, Art. 88 SVG. Umfang des Regressrechts der SUVA gegen den haftpflichtigen Dritten.<br />

Sinn und Zweck des Quotenvorrechts zugunsten des Geschädigten (E. 2).<br />

3. Eine konstitutionelle Prädisposition des Verunfallten kann sowohl die Schadensberechnung wie die<br />

Schadenersatzbemessung beeinflussen. Unterschiedliche Auswirkungen auf das Quotenvorrecht des<br />

Geschädigten und auf die Regressforderung der SUVA (E. 3).<br />

Sachverhalt<br />

A.- X., geb. 1923, verunfallte am 30. September 1971 als Mitfahrer auf einem Motorrad, das an einer<br />

Strassenverzweigung in Zürich mit einem Personenwagen zusammenstiess. Er erlitt schwere Verletzungen,<br />

musste jahrelang ärztlich behandelt werden und wurde wegen bleibender Behinderungen<br />

weitgehend arbeitsunfähig.<br />

X. war als Hilfsarbeiter einer Druckerei obligatorisch gegen Unfall versichert. Mit Verfügung vom 5.<br />

August 1976 sprach die SUVA ihm eine Invalidenrente von 50% zu. Auf Beschwerde des Versicherten<br />

einigte sie sich mit ihm dahin, dass sie einen Invaliditätsgrad von 75% anerkannte, die Rente jedoch<br />

wegen eines krankhaften Vorzustandes seiner Brust- und Lendenwirbelsäule (Scheuermann Krankheit)<br />

gestützt auf Art. 91 KUVG um 25% kürzte, was eine Jahresrente von Fr. 11'916.-- ergab.<br />

Die Halterin des Personenwagens war für ihre Haftpflicht bei der "Zürich" versichert. Diese anerkannte,<br />

dass die Lenkerin des Wagens das Vortrittsrecht des Motorradfahrers missachtet hatte und für<br />

den Unfall allein verantwortlich war. Sie hielt den Verunfallten zu 75% für invalid und ermittelte einen<br />

kapitalisierten Erwerbsausfall von Fr. 228'843.--. Wegen der vorbestehenden Wirbelsäulenerkrankung<br />

kürzte die "Zürich" ihre Haftung ebenfalls um 25%, wollte also den Schadenersatz des Verletzten<br />

für Erwerbsausfall auf Fr. 171'632.-- beschränkt wissen.<br />

B.- Die SUVA zahlte dem Geschädigten insgesamt Fr. 247'221.--, wovon Fr. 115'388.-- auf die kapitalisierte<br />

Invalidenrente entfielen. Sie wollte für ihre Leistungen gemäss Art. 100 KUVG auf die "Zürich"<br />

zurückgreifen, die jedoch nur eine Forderung von Fr. 156'310.-- anerkannte. Im Juli 1983 klagte die<br />

SUVA gegen die "Zürich" auf Zahlung des Restbetrages von Fr. 90'911.-- nebst 5% Zins seit 1. September<br />

1977.<br />

Am 11. Oktober 1984 schützte das Bezirksgericht Zürich die eingeklagte Forderung zu Fr. 33'700.--<br />

und wies die Klage im Mehrbetrag ab. Es bejahte das Quotenvorrecht des Geschädigten und kürzte<br />

die Regressforderung der Klägerin entsprechend dem Abzug, der sich aus dem krankhaften Vorzustand<br />

des Geschädigten ergab, um Fr. 57'211.--.<br />

Die Klägerin appellierte an das Obergericht des Kantons Zürich, das am 27. Mai 1986 im gleichen Sinn<br />

entschied.<br />

C.- Gegen diesen Entscheid hat die Klägerin Berufung eingelegt, mit der sie an der eingeklagten Forderung<br />

im vollen Umfang festhält.<br />

Die Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen.<br />

104


Auszug aus den Erwägungen:<br />

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

1. Nach Art. 91 KUVG, das vorliegend noch anwendbar ist, hat die SUVA ihre Leistungen für Invalidität<br />

zu kürzen, wenn unfallfremde Faktoren sie vergrössert haben. Unter diese Bestimmung fällt jeder<br />

pathologische Vorzustand, ohne den die seit dem Unfall bestehende Invalidität von geringerem Ausmass<br />

wäre, gleichviel ob er bereits vor dem Unfall Schmerzen verursacht oder die Erwerbsfähigkeit<br />

des Versicherten beeinträchtigt habe (BGE 105 V 92). Wegen eines solchen Vorzustandes hat die<br />

Klägerin die Rente des Geschädigten um 25% gekürzt. Sie spricht aber der Beklagten das gleiche<br />

Recht ab, weil die Kürzung nach Art. 91 KUVG nicht unbesehen auf die Leistungen des haftpflichtigen<br />

Dritten übertragen werden dürfe, der den gesamten unfallbedingten Schaden zu ersetzen habe; die<br />

Klägerin müsse die Rente lebenslänglich ausrichten und daher den Risikofaktor des Vorzustandes<br />

weit mehr gewichten als der Haftpflichtige.<br />

a) Dazu ist vorweg festzuhalten, dass die Beklagte nach dem angefochtenen Urteil vom gleichen Invaliditätsgrad<br />

des Geschädigten ausgegangen ist wie die Klägerin und einen Erwerbsausfall von Fr.<br />

228'843.-- ermittelt hat, der im kantonalen Verfahren unbestritten geblieben ist. Diese Feststellung<br />

der Vorinstanz bindet das Bundesgericht, da eine Ausnahme gemäss Art. 63 Abs. 2 OG weder behauptet<br />

noch zu ersehen ist. Der Einwand der Klägerin, die Beklagte habe den Vorzustand des Geschädigten<br />

bereits bei der Schadensberechnung berücksichtigt, ist neu und daher nicht zu hören<br />

(BGE 110 <strong>II</strong> 312). In welchem Umfang jemand durch Erwerbsausfall geschädigt wird, ist übrigens im<br />

wesentlichen eine Tatfrage, die vom kantonalen Richter zu entscheiden ist. Vorbehalten bleibt, ob er<br />

den Begriff des Schadens verkannt, den Ausfall in unzulässiger Weise ermittelt und sich im Rahmen<br />

des Ermessens gehalten habe, das ihm insbesondere bei Abschätzen des Schadens zusteht (BGE 106<br />

<strong>II</strong> 133 E. 5c, BGE 105 <strong>II</strong> 81 /82, BGE 82 <strong>II</strong> 399 E. 4).<br />

Die Feststellungen des Obergerichts zur vorbestehenden Krankheit des Geschädigten betreffen ebenfalls<br />

tatsächliche Verhältnisse. Sie stützen sich auf eine ärztliche Untersuchung vom 29. April 1977,<br />

wonach der Geschädigte damals an der Lendenwirbelsäule eine verbreitete Spondylose und Osteochondrose<br />

aufwies, die sich u.a. in einem lumbalen Schmerzsyndrom mit hochgradiger Versteifung<br />

der Brust- und Lendenwirbelsäule offenbarten. Die Vorinstanz fand zusammen mit dem Arzt und<br />

dem Radiologen, dass die schweren pathologischen Veränderungen im Bereiche der Wirbelsäule<br />

keine Unfallfolgen waren, aber die Arbeitsunfähigkeit des Geschädigten erheblich vergrösserten, weil<br />

die Schmerzen ihn auch bei sitzender Tätigkeit behinderten. Diese Feststellungen des Obergerichts<br />

über die vorbestehende Scheuermann Krankheit als wesentliche Mitursache der erhöhten Invalidität<br />

beziehen sich auf den natürlichen Kausalzusammenhang und sind daher entgegen der Annahme der<br />

Klägerin für das Bundesgericht verbindlich (BGE 101 <strong>II</strong> 73 E. 3 und BGE 98 <strong>II</strong> 291 mit Hinweisen).<br />

b) Ob sich ein vorbestehendes Leiden auch als adäquate Ursache einer erhöhten Erwerbsunfähigkeit<br />

ausgeben lässt, ist dagegen eine Frage der Rechtsanwendung, die vom Bundesgericht im Berufungsverfahren<br />

frei überprüft werden kann (BGE 107 <strong>II</strong> 243 unten). Nach der Lehre und Rechtsprechung<br />

zum rechtserheblichen Kausalzusammenhang genügt es grundsätzlich, dass der Haftpflichtige eine<br />

Schadensursache gesetzt hat, ohne die es nicht zum Unfall gekommen wäre; diesfalls vermögen Mitursachen<br />

den adäquaten Kausalzusammenhang in der Regel weder zu unterbrechen noch auszuschliessen<br />

(OFTINGER, Schweiz. <strong>Haftpflichtrecht</strong> I, 4. Aufl. S. 227/28; BREHM, N. 125 zu Art. 41 <strong>OR</strong>).<br />

Das leuchtet namentlich nach dem Sinn und Zweck des Vortrittsrechts ein, das im Strassenverkehr<br />

Zusammenstösse verhüten soll, aber häufig zu schweren Unfällen führt, wenn es missachtet oder<br />

erzwungen wird (BGE 94 IV 27 und BGE 92 IV 24 E. 3 mit Hinweisen). Wer dabei widerrechtlich einen<br />

gesundheitlich geschwächten Menschen verletzt, hat kein Recht darauf, so gestellt zu werden, als ob<br />

er einen gesunden geschädigt hätte.<br />

Ein vorbestehendes Leiden des Geschädigten kann dagegen für den Umfang der Haftpflichtansprüche<br />

gemäss Art. 42 bis 44 <strong>OR</strong> von Bedeutung sein, was das Bundesgericht auf Berufung hin ebenfalls<br />

frei überprüfen kann. Einfache konstitutionelle Schwächen fallen mangels einer allgemeinen Eignung,<br />

einen Schaden herbeizuführen, als Herabsetzungsgründe zwar ausser Betracht (BREHM, N. 57 zu Art.<br />

44 <strong>OR</strong>). Eigentliche Anomalien sowie akut oder latent vorbestehende Leiden können aber die An-<br />

105


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

sprüche des Verletzten schmälern; sie fallen unter den Begriff der konstitutionellen Prädisposition<br />

und gelten als mitwirkender Zufall, der die Berechnung des Schadens oder die Bemessung des Schadenersatzes<br />

beeinflussen kann und daher auch haftpflichtrechtlich zu beachten ist, gleichviel ob sie<br />

als Mitursache des Unfalles anzusehen sind oder bloss dessen Folgen verschlimmern (OFTINGER, S.<br />

103; MERZ, Schweiz. Privatrecht Bd. VI/1, S. 233; KELLER/GABI, <strong>Haftpflichtrecht</strong>, S. 104).<br />

c) Dem Obergericht ist darin beizupflichten, dass die vorbestehende Wirbelsäulenerkrankung des<br />

Geschädigten als rechtserhebliche Prädisposition zu betrachten ist, zumal sie sich, was ihre Auswirkungen<br />

angeht, durchaus mit der in BGE 102 <strong>II</strong> 43 E. 3c beurteilten vergleichen lässt. Ob sie im Rahmen<br />

der Schadensberechnung oder der Schadenersatzbemessung zu berücksichtigen ist, kann einstweilen<br />

offenbleiben, da so oder anders nach richterlichem Ermessen zu bestimmen ist, in welchem<br />

Ausmass ihr bei der Ermittlung der Haftungsquote Rechnung zu tragen ist (MERZ, S. 234). Das Obergericht<br />

hat dieses Ermessen dadurch, dass es der Beklagten eine Kürzung von 25% zugestand, nicht<br />

überschritten, hat es damit deren Haftung doch um den gleichen Prozentsatz gekürzt, den die Klägerin<br />

für sich selbst beansprucht hat. Gewiss braucht die Abgrenzung adäquater Unfallursachen und -<br />

folgen von inadäquaten im Sozialversicherungsrecht nicht gleich auszufallen wie im <strong>Haftpflichtrecht</strong><br />

(BGE 96 <strong>II</strong> 398), da nach Art. 91 KUVG unfallfremde Mitursachen eines Schadens berücksichtigt werden<br />

können, die den Haftpflichtanspruch nicht zu beeinflussen vermögen. Es ist indes nicht einzusehen,<br />

weshalb ein Umstand, der sich in beiden Bereichen auswirkt, in jenem erheblich, in diesem hingegen<br />

unerheblich sein soll. Die Praxis hält sich diesfalls bei der Berechnung des haftpflichtrechtlich<br />

relevanten Schadens im allgemeinen denn auch an die Ansätze, nach denen die SUVA ihre Leistungen<br />

gemäss Art. 91 KUVG kürzt (R. SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen,<br />

Rz. 357). Dass die Vorinstanz die Beklagte nur zu 75% für den Gesamtschaden des Verletzten<br />

aus Erwerbsunfähigkeit haftbar erklärt hat, ist daher bundesrechtlich nicht zu beanstanden.<br />

2. Nach Art. 100 KUVG tritt die SUVA "bis auf die Höhe ihrer Leistungen" in die Ansprüche ein, die der<br />

Versicherte und seine Hinterlassenen gegen den haftpflichtigen Dritten haben. Seit 1960 hat sie dabei<br />

auch Art. 88 SVG zu beachten. Wenn einem Geschädigten der Schaden durch Versicherungsleistungen<br />

nicht voll gedeckt wird, können nach dieser Bestimmung Versicherer auf den Dritten oder<br />

dessen Haftpflichtversicherung nur zurückgreifen, soweit der Geschädigte dadurch nicht benachteiligt<br />

wird. Die Bestimmung enthält eine Beschränkung des Regressrechts zugunsten des sogenannten<br />

Quotenvorrechts des Geschädigten; sie gilt nach neuerer Rechtsprechung sinngemäss für alle von<br />

Art. 100 KUVG beherrschten Fälle. Die SUVA kann deshalb nur dann und insoweit auf den Schädiger<br />

zurückgreifen, als ihre Leistungen und jene des haftpflichtigen Dritten oder dessen Versicherung zusammen<br />

den ganzen Schaden übersteigen. Dem Geschädigten gereichen folglich ein Selbstverschulden<br />

oder andere Umstände, die mit der Kausalität zusammenhängen, erst dann zum Nachteil, wenn<br />

seine Schadenersatzansprüche geringer sind als der von der SUVA nicht gedeckte Schaden (BGE 104<br />

<strong>II</strong> 309 E. d mit Hinweisen).<br />

Das gleiche ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des Quotenvorrechts zugunsten des Geschädigten.<br />

Dieses Privileg will den Geschädigten nicht bereichern, sondern vor ungedecktem Schaden bewahren.<br />

Von einer Bereicherung kann aber keine Rede sein, solange die Leistungen der SUVA und des<br />

Dritten oder dessen Haftpflichtversicherung den Schaden nicht voll decken; das lässt sich erst sagen,<br />

wenn ihre Leistungen über den zu ersetzenden Schaden hinausgehen. Dieser Schaden ist in der Vermögenseinbusse<br />

zu erblicken, die der Geschädigte infolge des Unfalls tatsächlich erlitten hat, weshalb<br />

sich sein Quotenvorrecht zum vornherein nur auf solchen Schaden, nicht aber auf Folgen beziehen<br />

kann, die haftpflichtrechtlich irrelevant sind und daher aus anderen Gründen Anlass zu Leistungskürzungen<br />

durch die SUVA geben. Das eine wie das andere hängt in Fällen wie hier davon ab,<br />

ob die konstitutionelle Prädisposition schon bei der Feststellung und Berechnung des Schadens gemäss<br />

Art. 42 <strong>OR</strong> oder erst bei der Bemessung des Schadenersatzes nach Art. 43/44 <strong>OR</strong> zu berücksichtigen<br />

ist.<br />

3. In der Auseinandersetzung des Geschädigten mit der SUVA oder der Haftpflichtversicherung ist<br />

diese Frage kaum von Belang, da es im Ergebnis auf das gleiche herauskommt, ob der konstitutionellen<br />

Prädisposition durch Beschränkung des Gesamtschadens auf den Teil, der als adäquate Folge des<br />

106


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

haftungsbegründenden Ereignisses erscheint, oder durch Kürzung des Schadenersatzes Rechnung<br />

getragen wird. Schwierigkeiten können sich dagegen ergeben, wenn die SUVA auf die Haftpflichtversicherung<br />

zurückgreifen will und wegen der Verschiedenheit der Leistungssysteme streitig ist, ob und<br />

allenfalls welcher Teil des Schadens von der Regressforderung auszunehmen ist; diesfalls fragt sich<br />

vorweg, wo die konstitutionelle Prädisposition im Hinblick auf das Quotenvorrecht des Geschädigten<br />

einzuordnen ist (SCHAER, Rz. 342 ff.).<br />

a) Das Bundesgericht nahm zunächst an, die konstitutionelle Prädisposition könne sowohl ein Faktor<br />

der Schadensberechnung als auch ein Grund zur Ermässigung der Schadenersatzpflicht gemäss Art.<br />

44 <strong>OR</strong> sein (Urteile vom 2. März 1965 und vom 24. Mai 1966 i.S. Pedrolini, publ. in Rep. 99/1966 S. 30<br />

ff.). Im Jahre 1982 gab es diese Auffassung auf und erklärte, dass eine Prädisposition im <strong>Haftpflichtrecht</strong><br />

nicht unter dem Gesichtspunkt der Kausalität zu berücksichtigen sei, obschon dies rein logisch<br />

geboten wäre, sondern im Rahmen der Schadenersatzbemessung als Umstand, für den der Geschädigte<br />

einzustehen habe (nicht veröffentlichtes Urteil vom 7. Oktober 1982 i.S. Wullimann).<br />

In der Lehre wird die konstitutionelle Prädisposition mehrheitlich als Herabsetzungsgrund im Sinne<br />

von Art. 44 <strong>OR</strong> aufgefasst und die Frage, ob sie allenfalls auch im Rahmen der Schadensberechnung<br />

zu berücksichtigen wäre, meistens übergangen (VON TUHR/PETER, <strong>OR</strong> Allg. Teil I, 3. Aufl. S. 109;<br />

MERZ, S. 233; VON BÜREN, <strong>OR</strong> Allg. Teil S. 55 Anm. 71; KELLER, Haftpflicht im<br />

Privatrecht, 3. Aufl. S. 56 und 101; KELLER/GABI, S. 104 f.). OFTINGER versteht sie als Anwendungsfall<br />

des konkurrierenden Zufalls und sieht eine dogmatisch befriedigende Lösung nur auf dem Boden des<br />

Kausalitätsgedankens, hat aber nichts einzuwenden, wenn ihr in der Praxis alternativ bei der Bemessung<br />

des Schadenersatzes Rechnung getragen wird; eine kumulative Berücksichtigung lehnt er hingegen<br />

ab (S. 98, 101 ff. und 280).<br />

Anderer Meinung ist insbesondere SCHAER, der anknüpfend an die deutsche Lehre den Standpunkt<br />

vertritt, dass bestimmte Teilursachen, wie die konstitutionelle Prädisposition, zwar zu einem Schaden<br />

führen, der dem Haftpflichtigen aber nicht zurechenbar sei; die Prädisposition erscheine damit als<br />

Anwendungsfall der sogenannten hypothetischen Kausalität, die als Element der Schadensberechnung<br />

zu verstehen sei (Rz. 123 ff. und 1114). BREHM lässt sie gestützt auf die ältere Rechtsprechung<br />

sowohl als Element der Schadensberechnung wie als Herabsetzungsgrund gelten und schliesst selbst<br />

eine kumulative Berücksichtigung nicht aus (N. 58 zu Art. 55 <strong>OR</strong>).<br />

b) Die konstitutionelle Prädisposition kann sehr unterschiedliche Formen und Folgen haben. Als haftpflichtrechtlich<br />

relevant gelten namentlich Vorzustände, die sich mit Sicherheit oder doch mit hoher<br />

Wahrscheinlichkeit auch ohne das schädigende Ereignis ausgewirkt, die körperliche Integrität des<br />

Betroffenen beeinträchtigt oder seine Lebensdauer verkürzt hätten, zur Zeit des Ereignisses aber<br />

noch keine Folgen hatten. Dazu kommen vorbestehende Zustände (wie z.B. Bluter- oder Zuckerkrankheit,<br />

erhöhte Knochenbrüchigkeit, Neigung zu Neurosen), die für sich allein die Arbeitsfähigkeit<br />

des Geschädigten voraussichtlich nicht vermindert hätten, den durch den Unfall ausgelösten Schaden<br />

jedoch vergrössern, weil sie die Heilung erschweren oder verzögern. In beiden Arten von Fällen kann<br />

der krankhafte Vorzustand zur Zeit des Unfalles entweder bereits bekannt oder bloss latent vorhanden<br />

gewesen sein (OFTINGER, S. 102; SCHAER, Rz. 351 ff.).<br />

Die beiden Arten sind rechtlich unterschiedlich zu beurteilen. Wenn der Schaden in vollem oder geringerem<br />

Umfang auch ohne den Unfall eingetreten wäre, ist er insoweit keine Folge davon, dem<br />

Haftpflichtigen folglich nicht zurechenbar und von der Schadensberechnung auszunehmen. Dem auf<br />

den Vorzustand entfallenden Schadensanteil ist z.B. dadurch Rechnung zu tragen, dass eine verkürzte<br />

Lebens- oder Aktivitätsdauer angenommen oder der Schaden aus dem Erwerbsausfall auf die Folgen<br />

der vorzeitigen oder überschiessenden Invalidität beschränkt wird. Wäre der Schaden dagegen ohne<br />

den Unfall voraussichtlich überhaupt nicht eingetreten, so bleibt der Haftpflichtige dafür auch dann<br />

voll verantwortlich, wenn der krankhafte Vorzustand den Eintritt des Schadens begünstigt oder dessen<br />

Ausmass vergrössert hat. Diesfalls besteht selbst bei singulären Auswirkungen kein Grund, sie<br />

vom Begriff des adäquaten Kausalzusammenhangs zum vornherein auszuschliessen, hiesse dies<br />

doch, den Geschädigten seine Schwächen selber entgelten lassen, als ob der Schädiger sich den Gesundheitszustand<br />

des Opfers aussuchen könnte. Unfallbedingte Vermögenseinbussen gehören so<br />

oder anders zum Schaden und sind deshalb in dessen Berechnung gemäss Art. 42 <strong>OR</strong> einzubeziehen.<br />

Dem Anteil der Prädisposition an der Kausalität kann dagegen im Rahmen des Art. 44 <strong>OR</strong> Rechnung<br />

107


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

getragen werden. Bei der zweiten Art von Fällen ist somit gleich vorzugehen wie bei konkurrierendem<br />

Selbstverschulden, das nach Art. 43 <strong>OR</strong> zu berücksichtigen ist. Diese Rechtsprechung geht weder<br />

zulasten des Haftpflichtigen noch zulasten des Geschädigten, weshalb daran festzuhalten ist (BGE<br />

102 <strong>II</strong> 41 E. 3 und 96 <strong>II</strong> 396/97 mit Zitaten; BREHM, N. 124 zu Art. 41 <strong>OR</strong>).<br />

Eine Verbindung beider Betrachtungsweisen ist durchaus denkbar, z.B. bei Prädispositionen, welche<br />

nicht bloss den Eintritt des Schadens begünstigt oder dessen Ausmass vergrössert haben, sondern<br />

auch ohne den Unfall zu Vermögenseinbussen geführt hätten. Diese Möglichkeit ist schon im Falle<br />

Pedrolini angedeutet worden (Rep. 99/1966 S. 35 ff.). Selbst in solchen Fällen wird die Ersatzleistung<br />

aber nicht zweimal aus dem gleichen Rechtsgrund gekürzt, wenn die Begriffe des Schadens und des<br />

Schadenersatzes klar auseinandergehalten werden (BREHM, N. 58 zu Art. 44 <strong>OR</strong>).<br />

c) Nach den tatsächlichen Feststellungen des Obergerichts waren die krankhaften Veränderungen,<br />

die der Geschädigte 1977 im Bereiche der Wirbelsäule aufwies, mit Sicherheit nicht unfallbedingt,<br />

sondern der vorbestehenden Scheuermann Krankheit zuzuschreiben. Diese Feststellungen, die das<br />

Bundesgericht binden, können nur dahin verstanden werden, dass der krankhafte Vorzustand des<br />

Geschädigten sich unmittelbar und unabhängig vom Unfall ausgewirkt hat. Die Verminderung der<br />

Arbeitsfähigkeit und die Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens, die sich daraus für X. ergaben<br />

und zur Leistungskürzung durch die SUVA geführt haben, können somit der haftpflichtigen Drittperson<br />

und ihrer Versicherung nicht zugerechnet werden. Daraus folgt, dass nicht die Ersatzleistung,<br />

sondern der haftpflichtrechtlich relevante Schaden für Erwerbsausfall um 25% zu kürzen war, was<br />

nach der Berechnung der Klägerin eine kapitalisierte Invalidenrente von Fr. 115'388.-- und zusammen<br />

mit ihren weiteren Leistungen die Summe von Fr. 247'221.-- ergab. Im Umfang der Kürzung konnte<br />

sich der Geschädigte zudem nicht auf ein Quotenvorrecht berufen, weshalb sich auch die Klägerin<br />

keine Kürzung gefallen lassen musste, als sie auf die Beklagte zurückgreifen wollte. Die Vorinstanzen<br />

haben dies verkannt, indem sie die Begriffe Schaden und Schadenersatz verwechselten. Das angefochtene<br />

Urteil ist daher wegen Verletzung von Bundesrecht aufzuheben und die Klage in vollem<br />

Umfang gutzuheissen. Die Beklagte hat somit der Klägerin abgesehen vom Betrag, mit dem sie sich<br />

nach dem Urteil des Bezirksgerichts abgefunden hat, noch Fr. 57'210.-- nebst Zins zu bezahlen.<br />

108


HAVE<br />

info<br />

len, weshalb der Versicherer zur Erbringung der vollen<br />

Leistungen verpflichtet wäre. Im Fall D (fehlende Beherrschung<br />

des Fahrzeuges wegen fehlender Fahrpraxis)<br />

wäre der gesamte Schaden auf die Obliegenheitsverletzung<br />

zurückzuführen, weshalb der Versicherer<br />

im Ergebnis nichts leisten müsste (bzw. alles zurückfordern<br />

könnte). Beide Lösungen entsprächen der Billigkeit.<br />

Jede Pflicht der Versicherten lässt sich sowohl als<br />

Deckungsausschluss als auch als Obliegenheit formulieren<br />

40 . Der Unterschied ist klar: Sind die Voraussetzungen<br />

eines Deckungsausschlusses erfüllt, so<br />

spielen Kausalität und Verschulden keine Rolle mehr.<br />

Der Versicherte wird somit deutlich schlechter gestellt,<br />

wenn ihm eine Pflicht in der Form eines Deckungsausschlusses<br />

auferlegt wird. Nach deutschem Recht<br />

ist dies nicht zulässig. Die deutschen Gerichte haben<br />

dazu die Rechtsfigur der sog. verhüllten Obliegenheit<br />

entwickelt. Wird eine Pflicht des Versicherten, die<br />

eigentlich eine Obliegenheit darstellt, als Deckungsausschluss<br />

formuliert, so liegt eine solche verhüllte<br />

Obliegenheit vor. Auf diese wird das Recht der Obliegenheiten<br />

angewendet, da es dem Versicherer nicht<br />

erlaubt ist, durch den Kunstgriff der Formulierung als<br />

Deckungsausschluss die zusätzlichen Voraussetzungen<br />

einer Leistungskürzung, die bei Obliegenheitsverletzungen<br />

gelten (Kausalität und Verschulden), auszuhebeln<br />

41 .<br />

Das Beispiel der Regelung des Fahrens ohne Fahrerlaubnis<br />

zeigt, dass es angezeigt wäre, die Rechtsfigur<br />

der verhüllten Obliegenheit auch im schweizerischen<br />

Recht anzuerkennen. Ein solcher Schritt würde es ermöglichen,<br />

den Deckungsausschluss des Fahrens ohne<br />

Fahrerlaubnis als verhüllte Obliegenheit zu qualifizieren,<br />

womit die eingangs dargestellten Fälle einer zufriedenstellenden<br />

Lösung zugeführt werden könnten.<br />

40 Beispiele: 1. (Diebstahlversicherung): Obliegenheit: Der Versicherte<br />

ist verpflichtet, Schmuck in einem Tresor aufzubewahren. Deckungsausschluss:<br />

Nicht versichert ist Schmuck, der nicht in einem Tresor<br />

aufbewahrt wird. 2. (Motorfahrzeugversicherung): Obliegenheit: Der<br />

Versicherte ist verpflichtet, das Fahrzeug in einem betriebssicheren<br />

Zustand zu erhalten. Deckungsausschluss: Nicht versichert sind<br />

Schäden, die mit einem nicht betriebssicheren Fahrzeug verursacht<br />

werden.<br />

41 Vgl. BGH, 16.06.2004, IV ZR 201/03, Versicherungsrecht 2004, 1132;<br />

24.05.2000, IV ZR 186/1999, Veröffentlichungen des Bundesaufsichtsamts<br />

2000, 245; 29.11.1972, IV ZR 162/71, Versicherungsrecht 1973,<br />

145.<br />

Umstände, für die der<br />

Geschädigte nicht<br />

einstehen muss<br />

Kurzbeiträge<br />

warum die konstitutionelle Prädisposition<br />

kein Reduktionsgrund sein kann und weitere<br />

folgerungen aus einem kohärenteren<br />

Verständnis der Reduktionsgründe<br />

Stephan weber *<br />

A. neue Urteile zur Kürzung bei konstitutioneller<br />

Prädisposition<br />

Das Bundesgericht hat sich in den letzten Jahren in<br />

mehreren Urteilen 1 zu den Kürzungen infolge einer<br />

konstitutionellen Prädisposition geäussert. Grundlegend<br />

blieb dabei BGE 113 <strong>II</strong> 86, der die überzeugende<br />

Einteilung der Vorzustände in Berechnungs- und<br />

Bemessungsfälle eingeführt hat: «Wäre ein Schaden in<br />

vollem oder geringerem Umfang auch ohne den Unfall<br />

eingetreten, sei er insoweit keine Folge davon, könne<br />

dem Haftpflichtigen folglich nicht zugerechnet werden<br />

und sei von der Schadensberechnung auszunehmen.<br />

Wenn der Schaden dagegen ohne den Unfall voraussichtlich<br />

überhaupt nicht eingetreten wäre, so bleibe<br />

der Haftpflichtige dafür auch dann voll verantwortlich,<br />

wenn der krankhafte Vorzustand den Eintritt des Schadens<br />

begünstigt oder dessen Ausmass vergrössert hat.<br />

Dem Anteil der Prädisposition an der Kausalität könne<br />

indessen im Rahmen von Art. 44 <strong>OR</strong> Rechnung getragen<br />

werden» 2 .<br />

Die jüngsten Urteile drehen sich um die Schadenersatzbemessung<br />

und bestätigen und konkretisieren die<br />

schon in BGE 113 <strong>II</strong> 86 markierte Zurückhaltung gegenüber<br />

einer Kürzung bei gesundheitsbedingten Schadensweiterungen.<br />

Ausgehend von der Feststellung, wer<br />

«widerrechtlich einen gesundheitlich geschwächten<br />

Menschen verletzt, hat kein Recht darauf, so gestellt<br />

zu werden, als ob er einen gesunden geschädigt hätte»,<br />

führt das Bundesgericht präzisierend aus: «In Fällen,<br />

in denen sich der krankhafte Vorzustand ohne das schädigende<br />

Ereignis voraussichtlich überhaupt nicht aus-<br />

* Auf die Problematik der konstitutionellen Prädisposition konzentrierte<br />

Fassung des am Personen-Schaden-Forum 2007 gehaltenen<br />

Referats zu den Reduktionsgründen im <strong>Haftpflichtrecht</strong>.<br />

1 Urteile 4C.416/1999 vom 20. Februar 2000 = Pra 2000 Nr. 154;<br />

4C.215/2001 vom 15. Januar 2002 = Pra 2002 Nr. 151; 4C.324/2005 vom<br />

5. Januar 2006 sowie BGE 131 <strong>II</strong>I 12; Zusammenfassung der Entscheide<br />

bei rico heinz, Aktuelle Urteile des Bundesgerichts zu Leistungskürzungen<br />

im <strong>Haftpflichtrecht</strong>, in: HAVE Personen-Schaden-<br />

Forum 2007, Zürich 2007, 184 f.<br />

2 So die Zusammenfassung und Bestätigung des Entscheids in Urteil<br />

4C.416/1999 vom 20. Februar 2000.<br />

0 /2007 HAVE/REAS<br />

109


Brèves contribution<br />

gewirkt hätte, wird die konstitutionelle Prädisposition<br />

des Geschädigten mithin für sich allein in der Regel<br />

nicht genügen, um zu einer Herabsetzung des Ersatzanspruches<br />

zu führen. Vielmehr müssen weitere Umstände<br />

hinzutreten, welche es unbillig erscheinen liessen,<br />

den Haftpflichtigen mit dem Ersatz des gesamten<br />

Schadens zu belasten. Als mögliche Gesichtspunkte in<br />

Betracht fallen dabei eine zurechenbare Gefahrenexponierung<br />

des Geschädigten oder eine sich besonders<br />

ungünstig auswirkende Vorbelastung, welche dazu<br />

führt, dass die haftungsbegründende Ursache in keinem<br />

Verhältnis mehr zu der Grösse des eingetretenen<br />

Schadens steht. Ähnlich wie bei der Verschuldensabwägung<br />

im Falle konkurrierenden Selbstverschuldens<br />

ist ferner die Grösse des Verschuldens des Haftpflichtigen<br />

zu berücksichtigen und in Beziehung zum Anteil<br />

der Prädisposition an der Kausalität zu setzen» 3 .<br />

Im Gefolge der neueren Entscheide ist heftig debattiert<br />

worden, ob die Verdikte eine neue Ära eingeleitet<br />

haben und eine Kürzung im Rahmen der Schadenersatzbemessung<br />

überhaupt noch möglich sei 4 . Es soll<br />

hier aufgezeigt werden, dass die neue Rechtsprechung<br />

durchaus ins Schema der Reduktionsgründe passt, die<br />

konstitutionelle Prädisposition für sich allein aber kein<br />

Kürzungsgrund sein kann, da dies mit den Kriterien<br />

und Wertungen nicht korrespondiert, die im Rahmen<br />

der Schadenersatzbemessung zu einem Minus an Haftung<br />

führen. Die Analyse und der hier gewählte Lösungsansatz<br />

bringen weitere Konsequenzen mit sich:<br />

In Frage gestellt wird auch die «automatische» Anrechnung<br />

der Betriebsgefahr im SVG sowie der Umstand,<br />

dass nur der geschädigte Halter von diesem Kürzungsgrund<br />

betroffen sein soll.<br />

B. notwendige differenzierungen bei den<br />

Reduktionsgründen in oR und<br />

Die Schadenersatzbemessung wird über <strong>OR</strong> 43 und 44<br />

gesteuert 5 . Die Praxis nennt die beiden Artikel nicht<br />

selten in einem Atemzug und differenziert nicht nach<br />

unterschiedlichen Anwendungsfeldern. Die Bestimmungen<br />

lassen sich aber durchaus auseinanderhalten<br />

und sie müssen auch unterschieden werden: Zum<br />

einen entfalten sie eine gegenseitige Ausschlusswirkung<br />

– was bei der einen Bestimmung als Reduktionsgrund<br />

ausscheidet, darf bei der anderen nicht unter<br />

dem gleichen Wertungsaspekt wieder einfliessen –,<br />

3 Urteil 4C.416/1999 vom 20.02.2000 E. 2c.aa.<br />

4 Vgl. die Beiträge von STeFan a. deTTwiler in HAVE 2002, 302 ff. und<br />

2005, 43 ff.; SaBine porcheT, HAVE 2002, 382 ff.; iriS herzoG-zwiTTer,<br />

HAVE 2005, 30 ff.; paTricK SuTer, HAVE 2005, 36 ff.<br />

5 In den Spezialgesetzen finden sich zwar weitere Bemessungsartikel,<br />

die für die hier interessierenden Fragen, soweit sie überhaupt neue<br />

Gesichtspunkte bringen, nicht oder nur indirekt (vgl. nachstehend bei<br />

Fn. 13) von Bedeutung sind.<br />

HAVE/REAS /2007<br />

110<br />

HAVE<br />

zum anderen sind die Rechtsfolgen nicht identisch. So<br />

ist der gänzliche Ausschluss des Schadenersatzes nur<br />

in <strong>OR</strong> 44 I vorgesehen und die Kürzung des Schadenersatzes,<br />

die als Ausnahme zur Regel des vollen Ausgleichs<br />

steht, nach <strong>OR</strong> 43 I nur selten indiziert.<br />

C. Gefahrexponierung und wertungswidersprüche<br />

Kürzungen infolge der hier besonders interessierenden<br />

konstitutionellen Prädisposition werden <strong>OR</strong> 44 I zugeordnet.<br />

<strong>OR</strong> 44 I beherbergt die Reduktionsgründe,<br />

die zur Sphäre des Geschädigten gehören. Die Bestimmung<br />

spricht allerdings nur von «Umständen,<br />

für die er einstehen muss», ohne auch nur einen homöopathischen<br />

Hinweis zu geben, welche Kriterien<br />

für die Zurechnung auf Geschädigtenseite erfüllt sein<br />

müssen. Den Kopf zerbricht man sich darüber aber<br />

selten, denn Lehre und Praxis sind sich über die Reduktionsgründe<br />

weitgehend einig. Unter <strong>OR</strong> 44 I fällt<br />

primär das Selbstverschulden, zu dem auch die Schadenminderungspflicht<br />

zu zählen ist 6 . Umstände, für<br />

die der Geschädigte einzustehen hat, sind aber auch<br />

die Betriebsgefahr oder andere Sachverhalte, die bei<br />

einer Fremdschädigung einen Haftungstatbestand erfüllen:<br />

Der Autohalter muss sich die Betriebsgefahr,<br />

der Hundehalter die Tiergefahr und der Jäger die Jagdausübungsgefahr<br />

usw. anrechnen lassen.<br />

Die Übertragung der Haftungskriterien auf die Geschädigtenseite<br />

überzeugt insofern, als die Haftungstatbestände<br />

nicht zufällig entstanden sind, sondern<br />

typische Gefahrenherde zum Anlass einer Haftung<br />

nehmen. Wenn sich diese Gefahren gegen den Halter<br />

oder Inhaber richten, scheint es auch angemessen, sie<br />

dort als Reduktionsgrund zuzulassen. Damit tut sich<br />

niemand schwer, das Rechtsempfinden rebelliert gegen<br />

die Übertragung nicht. Gleichwohl überzeugt die<br />

Symmetrie von Haftungs- und Reduktionsgründen<br />

nicht ganz:<br />

In <strong>OR</strong> 44 finden wir für die Zurechnung keine Enumeration<br />

von Reduktionsgründen, sondern eine offene,<br />

generalklauselartige Formulierung. Es müssen<br />

daher für eine Kürzung der Schadenersatzansprüche<br />

nicht zwangsläufig Haftungstatbestände erfüllt sein.<br />

Es genügt, wenn eine qualifizierte Selbstgefährdung<br />

i.S. einer Gefahrexponierung stattfindet 7 . Soweit der<br />

Geschädigte eigene Rechtsgüter gefährdet und damit<br />

6 Auch die Schadenminderungspflicht ist je nach Konstellation bei der<br />

Schadensberechnung zu berücksichtigen, die Praxis hat aber noch<br />

zu keiner klaren Lösung gefunden, vgl. STephan weBer, Reduktion von<br />

Schadenersatzleistungen, in: HAVE Personen-Schaden-Forum 2007,<br />

Zürich 2007 156 ff.<br />

7 Ausführlich dazu STephan weBer in SJZ 1989, 79 ff.<br />

info<br />

0


HAVE<br />

info<br />

das Integritätsinteresse aufs Spiel setzt, lässt sich die<br />

Schadensüberwälzung auf einen Dritten nicht mehr<br />

rechtfertigen. Die Gefährdung als allgemeines Haftungsmerkmal<br />

sollte auch Kerntatbestand der Reduktionsgründe<br />

in <strong>OR</strong> 44 I sein 8 .<br />

Zu diesem Kriterium passt die konstitutionelle Prädisposition<br />

aber nicht. Gesundheitliche Defizite können<br />

nicht als Selbstgefährdung ausgegeben werden, denn<br />

es fehlt schon am minimalsten Zurechnungserfordernis,<br />

dem Handeln oder Unterlassen. Gleichwohl zählen<br />

Lehre und Praxis die Prädisposition zu den Reduktionsgründen<br />

und haben zum Teil recht massive Kürzungen<br />

zugelassen. Nicht selten wurde bei der Schadenerledigung<br />

schlicht die Einschätzung der Ärzte zur<br />

Grundlage des Kürzungsentscheids gemacht. Wenn es<br />

etwa im medizinischen Befund hiess, der Anteil der<br />

vorbestehenden Beschwerden liege bei 50 % 9 , wurde<br />

der Schaden tel quel um diesen Anteil reduziert! 10 Vergleicht<br />

man eine solche Quote mit den Abzügen, die<br />

bei einem Selbstverschulden gemacht werden, so ist offensichtlich,<br />

dass die Wertungen nicht mehr kongruent<br />

sind. Ein gesundheitlicher Vorzustand darf man doch<br />

nicht wie ein grobes Selbstverschulden sanktionieren!<br />

Und geradezu paradox wirkt es im Vergleich, wenn das<br />

Nichttragen der Gurten selbst im Verbund mit weiteren<br />

Verstössen mit 10 bis 20 % zu Buche schlägt 11 .<br />

Das Bundesgericht hat diesen Pfad glücklicherweise<br />

verlassen und macht die Kürzung heute davon abhängig,<br />

dass nebst der gesundheitlichen Vorbelastung noch<br />

weitere Kriterien erfüllt sind. Dabei erwähnt es ganz<br />

selbstverständlich die «Gefahrenexponierung», die hier<br />

als genereller Reduktionsgrund in <strong>OR</strong> 44 I gesehen<br />

wird. Wer auf seinen gesundheitlichen Zustand keine<br />

Rücksicht nimmt und sich vermeidbaren Gefahren<br />

aussetzt, muss die dadurch geschaffenen Risiken mittragen.<br />

Wo dies aber nicht zutrifft, ist kein Umstand<br />

erkennbar, für den der Haftpflichtige einzustehen hat.<br />

8 Erfolgt die Selbstgefährdung vorsätzlich, umfasst sie auch die ausdrücklich<br />

erwähnte Einwilligung. Der Gedanke steht auch hinter dem<br />

sog. Handeln auf eigene Gefahr, das in der deutschen Lehre aus dem<br />

Bedürfnis heraus entwickelt worden ist, die verschuldensorientierten<br />

Kürzungsgründe zu erweitern, was in <strong>OR</strong> 44 I aber schon sprachlich<br />

kein Problem ist; BGB 254 erlaubt eine Kürzung, wenn «bei der Entstehung<br />

ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt» hat.<br />

9 Die Ärzte neigen gerade bei der komplementären Kausalität, d.h. bei<br />

Ursachen, die erst durch das Zusammenwirken zu einem (zusätzlichen)<br />

Schaden führen, zu dieser Zahl, da sich bei dieser Konstellation<br />

überhaupt keine Ursachenanteile feststellen lassen. Das Ergebnis<br />

ist am wenigsten falsch, aber nicht korrekt.<br />

10 Im Urteil des Bundesgerichts vom 8. Oktober 1982 (SG Nr. 218) wurden<br />

die unfallfremden Faktoren auf 15–50 % geschätzt und mit einem<br />

Mittelwert 33 % gekürzt. Allerdings wurde in den älteren Urteilen<br />

noch nicht nach Berechnungs- und Bemessungskürzungen differenziert.<br />

11 Vgl. etwa Urteil des Bundesgerichts 4C.167/2000 vom 28. September<br />

2000.<br />

Kurzbeiträge<br />

Die Betroffenen können für ihre körperliche, geistige<br />

und seelische Verfassung nichts und der Haftpflichtige<br />

hat daher die geschädigte Person so zu akzeptieren, wie<br />

sie ist. So wie es Personen mit hohen und niedrigen<br />

Einkommen gibt, hat der eine eine bessere, der andere<br />

eine schlechtere Konstitution. Beides kann für die<br />

Schadenberechnung grosse Auswirkungen haben. Die<br />

Höhe des Einkommens bleibt im <strong>Haftpflichtrecht</strong> aber<br />

unbeachtet. Es herrscht die biblische Devise, wer da<br />

hat, dem wird gegeben. Nur ein «ungewöhnlich hohes<br />

Einkommen» kann nach einzelnen Bestimmungen 12 zu<br />

einer Ermässigung führen 13 . Auch der Seitenblick auf<br />

die finanzielle Prädisposition 14 macht deutlich, dass<br />

die schlechte Konstitution kein Umstand im Sinne von<br />

<strong>OR</strong> 44 I sein kann, für den der Geschädigte einstehen<br />

muss.<br />

d. weitere Reduktionsgründe nach oR i<br />

Mit diesem Befund sind erst die Kürzungsmöglichkeiten<br />

in <strong>OR</strong> 44 I ausgeleuchtet. Ausserhalb der Verantwortlichkeitssphäre<br />

des Geschädigten gibt es weitere<br />

Reduktionsmöglichkeiten, die in <strong>OR</strong> 43 I und 44 <strong>II</strong><br />

festgehalten sind. Die Gründe lassen sich nicht auf einen<br />

einheitlichen Gedanken zusammenziehen. <strong>OR</strong> 43<br />

erwähnt die Grösse des Verschuldens und lässt damit<br />

die Intensität des Haftungsgrundes als Moderation<br />

zumindest bei der Verschuldenshaftung zu 15 . Daneben<br />

führt <strong>OR</strong> 43 die Umstände auf, lässt aber ebenfalls im<br />

Dunkeln, was damit gemeint sein könnte. Auch in der<br />

Lehre und Praxis sind die Deutungen diffus geblieben.<br />

Erwähnt werden mitwirkender Zufall, entfernter<br />

Kausalzusammenhang und die Unvorhersehbarkeit<br />

des Schadens. Damit erhält die Schadenersatzbemessung<br />

eine gewisse Beliebigkeit, die auch im Rahmen<br />

eines Billigkeitsentscheides problematisch ist 16 . Zudem<br />

bleibt mit der Formulierung «sowohl … als auch»<br />

unklar, ob die Intensität des Verschuldens und weitere<br />

Umstände kumulativ erfüllt sein müssen.<br />

12 So in SVG 62 <strong>II</strong>, EHG 4 und KHG 7 <strong>II</strong>.<br />

13 Einzelne Autoren sehen darin einen generellen Kürzungsgrund; vgl.<br />

roland Brehm, Berner Komm., 3. A., Bern 2006, N 63 zu <strong>OR</strong> 43, der sich<br />

allerdings dezidiert dagegen ausspricht. Praktisch ist dieser Kürzungsgrund<br />

bislang nicht sehr bedeutsam geworden, was sich mit<br />

den heutigen Managergehältern aber ändern könnte.<br />

14 Man kann auch mit den Sachschäden argumentieren. Auch dort<br />

wird der Schaden vollständig ausgeglichen, und kein Unterschied<br />

gemacht, ob es sich um eine Luxuskarrosse oder ein besonders fragiles<br />

Fahrzeug handelt.<br />

15 Der Vorentwurf für ein Haftungsgesetz spricht in Art. 52 von der<br />

«Schwere des Verschuldens und der Intensität des charakteristischen<br />

Risikos» und setzt damit breiter an.<br />

16 ThomaS SchwamB, Die schadenersatzrechtliche Reduktionsklausel<br />

§ 255a BGB Referentenentwurf 1967, Frankfurt a.M. 1984, bemerkt<br />

zum mitwirkenden Zufall in der schweizerischen Kürzungspraxis<br />

treffend: «Im einzelnen kann angesichts der praktischen Beispiele<br />

der Zufall schlichtweg alles sein, was das Gericht, wenn es ihn überhaupt<br />

näher umschreibt, hierfür erklärt.»<br />

0 /2007 HAVE/REAS<br />

111


Brèves contribution<br />

Sieht man von der Gefälligkeit, den persönlichen Beziehungen<br />

und den finanziellen Verhältnissen 17 ab,<br />

lässt sich <strong>OR</strong> 43 am ehesten mit der Formel kleine Ursache<br />

– grosse Wirkung zusammenfassen. Und genau<br />

zu diesem Aspekt passen die vom Bundesgericht nebst<br />

der Gefahrexponierung angeführten Kriterien – das<br />

Verhältnis der haftungsbegründenden Ursache zur<br />

Grösse des eingetretenen Schadens –, die zusätzlich<br />

erfüllt sein müssen, damit die konstitutionelle Prädisposition<br />

zum Anlass einer Kürzung genommen werden<br />

darf.<br />

Im Ergebnis gelange ich zum gleichen Schluss wie das<br />

Bundesgericht: Ein Konstitutionsmangel kann für sich<br />

allein kein Reduktionsgrund nach <strong>OR</strong> 44 sein. Eine<br />

Kürzung ist nur angemessen, wenn weitere, andere<br />

Umstände nach <strong>OR</strong> 43 oder 44 eine solche rechtfertigen<br />

können 18 . Die Kürzung im Rahmen von <strong>OR</strong> 43<br />

darf aber nur ausnahmsweise erwogen werden und der<br />

Umfang der Kürzung muss moderat bleiben. Auch dieser<br />

Linie folgt das Bundesgericht 19 .<br />

E. Halterschaft als Gefahrexponierung?<br />

Geht man davon aus, dass es für eine Kürzung keine<br />

analoge Anwendung der Haftungstatbestände braucht,<br />

so ist auch nicht zwingend, die Betriebsgefahr nur<br />

dem Halter anzurechnen. Für die Selbstgefährdung<br />

liefert das Kriterium der Halterschaft keinen sachdienlichen<br />

Hinweis. Es würde sich vielmehr aufdrängen,<br />

die Betriebsgefahr dem Lenker anzulasten, der ja die<br />

Gefahren schafft und sich mit dem Lenken des Fahrzeugs<br />

den Gefahren bewusst aussetzt. Fährt der Halter<br />

lediglich mit, sollte er gleich wie andere Fahrgäste behandelt<br />

werden. Den Nutzen aus der Fahrt ziehen alle<br />

Fahrzeuginsassen, also sollten sie auch das Risiko tragen,<br />

das mit diesem Unterfangen verbunden ist.<br />

17 Ausdrücklich wird in <strong>OR</strong> 44 <strong>II</strong> die Notlage des Haftpflichtigen als Kürzungsgrund<br />

anerkannt.<br />

18 In diesen Kontext passt dann auch BGE 123 <strong>II</strong>I 110. Die Adäquanz<br />

steuert als wertender, funktionaler Rechtsbegriff die Zurechnungsgrenze,<br />

die im Haftpflicht- und Versicherungsrecht durchaus verschieden<br />

gezogen werden kann (ein Gleichlauf existiert nur bei der<br />

natürlichen Kausalität, die hüben wie drüben mit überwiegender<br />

Wahrscheinlichkeit und basierend auf Erfahrungswerten festgestellt<br />

wird). Ein leichter Unfall mit ungewöhnlichen Folgen schliesst die<br />

Zurechnung im <strong>Haftpflichtrecht</strong> nicht aus, führt aber auch nicht regelmässig<br />

zu einer Anspruchskürzung; das ist das Wesen des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s.<br />

19 Ein Rätsel oder Ausreisser bleibt das Urteil vom 5. Januar 2006<br />

(4C.324/2005). Die Kürzung von 35 % bei einer vorsätzlichen Körperverletzung<br />

ohne aussergewöhnliche Verletzungsfolgen ist schlicht<br />

nicht nachvollziehbar. Ob eine Gefahrexponierung oder die Verletzung<br />

der Schadenminderungspflicht eine hinreichende Grundlage<br />

sein könnte, lässt sich den Erwägungen nicht entnehmen.<br />

HAVE/REAS /2007<br />

112<br />

20 Verschulden nur beim Kollisionsgegner.<br />

21 Kein Verschulden auf beiden Seiten.<br />

22 Einseitiges Verschulden des geschädigten Halters, das nicht erheb-<br />

lich zu sein braucht.<br />

23 Nachweise bei weBer (Fn. 6), 164 ff.<br />

HAVE<br />

Man muss aber ernsthaft auch die Frage stellen, ob<br />

demjenigen, der ein Auto fährt oder in einem solchen<br />

mitfährt, eine relevante Selbstgefährdung vorgehalten<br />

werden kann, die einen Abzug rechtfertigt? Jedermann<br />

setzt sich tagtäglich unzähligen Risiken aus. Ganz<br />

besonders im Strassenverkehr, wo vor allem die nicht<br />

motorisierten Verkehrsteilnehmer besonders gefährdet<br />

sind. Es würde zu weit führen, bereits hier von einer<br />

relevanten Selbstgefährdung zu sprechen. Der mit der<br />

Gefährdungshaftung und dem Versicherungsobligatorium<br />

eingeführte Schutz der Verkehrsteilnehmer würde<br />

damit jedenfalls weit zurück genommen.<br />

Gefährdungen, die mit der gewöhnlichen Teilnahme<br />

am Sozialleben verbunden sind, können eine Kürzung<br />

nicht hinreichend motivieren. Es braucht eine<br />

gesteigerte, über das sozialübliche hinausgehende<br />

Gefährdung, eine Gefahrexponierung eben. Allein die<br />

Benützung eines Fahrzeugs genügt dazu nicht, weder<br />

beim Halter noch beim Lenker oder Fahrgast. Sie alle<br />

sollten ebenso wie die Fussgänger und Velofahrer vom<br />

Schutzbereich der SVG-Haftung erfasst sein und nicht<br />

gewärtigen müssen, dass ihnen nur ein Teil des Schadens<br />

ersetzt wird.<br />

Besonders krass trifft es den Halter, der mit einem<br />

anderen Fahrzeug kollidiert. Er kann nur mit einem<br />

Bruchteil seines Schadens rechnen und erhält überhaupt<br />

keinen Schadenersatz, wenn ihn ein (einseitiges)<br />

Verschulden trifft. Für dieses den allgemeinen Grundsätzen<br />

des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s radikal widersprechende<br />

Ergebnis ist SVG 61 I verantwortlich, der sprachlich<br />

und historisch von einer Kompensation der Betriebsgefahren<br />

ausgeht. Dieses Resultat kann nicht hingenommen<br />

werden. Zumindest sollte mit einer sektoriellen<br />

Verteilung das starre Alles- 20 , die Hälfte- 21 oder<br />

Garnichts- 22 Prinzip gemildert und sollten sämtliche<br />

Umstände berücksichtigt werden, wenn nicht überhaupt<br />

von einer Anrechnung der Betriebsgefahr abgesehen<br />

wird. Auch hier zeichnet sich erfreulicherweise<br />

in Lehre und Rechtsprechung eine Trendwende ab 23 .<br />

info


PERSONENSCHADEN I<br />

BGE 81 <strong>II</strong> 512<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

79. Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. Dezember 1955 i. S. Blaser gegen Aekermann.<br />

Regeste<br />

1. Art. 42 Abs. 2, 46 Abs. 1 <strong>OR</strong>. Bestandteile des Schadens, den ein von einem Hund ins Gesicht gebissenes<br />

Mädchen erleidet: Kosten einer kosmetischen Operation, Erschwerung des wirtschaftlichen<br />

Fortkommens durch Beeinträchtigung der Berufswahl und der Heiratsmöglichkeit (Erw. 2).<br />

2. Art. 43 Abs. 1 <strong>OR</strong>. Das Fehlen des Verschuldens des Tierhalters mindert dessen Ersatzpflicht nicht.<br />

Andere Umstände, die sie mindern könnten? (Erw. 3). Bedeutung des Umstandes, dass der Schaden<br />

erst später in vollem Umfange entstehen wird (Erw. 4). Verzinsung der Schadenersatzforderung (Erw.<br />

6).<br />

3. Art. 47 <strong>OR</strong>. Voraussetzungen und Höhe der Genugtuung für Körperverletzung (Erw. 5). Verzinsung<br />

(Erw. 6).<br />

Sachverhalt ab Seite 513<br />

A.- Am 14. Februar 1953 gegen Mittag spazierte Dora Ackermann mit ihrem damals zweieinhalb Jahre<br />

alten Töchterchen Isabelle und einer an der Leine geführten Schäferhündin auf der Dammstrasse<br />

in Oftringen am Hause des Hans Blaser vorbei. In diesem Zeitpunkt kam Blasers sechsjähriger Chow-<br />

Chow-Hund bellend aus dem Garten, in dem er sich meistens frei aufhielt. Durch den Lärm aufmerksam<br />

geworden, trat Frau Blaser vor die Haustüre und befahl dem Hunde, ruhig zu sein. Nachher unterhielt<br />

sie sich mit Frau Ackermann und achtete nicht mehr auf den Chow-Chow, der am Boden herumschnüffelte<br />

und scheinbar beruhigt war. Isabelle Ackermann kauerte einige Schritte vom Hund<br />

Blasers entfernt am Boden und machte Schneehäufchen. Plötzlich drehte sich dieser Hund gegen sie<br />

und biss sie in die rechte Wange, ohne dass er irgendwie gereizt oder sonst dazu veranlasst worden<br />

wäre. Isabelle erlitt eine schwere Wunde, die zwischen rechtem Augenwinkel und Ohr begann, geradlinig<br />

in die Nähe des Mundes verlief und dort rechtwinklig gegen die Nasenwurzel abbog. Die<br />

Wunde musste zwölffach geheftet werden. In der Folge entwickelte sich eine hypertrophische,<br />

keloidartige, verhärtete Narbe, die sich rosafarben und hässlich über die Haut erhebt. Sie wird sich<br />

von 4 cm entsprechend dem Wachstum des Kindes auf 5-6 cm verlängern und das Gesicht dauernd<br />

entstellen, obwohl die rote Farbe der Biss-Stelle möglicherweise verblassen wird. Eine kosmetische<br />

Operation kann die Narbe höchstens schmäler und blasser machen. Ihr Erfolg ist aber nicht sicher.<br />

B.- Isabelle Ackermann klagte am 12. Januar 1954 gegen Hans Blaser auf Fr. 20'000.-- Schadenersatz<br />

und Genugtuung nebst 5% Zins seit 14. Februar 1953.<br />

Das Bezirksgericht Zofingen hiess die Klage im Betrage<br />

BGE 81 <strong>II</strong> 512 S. 514<br />

von Fr. 9000.-- nebst 5% Zins seit 14. Februar 1953 gut.<br />

Hiegegen appellierte der Beklagte mit dem Antrag, die Klage sei insoweit abzuweisen, als sie auf Zahlung<br />

von mehr als Fr. 3000.-- gehe.<br />

Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Appellation am 17. Juni 1955 ab. Es ging davon aus, die<br />

Klägerin habe für Schmerzen und psychische Belastung Anspruch auf eine Genugtuung von wenigstens<br />

Fr. 2000.--, und der Rest von Fr. 7000.-- des erstinstanzlich zugesprochenen Gesamtbetrages<br />

rechtfertige sich als Ersatz für den Schaden, den die Klägerin namentlich in der Form der Beeinträchtigung<br />

ihres wirtschaftlichen Fortkommens erleiden werde. Dass dieser Schaden sich erst nach etwa<br />

15 Jahren auswirken und die zuerkannte Summe inzwischen bei einem Zinssatz von 2 1/2% mit Zinseszinsen<br />

auf rund Fr. 10'100.-- ansteigen werde, gebe nicht Anlass zu einer Herabsetzung.<br />

113


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

C.- Der Beklagte führt Berufung mit den Anträgen: 1. Das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und<br />

die Klage abzuweisen, soweit an Genugtuung und Schadenersatz mehr als Fr. 3000.-- verlangt würden;<br />

2. Eventuell sei die Klage höchstens im Betrage von Fr. 5000.-- zu schützen; 3. Der Verzugszins<br />

sei erst ab 12. Januar 1954 zuzusprechen.<br />

D.- Die Klägerin beantragt, die Berufung sei abzuweisen.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:<br />

1. Die Klägerin hat durch den Hund des Beklagten eine Körperverletzung erlitten, für deren Folgen<br />

der Beklagte, wie er nicht mehr bestreitet, gemäss Art. 56 Abs. 1 <strong>OR</strong> aufzukommen hat. Streitig ist<br />

nur noch die Höhe des Schadenersatzes und der Genugtuung, wobei der Beklagte einen Gesamtbetrag<br />

von Fr. 3000.--, eventuell Fr. 5000.--, für genügend hält, während die Klägerin sich mit dem ihr<br />

im kantonalen Verfahren zugesprochenen Betrag von Fr. 9000.-- abfinden will.<br />

2. Gemäss Art. 46 <strong>OR</strong> gibt Körperverletzung dem Verletzten Anspruch auf Ersatz der Kosten sowie auf<br />

Entschädigung für die Nachteile gänzlicher oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit, unter Berücksichtigung<br />

der Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens.<br />

a) Als Kosten fallen die Auslagen für ärztliche Behandlung in Betracht. Die Klägerin hat sie nicht belegt,<br />

doch gibt der Beklagte zu, dass sie sich auf etwa Fr. 100.-- belaufen. Sie werden sich noch um Fr.<br />

300.-- bis 500.-- vermehren, wenn die Klägerin, wie der Beklagte ihr zumutet, sich zur Verbesserung<br />

des Aussehens der Narbe einer Operation unterziehen wird, die der Spezialarzt Dr. Buff frühestens<br />

nach Ablauf von drei Jahren für angezeigt hält. Diese Operation wird nicht schmerzhaft sein, nach<br />

Erklärung des Facharztes den Zustand nicht verschlimmern, wahrscheinlich aber das Aussehen der<br />

Narbe verbessern. Es darf daher von der Klägerin erwartet werden, dass sie sich dieser Massnahme,<br />

die den Schaden voraussichtlich verringern kann, unterziehe. Unter diesen Umständen sind die Kosten<br />

der Operation in die Schadensrechnung einzubeziehen, während anderseits der übrige Schaden<br />

nach dem Aussehen zu bestimmen ist, das die Narbe voraussichtlich nach der Operation haben wird.<br />

b) Wie der Beklagte zutreffend geltend macht, wird die Arbeitsfähigkeit der Klägerin, sei es mit, sei es<br />

ohne Nachoperation, durch die ausgeheilte Wunde nicht beeinträchtigt werden. Das Obergericht<br />

stellt aber fest, auch nach der Operation werde eine Narbe verbleiben, wenn auch wahrscheinlich<br />

abgeblasster, weniger auffällig und weniger verunstaltend, als sie jetzt ist. Das ist auch die Auffassung<br />

des Arztes. Obschon er die schliesslich zurückbleibende kosmetische Einbusse als gering bezeichnet,<br />

ist daher an einer gewissen bleibenden Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens der<br />

Klägerin nicht zu zweifeln. Wie sich das in ihrem Einkommen auswirken wird, braucht nicht zahlenmässig<br />

dargetan zu werden. Wer Schadenersatz beansprucht, hat zwar den Schaden zu beweisen<br />

(Art. 42 Abs. 1 <strong>OR</strong>). Aber der nicht ziffermässig nachweisbare Schaden ist nach Ermessen des Richters<br />

mit Rücksicht auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge und auf die vom Geschädigten getroffenen Massnahmen<br />

abzuschätzen (Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong>). Solchen Schaden wird die Klägerin erleiden. Als Kind eines<br />

Apothekers wird sie sich nicht mit einem Berufe begnügen wollen, der nur handwerkliches Können<br />

erfordert. Sie wird daher in der Berufswahl behindert sein. Einen Beruf, der Anforderungen an ein<br />

einnehmendes Aussehen stellt, wird sie nicht wählen oder im Wettbewerbe mit anderen nur mit<br />

Nachteil ausüben können. Nach der Erfahrung des Lebens schränken Narben im Gesicht einer Frau,<br />

selbst wenn sie dieses nur geringfügig entstellen, auch die Möglichkeit der Verheiratung und damit<br />

die mit der Heirat verbundene Verbesserung des wirtschaftlichen Fortkommens ein. Unter diesen<br />

Gesichtspunkten ist schon in BGE 33 <strong>II</strong> 124 ff. einem Mädchen, das durch Hundebiss ins Gesicht verletzt<br />

worden war, Schadenersatz zugesprochen worden. Indem das Obergericht im vorliegenden<br />

Falle den Schaden mit gleicher Begründung bejahte, hat es das Ermessen in diesem wesentlich tatbeständlichen<br />

Bereiche nicht überschritten. Das Bundesgericht hat keinen Grund, in diesen von persönlichen<br />

und örtlichen Umständen mitbestimmten Fragen (vgl. BGE 79 <strong>II</strong> 387 a. E.) anders zu entscheiden.<br />

114


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

3. Gemäss Art. 43 Abs. 1 <strong>OR</strong> sind Art und Grösse des Ersatzes für den eingetretenen Schaden vom<br />

Richter zu bestimmen, "der hiebei sowohl die Umstände als die Grösse des Verschuldens zu würdigen<br />

hat".<br />

Auf das Verschulden kommt für die Bestimmung der Grösse des Ersatzes aber nur etwas an, wenn es<br />

Voraussetzung der Ersatzpflicht ist. Im vorliegenden Falle ist es das nicht, da der Beklagte den ihm<br />

nach Art. 56 Abs. 1 <strong>OR</strong> obliegenden Entlastungsbeweis nicht erbracht hat. Der Einwand des Beklagten,<br />

er habe den Schaden nicht verschuldet, hilft daher nicht. Der Beklagte legt BGE 33 <strong>II</strong> 132 falsch<br />

aus, wenn er daraus ableitet, für die Ersatzbemessung komme etwas darauf an, ob den Tierhalter ein<br />

Verschulden treffe. Lediglich in der Abschätzung des Schadens, nicht in der Bestimmung der Höhe<br />

des Ersatzes, liess sich dort der Richter vom Gedanken leiten, dass Zurückhaltung nicht am Platze sei,<br />

weil den Ersatzpflichtigen ein schweres Verschulden treffe. Dass fehlendes Verschulden ein Grund<br />

sei, den nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden Schaden nicht voll ersetzen zu lassen,<br />

heisst das nicht. Übrigens ist der Beklagte nicht frei von jedem Vorwurf, hat doch der gleiche<br />

Hund schon anderthalb Jahre früher ein zweieinhalb Jahre altes Kind gebissen. Das hätte den Eigentümer<br />

veranlassen sollen, ihn sorgfältiger zu beaufsichtigen.<br />

Ebensowenig setzt der Umstand, dass die Mutter der Klägerin eine Schäferhündin mitführte, die Ersatzpflicht<br />

des Beklagten herab. Das Obergericht verneint verbindlich, dass die Anwesenheit dieser<br />

an der Leine geführten Hündin den Schaden mitverursacht oder ihn vergrössert habe. Zudem hatte<br />

die Klägerin weder für die Anwesenheit der Schäferhündin, noch dafür einzustehen, dass sie selbst,<br />

wie der Beklagte vermutet, vom Geruch dieses Tieres behaftet gewesen sei und damit die Erregung<br />

des Chow-Chow gesteigert habe. Die Klägerin war nicht Tierhalterin, und sie hätte die vom Beklagten<br />

behaupteten Tatsachen auch nicht verschuldet.<br />

Es besteht daher kein Anlass, den Beklagten nicht zum Ersatz des vollen Schadens zu verpflichten.<br />

4. Der volle Ersatz aber ist vom Obergericht mit Fr. 7000.-- nicht unrichtig bestimmt worden, selbst<br />

wenn berücksichtigt wird, dass das wirtschaftliche Fortkommen der Klägerin erst in der Zukunft erschwert<br />

werden wird und der Betrag bis dahin an Zins gelegt werden kann. Es trifft nicht zu, dass die<br />

Klägerin erst im Alter von 22 1/2 Jahren voll geschädigt sein wird, wie der Beklagte behauptet. Das<br />

Obergericht nimmt mit Recht an, das werde schon in etwa 15 Jahre zutreffen. Gewiss liegt auch so im<br />

sofortigen Zuspruch des Ersatzes ein nicht unbeachtlicher Vorteil. Aber selbst unter der Voraussetzung,<br />

dass es der Klägerin gelinge, aus dem Betrage nicht nur 2 1/2% Zins zu ziehen, wie das Obergericht<br />

annimmt, sondern 3 1/2%, wie der Beklagte unter Hinweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung<br />

zur Bestimmung des Barwertes von Invalidenrenten geltend macht, ergibt sich daraus<br />

nicht eine Überbewertung des Schadens. In BGE 33 <strong>II</strong> 124 ff., wo ebenfalls über den durch Einschränkung<br />

der Berufswahl und der Heiratsmöglichkeit entstehenden Schaden zu befinden war, der einem<br />

ins Gesicht gebissenen Mädchen bevorstand, wurde denn auch im vorzeitigen Zuspruch des Ersatzes<br />

kein Grund zur Minderung des Betrages gesehen. Die Kritik des Beklagten am angefochtenen Urteil<br />

schlägt umsoweniger durch, als der Schaden ohnehin nur ermessensmässig bestimmt werden kann<br />

und die Ungewissheit über die tatsächlichen Auswirkungen der erlittenen Verletzung sich nicht zuungunsten<br />

der Klägerin auswirken darf, sondern vom Beklagten, der für das schädigende Ereignis voll<br />

einzustehen hat, in Kauf genommen werden muss. Zu bedenken ist endlich, dass nichts im Wege<br />

stünde, die nachgesuchte Herabsetzung des Schadenersatzes durch eine Erhöhung der Genugtuung<br />

wettzumachen, die das Gesetz in das richterliche Ermessen stellt.<br />

5. Hat die unerlaubte Handlung eine Körperverletzung zur Folge, so kann der Richter unter Würdigung<br />

der besonderen Umstände dem Verletzten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung<br />

zusprechen (Art. 47 <strong>OR</strong>).<br />

Ein Verschulden des Haftbaren setzt diese Bestimmung nicht voraus (BGE 74 <strong>II</strong> 210 ff.). Schon deshalb<br />

versagt der Einwand des Beklagten, es treffe ihn kein Verschulden. Wie bereits erwähnt, kann<br />

ein solches übrigens nicht verneint werden, wenn es auch nicht besonders schwer war.<br />

115


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Eine Geldsumme als Genugtuung rechtfertigt sich im vorliegenden Falle als Ausgleich für die Schmerzen,<br />

welche die Klägerin hat ausstehen müssen, und die erhebliche seelische Belastung, welche die<br />

dauernde Entstellung ihres Gesichts durch die Narbe zur Folge hat.<br />

Auch die Höhe der zugesprochenen Genugtuungssumme von Fr. 2000.-- verletzt das Gesetz nicht. Sie<br />

bleibt im Rahmen des Ermessens. Dieses wäre selbst dann nicht überschritten, wenn ein Betrag von<br />

Fr. 3000.-- bis 4000.-- zuerkannt worden wäre.<br />

6. Der Beklagte beanstandet den ab 14. Februar 1953 zugesprochenen Zins mit der Begründung, am<br />

Tage des Unfalles sei noch keine Forderung fällig gewesen; Verzugszins für hypothetischen, zukünftigen<br />

Schaden könne frühestens ab Einreichung der Klage zugesprochen werden.<br />

Er verkennt, dass die Schadenersatz- und Genugtuungsforderung mit Eintritt des den Anspruch begründenden<br />

Ereignisses fällig wird und dass der gemäss ständiger Rechtsprechung ab diesem Tage<br />

zuzusprechende Zins (vgl. z.B. BGE 33 <strong>II</strong> 133 Erw. 7) nicht Verzugszins, sondern Bestandteil des Schadenersatzes<br />

bezw. der Genugtuung ist. Er bezweckt, den Anspruchsberechtigten so zu stellen, wie<br />

wenn er für seine Forderung am Tage der unerlaubten Handlung befriedigt worden wäre. Dass im<br />

vorliegenden Falle ein Teil des Schadens erst später eintreten wird, rechtfertigt keine Abweichung,<br />

da dem Umstande, dass der Ersatz schon heute zugesprochen wird, in dessen Bemessung Rechnung<br />

getragen wird.<br />

Entscheid<br />

Demnach erkennt das Bundesgericht:<br />

Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil der I. Abteilung des Obergerichts des Kantons Aargau<br />

vom 17. Juni 1955 bestätigt.<br />

4A_127/2011<br />

Urteil vom 12. Juli 2011<br />

I. zivilrechtliche Abteilung<br />

Besetzung<br />

Bundesrichterin Klett, Präsidentin,<br />

Bundesrichterinnen Rottenberg Liatowitsch, Kiss,<br />

Gerichtsschreiberin Hotz.<br />

Verfahrensbeteiligte<br />

A.________,<br />

vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Max Sidler,<br />

Beschwerdeführerin,<br />

gegen<br />

X.________ Versicherungen AG,<br />

vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Walter Fellmann,<br />

Beschwerdegegnerin.<br />

Gegenstand<br />

Haftung des Motorfahrzeughalters,<br />

116


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, <strong>II</strong>. Zivilkammer, vom 27. Oktober<br />

2009 und den Zirkulationsbeschluss des Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 24. Januar 2011.<br />

Sachverhalt:<br />

A.<br />

A.________ (Beschwerdeführerin) fuhr am 6. November 1993 mit ihrem Personenwagen auf der<br />

Y.________strasse in Z.________ von Q.________ herkommend Richtung R.________. Als sie bei der<br />

Einmündung in die S.________strasse anhielt, fuhr ihr ein Versicherungsnehmer der X.________<br />

Versicherungen AG (Beschwerdegegnerin) mit seinem Fahrzeug auf. Die Beschwerdeführerin machte<br />

geltend, sich durch die Auffahrkollision eine Hirnerschütterung sowie ein mittelschweres bis schweres<br />

HWS-Distorsionstrauma der Halswirbelsäule zugezogen zu haben. Die Folgen seien - zusammengefasst<br />

- bis heute andauernde schwerste Nacken- und Kopfschmerzen, intellektuelle Ermüd- und<br />

Erschöpfbarkeit sowie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Sie sei deshalb seit dem<br />

Unfall als Geschäftsführerin arbeits- und damit auch dauernd erwerbsunfähig.<br />

Die Beschwerdegegnerin anerkannte die Unfallverursachung durch ihren Versicherungsnehmer, wobei<br />

dessen Verschulden nicht schwer wiege. Sie bestritt hingegen die von der Beschwerdeführerin<br />

geltend gemachten Beschwerden und Verletzungen der HWS sowie einen allfälligen Kausalzusammenhang<br />

zwischen diesen und dem Unfall. Die Beschwerden der Beschwerdeführerin seien mindestens<br />

zur Hauptsache psychosomatischer und nicht organischer Natur. Allenfalls liege bei der Beschwerdeführerin<br />

eine konstitutionelle Prädisposition vor.<br />

B.<br />

Am 11. August 2000 machte die Beschwerdeführerin am Bezirksgericht Horgen gegen die Beschwerdegegnerin<br />

eine Forderungsklage anhängig, welche sie nachträglich auf Fr. 4'338'853.85 nebst Zins<br />

bezifferte. Das Bezirksgericht hiess die Klage am 20. Dezember 2007 nach Durchführung eines Beweisverfahrens<br />

teilweise - im Umfang von Fr. 175'054.30 nebst Zins (bisheriger Erwerbsausfall), Fr.<br />

198'324.-- nebst Zins (zukünftiger Erwerbsausfall) sowie Fr. 1'680.-- nebst Zins (Genugtuung) und Fr.<br />

27'501.35 (Zins für die Zeit vom 6. November 1993 bis 6. Januar 2003) - gut und wies sie im Übrigen<br />

ab. Im Umfang von Fr. 33'412.-- (Fr. 3'412.-- Kosten Gutachter B.________ und Fr. 30'000.-- Genugtuung)<br />

schrieb das Bezirksgericht das Verfahren als durch Rückzug der Klage erledigt ab.<br />

Gegen das Urteil des Bezirksgerichts erhob die Beschwerdeführerin Berufung an das Obergericht des<br />

Kantons Zürich mit dem Antrag, es sei die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, ihr einen Betrag von<br />

Fr. 4'000'000.-- zu bezahlen, nebst Zins zu 5 % auf<br />

- Fr. 2'130'968.-- (bisheriger Erwerbsausfall) seit dem 3. Juni 2001<br />

- Fr. 1'661'242.-- (zukünftiger Erwerbsausfall) seit dem Urteilsdatum<br />

- Fr. 1'680.-- (Genugtuung) seit dem 7. Januar 2003<br />

- Fr. 156'373.-- (ausserprozessuale Anwaltskosten) seit dem 11. August 2000.<br />

Die Beschwerdegegnerin erklärte Anschlussberufung und beantragte, die Klage mit Ausnahme der<br />

gutgeheissenen Genugtuung von Fr. 1'680.-- nebst Zins sowie Fr. 27'501.35 (Zins für die Zeit vom 6.<br />

November 1993 bis 6. Januar 2003) abzuweisen.<br />

Mit Beschluss vom 27. Oktober 2009 nahm das Obergericht davon Vormerk, dass das Urteil des Bezirksgerichts<br />

insofern in Rechtskraft erwachsen ist, als die Klage im Franken 4 Millionen übersteigenden<br />

Betrag und bezüglich des Antrags der Beschwerdeführerin, es sei festzustellen, dass der Gerichtsexperte<br />

Dr. C.________ befangen sei, abgewiesen wurde sowie als der Beschwerdeführerin Fr.<br />

1'680.-- (Genugtuung) nebst 5 % Zins seit dem 7. Januar 2003 sowie Fr. 27'501.35 (Zins für die Zeit<br />

vom 6. November 1993 bis 6. Januar 2003) zugesprochen wurden. Mit Urteil gleichen Datums verpflichtete<br />

das Obergericht die Beschwerdegegnerin, der Beschwerdeführerin Fr. 211'929.30 (bisheri-<br />

117


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

ger Erwerbsausfall) nebst 5 % Zins seit 5. März 2005 und Fr. 194'809.-- (zukünftiger Erwerbsausfall)<br />

nebst 5 % Zins seit 1. Juli 2009 zu bezahlen. Im Übrigen wies es die Klage ab.<br />

Die dagegen von der Beschwerdeführerin erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht<br />

mit Zirkulationsbeschluss vom 24. Januar 2011 ab, soweit es darauf eintrat.<br />

C.<br />

Die Beschwerdeführerin beantragt mit Beschwerde in Zivilsachen, in Aufhebung des Urteils des<br />

Obergerichts vom 27. Oktober 2009 sowie des Zirkulationsbeschlusses des Kassationsgerichts vom<br />

24. Januar 2011 sei die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, der Beschwerdeführerin weitere Fr.<br />

3'593'000.--zu bezahlen, nebst Zins zu 5 % p.a. auf<br />

- Fr. 2'130'968.-- (bisheriger Erwerbsausfall) seit 3. Juni 2001<br />

- Fr. 1'661'242.-- (zukünftiger Erwerbsausfall) seit Urteilsdatum<br />

- Fr. 156'373.-- (ausserprozessuale Anwaltskosten) seit 11. August 2000. Eventualiter sei die Sache<br />

zur rechtskonformen Schätzung des Erwerbsschadens sowie zur Feststellung der ausserprozessualen<br />

Anwaltskosten an die Vorinstanz zurückzuweisen.<br />

Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde sei mit Ausnahme des Antrags auf Verschiebung<br />

des Rechnungstags der Schadensberechnung vom 30. Juni 2009 auf den 27. Oktober 2009 abzuweisen.<br />

Im Übrigen seien das Urteil des Obergerichts und der Zirkulationsbeschluss des Kassationsgerichts<br />

zu bestätigen und die Klage abzuweisen.<br />

Das Obergericht verzichtete auf eine Vernehmlassung.<br />

Das Kassationsgericht nahm in seiner Vernehmlassung Stellung zum Vorwurf der Beschwerdeführerin,<br />

der Vorsitzende, Kassationsgerichtspräsident Prof. Dr. Moritz Kuhn, sei aufgrund seiner (über die<br />

Tätigkeit als Kassationsgerichtspräsident hinausgehenden) beruflichen Tätigkeiten unter Umständen<br />

kein unabhängiger und neutraler Richter im Sinne von Art. 30 Abs. 1 BV resp. Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Es<br />

wird insbesondere ausgeführt, weder Prof. Dr. Moritz Kuhn noch ein anderer Partner von T.________<br />

Partners habe die Beschwerdegegnerin je vertreten oder beraten. Auch die weiteren Tätigkeiten von<br />

Prof. Dr. Moritz Kuhn führten im Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall zu keinen Interessenkonflikten.<br />

Im Übrigen verzichtete das Kassationsgericht auf eine Vernehmlassung zur Beschwerde.<br />

Mit Schreiben vom 11. April 2011 nahm die Beschwerdeführerin Bezug auf die Vernehmlassung des<br />

Kassationsgerichts, worin Prof. Dr. Moritz Kuhn die Zweifel an seiner Befangenheit ausgeräumt habe.<br />

Gestützt darauf zog die Beschwerdeführerin ihren Antrag auf Aufhebung des Zirkulationsbeschlusses<br />

vom 24. Januar 2011 wegen Befangenheit von Prof. Dr. Moritz Kuhn vollumfänglich zurück. Insoweit<br />

entfällt demnach eine Prüfung der Beschwerde.<br />

Erwägungen [Auszug]:<br />

4.<br />

Das Bezirksgericht, auf dessen Begründung das Obergericht verwies, kam zum Schluss, dass die Beschwerdeführerin<br />

an den von ihr behaupteten Beschwerden gelitten habe und auch künftig noch<br />

leiden werde. Es bejahte sowohl den natürlichen als auch den adäquaten Kausalzusammenhang.<br />

Diese Punkte sind nicht mehr umstritten.<br />

Angefochten werden die vorinstanzlichen Erwägungen zur Berechnung des Schadens. Dabei greift die<br />

Beschwerdeführerin einzelne Punkte heraus, in denen das Obergericht bundesrechtswidrig vorgegangen<br />

sei. Dem Kassationsgericht hält sie Willkür bzw. die Verletzung des Gehörsanspruchs vor.<br />

Allgemein ist zu ihren Rügen angeblicher Bundesrechtsverletzungen festzuhalten, dass diese die Begründungsanforderungen<br />

(vgl. Erwägung 3) teilweise verfehlen, weshalb insoweit nicht darauf einzutreten<br />

ist. Das Gleiche gilt weitgehend auch betreffend die Willkür- und Gehörsrügen gegenüber dem<br />

Kassationsgericht. Im Einzelnen ist zu ihren Rügen, was folgt, auszuführen:<br />

118


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

5.<br />

Die geschädigte Person hat wegen Körperverletzung Anspruch auf Ersatz der Kosten sowie auf Entschädigung<br />

für die Nachteile gänzlicher oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit, unter Berücksichtigung<br />

der Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens (Art. 46 Abs. 1 <strong>OR</strong> i.V.m. Art. 62 Abs. 1 SVG). Als<br />

Schaden zu ersetzen sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der schädigenden Handlung bei der<br />

geschädigten Person, die unfreiwillig erlittene Vermögensminderung oder der entgangene Gewinn.<br />

Schaden im Rechtssinne ist die Differenz zwischen dem gegenwärtigen, nach dem schädigenden Ereignis<br />

festgestellten Vermögensstand und dem Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis<br />

hätte (BGE 132 <strong>II</strong>I 321 E. 2.2.1 S. 323 f.; 129 <strong>II</strong>I 331 E. 2.1 S. 332; 127 <strong>II</strong>I 73 E. 4 S. 76, je mit Hinweisen)<br />

bzw. den Einkünften, die nach dem schädigenden Ereignis tatsächlich erzielt worden sind<br />

und jenen, die der geschädigten Person ohne dieses Ereignis zugeflossen wären. Die Feststellung der<br />

Entstehung und des Ausmasses eines Schadens ist tatsächlicher Natur. Rechtsfrage ist dagegen, ob<br />

die Vorinstanz von zulässigen Berechnungsgrundsätzen ausgegangen ist, wozu auch die Anwendung<br />

der konkreten oder abstrakten Schadensberechnung zählt (BGE 127 <strong>II</strong>I 403 E. 4a S. 405 mit Hinweisen).<br />

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist der Invaliditätsschaden so weit wie möglich konkret<br />

zu berechnen (BGE 117 <strong>II</strong> 609 E. 9 S. 624; 113 <strong>II</strong> 345 E. 1a S. 347, je mit Hinweisen). Dabei wird aus<br />

Praktikabilitätsgründen in zwei Schritten vorgegangen, wenn der Schaden im Urteilszeitpunkt noch<br />

andauert. Zunächst ist der bereits eingetretene Schaden konkret zu berechnen. Massgebender dies<br />

ad quem ist der Tag des Urteils jener kantonalen Instanz, die noch neue Tatsachen berücksichtigen<br />

kann (BGE 125 <strong>II</strong>I 14 E. 2c S. 17). Als Ausgangspunkt dienen die Einkommensverhältnisse am Unfalltag.<br />

Zu entgelten ist bei Arbeitnehmern der entgangene Lohn, bei selbstständig Erwerbenden der<br />

entgangene Gewinn. Hierauf erfolgt der zweite Schritt, in welchem der künftige Schaden aufgrund<br />

einer Prognose so konkret wie möglich zu bestimmen ist. Bei beiden Berechnungsweisen bildet der<br />

Vergleich zwischen dem Validen- und dem Invalideneinkommen der geschädigten Person den Rahmen.<br />

Bei der Vergangenheitsberechnung ist indessen das tatsächliche Invalideneinkommen bekannt,<br />

während dieses bei der Zukunftsberechnung unter Berücksichtigung des abstrakten Invaliditätsgrades<br />

(medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit) und des eventuell davon<br />

abweichenden Grades der Erwerbsfähigkeit prognostiziert werden muss (vgl. zu Letzterem BGE 117 <strong>II</strong><br />

609 E. 9 S. 624 f.). Bei beiden Berechnungsweisen wirkt sich eine allfällige Schadenminderungspflicht<br />

der geschädigten Person dahin gehend aus, dass das Invalideneinkommen entsprechend erhöht bzw.<br />

bei tatsächlichem Fehlen von Einkommen in der Vergangenheit ein solches aufgrund des vorgängig<br />

bestimmten Grades der Erwerbsfähigkeit in die Schadensberechnung eingesetzt wird (Urteile<br />

4C.263/2006 vom 27. Januar 2007 E. 4.1; 4C.3/2004 vom 22. Juni 2004 E. 1.2.2).<br />

Den künftigen Erwerbsausfall des Geschädigten hat der Richter aufgrund statistischer Werte zu<br />

schätzen. Dabei hat er nach schweizerischer Rechtsauffassung soweit möglich die konkreten Umstände<br />

des zu beurteilenden Falles zu berücksichtigen (BGE 113 <strong>II</strong> 347 E. 1a mit Hinweisen). Das gilt<br />

insbesondere für das hypothetische Einkommen des Geschädigten, das der Schadensberechnung<br />

zugrunde gelegt wird. Bei dessen Ermittlung hat daher die konkrete Einkommenssituation des Betroffenen<br />

vor der Verletzung als Anhalts- und Ausgangspunkt zu dienen (BGE 99 <strong>II</strong> 217 E. 3a S. 218 f.;<br />

89 <strong>II</strong> 222 E. 6 S. 232, je mit Hinweisen). Das heisst jedoch nicht, dass sich der Richter mit der Feststellung<br />

des bisherigen Verdienstes begnügen dürfte; massgebend ist vielmehr, was der Geschädigte in<br />

der Zukunft jährlich verdient hätte. Das hypothetische künftige Durchschnittseinkommen aber lässt<br />

sich realistisch einzig in der Weise bestimmen, dass zunächst das Einkommen ermittelt wird, das der<br />

Geschädigte ohne die Verletzung gegenwärtig, d.h. zum Zeitpunkt der Urteilsfällung erzielt hätte,<br />

und sodann auch die zu erwartenden künftigen Reallohnsteigerungen mitberücksichtigt werden (BGE<br />

116 <strong>II</strong> 295 E. 3a).<br />

6.<br />

119


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

6.1 Das Obergericht ging mit dem Bezirksgericht bei der Bestimmung des Vorunfalleinkommens davon<br />

aus, die Beschwerdeführerin habe in tatsächlicher Hinsicht die Grundlagen für eine Schadensschätzung<br />

der Höhe des Bonusanteils nach dem Unfall nicht substanziiert. Selbst wenn die Höhe des<br />

Bonusanteils für die Jahre 1988 bis 1994 als genügend substanziiert erachtet werden würde, wäre<br />

der diesbezügliche Beweis aufgrund des Beweisverfahrens nicht erbracht.<br />

6.2 Die Beschwerdeführerin behauptet vor Bundesgericht unter Hinweis auf verschiedene Ausführungen<br />

in den kantonalen Akten erneut, sie habe die Bonuszahlungen genügend substanziiert geltend<br />

gemacht. Aufgrund der Angaben auf Seite 17 der Klageschrift, wo die Bruttojahressaläre der<br />

sechs Vorunfalljahre zwischen 1988 und 1994 und der Monatsgrundlohn angegeben worden seien,<br />

hätte die Höhe der Bonuszahlungen mit einer einfachen Rechenoperation ermittelt werden können:<br />

der Subtraktion der Konstanten B (die monatlichen Grundlöhne x 12 = Jahresgehalt) von den Konstanten<br />

A (die Bruttojahressaläre nach Lohnausweis). Das Obergericht hätte auch konform zu Art. 42<br />

Abs. 2 <strong>OR</strong> den Durchschnitt aus den gesamten Bruttosalären der Jahre 1988-1994 oder z.B. einer<br />

fünfjährigen Periode vor dem Unfall nehmen können und auf diese Weise das letzte Durchschnittsgesamteinkommen<br />

vor dem Unfall schätzen können.<br />

Nachdem die Beschwerdeführerin auch als hypothetisches Valideneinkommen für die Jahre 1994-<br />

2000 einen nicht nach Fixlohn und Bonus aufgeteilten Gesamtbetrag von Fr. 320'000.-- genannt habe,<br />

hätte das Obergericht diese Behauptungen ohne Weiteres unter die Bestimmungen von Art. 41<br />

und 46 <strong>OR</strong> subsumieren und eine rechtskonforme Schätzung nach Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong> vornehmen können:<br />

indem es aus den Zahlenangaben zu den Jahren 1988-1994 ein durchschnittliches, nicht nach<br />

Fixlohn und Bonus aufgeteiltes Durchschnittseinkommen geschätzt oder dann durch die erwähnte<br />

Subtraktion als einer notorischen Tatsache den Bonus pro Jahr errechnen und dann das massgebende<br />

Jahressalär vor dem Unfall durch die Addition des letzten Jahreslohnes vor dem Unfall von Fr.<br />

151'800.-- sowie dem Durchschnittsbonus der Jahre 1988-1994 (oder ev. einer fünfjährigen Periode)<br />

berechnen und diese Zahl als Ausgangspunkt der Schadensschätzung machen können. Insoweit das<br />

Obergericht eine genaue Bezifferung der jährlichen Boni verlange, habe es Art. 41, 46 und 42 Abs. 2<br />

<strong>OR</strong> und damit auch Art. 8 ZGB verletzt.<br />

6.3 Der Schaden ist vom Geschädigten grundsätzlich ziffernmässig nachzuweisen (Art. 42 Abs. 1 <strong>OR</strong>).<br />

Ist das nicht möglich, ist der Schaden vom Richter "mit Rücksicht auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge"<br />

abzuschätzen (Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong>). Diese Bestimmung bezieht sich sowohl auf das Vorhandensein<br />

wie auf die Höhe des Schadens (BGE 132 <strong>II</strong>I 379 E. 3.1; 122 <strong>II</strong>I 219 E. 3a 221 f.). Eine Anwendung von<br />

Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong> setzt voraus, dass ein strikter Schadensbeweis nach der Natur der Sache nicht möglich<br />

oder nicht zumutbar ist. Die Herabsetzung des Beweismasses darf im Ergebnis nicht zu einer Umkehr<br />

der Beweislast führen. Die beweispflichtige Partei hat alle Umstände, die für die Verwirklichung<br />

des behaupteten Sachverhalts sprechen, soweit möglich und zumutbar zu behaupten und zu beweisen<br />

(BGE 128 <strong>II</strong>I 271 E. 2b/aa S. 276 f. mit Hinweisen).<br />

6.4 Nach der zitierten Rechtsprechung (BGE 116 <strong>II</strong> 295 E. 3a/aa) ist als Anhalts- und Ausgangspunkt<br />

für die Schätzung des hypothetischen Valideneinkommens nach dem Unfall die konkrete Einkommenssituation<br />

vor dem Unfall heranzuziehen. Die tatsächlichen Grundlagen für diese Einkommenssituation<br />

hatte die Beschwerdeführerin zu behaupten und zu belegen. Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong> entband sie<br />

hiervon nicht. Nun war unbestritten, dass die Beschwerdeführerin bei der U.________ AG ein monatliches<br />

Bruttogehalt im Sinne eines Grundlohnes von Fr. 12'650.- erzielte. Dieser Lohn wurde ihr auch<br />

nach dem Unfall bis zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses am 31. Juli 1994 weiter ausbezahlt. Umstritten<br />

war hingegen von Anfang an die Höhe der angeblichen Bonuszahlungen als variablen Bestandteil<br />

des Einkommens der Beschwerdeführerin. Es ist nicht ersichtlich und auch nicht geltend<br />

gemacht, dass es der Beschwerdeführerin nicht möglich gewesen sein sollte, die erhaltenen Boni zu<br />

beziffern und die tatsächlichen Grundlagen für die Methode ihrer Festlegung zu substanziieren.<br />

Wenn das Obergericht solches verlangte, verletzte es demnach weder Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong> noch Art. 8<br />

ZGB.<br />

120


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

6.5 Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, sie sei mit ihren Vorbringen ihrer Behauptungs- und<br />

Beweispflicht nachgekommen. Dem kann nicht gefolgt werden. Denn wie schon das Obergericht<br />

ausführte, hätten die Boni mittels der von der Beschwerdeführerin proponierten Rechenoperation<br />

(oben dargestellte Subtraktion) nicht zuverlässig ermittelt werden können, da die Beschwerdeführerin<br />

nicht dargelegt hatte, ob sie den Grundlohn zwölf oder dreizehn Mal beziehe bzw. ein 13. Monatslohn<br />

Lohnbestandteil sei, solches sich auch nicht aus den Lohnausweisen bzw. dem Kontoauszug<br />

der AHV ergebe, und davon abgesehen, die Bruttojahressaläre gemäss Lohnausweisen bzw. Kontoauszug<br />

der AHV nicht übereinstimmten. Da wegen dieser Lücken und Ungereimtheiten die von der<br />

Beschwerdeführerin vertretene Subtraktion nicht zielführend gewesen wäre, kann auch nicht gesagt<br />

werden, das Obergericht habe, indem es zur Ermittlung der Höhe der Boni nicht einfach jene Subtraktion<br />

durchführte, sondern der Beschwerdeführerin eine mangelnde Substanziierung vorwarf,<br />

eine "allgemein bekannte Tatsache" übergangen und damit das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin<br />

verletzt, wie diese geltend macht.<br />

6.6 Ebenso wenig verfängt der in diesem Zusammenhang dem Kassationsgericht gemachte, aber<br />

nicht hinlänglich begründete Vorwurf der Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Willkürverbots.<br />

Die Beschwerdeführerin ist ferner der Meinung, wenn bezüglich Höhe und Art der Festsetzung der<br />

Boni Unklarheiten verblieben seien, diese durch Ausübung der richterlichen Fragepflicht nach § 55<br />

aZPO/ZH zu beheben gewesen wären. Die Rüge einer Verletzung von § 55 aZPO/ZH hätte sie dem<br />

Kassationsgericht unterbreiten können. Dass sie dies betreffend Höhe und Festsetzungsmodus der<br />

Boni getan hätte, geht aus dem Zirkulationsbeschluss des Kassationsgerichts nicht hervor. Im bundesgerichtlichen<br />

Verfahren kann auf diese Rüge mangels Letztinstanzlichkeit nicht eingetreten werden.<br />

Schliesslich kann auch der an das Kassationsgericht wegen dessen Erwägung 5.1.2.2 gerichtete Vorwurf<br />

überspitzten Formalismus nicht nachvollzogen werden. Das Kassationsgericht hielt wohl fest,<br />

dass eine Verfügung vom 14. Juni 2007, auf die sich die Beschwerdeführerin für die geltend gemachte<br />

"Wiedereröffnung der Behauptungsphase" berufen hatte, nicht aktenkundig sei. Die Beschwerdeführerin<br />

bringt vor, bei dieser Datumsangabe handle es sich um einen Verschrieb, der ohne Weiteres<br />

vom Kassationsgericht hätte korrigiert werden können. Dieser Vorwurf ist nicht entscheiderheblich.<br />

Denn das Kassationsgericht stützte seine ablehnende Beurteilung nicht auf den Umstand, dass keine<br />

Verfügung unter dem angegebenen Datum existiert, sondern dass sich jedenfalls weder aus der Verfügung<br />

vom 10. Mai 2007 noch aus der Verfügung vom 15. Juni 2007 zwingend ergebe, dass mit Bezug<br />

auf die Frage des Umfangs der in den Jahren vor dem Unfall der Beschwerdeführerin ausbezahlten<br />

Boni eine "Wiedereröffnung der Behauptungsphase" erfolgt sei. Die Beschwerdeführerin erblickt<br />

zwar auch darin einen überspitzten Formalismus beziehungsweise eventuell eine willkürliche Feststellung.<br />

Sie begründet diese Verfassungsrügen aber nicht hinlänglich, indem sie der Beurteilung des<br />

Kassationsgerichts lediglich die eigene Interpretation des Inhalts der besagten Referentenverfügungen<br />

entgegensetzt, ohne indessen aufzuzeigen, inwiefern die kassationsgerichtliche Beurteilung geradezu<br />

unhaltbar wäre.<br />

6.7 Die Rügen der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit dem Bonusanteil des Vorunfalleinkommens<br />

verfangen demnach nicht, soweit darauf im Hinblick auf eine rechtsgenügliche Begründung<br />

überhaupt eingetreten werden kann.<br />

7.<br />

7.1 Betreffend die hypothetische Validenkarriere der Beschwerdeführerin ohne den Unfall beruft sich<br />

die Beschwerdeführerin auf die Normhypothese, dass es der Lebenserfahrung und damit dem gewöhnlichen<br />

Lauf der Dinge nach Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong> entspreche, dass eine Person in der gleichen Art<br />

und Weise weiterhin die gleiche Tätigkeit ausübt, weshalb davon abweichende Berufslaufbahnen<br />

und Einkommensverläufe derjenige beweisen müsse, der daraus Rechte ableite. Sie wirft dem Obergericht<br />

eine Missachtung dieser Normhypothese und überdies in zweifacher Hinsicht eine Verletzung<br />

121


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

von Art. 8 ZGB vor, indem es zum einen die Behauptungs- und Beweislast falsch ausgelegt habe und<br />

zum andern von einer nicht genügenden Substanziierung ausgegangen sei. Sie ist der Ansicht, sie<br />

habe die Karriere als unselbstständige Geschäftsführerin hinreichend bestimmt behauptet. Daneben<br />

habe sie alternativ auch noch eine solche als Selbstständigerwerbende in Betracht gezogen. Indem<br />

das Obergericht davon ausgegangen sei, dass eine unselbstständige Tätigkeit als Geschäftsführerin<br />

bei der U.________ AG mit einem Einkommen von Fr. 320'000.-- auch über den 1. Juli 1997 hinaus<br />

nicht behauptet worden sei, habe das Obergericht Art. 8 ZGB sowie Art. 41, 46 und 42 Abs. 2 <strong>OR</strong> verletzt.<br />

Selbst wenn sie dies aber nicht genügend behauptet hätte, hätte das Obergericht die erwähnte<br />

Normhypothese berücksichtigen müssen.<br />

7.2 Das Obergericht stellte nach einlässlichem Studium der Parteivorbringen zusammenfassend fest,<br />

die Beschwerdeführerin habe im Hauptverfahren nie etwas anderes behauptet, als dass sie im Jahre<br />

1994 oder spätestens nach dem Tod von E.________ im Januar 1997 das Geschäft der U.________<br />

AG als Selbstständigerwerbende übernehmen und damit weiterhin ein Einkommen wie vor dem Unfall<br />

hätte erzielen können. Sie habe explizit insbesondere nach dem Tod von E.________, eventuell<br />

bereits ab 1994, eine im wesentlichen selbstständig erwerbende Berufskarriere als wahrscheinlichste<br />

Hypothese der Validenkarriere bezeichnet. Von der sogenannten Normhypothese einer gleichen<br />

Tätigkeit bei gleichem Einkommen wie vor dem Unfall sei sie einzig für die Zeit bis zur Kündigung im<br />

Juli 1994 bzw. bis zum Tode der Betriebsinhaberin E.________ im Januar 1997 ausgegangen. Dass sie<br />

ihre Tätigkeit als Geschäftsführerin der U.________ AG ohne den Unfall auch nach dem Tod von<br />

E.________ weitergeführt hätte, habe die Beschwerdeführerin erstmals in ihrer Stellungnahme zum<br />

Beweisergebnis vom 14. Juni 2007 und damit verspätet behauptet.<br />

7.3 Diese Feststellungen focht die Beschwerdeführerin mit Nichtigkeitsbeschwerde an. Das Kassationsgericht<br />

gelangte zum Schluss, es sei nicht dargetan, dass das Obergericht zu Unrecht resp. in Setzung<br />

eines Nichtigkeitsgrundes angenommen habe, dass die Beschwerdeführerin nicht resp. nur verspätet<br />

behauptet habe, dass sie ihre Tätigkeit als Geschäftsführerin der U.________ AG ohne den<br />

Unfall auch nach dem Tod von E.________ weitergeführt hätte. Dass das Kassationsgericht mit diesem<br />

Schluss seinerseits in Willkür verfallen oder seinerseits den Gehörsanspruch der Beschwerdeführerin<br />

verletzt hätte, wird in der Beschwerde nicht hinlänglich begründet dargetan. Die Beschwerdeführerin<br />

richtet ihre Vorwürfe zwar an das Obergericht und an das Kassationsgericht, setzt sich aber<br />

mit den diesbezüglichen Erwägungen des Kassationsgerichts nicht auseinander und konkretisiert<br />

nicht, inwiefern dieses willkürlich entschieden haben soll. Das gilt auch, soweit sie eine Verletzung<br />

der richterlichen Fragepflicht nach § 55 aZPO/ZH geltend macht. Sie legt dar, weshalb das Obergericht<br />

allfällig verbliebene Unklarheiten bezüglich der wahrscheinlichsten Validenkarriere über die<br />

richterliche Fragepflicht hätte ausräumen müssen, begründet aber nicht, inwiefern das Kassationsgericht<br />

diesbezüglich die geltend gemachte Verletzung der richterlichen Fragepflicht in willkürlicher<br />

Weise verneinte.<br />

7.4 Es bleibt somit bei der Feststellung des Obergerichts, dass die Beschwerdeführerin explizit behauptete,<br />

insbesondere nach dem Tod von E.________, eventuell bereits ab 1994, sei eine im wesentlichen<br />

selbstständig erwerbende Berufskarriere die wahrscheinlichste Hypothese der Validenkarriere.<br />

Angesichts dieser eigenen Behauptung der Beschwerdeführerin, mit der sie selber von jener<br />

Normhypothese abwich, kann dem Obergericht nicht vorgeworfen werden, es habe jene Normhypothese<br />

übergangen. Vielmehr durfte von der Behauptung der Beschwerdeführerin ausgegangen und<br />

ihr dafür die Beweislast auferlegt werden. Gemäss dem angefochtenen Urteil konnte die Beschwerdeführerin<br />

diesen Beweis indessen nicht erbringen, weshalb sie jene Behauptung zurückzog und<br />

nunmehr vortrug, sie hätte ihre Tätigkeit als unselbstständige Geschäftsführerin der U.________ AG<br />

ohne Unfall auch nach dem Tod von E.________ weitergeführt. Da sie dies aber prozessual verspätet<br />

tat, musste das Obergericht nicht darauf abstellen.<br />

Es ist mithin auch bezüglich des hypothetischen Valideneinkommens weder eine Verletzung von Art.<br />

8 ZGB noch von Art. 41, 46 und 42 Abs. 2 <strong>OR</strong> dargetan.<br />

122


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

8.<br />

Im Weiteren richtet sich die Beschwerdeführerin gegen die Anrechnung eines hypothetischen Invalideneinkommens<br />

unter dem Titel der Schadenminderungspflicht.<br />

8.1 Das Obergericht ging mit dem Bezirksgericht von einem mutmasslichen Invalideneinkommen der<br />

Beschwerdeführerin von Fr. 1'800.-- monatlich netto (inkl. 13. Monatslohn) aus (Stand 2007). Das<br />

Obergericht führte dazu unter Berufung auf das Urteil des Bundesgerichts 4C.263/2006 vom 17. Januar<br />

2007 aus, die Verletzung der Schadenminderungspflicht sei schon bei der Schadensberechnung<br />

und nicht erst bei der Schadenersatzbemessung zu berücksichtigen. Gestützt auf das Gutachten von<br />

Prof. Dr. med. F.________ vom 21. März 2006 ging das Obergericht ab 1. Juli 1996 von einer durchschnittlichen<br />

Restarbeitsfähigkeit von 40 % aus. Im Gutachten vom 17. September 1997 hatte Prof.<br />

F.________ gar festgehalten, dass die Beschwerdeführerin ab dem 1. Juli 1996 wieder mindestens zu<br />

50 % arbeitsfähig sei. Das Obergericht bejahte sowohl die Verwertbarkeit dieser Restarbeitsfähigkeit<br />

als auch die Zumutbarkeit der Ausübung einer leichten kaufmännischen Tätigkeit.<br />

8.2 Nach Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong> kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden,<br />

wenn Umstände, für die der Geschädigte einzustehen hat, auf die Entstehung oder Verschlimmerung<br />

des Schadens eingewirkt haben. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Geschädigte<br />

nicht alle nach den Umständen gebotenen Massnahmen ergriffen hat, um den Schaden gering zu<br />

halten. Mit dem Hinweis auf die Umstände billigt Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong> dem Richter einen breiten Ermessensspielraum<br />

zu, der ihm erlaubt, im Einzelfall den beidseitigen Verantwortlichkeiten angemessen<br />

Rechnung zu tragen (BGE 127 <strong>II</strong>I 453 E. 8c S. 459; 117 <strong>II</strong> 156 E. 3a S. 159). Das Bundesgericht überprüft<br />

derartige Ermessensentscheide zwar frei, aber mit Zurückhaltung (BGE 130 <strong>II</strong>I 182 E. 5.5.2 S.<br />

191 mit Hinweisen).<br />

Richtig besehen handelt es sich bei der Schadenminderungspflicht um eine Obliegenheit, deren Berücksichtigung<br />

im Grunde genommen ein Problem der Schadensberechnung ist, weil nicht als vom<br />

Haftpflichtigen verursachter Schaden gelten kann, was durch zumutbare Massnahmen behoben<br />

werden könnte (OFTINGER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Bd. I, Allgemeiner Teil, 5. Aufl.<br />

1995, S. 262 § 6 Rz. 42 und S. 386 § 7 Rz. 16). Der in Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong> verankerte Grundsatz konkretisiert<br />

die allgemein geltende Pflicht zur schonenden Rechtsausübung (Art. 2 Abs. 1 ZGB). Nach dem<br />

Grundgedanken dieser Vorschrift muss der Geschädigte den Schaden selbst tragen, soweit er ihn<br />

selbstverantwortlich mitverursacht hat. Dabei handelt es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz<br />

des privaten Haftungsrechts (BGE 130 <strong>II</strong>I 182 E. 5.5.1 S. 189 mit Hinweisen). Dessen Verletzung hat<br />

zur Folge, dass der Schaden nur in dem Umfang zu ersetzen ist, in welchem er auch entstanden wäre,<br />

wenn der Geschädigte der Obliegenheit nachgekommen wäre (Urteil 4C.83/2006 vom 26. Juni 2006<br />

E. 4). Wer nach einer Schädigung, die zu einer Beeinträchtigung seiner Erwerbsfähigkeit führt, seine<br />

verbleibende Arbeitskraft nicht so gut als möglich verwertet, kann demnach ein entsprechendes<br />

Mindereinkommen grundsätzlich nicht auf den haftbaren Schädiger abwälzen (Urteil 4A_153/2008<br />

vom 14. Oktober 2008 E. 3.4).<br />

Grenze dieser Obliegenheit zur Schadenminderung bildet die Zumutbarkeit. Um den Schaden im Interesse<br />

des Haftpflichtigen zu mindern, muss der Geschädigte nur jene Massnahmen ergreifen, die<br />

ihm billigerweise zugemutet werden dürfen. Als Massstab gilt das Verhalten eines vernünftigen Menschen<br />

in der gleichen Lage, der keinerlei Schadenersatz zu erwarten hätte (OFTINGER/STARK, a.a.O.,<br />

S. 386 § 7 Rz. 16 Fn. 37; ROLAND BREHM, Berner Kommentar, 3. Aufl. 2006, N. 48 zu Art. 44 <strong>OR</strong>, je<br />

mit Hinweisen). Welche Anstrengungen vom Geschädigten verlangt werden können, ist in Würdigung<br />

sämtlicher Umstände zu beurteilen, d.h. im Blick auf die Persönlichkeit des Verletzten, dessen berufliche<br />

Fähigkeiten und Handfertigkeiten, Anpassungsfähigkeit und Intelligenz sowie Alter und Bildungsgrad.<br />

123


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Da es sich bei der Verletzung der Schadenminderungspflicht um eine den Schaden oder die Ersatzbemessung<br />

reduzierende Einrede handelt, sind die entsprechenden Tatsachen vom Ersatzpflichtigen<br />

in den Prozess einzubringen. Beruft sich der Geschädigte demgegenüber auf Umstände, welche die<br />

vom Schädiger behaupteten Tatsachen widerlegen sollen, hat er dafür im Bestreitungsfall den Beweis<br />

zu führen, zumindest den Gegenbeweis anzutreten, um das Ergebnis des Hauptbeweises zu erschüttern<br />

(vgl. BGE 130 <strong>II</strong>I 321 E. 3.4 S. 326). Dies lässt sich damit rechtfertigen, dass es einzig der Geschädigte<br />

sein kann, der ein Interesse daran hat, darzulegen, weshalb er nicht gehalten sein soll, die vom<br />

Schädiger behaupteten und zur Überzeugung des Gerichts dargetanen Vorkehren zur Schadenminderung<br />

zu treffen, und der die entsprechenden Umstände kennt. Ist einmal aufgrund der seitens des<br />

Pflichtigen behaupteten Sachumstände darauf zu schliessen, dem Geschädigten obliege es, den<br />

Schaden in gewisser Hinsicht geringer zu halten oder gar nicht erst eintreten zu lassen, trägt der Geschädigte<br />

insoweit die Bestreitungslast, d.h. die Bestreitung hat so präzis zu sein, dass sie einer konkreten<br />

Behauptung zugeordnet werden kann und die betreffende Sachdarstellung eine entsprechende<br />

Beweisauflage erlaubt. Gelingt es dem Schädiger, beweismässig zur Überzeugung des Gerichts<br />

aufzuzeigen, dass Schadenminderungsmassnahmen seitens des Geschädigten angezeigt sind, ist es<br />

Sache des Geschädigten, im Rahmen des Gegenbeweises beim Gericht zumindest Zweifel an der<br />

Sachdarstellung des Schädigers zu wecken (zum Ganzen Urteil 4C.37/2011 vom 27. April 2011 E. 4).<br />

8.3 Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht zunächst eine Verletzung von Art. 8 ZGB vor, weil<br />

es bei der Schätzung des Invalideneinkommens auf von der Beschwerdegegnerin weder behauptete<br />

noch bewiesene Tatsachen abgestellt habe.<br />

Eine Verletzung der Beweislastverteilung ist nicht ersichtlich. Zwar ist die Tragweite der von der Beschwerdeführerin<br />

beanstandeten Bemerkung des Obergerichts auf S. 55 des Urteils in der Tat nicht<br />

klar. Das Obergericht führte dort aus, da es sich um ein Problem der Schadensberechnung und nicht<br />

der Schadenersatzbemessung handle, sei die Beschwerdegegnerin weder behauptungs- noch beweispflichtig<br />

dafür, was durch zumutbare Massnahmen behoben werden könnte. Indessen kann<br />

nicht gesagt werden, das Obergericht habe beim konkreten Vorgehen gegen die oben dargestellten<br />

Grundsätze zur Beweislastverteilung verstossen. So wird festgehalten, dass die Beschwerdegegnerin<br />

bereits in der Klageantwort unter Hinweis auf die Verletzung der Schadenminderungspflicht geltend<br />

machte, dass die Beschwerdeführerin nach der Beurteilung von Prof. Dr. med. F.________ mindestens<br />

zu 50 % einer Berufstätigkeit nachgehen könne, weshalb ihr ein entsprechendes Erwerbseinkommen<br />

anzurechnen sei. Bei dem gemäss Gutachten von Prof. Dr. med. F.________ festgestellten<br />

Umfang der Restarbeitsfähigkeit von 40 % (resp. 50 %) galt eher eine Vermutung für deren Verwertbarkeit<br />

(Urteil 4C.263/2006 vom 17. Januar 2007 E. 4.1 e contrario). Es wäre daher an der Beschwerdeführerin<br />

gelegen, Umstände darzutun, weshalb die verbliebene Arbeitsfähigkeit nicht verwertbar<br />

sein sollte. Dies erkannte das Obergericht zutreffend und verletzte Art. 8 ZGB nicht. Dies gilt auch<br />

hinsichtlich der Schätzung des mutmasslichen Verdienstes, welche gestützt auf das Gutachten von<br />

Prof. Dr. med. F.________ und die Zeugenbefragung von Dr. med. G.________ für eine leichtere<br />

kaufmännische Funktion und unter Berücksichtigung der konkreten Umstände vorgenommen wurde.<br />

Es ist nicht ersichtlich, was die Beschwerdegegnerin in diesem Zusammenhang weiter hätte behaupten<br />

können und müssen, zumal sie im Gegensatz zur Beschwerdeführerin nicht über deren Ausbildung<br />

und beruflichen Werdegang Bescheid wissen konnte.<br />

8.4 Die Beschwerdeführerin macht sodann geltend, das Obergericht habe den Rechtsbegriff der Zumutbarkeit<br />

verletzt und sei auch zu einem Resultat gelangt, das ausserhalb des ihr zustehenden<br />

Rechtsermessens liege.<br />

Das Obergericht erachtete es in eingehender Würdigung der konkreten Umstände und Vorbringen<br />

der Beschwerdeführerin mit dem Bezirksgericht für zumutbar, dass die Beschwerdeführerin angesichts<br />

ihrer Ausbildung und ihrer bisherigen Tätigkeit eine Anstellung im kaufmännischen Bereich in<br />

der Funktion einer Zuarbeiterin übernehme, auch wenn dies einen beruflichen Abstieg darstelle.<br />

124


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Inwiefern das Obergericht mit seinen Erwägungen den Rechtsbegriff der Zumutbarkeit verkannte,<br />

erklärt die Beschwerdeführerin nicht und ist auch nicht ersichtlich. Ebenso wenig vermag sie aufzuzeigen,<br />

dass die Beurteilung des Obergerichts offensichtlich unbillig oder ungerecht wäre. Dass sie<br />

selbst zur Frage der Zumutbarkeit eine andere Meinung vertritt, lässt den Entscheid des Obergerichts<br />

indessen noch nicht als rechtsfehlerhaft erscheinen.<br />

8.5 Weiter beanstandet die Beschwerdeführerin, dass das Obergericht eine allfällige Verletzung der<br />

Schadenminderungspflicht schon bei der Schadensberechnung berücksichtigte. Zu Unrecht, denn das<br />

Bundesgericht hat ein solches Vorgehen erst kürzlich als rechtens bestätigt (Urteil 4A_37/2011 vom<br />

27. April 2011 E. 4.1; vgl. Erwägung 8.2).<br />

8.6 Zusammenfassend vermögen damit die Vorbringen gegen die Anrechnung eines hypothetischen<br />

Invalideneinkommens nicht durchzudringen.<br />

9.<br />

In einem weiteren Punkt beanstandet die Beschwerdeführerin, dass das Obergericht den vorübergehenden<br />

Erwerbsschaden nur bis zum 30. Juni 2009 zugesprochen habe, obwohl die Parteien bereits<br />

am 15. Juni 2009 zur Urteilsberatung am 27. Oktober 2009 vorgeladen worden seien. Deswegen sei<br />

auch das mittlere Verfallsdatum vom 5. März 2005 unrichtig und der Beschwerdeführerin werde<br />

nicht der ganze vorübergehende Erwerbsschaden ersetzt.<br />

Dieser Einwand ist berechtigt. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist der Schaden auf den<br />

Urteilstag des kantonalen Gerichts, das noch auf neue Tatsachen abstellen darf, zu berechnen (BGE<br />

125 <strong>II</strong>I 14 E. 4c S. 17; 99 <strong>II</strong> 214 E. 3b). Das Obergericht hat dies zwar durchaus gesehen, aber dennoch<br />

nicht den Urteilstag herangezogen, da der genaue Urteilszeitpunkt zum voraus nicht feststehe. Das<br />

Gericht hat es jedoch selbst in der Hand, den Urteilszeitpunkt zu bestimmen. Es war daher nicht nötig,<br />

auf den 30. Juni 2009 und damit auf einen rund vier Monate früheren Zeitpunkt abzustellen.<br />

Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als begründet. Die Sache ist an das Obergericht zurückzuweisen,<br />

damit dieses den bisherigen Erwerbsschaden korrekt auf den Urteilszeitpunkt hin (27. Oktober<br />

2009) berechnet und die daraus folgenden Anpassungen vornimmt.<br />

10.<br />

Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, die Überentschädigung von Fr. 77'030.20 aus der Phase I<br />

und <strong>II</strong> dürfe nicht in der Phase <strong>II</strong>I in Abzug gebracht werden, da sonst der Grundsatz der zeitlichen<br />

Kongruenz gemäss BGE 131 <strong>II</strong>I 12 verletzt werde.<br />

10.1 Im <strong>Haftpflichtrecht</strong> gilt seit jeher ein Bereicherungsverbot (BGE 131 <strong>II</strong>I 12 E. 7.1 S. 16 mit Hinweisen).<br />

Eine Überentschädigung des Geschädigten soll demnach vermieden werden. Eine solche<br />

liegt vor, wenn derselben Person verschiedene Leistungen zum Ausgleich des durch ein und dasselbe<br />

Ereignis verursachten Schadens für dieselbe Zeitspanne ausgerichtet werden und die Summe der<br />

Leistungen den Schaden übertrifft. Da die Sozialversicherungen nicht zu Gunsten des Schädigers eingerichtet<br />

wurden (vgl. schon BGE 54 <strong>II</strong> 464 E. 5 S. 468), sind indessen nur Leistungen Dritter anzurechnen,<br />

die ereignisbezogen, sachlich, zeitlich und personell kongruent sind und für welche daher<br />

auch Subrogations- oder Regressansprüche in Frage kommen (BGE 134 <strong>II</strong>I 489 E. 4.2 S. 491 mit Hinweisen).<br />

Zeitliche Kongruenz liegt vor, wenn die Leistung der Sozialversicherung für die gleiche Zeitspanne<br />

erfolgt, für die ein Schaden besteht, welchen der Haftpflichtige ersetzen muss (BGE 134 <strong>II</strong>I 489 E. 4.3<br />

S. 492 f.).<br />

10.2 Das Obergericht rekapitulierte das Vorgehen des Bezirksgerichts, das - wie auch in Lehre und<br />

Rechtsprechung vorgeschlagen werde (vgl. BGE 131 <strong>II</strong>I 12 E. 7.4) - für den bisherigen und den zukünf-<br />

125


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

tigen Erwerbsschaden je eine Periode gebildet habe. Den bisherigen Erwerbsschaden habe es in drei<br />

Phasen unterteilt. Aus der Phase I und <strong>II</strong> resultierte eine Überentschädigung von Fr. 77'033.20, die es<br />

auf die Phase <strong>II</strong>I anrechnete. Dabei stehe eine Anrechnung sozialversicherungsrechtlicher Leistungen<br />

ausschliesslich auf den bisherigen Erwerbsschaden zur Diskussion. So betrachtet liege keine Übertragung<br />

einer Überentschädigung von einer Zeitperiode auf eine andere vor. Die Frage könne indes offenbleiben.<br />

Entscheidend sei nämlich, dass sich die Beschwerdeführerin im Vergleich mit der<br />

V.________ Unfallversicherung verpflichtet habe, sich Leistungen aus UVG-Zusatztaggeldern in der<br />

Höhe von Fr. 256'003.20 vollumfänglich an den Haftpflichtanspruch anrechnen zu lassen. Diese Vereinbarung<br />

ziele auf die Möglichkeit des Rückgriffs der V.________ Unfallversicherung gegen die Beschwerdegegnerin<br />

ab, und die Kongruenz dieser Leistungen sei deshalb unabhängig von den für die<br />

vorliegende Beurteilung gemachten Phasen zu bejahen. Die Überentschädigung in den Phasen I und<br />

<strong>II</strong> rühre aus der UVG-Zusatztaggelder-Versicherung her. Das Obergericht hielt fest, die Beschwerdeführerin<br />

setze sich mit dieser Argumentation des Bezirksgerichts überhaupt nicht auseinander und<br />

bestreite insbesondere nicht, dass die UVG-Zusatztaggelder vollumfänglich auf den Gesamtschaden<br />

anzurechnen seien. Entsprechend habe sie selber in ihrer Aufstellung gemäss Eingabe vom 5. Juni<br />

2007 auch die gesamten Fr. 256'003.20 aus UVG-Zusatztaggeldern an ihren Erwerbsausfall angerechnet.<br />

Ihrem Antrag, es seien "die von den Parteien gewählten Perioden" zu übernehmen und eine<br />

allfällige faktische Überentschädigung in einer solchen Periode der Beschwerdeführerin zu belassen,<br />

sei daher nicht zu entsprechen. Der Vollständigkeit halber merkte das Obergericht an, dass aus dem<br />

Umstand, dass die Beschwerdegegnerin keine Einwendungen gegen die Periodenbildung der Beschwerdeführerin<br />

erhoben habe, nicht auf "von den Parteien gewählte Perioden" geschlossen werden<br />

könne.<br />

10.3 Die Beschwerdeführerin beharrt unter Berufung auf BGE 131 <strong>II</strong>I 12 S. 18 darauf, das Obergericht<br />

hätte auf ihre Periodenbildung gemäss Eingabe vom 5. Juni 2007 abstellen müssen. Im genannten<br />

Entscheid (BGE 131 <strong>II</strong>I 12 E. 7.4) pflichtete das Bundesgericht aus Gründen der Praktikabilität der<br />

grundsätzlichen Bildung je einer Periode für den bisherigen und den zukünftigen Schaden bei, solange<br />

den Parteien die Möglichkeit offen stehe, bei allfälligen erheblichen Veränderungen während der<br />

Perioden eine detailliertere Berechnung zu verlangen. Diese Erwägung hilft der Beschwerdeführerin<br />

nicht weiter, da gemäss den Feststellungen des Obergerichts vorliegend gerade keine "von den Parteien<br />

gewählte Perioden" anzunehmen sind.<br />

Vor allem vermag die Beschwerdeführerin das entscheidende Argument für die Anrechnung der<br />

Überentschädigung von Fr. 77'033.20 nicht zu entkräften, mithin, dass sie sich im Vergleich mit der<br />

V.________ Unfallversicherung verpflichtete, sich Leistungen aus UVG-Zusatztaggeldern in der Höhe<br />

von Fr. 256'003.20 vollumfänglich an den Haftpflichtanspruch anrechnen zu lassen, um der<br />

V.________ Unfallversicherung den Rückgriff auf die Beschwerdegegnerin zu ermöglichen. Die Beschwerdeführerin<br />

bezeichnet diese Auslegung des Vergleichs als bundesrechtswidrig, weil sie nicht<br />

dem entspreche, was in guten Treuen darunter verstanden werden durfte. Was sie zur Begründung<br />

ihrer eigenen Interpretation in tatsächlicher Hinsicht vorbringt, findet indessen im Sachverhalt des<br />

angefochtenen Entscheids keine Stütze und kann daher als Grundlage für eine abweichende Beurteilung<br />

nicht berücksichtigt werden.<br />

10.4 Demnach kann der Beschwerdeführerin nicht gefolgt werden, soweit sie sich gegen die Anrechnung<br />

der Überentschädigung von Fr. 77'030.20 richtet.<br />

11.<br />

Das Obergericht lehnte das Begehren der Beschwerdeführerin, es sei ein Kapitalisierungszinsfuss von<br />

2 % anzuwenden, unter Hinweis auf die Praxis des Bundesgerichts, wonach ein Kapitalisierungszinsfuss<br />

von 3,5 % massgebend ist, ab.<br />

Die Beschwerdeführerin erneuert vor Bundesgericht ihren Antrag. Zur Begründung verweist sie auf<br />

zwei in der HAVE 2009 erschienene Artikel. Sie ist der Ansicht, "angesichts der sich stark veränderten<br />

126


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Anlagesituation in den letzten zwölf Jahren" sei ein neues Expertenhearing durchzuführen resp. eine<br />

Stellungnahme der Schweizerischen Nationalbank einzuholen.<br />

Das Bundesgericht hat seine Praxis, wonach der Kapitalisierungszinsfuss 3.5% beträgt, in einem<br />

publizierten Entscheid aus dem Jahr 1999 bestätigt (BGE 125 <strong>II</strong>I 312 E. 7). Diese Rechtsprechung wurde<br />

seither nicht nur im Juni 2004, sondern auch in späteren Entscheiden bestätigt, wobei sich das<br />

Bundesgericht mit der dagegen erwachsenen Kritik auseinandersetzte und eine Anpassung an den<br />

variablen BVG-Mindestzinssatz unter Berufung auf die Rechtssicherheit erneut ablehnte (Urteil<br />

4C.178/2005 vom 20. Dezember 2005 E. 5.2-5.3; sodann Urteil 4C.263/2007 vom 17. Januar 2007 E.<br />

5.3). Dass die seitherige Wirtschaftsentwicklung eine Praxisänderung erheischen würde, ist nicht<br />

dargetan, weshalb davon abzusehen ist.<br />

12. Ein weiterer Rügekomplex betrifft die vorprozessualen Anwaltskosten.<br />

12.1 Das Bezirksgericht lehnte die Forderung für vorprozessuale Anwaltskosten im Umfang von Fr.<br />

179'873.85 samt Zins ab, da es an den notwendigen, genügend substanziierten Behauptungen zur<br />

Beurteilung dieser Schadenposition fehle. Da die Beschwerdeführerin ein Pauschalhonorar verlange,<br />

könne nicht überprüft werden, ob die Aufwendungen ihres Rechtsvertreters in den Auseinandersetzungen<br />

mit den Sozialversicherungen notwendig und angemessen gewesen seien und damit auch die<br />

geltend gemachte Honorarhöhe angemessen sei.<br />

Im Berufungsverfahren vor Obergericht reduzierte die Beschwerdeführerin den unter diesem Titel<br />

geltend gemachten Betrag nach Abzug der von den Sozialversicherern erhaltenen Parteientschädigungen<br />

auf Fr. 156'373.85. Das Obergericht setzte sich eingehend mit den von der Beschwerdeführerin<br />

erhobenen Einwendungen auseinander. Im Ergebnis monierte auch das Obergericht eine mangelnde<br />

Substanziierung. Es stehe nicht fest, welche Aufwendungen überhaupt getätigt worden seien,<br />

inwieweit diese als prozessuale Aufwendungen bereits abgegolten worden seien, und inwieweit sie<br />

gerechtfertigt, notwendig und angemessen seien.<br />

12.2 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 41 und 42 Abs. 1 <strong>OR</strong>. Sie ist der Meinung,<br />

"die in sozialversicherungsrechtlichen und anderen zivilrechtlichen Prozessen zugesprochenen Prozessentschädigungen"<br />

seien ebenfalls ein zu ersetzender Schaden.<br />

Die Rüge ist nicht leicht verständlich. Das Obergericht hielt in der von der Beschwerdeführerin kritisierten<br />

Erwägung fest, auch in Verfahren gegen Sozialversicherer habe der Beschwerdeführer Anspruch<br />

auf den vom Gericht festgelegten Ersatz der Parteikosten. Wenn es weiter davon ausging, in<br />

diesen Verfahren stelle sich demnach die Frage des Ersatzanspruchs für die prozessualen Anwaltskosten<br />

nicht und ebenso wenig werde die Beschwerdegegnerin haftpflichtig, soweit die Beschwerdeführerin<br />

(vergleichsweise) auf eine Prozessentschädigung verzichtet habe, so kann darin keine Bundesrechtsverletzung<br />

erblickt werden. Auch das Bundesgericht hat ausgeführt, dass vorprozessuale Parteikosten<br />

nur soweit haftpflichtrechtlich Bestandteil des Schadens bilden, als sie nicht durch die nach<br />

kantonalem Verfahrensrecht zuzusprechende Parteientschädigung gedeckt sind (BGE 117 <strong>II</strong> 394 E. 3a<br />

S. 396; 117 <strong>II</strong> 101 E. 5 S. 106). Die in BGE 117 <strong>II</strong> 394 E. 3b S. 396 erwähnte Konstellation, dass das<br />

prozessbezogene Verhalten als solches und nicht das im Prozess zu beurteilende Ereignis eine<br />

rechtswidrige Handlung darstellt (z.B. Schädigung infolge ungerechtfertigter vorsorglicher Massnahme),<br />

liegt in casu nicht vor. Es dient der Beschwerdeführerin daher nicht, wenn sie sich darauf beruft.<br />

Sofern die Beschwerdeführerin geltend machen will, es müssten auch die in den sozialversicherungsrechtlichen<br />

Prozessen entstandenen, durch die Prozessentschädigungen nicht abgegoltenen Bemühungen<br />

erfasst werden, so steht dem jedenfalls entgegen, dass sie nach der vorinstanzlichen Beurteilung<br />

die von ihrem Rechtsvertreter getätigten Aufwendungen ohnehin nicht hinreichend substanziiert<br />

hat, weshalb die Begründetheit ihrer Rüge nicht weiter geprüft werden muss.<br />

127


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

12.3 Wie schon vor Obergericht macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 8 ZGB geltend,<br />

weil ihr die Beweislast für die Notwendigkeit der Bemühungen und die Angemessenheit des<br />

Honorars auferlegt worden sei. Richtigerweise handle es sich um einen Aspekt der Schadenminderungspflicht,<br />

weshalb die Beschwerdegegnerin dafür die Behauptungs- und Beweispflicht trage. Was<br />

sie zur Begründung vorträgt, deckt sich grösstenteils wörtlich mit ihren Ausführungen in der Berufungsschrift.<br />

Eine Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Erwägungen des angefochtenen Entscheids<br />

erfolgt nicht. Mangels rechtsgenüglicher Begründung (Erwägung 3) kann daher auf diese<br />

Rüge nicht eingetreten werden. Im Übrigen hielt das Obergericht in einer Eventualbegründung fest,<br />

dass selbst wenn die Angemessenheit als Frage der Schadenminderungspflicht anzusehen wäre, die<br />

Beschwerdegegnerin die Angemessenheit des geltend gemachten Pauschalhonorars durch ihre Vorbringen<br />

hinreichend bestritten habe. Substanziierter hätte sie die Angemessenheit nicht bestreiten<br />

können. Diese Eventualbegründung wird von der Beschwerdeführerin mit der blossen Behauptung,<br />

das stelle eine klare Verletzung von Art. 8 ZGB dar, nicht hinlänglich angefochten.<br />

12.4 Schliesslich bestreitet die Beschwerdeführerin eine mangelnde Substanziierung der vorprozessualen<br />

Anwaltskosten. Sie habe den bundesrechtlichen Vorgaben mehr als Genüge getan, während<br />

die Beschwerdegegnerin keine genügenden Behauptungen, geschweige denn Beweise zur angeblichen<br />

Verletzung der Schadenminderungspflicht beim Abschluss des Honorarvertrags vorgebracht<br />

habe. Gemäss BGE 135 <strong>II</strong>I 259 habe das Bundesgericht ausgeführt, es widerspreche Bundesrecht<br />

nicht, bei der Festlegung des Honorarbetrags dem durch den Anwalt erzielten Ergebnis Rechnung<br />

zu tragen.<br />

Letzteres trifft zu, hilft der Beschwerdeführerin aber nicht weiter. Wie das Obergericht zutreffend<br />

festhielt, blieb es der Beschwerdeführerin unbenommen, mit ihrem Rechtsvertreter ein Pauschalhonorar<br />

nach Prozenten der "tatsächlich erstrittenen Verträge" zu vereinbaren. Das Bundesgericht hat<br />

aber bezüglich vorprozessualer Anwaltskosten im <strong>Haftpflichtrecht</strong> festgehalten, dass solche Kosten<br />

nur dann haftpflichtrechtlich Bestandteil des Schadens bilden, wenn sie gerechtfertigt, notwendig<br />

und angemessen waren, der Durchsetzung der Schadenersatzforderung dienen und nicht durch die<br />

nach kantonalem Recht zuzusprechende Parteientschädigung gedeckt sind (BGE 117 <strong>II</strong> 101 = Pra<br />

1991 Nr. 163; BGE 117 <strong>II</strong> 394 E. 3a). Das Obergericht (wie das Bezirksgericht) durfte daher von der<br />

Beschwerdeführerin verlangen, dass sie ihre Ersatzforderung für vorprozessuale Anwaltskosten hinlänglich<br />

substanziiert, namentlich die tatsächlichen Aufwendungen ihres Rechtsvertreters darlegt<br />

und konkretisiert, damit deren Notwendigkeit und Angemessenheit geprüft werden kann. Mit diesen<br />

Substanziierungsanforderungen verletzte das Obergericht kein Bundesrecht.<br />

12.5 Zusammenfassend vermag die Beschwerdeführerin die obergerichtlichen Erwägungen zur Ablehnung<br />

der Forderung für vorprozessuale Anwaltskosten nicht als bundesrechtswidrig auszuweisen,<br />

soweit auf ihre Rügen im Hinblick auf eine rechtsgenügliche Begründung überhaupt eingetreten werden<br />

kann.<br />

13.<br />

Es verbleiben zwei noch nicht behandelte Willkür- bzw. Gehörsrügen gegen die Erwägungen des Kassationsgerichts.<br />

13.1 Die Beschwerdeführerin wirft dem Kassationsgericht Willkür resp. eine Gehörsverletzung "im<br />

Zusammenhang mit der Anerkennung des Grundlohnes durch die Beschwerdegegnerin" vor und kritisiert<br />

die Erwägung 5.1.2.3 des angefochtenen Zirkulationsbeschlusses. Was sie unter diesem Titel<br />

ausführt, kann indessen nicht nachvollzogen werden und stellt jedenfalls keine präzise Begründung<br />

einer Verfassungsrüge dar (vgl. Erwägung 3). Namentlich wird nicht klar angegeben, auf welchen<br />

"Grundlohn" sich die Ausführungen der Beschwerdeführerin beziehen. Das wäre aber relevant, da<br />

die Bestreitungslage offenbar betreffend das monatliche Bruttoeinkommen im Unfallzeitpunkt und<br />

die Jahresbruttoeinkommen nicht die gleiche zu sein scheint. Auf diese Ausführungen kann daher<br />

mangels rechtsgenüglicher Begründung nicht eingetreten werden. Ohnehin bedeutet der Schluss des<br />

Kassationsgerichts, es werde in der Beschwerdeschrift nicht genügend substanziiert geltend gemacht,<br />

dass dem obergerichtlichen Urteil betreffend das angesprochene Thema ein Nichtigkeitsgrund<br />

zugrunde liege, noch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs.<br />

128


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

13.2 Nicht einzutreten ist auch auf die Rüge mit dem Titel "Verletzung des rechtlichen Gehörs durch<br />

die Verweigerung der Zulassung von Zusatzfragen". Die Beschwerdeführerin vermengt hier die Vorwürfe<br />

an das Kassationsgericht und diejenigen an das Obergericht in unzulässiger Weise miteinander<br />

und unterbreitet dem Bundesgericht weitgehend bloss appellatorische Kritik (vgl. Erwägung 3). Die<br />

Vorinstanzen haben einlässlich begründet, weshalb die Nichtzulassung der Ergänzungsfragen an den<br />

Experten H.________ nicht zu beanstanden sei. Die Beschwerdeführerin erläutert ihre abweichende<br />

Meinung, unterlässt es aber, präzise aufzuzeigen, inwiefern das Kassationsgericht ihr rechtliches Gehör<br />

verletzt haben soll.<br />

14.<br />

Die Beschwerde erweist sich grösstenteils als unbegründet, soweit darauf einzutreten ist. Einzig in<br />

Bezug auf die Berechnung des bisherigen Erwerbsschadens auf den Zeitpunkt des Urteilstags ist die<br />

Beschwerde begründet (Erwägung 9). Wegen dieses Punktes ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen<br />

und das Urteil des Obergerichts aufzuheben. Die Sache ist an das Obergericht im Sinne der Erwägungen<br />

zurückzuweisen, damit dieses die Berechnung des bisherigen Erwerbsschadens korrekt auf<br />

den Urteilszeitpunkt (27. Oktober 2009) und die daraus folgenden Korrekturen der Berechnung des<br />

Schadens samt Zins vornimmt.<br />

Die Beschwerdeführerin obsiegt demnach in marginalem Umfang, während sie grösstenteils mit ihrer<br />

Beschwerde unterliegt. Bei diesem Ausgang des Verfahrens erscheint es gerechtfertigt, ihr die Kosten-<br />

und Entschädigungsfolgen vollumfänglich aufzuerlegen, zumal sich die Beschwerdegegnerin<br />

nicht gegen die Gutheissung der Beschwerde im einzig berechtigten Punkt wehrte (Art. 66 Abs. 1 und<br />

Art. 68 Abs. 2 BGG).<br />

Demnach erkennt das Bundesgericht:<br />

1.<br />

Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom<br />

27. Oktober 2009 aufgehoben. Die Sache wird zur Neuberechnung im Sinne der Erwägungen (Verschiebung<br />

des Rechnungstages auf den 27. Oktober 2009) an das Obergericht zurückgewiesen.<br />

Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.<br />

2.<br />

Die Gerichtskosten von Fr. 20'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.<br />

3.<br />

Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.<br />

22'000.-- zu entschädigen.<br />

4.<br />

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Zürich, <strong>II</strong>. Zivilkammer, und dem Kassationsgericht<br />

des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.<br />

Lausanne, 12. Juli 2011<br />

Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung<br />

des Schweizerischen Bundesgerichts<br />

Die Präsidentin: Klett<br />

Die Gerichtsschreiberin: Hotz<br />

129


BGE 132 <strong>II</strong>I 321<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

39. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y. Versicherungs-Gesellschaft (Berufung)<br />

4C.277/2005 vom 17. Januar 2006<br />

Regeste<br />

Schadensberechnung bei Invalidität; Überentschädigungsverbot; Anrechnung von schadensausgleichenden<br />

Leistungen Dritter; Haushaltschaden (Art. 42 Abs. 2, Art. 46 Abs. 1 und Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong>;<br />

Art. 34 Abs. 2 BVG und Art. 26 BVV 2 in den bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassungen).<br />

Anrechnung von BVG-Invalidenleistungen an den zu ersetzenden Erwerbsausfallschaden. Voraussetzungen<br />

der Kongruenz der Leistungen und des Bestehens einer Rückgriffsmöglichkeit der Pensionskasse<br />

gegen den Haftpflichtigen, insbesondere im Fall, in dem die Vorsorgeeinrichtung in ihrem Reglement<br />

nicht vorgesehen hat, dass ihr der Geschädigte seine Ansprüche gegen den Haftpflichtigen<br />

abtreten muss (E. 2).<br />

Berücksichtigung einer Reallohnerhöhung bei der Berechnung des künftigen Haushaltschadens (E. 3).<br />

Am 20. September 1990 prallte A. mit seinem Personenwagen auf der B.-strasse in C. in das Heck des<br />

von X. (geb. 30. Juli 1952, Klägerin) gelenkten Fahrzeuges, das diese wegen einer Fahrzeugkolonne<br />

hatte abbremsen müssen. Die von der Klägerin wegen auftretenden Nackenbeschwerden gleichentags<br />

aufgesuchten Ärzte der chirurgischen Abteilung des Kantonsspitals Zug diagnostizierten eine<br />

"Commotio cerebri" und ein "HWS-Schleudertrauma".<br />

Die Klägerin klagte am 25. Februar 2002 beim Kantonsgericht Zug gegen die Y. Versicherungs-<br />

Gesellschaft (Beklagte), die Haftpflichtversicherung von A.<br />

Am 28. Juni 2005 verurteilte das Obergericht des Kantons Zug die Beklagte in zweiter Instanz, der<br />

Klägerin Fr. 665'814.- zuzüglich Zinsen zu bezahlen. Weiter verpflichtete es die Beklagte, der Klägerin<br />

ab 1. Juli 2005 bis 31. Juli 2016 eine monatliche, indexierte Rente von Fr. 1'665.- zu bezahlen.<br />

Die Klägerin beantragt mit eidgenössischer Berufung, die Beklagte zu verpflichten, ihr den Betrag von<br />

Fr. 774'144.- zuzüglich Zinsen zu bezahlen. Zudem sei die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Juli 2005<br />

bis 31. Juli 2016 eine monatliche, indexierte Rente von Fr. 2'059.- zu bezahlen.<br />

Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung. Das Bundesgericht heisst die Berufung teilweise<br />

gut.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

1. Die Vorinstanz ging davon aus, dass der Unfall eine vollständige Erwerbsunfähigkeit und eine 50%ige<br />

Einschränkung der Klägerin bei der Haushaltstätigkeit zur Folge gehabt hat. Dies und die grundsätzliche<br />

Haftbarkeit der Beklagten für den von der Klägerin<br />

daraus erlittenen Schaden ist im vorliegenden Verfahren nicht mehr umstritten.<br />

[…]<br />

3. Weiter ist die Klägerin der Ansicht, die Vorinstanz habe bei der Berechnung des künftigen Haushaltschadens<br />

zu Unrecht keine Reallohnerhöhung berücksichtigt.<br />

3.1 Der Schaden aus eingeschränkter oder entfallener Arbeitsfähigkeit zur Führung des Haushalts<br />

(Art. 46 Abs. 1 <strong>OR</strong>) wird nach der Rechtsprechung nicht bloss ersetzt, wenn konkret Kosten für Haushalthilfen<br />

erwachsen, die wegen des Ausfalls der Haushalt führenden Person beigezogen werden;<br />

auszugleichen ist vielmehr der wirtschaftliche Wertverlust, der durch die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit<br />

im Haushalt entstanden ist, und zwar unabhängig davon, ob dieser Wertverlust zur<br />

Anstellung einer Ersatzkraft, zu vermehrtem Aufwand der Teilinvaliden, zu zusätzlicher Beanspru-<br />

130


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

chung der Angehörigen oder zur Hinnahme von Qualitätsverlusten führt. Der "normativ", gleichsam<br />

von Gesetzes wegen ohne Nachweis der daraus konkret entstandenen Vermögenseinbusse zu ersetzende<br />

Schaden ist am Aufwand zu messen, den eine entgeltlich eingesetzte Ersatzkraft verursachen<br />

würde (BGE 131 <strong>II</strong>I 360 E. 8.1 S. 369; BGE 127 <strong>II</strong>I 403 E. 4b, je mit Hinweisen).<br />

Den für die Erledigung des Haushalts erforderlichen Aufwand kann das Sachgericht entweder ausschliesslich<br />

gestützt auf statistische Daten festlegen oder konkret ermitteln; stützt es sich auf statistische<br />

Daten, kann der Aufwand im Berufungsverfahren als Rechtsfrage überprüft werden, wobei sich<br />

das Bundesgericht eine gewisse Zurückhaltung auferlegt (BGE 129 <strong>II</strong>I 135 E. 4.2.1 S. 152). Diese Überprüfungsmöglichkeit<br />

besteht auch soweit - wie im vorliegenden Fall - abstrakt, gestützt auf die allgemeine<br />

Lebenserfahrung (Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong>) zu beurteilen ist, wie weit bei der Berechnung des künftigen<br />

Haushaltschadens eine Reallohnerhöhung zu berücksichtigen ist.<br />

3.2 Bei der Bestimmung des künftigen Haushaltschadens ging die Vorinstanz von einem Haushaltschaden<br />

der Klägerin von Fr. 19'627.- für das Jahr 2005 aus, was von der Klägerin nicht beanstandet<br />

wird. Bei der entsprechenden Berechnung folgte sie dem erstinstanzlich entscheidenden Kantonsgericht,<br />

das hinsichtlich der aufzuwendenden Stundenzahl und des zu veranschlagenden Stundenansatzes<br />

einer entgeltlichen Ersatzkraft für die Hausarbeit, welche die Klägerin nicht mehr erbringen kann,<br />

auf die im Rahmen der schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) des Bundesamtes für Statistik<br />

ermittelten Werte bzw. auf die darauf basierenden Tabellen von VOLKER PRIBNOW/ROLF WID-<br />

MER/ALFONSO SOUSA-POZA/THOMAS GEISER (Die Bestimmung des Haushaltsschadens auf der Basis<br />

der SAKE - Von der einsamen Palme zum Palmenhain, HAVE 1/2002 S. 24 ff.) als Ausdruck der allgemeinen<br />

Lebenserfahrung abgestellt hatte (vgl. dazu BGE 131 <strong>II</strong>I 360 E. 8.2.1; BGE 129 <strong>II</strong>I 135 E.<br />

4.2.2.1).<br />

3.3 Das Kantonsgericht hatte zur Frage, ob bei der Berechnung des zukünftigen Haushaltschadens<br />

der Klägerin eine Reallohnerhöhung zu berücksichtigen ist, erwogen, es sei eine zukünftige Reallohnentwicklung<br />

von 1 % im Jahresdurchschnitt einzuberechnen. Denn der Haushaltschaden sei am Aufwand<br />

zu messen, den eine entgeltlich eingesetzte Ersatzkraft verursachen würde, bei der eine Reallohnentwicklung<br />

ebenfalls berücksichtigt werden müsste. Es trug der Reallohnentwicklung dadurch<br />

Rechnung, dass es den für das Jahr 2003 ermittelten Wert der Haushaltarbeit, den die Klägerin aufgrund<br />

des Invaliditätsgrades von 50 % nicht mehr verrichten kann, statt mit einem Kapitalisierungszinsfuss<br />

von 3.5 % mit einem um 1 % reduzierten Zinsfuss von 2.5 % kapitalisierte (vgl. dazu MARC<br />

SCHAETZLE/STEPHAN WEBER, Kapitalisieren - Handbuch zur Anwendung der Barwerttafeln [Leonardo<br />

<strong>II</strong>], Zürich 2001, Beispiel 2b S. 72 f.). Das Kantonsgericht kam damit per 31. Juli 2003, dem Datum<br />

seines Urteils, auf einen Barwert des künftigen Haushaltschadens von Fr. 386'737.-.<br />

Die Vorinstanz erwog demgegenüber, SCHAETZLE/WEBER (Kapitalisieren, a.a.O., Rz. 3.459) postulierten,<br />

beim künftigen Erwerbsausfall mittel- und längerfristig von einer generellen Reallohnentwicklung<br />

von 1 % im Jahresdurchschnitt auszugehen, wobei sie eine generelle Einkommensentwicklung<br />

von 1 % (nur) bis Alter 50 vorschlügen. Dies bedeute, dass für die heute 53-jährige Klägerin eine Reallohnerhöhung<br />

nicht mehr berücksichtigt werden könne. Der im Jahre 2005 entstandene bzw. entstehende<br />

Schaden, der bei einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % Fr. 19'627.- betrage, sei entsprechend<br />

nach der Aktivitätstafel 10 von STAUFFER/SCHAETZLE mit einem Kapitalisierungszinsfuss von 3.5 % zu<br />

kapitalisieren, was einen künftigen Haushaltschaden von Fr. 334'640.- ergebe.<br />

3.4 Die Klägerin macht dagegen geltend, die Annahme, dass die generelle Reallohnerhöhung nur<br />

jüngeren Arbeitnehmern zugute komme, widerspreche sämtlichen ökonomischen Erfahrungen, ergebe<br />

sich doch diese generelle Reallohnerhöhung aus dem gesamthaften technischen Fortschritt, der<br />

sich wiederum auf die reale Zunahme des Bruttosozialproduktes auswirke und alle Arbeitnehmer in<br />

der gleichen Art und Weise profitieren lasse. Soweit ältere Arbeitnehmer gesamthaft reale Einkommenseinbussen<br />

hinnehmen müssten, sei das nicht eine Frage des generellen Reallohnanstiegs als<br />

vielmehr der individuellen Reallohnentwicklung, vor allem infolge von Frühpensionierungen. Es gehe<br />

im Rahmen einer Normhypothese nicht an, ältere Arbeitnehmer nur wegen ihres Alters nicht an einer<br />

generellen, grundsätzlich alle Arbeitnehmer gleich treffenden wirtschaftlichen Entwicklung infol-<br />

131


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

ge des allgemeinen technischen Fortschritts teilhaben zu lassen, ergebe sich doch aus keinem ökonomischen<br />

Erfahrungssatz oder einer Statistik ein derartiger, dem Üblichen entsprechender Verlauf.<br />

So werde auch im Nominallohnindex des Bundesamtes für Statistik keine Altersabstufung vorgenommen.<br />

Mit der entsprechenden "Alters-Guillotine" habe die Vorinstanz ein offensichtlich sachfremdes<br />

Element in einen Schätzungsparameter einbezogen. Sie habe insoweit Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong><br />

verletzt, indem sie nicht den üblichen Lauf der Dinge berücksichtigt habe.<br />

3.5 Die Beklagte macht dazu zunächst mit Hinweis auf die Ausführungen von MASSIMO PERGO-<br />

LIS/C<strong>OR</strong>NELIA DÜRR BRUNNER (Ungereimtheiten beim Haushaltschaden, HAVE 3/2005 S. 202 ff.)<br />

geltend, es sei überhaupt unwahrscheinlich, dass die Reallöhne für Ersatzkräfte im Haushalt in Zukunft<br />

ansteigen würden. - Die Lohnaussichten für Haushalthilfen seien in der Mittel- und Langfristperspektive<br />

keineswegs so positiv, wie sie von den Autoren PRIBNOW/ WIDMER/SOUSA-<br />

POZA/GEISER (a.a.O., S. 37) und von SCHAETZLE/WEBER dargestellt worden seien. Werde daran festgehalten,<br />

den Haushaltschaden als normativen Schaden zu qualifizieren, sei eine Reallohnerhöhung<br />

überdies aus einem dogmatischen Grund undenkbar. Solle die Entschädigung für den Haushaltschaden<br />

anhand des Lohnes einer gleichwertigen Ersatzkraft bemessen werden, so werde diese fiktive<br />

Ersatzkraft mit der verletzten haushaltführenden Person älter und weniger leistungsfähig. Es sei unwahrscheinlich,<br />

dass Arbeitgeber von Haushalthilfen ab Alter 50 diesen noch Reallohnerhöhungen<br />

gewähren würden. Die Ausführungen von SCHAETZLE/WEBER (Kapitalisieren, a.a.O., Rz. 4.19) bezögen<br />

sich eindeutig auf die Lohnentwicklung der allgemeinen Wirtschaft und nicht der Hauswirtschaft.<br />

Auch in der allgemeinen Wirtschaft sei jedoch seit etwa 2001 zu beobachten, dass die Löhne ab Alter<br />

50 "stehen blieben".<br />

Weiter vertritt die Beklagte in ihrer Berufungsantwort in umfangreichen Ausführungen den Standpunkt,<br />

die "SAKE-Methode" bzw. die "HAVE-Methode", d.h. das Abstellen auf die entsprechenden<br />

statistischen Werte, bilde entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung schon an sich keine<br />

taugliche Grundlage für die Berechnung des Haushaltschadens; es führe kein Weg an einer Schadensermittlung<br />

aufgrund von Beweismassnahmen im konkreten Fall vorbei. Die Bemessung des<br />

Haushaltschadens nach der HAVE-Methodik führe mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einer systematischen<br />

Überschätzung des effektiv erlittenen Haushaltschadens, weshalb die in BGE 131 <strong>II</strong>I 360 (E. 8.3)<br />

angetönte Möglichkeit einer Praxisänderung weiter geprüft werden müsse. Teil dieses systematischen<br />

Fehlers sei die von der Klägerin verlangte Reallohnerhöhung.<br />

3.6 Sofern die Beklagte mit ihrer allgemeinen Kritik an der von der Vorinstanz angewandten abstrakten<br />

Methode der Schadensberechnung auf der Basis der im Rahmen der SAKE erhobenen Werte eine<br />

Abänderung der durch die Vorinstanz vorgenommenen Schadensberechnung für das Jahr 2005 als<br />

Basis für die Ermittlung des künftigen Schadens anstrebt, kann darauf nicht eingetreten werden.<br />

Denn die Beklagte legt nicht dar, in welchen Punkten sie die Schadensberechnung der Vorinstanz<br />

konkret beanstandet und inwiefern davon abzuweichen sei (Art. 55 Abs. 1 lit. b und c in Verbindung<br />

mit Art. 59 Abs. 3 OG). Die Beklagte zeigt auch nicht auf - und es ist, wie sich aus den nachfolgenden<br />

Erwägungen ergibt, nicht ersichtlich - inwiefern ihre Kritik für die Beurteilung der von der Klägerin<br />

aufgeworfenen Frage, ob bei der Berechnung des künftigen Haushaltschadens eine Reallohnsteigerung<br />

zu berücksichtigen sei, von Bedeutung sein soll. Dass die Höhe des Haushaltschadens, soweit sie<br />

von künftigen Reallohnerhöhungen abhängt, anders als abstrakt aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung<br />

zu ermitteln ist, macht die Beklagte selber nicht geltend.<br />

Dennoch ist zur erhobenen Kritik zu bemerken, dass das Bundesgericht seine in BGE 129 <strong>II</strong>I 135 E.<br />

4.2.2.1 begründete Rechtsprechung, wonach die SAKE eine repräsentative Grundlage für die Ermittlung<br />

des Zeitaufwandes im Haushalt darstelle, in zwei neueren Entscheiden vorbehaltlos bestätigt hat<br />

(BGE 131 <strong>II</strong>I 360 E. 8.2.1; Urteil 4C.222/2004 vom 14. September 2004, E. 5.1; zustimmend: MARC<br />

SCHAETZLE, Lehren aus einer komplexen Schadensberechnung, HAVE 1/2005 S. 46; VOLKER<br />

PRIBNOW, Nettolohn, Lohnentwicklung und Haushaltschaden vor dem Bundesgericht, HAVE 1/2003<br />

S. 51; kritisch: PERGOLIS/DÜRR BRUNNER, a.a.O., S. 202 ff.; GUY CHAPPUIS, Le préjudice ménager:<br />

Encore et toujours ou les errances du dommage normatif, HAVE 4/2004 S. 282 f.; MARCEL SÜSSKIND,<br />

132


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Nachweis des Personenschadens, in: HAVE Personen-Schaden-Forum 2005, Verein Haftung und Versicherung<br />

[Hrsg.], Zürich 2005, S. 156 f.). Namentlich hat das Bundesgericht in E. 8.3 von BGE 131 <strong>II</strong>I<br />

360 keinen allgemeinen Methodenwechsel erwogen, wie die Beklagte vorbringt, sondern bloss auf<br />

die Ausführungen der damaligen Vorinstanz Bezug genommen, in denen die auf BGE 108 <strong>II</strong> 434 E. 3d<br />

zurückgehende Rechtsprechung betreffend des für Entlöhnung der Arbeit einer Hausfrau gegenüber<br />

derjenigen einer angestellten Hilfskraft zu gewährenden Qualitätszuschlags in Frage gestellt worden<br />

war; im konkreten Fall musste aber nicht geprüft werden, ob insoweit eine Praxisänderung in Frage<br />

komme (so auch in E. 5.4 des Urteils vom 14. September 2004). Im vorliegenden Fall stellt sich die<br />

Frage nach dem Qualitätszuschlag nicht, da die kantonalen Gerichte den Stundenansatz ohnehin<br />

nicht mit einem solchen, sondern nach dem so genannten Spezialistenansatz ermittelt haben (vgl.<br />

dazu PRIBNOW/WIDMER/SOUSA-POZA/GEISER, a.a.O., S. 34 f. und die Kritik bei PERGOLIS/DÜRR<br />

BRUNNER, a.a.O., S. 206 f.).<br />

3.7<br />

3.7.1 Das Bundesgericht hat sich in neuerer Zeit zweimal dafür ausgesprochen, dass bei der Berechnung<br />

des Haushaltschadens grundsätzlich eine Reallohnerhöhung zu berücksichtigen sei, ohne sich<br />

allerdings über den Umfang derselben oder eine altersmässige Begrenzung explizit zu äussern.<br />

Im Urteil 4C.276/2001 vom 26. März 2002, E. 7 (Pra 91/2002 Nr. 212 S. 1127 ff.) verwarf es den Einwand,<br />

es sei notorisch, dass die für Hausarbeit bezahlten Löhne keine Reallohnsteigerung erführen;<br />

so werde sich der Bedarf an bezahlter Haushalthilfe angesichts des veränderten Rollenverständnisses<br />

der Frauen in der Schweiz, die sich vermehrt einer Berufstätigkeit ausserhalb des Hauses zuwendeten,<br />

in den nächsten Jahren eher erhöhen, was nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage zu einer<br />

Reallohnsteigerung führen dürfte, die bei der Festlegung des Stundenansatzes berücksichtigt<br />

werden könne (grundsätzlich zustimmend zur Berücksichtigung einer Reallohnerhöhung, aber hinsichtlich<br />

der Höhe des entsprechend ermittelten Stundenansatzes kritisch: MARC SCHAETZLE, Betreuungsschaden,<br />

marktgerechte Entlöhnung und nominallohnindexierte, lebenslängliche Rente,<br />

HAVE 4/2002 S. 279; überhaupt kritisch dagegen PERGOLIS/DÜRR BRUNNER, a.a.O., S. 208).<br />

In BGE 131 <strong>II</strong>I 360 E. 8.3 S. 374 bestätigte das Bundesgericht, dass der kantonale Richter befugt ist,<br />

den für die Berechnung des Haushaltschadens massgeblichen Stundenansatz etwas zu erhöhen, um<br />

zukünftigen Lohnerhöhungen Rechnung zu tragen (zustimmend zur Berücksichtigung einer Reallohnerhöhung,<br />

nicht aber zum gewährten Umfang: VOLKER PRIBNOW/MARKUS ZIMMERMANN, Einkommensnachweis,<br />

Omnikongruenz und Haushaltsschaden, HAVE 2/2005 S. 146; kritisch: PERGO-<br />

LIS/DÜRR BRUNNER, a.a.O., S. 203, 206 und 210).<br />

Hinsichtlich der Frage, ob eine Reallohnerhöhung nur bis zu einem bestimmten Alter, insbesondere<br />

bis zum 50. Altersjahr, zu berücksichtigen sei, lässt sich aus dem Urteil vom 26. März 2002 nichts<br />

entnehmen. Denn das Bundesgericht folgte darin der Annahme der Vorinstanz, dass die damalige<br />

Klägerin nach dem 31. August 2017 - d.h. im Alter von 47 Jahren - in einem Heim Aufnahme finden<br />

werde, das auch die gesamte Hausarbeit für sie übernehmen werde, so dass von dann an kein zusätzlicher<br />

unfallbedingter Ausfall der Fähigkeit der Klägerin zur Hausarbeit zu ersetzen sei (E. 5 und 7 des<br />

zitierten Urteils). Die in BGE 131 <strong>II</strong>I 360 erfolgte Bestätigung des Grundsatzes, dass bei der Berechnung<br />

des Haushaltschadens eine Reallohnerhöhung berücksichtigt werden dürfe, ist für die vorliegend<br />

zu entscheidende Frage insoweit beachtlich, als die damalige Klägerin im Urteilszeitpunkt der<br />

letzten kantonalen Instanz bereits 50-jährig war; immerhin hat das Bundesgericht insoweit keine<br />

expliziten Erwägungen angestellt. Es konnte sich im Übrigen darauf beschränken, den von der Vorinstanz<br />

angewandten Stundenansatz von Fr. 30.- als im Ermessen des Gerichts liegend zu bezeichnen,<br />

weshalb davon nicht abzuweichen sei. Zu einzelnen Berechnungsfaktoren dieses Stundenansatzes<br />

hat es sich nicht geäussert.<br />

3.7.2 Die Vorinstanz hat den Haushaltschaden abstrakt, nach dem Aufwand berechnet, den eine entgeltlich<br />

eingesetzte Ersatzkraft der Klägerin für die Erledigung des Haushalts verursachen würde. Für<br />

die Bestimmung des zukünftigen Haushaltschadens ist somit massgeblich, inwieweit zu erwarten ist,<br />

133


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

dass dieser Aufwand aufgrund der Reallohnentwicklung einer gleichaltrigen und damit gleich leistungsfähigen<br />

Ersatzkraft in Zukunft zunehmen wird.<br />

3.7.2.1 Die Frage, ob generell, d.h. ohne nach Altersstufen oder Berufen zu differenzieren, angenommen<br />

werden darf, dass die Löhne von Arbeitnehmern im Durchschnitt real ansteigen werden,<br />

wird in der Lehre kontrovers diskutiert und ist von der Rechtsprechung bislang nicht beantwortet<br />

worden. SCHAETZLE/WEBER postulieren aufgrund der AHV-Statistik 1995 und aufgrund einer Zusammenstellung<br />

von Prognosen aus den 90-er Jahren über die künftige Reallohnentwicklung, von<br />

einer jährlichen, grundsätzlich allen Arbeitnehmern gleichmässig zukommenden Reallohnerhöhung<br />

von 1 % pro Jahr auszugehen (SCHAETZLE/WEBER, Kapitalisieren, a.a.O., Rz. 3.458, 4.19, 4.41 f.; dieselben,<br />

Barwerttafeln - Neue Rechnungsgrundlagen für den Personenschaden, in: Tercier [Hrsg.],<br />

Kapitalisierung - Neue Wege, Freiburg 1998, S. 105 ff.; dieselben, Von Einkommensstatistiken zum<br />

Kapitalisierungszinsfuss, AJP 1997 S. 1112 f.). Ob dieser These zu folgen sei und eine statistisch ausgewiesene<br />

erwartbare Einkommensentwicklung allgemein als Normhypothese der Schadensberechnung<br />

zugrunde zu legen ist, hat das Bundesgericht in BGE 129 <strong>II</strong>I 135 (E. 2.2 S. 141 f. und E. 2.3.2.1 S.<br />

145 f.) im Zusammenhang mit der Berechnung des Schadens aus Erwerbsausfall des Geschädigten<br />

ausdrücklich offen gelassen (vgl. PRIBNOW, a.a.O., HAVE 1/2003 S. 51; vgl. dazu auch BGE 125 <strong>II</strong>I 312<br />

E. 5c); das kantonale Gericht hatte den künftigen Erwerbsausfall damals entsprechend dem Gebot,<br />

soweit wie möglich die konkreten Umstände des zu beurteilenden Falles zu berücksichtigen (BGE 131<br />

<strong>II</strong>I 360 E. 5.1; BGE 116 <strong>II</strong> 295 E. 3a/aa), aufgrund von konkreten Umständen ermittelt und eine künftige<br />

Reallohnerhöhung ausgeschlossen, womit es eine im Berufungsverfahren grundsätzlich nicht<br />

überprüfbare Tatsachenfeststellung (Art. 63 Abs. 2 OG) getroffen hatte. Immerhin merkte das Bundesgericht<br />

dabei an, es sei allgemein zu beobachten, dass für Personen ab einem bestimmten Alter<br />

keine grossen Lohnveränderungen mehr zu erwarten seien, namentlich die tieferen Löhne ihr Maximum<br />

vor dem 50. Altersjahr erreichten (BGE 129 <strong>II</strong>I 135 E. 2.3.2.1 S. 146 mit Hinweis auf SCHAETZ-<br />

LE/WEBER, Kapitalisieren, a.a.O., Rz. 2.59, 4.39 und 4.40; kritisch dazu DAVID D<strong>OR</strong>N/THOMAS GEI-<br />

SER/CHRISTOPH SENTI/ALFONSO SOUSA-POZA, Die Berechnung des Erwerbsschadens mit Hilfe von<br />

Daten der Lohnstrukturerhebung, in: Verein Haftung und Versicherung [Hrsg.], HAVE Personen-<br />

Schaden-Forum 2005, Zürich 2005, S. 55).<br />

Für die These von SCHAETZLE/WEBER, wonach in Zukunft allgemein von einer Reallohnsteigerung<br />

von 1 % im Jahr auszugehen sei, sprechen sich D<strong>OR</strong>N/GEISER/SENTI/SOUSA-POZA aus<br />

(D<strong>OR</strong>N/GEISER/SENTI/ SOUSA-POZA, a.a.O., S. 46 f., 50). Sie führen die allgemeine Lohnsteigerung<br />

namentlich auf den Produktivitätsanstieg der einzelnen Arbeitnehmer aufgrund des technischen<br />

Fortschritts und aufgrund kapitalintensiverer Produktion zurück. Gegen die Berücksichtigung einer<br />

allgemeinen realen Lohnerhöhung sprechen sich hingegen SÜSSKIND (a.a.O., S. 150), LUKAS WYSS<br />

(Neue Tendenzen in der Berechnung von Invaliditäts- und Versorgerschäden, in: Tercier [Hrsg.], Kapitalisierung<br />

- Neue Wege, Freiburg 1998, S. 197) sowie PERGOLIS/DÜRR BRUNNER (a.a.O., S. 208) aus.<br />

Diese Autoren halten im Wesentlichen dafür, die AHV-Einkommensstatistik sei für die Zukunft nicht<br />

aussagekräftig, da nicht davon auszugehen sei, dass sich die Verhältnisse auf den Arbeitsmärkten in<br />

der Zukunft ungefähr wie diejenigen in der Vergangenheit entwickeln würden; dies begründen sie<br />

insbesondere mit der Globalisierung, der Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union sowie<br />

länger greifenden Restrukturierungsprozessen im Wirtschaftsleben und deren Auswirkungen auf den<br />

Arbeitsmarkt. Es müsse daher weiterhin aufgrund der konkreten Umstände (Beruf, Wirtschaftszweig,<br />

Geschlecht, Alter, Qualifikation etc.) im Einzelfall differenziert werden.<br />

3.7.2.2 Im vorliegenden Fall ist allerdings nicht die vom Bundesgericht bisher offen gelassene Frage<br />

zu beantworten, ob bei der Ermittlung des künftigen Schadens aus Erwerbsausfall allgemein und<br />

abstrakt eine Reallohnerhöhung von 1 % berücksichtigt werden darf. Zu beachten ist, dass bei entsprechenden<br />

Berechnungen des Erwerbsausfallschadens regelmässig konkrete Umstände des Einzelfalls,<br />

insbesondere die berufliche Situation des Geschädigten berücksichtigt werden können, aufgrund<br />

derer sich auf dessen künftige hypothetische Lohnentwicklung schliessen lässt. Die künftige<br />

Entwicklung des Lohnniveaus von Ersatzkräften als Berechnungsfaktor des Haushaltschadens, wie sie<br />

hier umstritten ist, lässt sich dagegen weitgehend nur abstrakt ermitteln (vgl. dazu BGE 127 <strong>II</strong>I 403 E.<br />

134


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

4b; BGE 129 <strong>II</strong>I 135 E. 4.2.1 S. 152; Urteil vom 14. September 2004, a.a.O., E. 5.4). Insoweit muss die<br />

Ermittlung des künftigen Schadens aufgrund von Hypothesen und Schätzungen nach der allgemeinen<br />

Lebenserfahrung (Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong>) vorgenommen werden, die soweit als möglich durch statistische<br />

Untersuchungen abzustützen sind (vgl. BGE 108 <strong>II</strong> 434 E. 3a S. 437; HANS PETER WALTER, Die Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichts zum Haushaltschaden, in: Atilay Ileri [Hrsg.], Die Ermittlung des Haushaltschadens<br />

nach Hirnverletzung, Zürich 1995, S. 29). Die den Schätzungen innewohnenden Ungewissheiten<br />

legen dabei nahe, nach einfachen und klaren Kriterien zu suchen, im Interesse einer<br />

rechtsgleichen Anwendung des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s und überschaubarer Berechnungen (WALTER,<br />

a.a.O., S. 38 f.; SCHAETZLE/WEBER, Kapitalisieren, a.a.O., Rz. 3.459; dieselben, Einkommensstatistiken,<br />

a.a.O., AJP 1997 S. 1115; vgl. dazu auch BGE 125 <strong>II</strong>I 312 E. 5b).<br />

Insoweit - und auch angesichts der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur Frage der Berücksichtigung<br />

von Reallohnerhöhungen für Ersatzkräfte im Haushalt (vgl. E. 3.7.1 oben) - ist der Vorinstanz<br />

beizupflichten, wenn sie mit der Erstinstanz gestützt auf die Ausführungen von SCHAETZLE/WEBER<br />

grundsätzlich annahm, es sei künftig von einer allgemeinen Reallohnsteigerung von 1 % im Jahresdurchschnitt<br />

auszugehen, die bei der abstrakten Berechnung des künftigen Haushaltschadens zu<br />

berücksichtigen sei (SCHAETZLE/ WEBER, Kapitalisieren, a.a.O., Rz. 3.458, 3.520; im gleichen Sinne<br />

auch MARC SCHAETZLE, Lehren, a.a.O., HAVE 1/2005 S. 47; derselbe, Der Schaden und seine Berechnung,<br />

in: Geiser/Münch [Hrsg.], Schaden - Haftung - Versicherung, Basel/Genf/München 1999, Rz.<br />

9.66; PRIBNOW/ZIMMERMANN, a.a.O., S. 146). Die entsprechende Annahme lässt sich vergangenheitsbezogen<br />

auf statistische Grundlagen und zukunftsbezogen auf eine Reihe von Szenarien und<br />

Prognosen von Konjunktur- und Wirtschaftsexperten (vgl. SCHAETZLE/ WEBER, Kapitalisieren, a.a.O.,<br />

Rz. 4.19 f. und die dort erwähnte Übersicht bei denselben, Barwerttafeln - Neue Rechnungsgrundlagen,<br />

a.a.O., S. 105 ff.) stützen und erscheint als fundierter begründet als die Meinung, Reallohnsteigerungen<br />

seien in Zukunft überhaupt unwahrscheinlich. Die Behauptung der Beklagten, die Löhne in<br />

der Hauswirtschaft würden künftig eine grundsätzlich andere Entwicklung erfahren als diejenigen in<br />

der allgemeinen Wirtschaft, ist im Übrigen nicht erhärtet.<br />

3.7.2.3 Wie die Vorinstanz zutreffend in Erwägung gezogen hat, haben SCHAETZLE/WEBER angesichts<br />

des Umstandes, dass die Einkommen ab dem 50. Altersjahr statistisch konstant blieben oder gar<br />

rückläufig seien, zwar vorgeschlagen, nur bis zum Alter von 50 Jahren von einer jährlichen generellen<br />

Einkommensentwicklung von 1 % auszugehen (SCHAETZLE/WEBER, Kapitalisieren, a.a.O., Rz. 3.459,<br />

3.462; dieselben, Einkommensstatistiken, a.a.O., AJP 1997 S. 1112 f.). Die Vorinstanz hat dabei aber<br />

die weiteren Ausführungen der genannten Autoren unberücksichtigt gelassen, wonach die Annahme<br />

eines konstanten Einkommens ab Alter 50 nur bei einer Durchschnittsbetrachtung zutreffe, bei der<br />

auch die Invalidisierungswahrscheinlichkeit einberechnet sei. Die invaliditätsbedingten Lohnreduktionen<br />

sowie Einkommensminderungen wegen vorzeitiger Pensionierung würden teilweise von der<br />

AHV-Einkommensstatistik erfasst und lieferten die Erklärung für den Einkommensrückgang bei älteren<br />

Arbeitnehmern. Die Invalidisierungswahrscheinlichkeit dürfe daher nicht bei der Kapitalisierung<br />

über die Anwendung der Aktivitätstafeln, in denen das Invaliditätsrisiko erfasst sei, doppelt berücksichtigt<br />

werden. Werde der Erwerbsschaden weiterhin mit Aktivitätstafeln kapitalisiert, so sei davon<br />

auszugehen, dass auch ältere, nicht-invalide Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen längerfristig bis<br />

zur Pensionierung mit Reallohnsteigerungen rechnen könnten (zum Ganzen SCHAETZLE/WEBER, Kapitalisieren,<br />

a.a.O., Rz. 3.465 und 4.41 f., mit Hinweis auf NICOLAS ESCHMANN, Evolution des revenus<br />

du travail, in: Tercier [Hrsg.], Kapitalisierung - Neue Wege, Freiburg 1998, S. 240; vgl. auch SCHAETZ-<br />

LE/WEBER, Einkommensstatistiken, a.a.O., AJP 1997 S. 1114).<br />

Indem die Vorinstanz den Haushaltschaden in zutreffender Anwendung der neusten Rechtsprechung<br />

(BGE 129 <strong>II</strong>I 135 E. 4.2.2.3 S. 159 f.) mit den Aktivitätstafeln kapitalisierte und ungeachtet der weiteren<br />

Ausführungen von SCHAETZLE/WEBER eine Reallohnsteigerung ab Alter 50 nicht berücksichtigte,<br />

hat sie die Invalidisierungswahrscheinlichkeit doppelt berücksichtigt, was nicht haltbar ist und eine<br />

unrichtige Ausübung ihres Ermessens bei der Schadensermittlung bedeutet. Vielmehr hätte sie bei<br />

der Berechnung des Haushaltschadens der Klägerin bis zum mutmasslichen Pensionsalter von 64<br />

Jahren (Art. 21 Abs. 1 lit. b AHVG) eine Reallohnsteigerung von 1 % jährlich berücksichtigen müssen,<br />

entsprechend dem statistisch bzw. prognostisch fundierten Erfahrungssatz, dass auch ältere, nicht<br />

135


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

invalide Arbeitnehmer längerfristig bis zur Pensionierung mit solchen Reallohnsteigerungen rechnen<br />

können.<br />

Ab dem Zeitpunkt der ordentlichen Pensionierung ist demgegenüber nach allgemeiner Lebenserfahrung<br />

davon auszugehen, dass die Arbeitskraft der geschädigten Person, für deren Verlust Ersatz zu<br />

leisten ist, auch im Validenfall allmählich nachlassen würde und entweder Hilfen für bestimmte Arbeiten<br />

beigezogen oder diese nicht mehr erledigt, also Qualitätseinbussen in Kauf genommen würden.<br />

Auch eine Ersatzkraft mit entsprechend nachlassender Leistungskraft, nach deren Entlöhnungsaufwand<br />

der zu ersetzende Schaden zu bemessen ist (E. 3 vorne), kann nicht mehr mit Reallohnerhöhungen<br />

rechnen. Eine entsprechend positive Lohnentwicklung lässt sich für die Arbeitnehmer nach<br />

dem ordentlichen Pensionierungsalter denn auch statistisch in keiner Weise belegen. Die Vorinstanz<br />

hat demnach kein Bundesrecht verletzt, indem sie bei der Berechnung des künftigen Haushaltschadens<br />

für die Zeit ab der ordentlichen Pensionierung keine Reallohnerhöhung mehr berücksichtigte.<br />

Das Urteil der Vorinstanz ist daher soweit aufzuheben, als sie bei der Berechnung des künftigen<br />

Haushaltschadens die zu erwartende Reallohnentwicklung von Ersatzkräften in der Hauswirtschaft<br />

bis ins Jahr, in dem die Klägerin das Pensionsalter erreicht, unberücksichtigt liess. Die Berechnung ist<br />

insoweit neu vorzunehmen. Der Reallohnsteigerung kann dabei dadurch Rechnung getragen werden,<br />

dass der Kapitalisierungszinsfuss um 1 % auf 2.5 % reduziert wird, wie es die Erstinstanz getan hat<br />

(SCHAETZLE/WEBER, Kapitalisieren, a.a.O., Rz. 2.119, 4.25).<br />

4A_500/2009<br />

Urteil vom 25. Mai 2010<br />

I. zivilrechtliche Abteilung<br />

Besetzung<br />

Bundesrichterin Klett, Präsidentin,<br />

Bundesrichter Corboz,<br />

Bundesrichterin Rottenberg Liatowitsch,<br />

Bundesrichter Kolly,<br />

Bundesrichterin Kiss,<br />

Gerichtsschreiber Luczak.<br />

Verfahrensbeteiligte<br />

X.________,<br />

vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Rüegg,<br />

Beschwerdeführerin,<br />

gegen<br />

Y.________,<br />

vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Walter Fellmann,<br />

Beschwerdegegnerin.<br />

Gegenstand<br />

Werkeigentümerhaftung,<br />

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern, I. Kammer als Appellationsinstanz,<br />

vom 27. August 2009.<br />

Sachverhalt:<br />

A.<br />

X.________ (Beschwerdeführerin), geboren am 20. Juni 1992, wurde am 30. April 2001 bei der Garageneinfahrt<br />

einer im Eigentum der Y.________ (Beschwerdegegnerin) stehenden Liegenschaft vom<br />

136


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

elektronischen Garagenkipptor angehoben und zwischen Tor und Garagendecke eingeklemmt. Sie<br />

erlitt dabei unter anderem schwerste Gehirnschäden und befindet sich seither im Wachkoma (apallisches<br />

Syndrom). Die Beschwerdegegnerin anerkennt grundsätzlich ihre Haftpflicht und leistete verschiedene<br />

Entschädigungszahlungen.<br />

B.<br />

Mit Teilklage vom 6. Februar 2006 verlangte die Beschwerdeführerin Fr. 350'000.-- nebst Zins für den<br />

bis 31. Dezember 2005 entstandenen Schaden, unter Anderem für Besuchs- und Betreuungskosten,<br />

unter Vorbehalt des Nachklagerechts. Am 17. Juni 2008 verpflichtete das Amtsgericht Luzern-Stadt<br />

die Beschwerdegegnerin, der Beschwerdeführerin Fr. 129'640.50 nebst Zins zu bezahlen. Gegen dieses<br />

Urteil appellierten beide Parteien. Die Beschwerdegegnerin hatte gestützt auf eine zwischen den<br />

Parteien getroffene Vereinbarung Schadenersatzforderungen im Umfang von Fr. 24'023.55 anerkannt,<br />

was das Amtsgericht im Dispositiv nicht festgehalten hatte. Die Beschwerdeführerin forderte<br />

zusätzlich Fr. 189'115.55 nebst Zins, während die Beschwerdegegnerin im über den anerkannten<br />

Betrag hinausgehenden Mass die Abweisung der Klage beantragte. Mit Urteil vom 27. August 2009<br />

nahm das Obergericht des Kantons Luzern von der Anerkennung der Schadenersatzansprüche Vormerk<br />

und wies die Klage im Übrigen ab, da es den geltend gemachten Schaden nebst Zins als durch<br />

die bereits geleisteten Zahlungen von insgesamt Fr. 251'166.50 gedeckt ansah.<br />

C.<br />

Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Beschwerdeführerin dem Bundesgericht im Wesentlichen,<br />

die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen, eventuell der Beschwerdeführerin<br />

Fr. 169'888.50 nebst Zins zuzusprechen. Sie stellt zudem den Antrag, ihr die Leistung des Kostenvorschusses<br />

durch Zession eines Teils des von der Beschwerdegegnerin anerkannten Betrages zu<br />

gestatten oder die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Das Bundesgericht verzichtete am 10.<br />

November 2009 auf Erhebung eines Kostenvorschusses, womit die den Kostenvorschuss betreffenden<br />

Begehren gegenstandslos wurden. Die Beschwerdeführerin wurde über die mutmasslichen Kosten<br />

informiert und darauf hingewiesen, sie habe weiterhin die Möglichkeit, um unentgeltliche<br />

Rechtspflege nachzusuchen, wovon sie jedoch keinen Gebrauch machte. Die Beschwerdegegnerin<br />

schliesst auf kostenfällige Abweisung der Beschwerde, während das Obergericht beantragt, die Beschwerde<br />

abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.<br />

Erwägungen [Auszug]:<br />

2.<br />

In der Beschwerde wird geltend gemacht, die Vorinstanz habe bei der Festsetzung des Stundenansatzes<br />

für die Entschädigung des Betreuungsaufwandes für durch die Eltern der Beschwerdeführerin am<br />

Wochenende erbrachte Pflegeleistungen den Zuschlag für die Sonntagsarbeit übersehen und keine<br />

Feiertags- und Ferienentschädigung angerechnet. Die Vorinstanz und auch die Beschwerdegegnerin<br />

vertreten in den Vernehmlassungen die Auffassung, im Rechtsmittelverfahren habe die Beschwerdeführerin<br />

nicht (beziehungsweise nicht explizit) an einer Entschädigung für Sonntagsarbeit und für<br />

Abgeltung nicht bezogener Fest- und Ferientage festgehalten. Die Beschwerdegegnerin ist überdies<br />

der Meinung, da der Schaden rückwirkend geltend gemacht werde und tatsächlich keine Fremdbetreuung<br />

erfolgt sei, könnten ohnehin keine Zuschläge verlangt werden.<br />

2.1 Im Bereich des Pflegeschadens gewährt Art. 46 <strong>OR</strong> der verletzten Person Anspruch auf die Kosten,<br />

die sie aufwenden muss, um die Folgen der Körperverletzung zu beheben oder wenigstens einzuschränken.<br />

Darunter fallen die Kosten dauernder Betreuung und Pflege (OFTINGER/STARK, Schweizerisches<br />

<strong>Haftpflichtrecht</strong>, Erster Band: Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Zürich 1995, § 6 Rz. 110). Auch die<br />

Pflege zu Hause geht, soweit sie unfallbedingt ist, zu Lasten des Haftpflichtigen. Wird sie von Familienangehörigen<br />

besorgt, muss sie gleichwohl entschädigt werden, da sich unter dem Gesichtspunkt<br />

des Vorteilsausgleichs derartige freiwillige Leistungen nicht zu Gunsten des Schädigers auswirken<br />

sollen, wenn der Leistende nicht diesen, sondern den Geschädigten begünstigen will (Urteil des Bundesgerichts<br />

4C.276/2001 vom 26. März 2002 E. 6b/aa publ. in Pra 2002 Nr. 212 S. 1127). Der Schaden<br />

ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts unter Zugrundelegung des erforderlichen Stunden-<br />

137


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

aufwandes nach dem ortsüblichen Lohn einer Pflegekraft zu ermitteln, wobei der Bruttolohn zuzüglich<br />

Arbeitgeberbeiträge an die Sozialversicherung massgeblich ist (zit. Urteil 4C.276/2001 E. 6b/dd).<br />

Sämtliche Lohnkosten sind einzubeziehen (LANDOLT, Angehörigenschaden: Reflex- oder Direktschaden<br />

- oder sogar beides?, in: HAVE 1/2009 S. 7). Es ist auf die tatsächlichen Kosten abzustellen, die<br />

eine entsprechende Betreuung verursachen würde, beziehungsweise auf deren Marktwert. Ein darüber<br />

hinausgehender Erwerbsausfall des Pflegenden ist dagegen in der Regel nicht zu ersetzen (zit.<br />

Urteil 4C.276/2001 E. 6b/dd). Es macht keinen Unterschied, ob Schadenersatz für die Vergangenheit<br />

oder für die Zukunft verlangt wird. Dies wurde im erwähnten Urteil unter Hinweis darauf illustriert,<br />

der Geschädigte habe keinerlei Gewähr, dass die freiwillige Leistung auch in Zukunft erbracht wird<br />

(zit. Urteil 4C.276/2001 E. 6b/cc). Daraus lässt sich nicht ableiten, dass Ersatz für bereits erbrachte<br />

Leistungen anders zu berechnen wäre als für noch zu erbringende.<br />

2.2 Sowohl die Vorinstanz als auch die Beschwerdegegnerin anerkennen, dass die Beschwerdeführerin<br />

in den Rechtsschriften vor erster Instanz entsprechende Zuschläge verlangt hat. Die Beschwerdeführerin<br />

hat sich im kantonalen Rechtsmittelverfahren der Auffassung der ersten Instanz angeschlossen.<br />

Diese ging gestützt auf statistische Daten von einem durchschnittlichen Nettostundenansatz von<br />

Fr. 29.30 aus, den sie für Sozialversicherungsbeiträge, 13. Monatslohn etc. um insgesamt 30 % erhöhte.<br />

Auf diese Weise berechnete die erste Instanz einen Stundenansatz von Fr. 38.--, der höher lag als<br />

der von der Beschwerdeführerin geltend gemachte von Fr. 35.--, gestützt auf welchen das Amtsgericht<br />

in Anwendung der Dispositionsmaxime den Anspruch der Beschwerdeführerin festsetzte.<br />

2.3 Wenn sich die Beschwerdeführerin im Rechtsmittelverfahren der Berechnung der ersten Instanz<br />

anschloss und nunmehr Fr. 38.-- verlangte, kann das nichts anderes bedeuten, als dass sie sich mit<br />

dem von der ersten Instanz berechneten Betrag als hinreichend entschädigt erachtete, zumal sie<br />

selbst weniger gefordert hatte. Allenfalls könnte daraus geschlossen werden, sie halte einen pauschalen<br />

Zuschlag von 30 % zu den angenommenen Nettokosten für ausreichend. Die erste Instanz<br />

hat zwar den Zuschlag von 30 % nicht in allen Posten spezifiziert. Mit "etc." konnten aber nur die von<br />

der Beschwerdeführerin beantragten Zuschläge gemeint sein, nachdem die Sozialversicherungsbeiträge<br />

und der 13. Monatslohn bereits genannt waren. Daher kann nach Treu und Glauben nicht davon<br />

ausgegangen werden, die Beschwerdeführerin habe auf ihren Anspruch auf Entschädigung für<br />

Sonntagsarbeit und für Frei- und Ferientage verzichtet, wenn sie sich der Berechnung der ersten Instanz<br />

anschloss. Zu prüfen bleibt damit, ob die verlangten Zuschläge abzugelten sind.<br />

2.4 Massgebend ist, welche Betreuungskosten ohne den eine Liberalität darstellenden Einsatz der<br />

Familienangehörigen für die notwendige Pflege und Überwachung der Beschwerdeführerin durch<br />

eine Drittperson anfallen würde. Im zu beurteilenden Fall erfolgt die Betreuung durch die Familienangehörigen<br />

jeweils über das Wochenende. Daher ist von den Bruttokosten auszugehen, die eine<br />

Betreuung durch eine Drittperson an diesen Tagen verursachen würde, einschliesslich allfälliger Zuschläge<br />

für Sonntagsarbeit oder Ferien, die angefallen wären, wenn eine Drittperson die Pflege der<br />

Beschwerdeführerin übernommen hätte.<br />

2.5 Die Vorinstanz ging im Rechtsmittelverfahren von einem Nettolohnansatz von Fr. 26.39 aus. Diesen<br />

Ansatz erhöhte sie auf Fr. 29.--. Mit diesem Zuschlag von lediglich ca. 10 % bleibt sie unter dem<br />

Zuschlag von 12 %, der nach ihren eigenen Angaben in der Lehre zur Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge<br />

vorgeschlagen wird. Weshalb die weiteren Zuschläge nicht gewährt wurden, erläutert<br />

sie nicht. Diesbezüglich erweist sich die Beschwerde als begründet. Feststellungen zur Höhe<br />

der Zuschläge, die bei Betreuung durch eine Drittperson tatsächlich angefallen wären, fehlen. Die<br />

Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese über das Quantitativ der von der Beschwerdeführerin<br />

geltend gemachten Zuschläge entscheide.<br />

2.6 Nicht begründet ist die Beschwerde, soweit darin Ersatz für die Pflegeleistungen der Eltern während<br />

des Aufenthalts im Heim verlangt wird. Bei der Berechnung des Schadens wird von der konkreten,<br />

auf einer Liberalität beruhenden Pflegesituation abstrahiert. Die Betreuung der Beschwerdefüh-<br />

138


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

rerin im Heim wird aber bereits mit dem Ersatz der Heimkosten abgegolten (vgl. LANDOLT, Zürcher<br />

Kommentar, 3. Aufl. 2007, N. 150 Vorbemerkungen zu Art. 45/46 <strong>OR</strong>). Wenn die Eltern der Beschwerdeführerin<br />

anlässlich ihrer Besuche auch für die Pflege der Beschwerdeführerin sorgen und<br />

das Heimpersonal insoweit entlasten, kann die Beschwerdeführerin diesen freiwillig geleisteten Aufwand<br />

ihrer Eltern nicht noch einmal zum Ersatz verstellen. Ein Anspruch wäre nur gegeben, soweit<br />

sich in diesem Umfang die vom Schädiger zu tragenden Heimkosten verringert hätten, was nicht<br />

festgestellt ist. Die Liberalität der Eltern mindert mithin die Schadenersatzpflicht des Schädigers<br />

nicht. Nicht zu beanstanden ist demgegenüber die Abgeltung der Betreuung zu Hause. Dass die Beschwerdeführerin<br />

die Wochenenden zu Hause verbringt, erhöht ihre Lebensqualität und ermöglicht<br />

eine gewisse Einbindung in die Familie. Die dafür anfallenden (normativen) Kosten für die Betreuung<br />

durch die Eltern sind der Beschwerdeführerin zu erstatten, zumal nicht festgestellt ist, dass die Beschwerdeführerin<br />

eine Reduktion der Heimkosten für insoweit nicht benötigte Pflege erwirken könnte<br />

und ein Verbleib im Heim keine gleichwertige Alternative darstellt.<br />

3.<br />

In der Beschwerde wird geltend gemacht, auch der Besuchsschaden sei als Teil des Pflegeschadens<br />

normativ zu bestimmen, analog zur Rechtsprechung betreffend den Haushaltschaden. Dabei sei der<br />

das in einem Familienverband übliche Mass übersteigende Besuchsaufwand zu ersetzen gemäss dem<br />

Stundenansatz für Haushaltsarbeiten. Selbst wenn jedoch die normative Schadensberechnung abgelehnt<br />

würde und der Anspruch statt dessen nach Art. 422 <strong>OR</strong> zu berechnen wäre, habe die Vorinstanz<br />

keinen hinreichenden Schadenersatz zugesprochen.<br />

3.1 Unter Haushaltsschaden wird der Verlust der Leistungen der geschädigten Person in der Führung<br />

des Haushalts sowie der Pflege und Erziehung der Kinder verstanden (BGE 131 <strong>II</strong>I 360 E. 8.1 S. 369<br />

mit Hinweis). Kann die geschädigte Person wegen des Unfalls Arbeiten im Haushalt nicht mehr verrichten,<br />

die sie bisher unentgeltlich getätigt hat und die sie ohne den Unfall weiterhin für sich und<br />

ihre Angehörigen erledigt hätte, so muss der Haftpflichtige den Wert dieser Leistungen ersetzen (vgl.<br />

Urteil 4C.166/2006 vom 25. August 2006 E. 5.1, publ. in Praxis 96/2007 Nr. 43 S. 267 ff). Der Anspruch<br />

auf Schadenersatz besteht dafür nach Art. 46 Abs. 1 <strong>OR</strong> unbesehen darum, ob die bisher den<br />

Haushalt führende und Kinder betreuende Person wegen des Unfalls konkret Kosten für Haushalthilfen<br />

aufwendet. Auszugleichen hat der Haftpflichtige den wirtschaftlichen Wertverlust, der durch die<br />

Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit der geschädigten Person in Haushaltführung und Kinderbetreuung<br />

entstanden ist, ohne dass eine sich daraus ergebende Vermögenseinbusse nachgewiesen<br />

werden muss. Der Wert der unentgeltlich erbrachten Leistungen ist gleichsam "normativ" nach den<br />

Kosten zu ersetzen, die eine entgeltlich eingesetzte Ersatzkraft verursachen würde, und zwar auch<br />

dann, wenn der Verlust der Arbeitskraft im Haushalt zum Beispiel zu einem vermehrten Aufwand der<br />

Teilinvaliden, zur zusätzlichen Beanspruchung von Angehörigen oder zur Hinnahme von Qualitätsverlusten<br />

führt (BGE 132 <strong>II</strong>I 321 E. 3.1 S. 332 mit Hinweis).<br />

Die invalide Beschwerdeführerin kann keinen Ersatz für den Wertverlust von Leistungen beanspruchen,<br />

die sie selbst im Haushalt ihrer Eltern unentgeltlich erbracht hätte. Die Betreuung und Überwachung<br />

jüngerer Geschwister durch ältere Kinder kann nicht als Haushaltstätigkeit mit objektivem<br />

Marktwert anerkannt werden, die wegen des Unfalls des älteren Geschwister als solche zu entgelten<br />

wäre. Es fragt sich vielmehr, ob die Beschwerdeführerin Ersatz für die Leistungen Dritter - das heisst<br />

ihrer Eltern - zu ihren Gunsten beanspruchen kann.<br />

3.2 Unter Betreuungsschaden wird der erforderliche Pflegeaufwand verstanden, den Angehörige<br />

zugunsten der verletzten Person leisten, um die Folgen der Körperverletzung zu beheben oder wenigstens<br />

zu mindern. Als bloss Reflexgeschädigte haben die Angehörigen keinen eigenen Schadenersatzanspruch<br />

gegen den Haftpflichtigen. Da die verletzte Person aber den Ersatz der Kosten beanspruchen<br />

kann, die ihr für ihre wegen des Unfalls erforderliche Pflege durch Dritte anfallen, hat der<br />

Haftpflichtige auch die unentgeltlich zugunsten der geschädigten Person erbrachten Leistungen zu<br />

ersetzen. Denn unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsausgleichung sollen sich unentgeltlich erbrachte<br />

Leistungen nicht zu Gunsten des Schädigers auswirken, wenn der Leistende nicht diesen, sondern<br />

139


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

den Geschädigten begünstigen will (BGE 97 <strong>II</strong> 259 E. <strong>II</strong>I.3 S. 266; 33 <strong>II</strong> 599; OFTINGER/STARK, a.a.O., §<br />

6 Rz. 75 ff. S. 271 f.; BREHM, a.a.O, N. 14g zu Art. 46 <strong>OR</strong>; REY, Ausservertragliches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4.<br />

Auflage, 2008, Rz. 215 S. 50). Der notwendige Pflegeaufwand ist deshalb vom Haftpflichtigen als<br />

Schaden der verletzten Person selbst gemäss Art. 46 <strong>OR</strong> zu ersetzen. Da die Pflegeleistungen unentgeltlich<br />

erbracht werden, ist ihr Marktwert objektiv zu bemessen. Die Schadensberechnung knüpft -<br />

insofern entsprechend der Bewertung des Haushaltsschadens - am objektiven (Markt-) Wert der<br />

Betreuungsleistung an (oben E. 2).<br />

3.3 Die Beschwerdeführerin beansprucht im vorliegenden Zusammenhang nicht den Ersatz von Entschädigungen,<br />

die sie ihren Eltern für Pflege und Betreuung schuldet. Sie ist vielmehr der Ansicht, sie<br />

habe ihre Eltern auch für deren Besuche im Heim oder Spital zu entschädigen.<br />

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts beruhen Besuche von Angehörigen grundsätzlich auf<br />

moralischer Verpflichtung und sind die dadurch verursachten Kosten daher nicht als Schaden zu qualifizieren<br />

(BGE 97 <strong>II</strong> 259 E. <strong>II</strong>I.4 S. 266 mit Hinweisen). Eltern und Kinder pflegen auch ohne Unfall<br />

persönliche Kontakte ausserhalb der Arbeitszeit, und es kann Familienmitgliedern grundsätzlich zugemutet<br />

werden, Besuche mit ihrer Arbeitstätigkeit zu koordinieren oder die Besuchszeit durch Vor-<br />

oder Nacharbeit zu kompensieren (BREHM, a.a.O., N. 17d zu Art. 46 <strong>OR</strong>; LANDOLT, Zürcher Kommentar,<br />

N. 156 Vorbemerkungen zu Art. 45/46 <strong>OR</strong>). Bei schweren Unfällen können sich jedoch Besuche<br />

ausnahmsweise als erforderlich erweisen, um über die medizinische Behandlung zu bestimmen oder<br />

sie vermögen zum Erfolg der Behandlung und zur Unterstützung des Opfers beizutragen. In diesem<br />

Fall kann gerechtfertigt sein, der geschädigten Person den konkreten Aufwand der Angehörigen für<br />

Besuche nach den Regeln des Auftrags oder der Geschäftsführung zu überbinden und den Haftpflichtigen<br />

entsprechend zum Ersatz zu verpflichten (BGE 97 <strong>II</strong> 259 E. <strong>II</strong>I.4 S. 266, vgl. auch BREHM, a.a.O.<br />

N. 17a zu Art. 46 <strong>OR</strong>, LANDOLT, Zürcher Kommentar N. 145 f. Vorbem. zu Art. 45/46, Derselbe, Angehörigenschaden,<br />

S. 6, vgl. auch BGE 118 V 206 E. 3-5). Diese Rechtsprechung wird in der Literatur<br />

zwar als zu eng kritisiert (BREHM, a.a.O., N. 17a zu Art. 46 <strong>OR</strong>; LANDOLT, Zürcher Kommentar, N. 143<br />

ff. Vorbem. zu Art. 45/46). Ersatzfähig sind jedoch allein die besuchsbedingten Zusatzkosten, wie<br />

notwendige Reise- oder Transportkosten oder unvermeidbarer Lohnausfall (LANDOLT, Zürcher<br />

Kommentar, N. 152, 156 Vorbem. zu Art. 45/46 <strong>OR</strong>; BREHM, a.a.O. N. 17d zu Art. 46 <strong>OR</strong>). Der Ansicht<br />

der Beschwerdeführerin kann nicht gefolgt werden, dass der Besuchsschaden als Teil des Pflegeschadens<br />

"normativ" nach einem objektiven Wert der Besuche zu bestimmen sei. Besuche im Spital oder<br />

Pflegeheim haben ihren Grund in jedem Fall in der persönlichen Beziehung und können nicht als Leistung<br />

Dritter bewertet werden; sie haben keinen Marktwert.<br />

3.4 Die Vorinstanz hat der Beschwerdeführerin Schadenersatz für die Zeit zu Recht verweigert, welche<br />

ihr Vater für Besuche aufwendet. Soweit in der Beschwerde geltend gemacht wird, der Vater<br />

habe sein Arbeitspensum reduziert, um die Beschwerdeführerin zu pflegen, ist der entsprechende<br />

Erwerbsausfall entweder als Teil des Pflegeschadens entgolten (oben E. 2) oder nicht zu ersetzen,<br />

weil die Pflege an Dritte delegiert ist (zit. Urteil 4C.276/2001 E. 6b/bb).<br />

3.5 Auch soweit die Beschwerdeführerin Ersatz für die von ihrer Mutter aufgewendete Besuchszeit<br />

verlangt, ist der Beschwerde kein Erfolg beschieden. Die Vorinstanz hat der Beschwerdeführerin allerdings<br />

einen reduzierten Betrag für einen Teil der Stunden zugesprochen, was von der Beschwerdegegnerin<br />

beanstandet wird. Während der Sozialkontakt zwischen einer auswärtig tätigen Person<br />

und ihrer Familie gewöhnlich in der arbeitsfreien Zeit stattfindet, lässt sich die Hausarbeit mit dem<br />

familiären Umgang bis zu einem gewissen Grad verbinden. Diese Möglichkeit entfällt beim auswärtigen<br />

Krankenbesuch, der so zu einer Mehrbelastung im Haushalt führen kann. Bundesrechtlich ist<br />

nicht zu beanstanden, dem im Rahmen des Ersatzanspruches Rechnung zu tragen. Von diesem sind<br />

jedoch allfällige verminderte Aufwendungen im Haushalt, etwa durch die auswärtige Verpflegung<br />

oder Kinderbetreuung, abzuziehen, wenn sie ihrerseits einen Ersatzanspruch begründen (vgl. zur<br />

Ersatzfähigkeit dieser Kosten LANDOLT, Berner Kommentar, N. 154 f. Vorbemerkungen zu Art. 45/46<br />

<strong>OR</strong>). Da die Vorinstanz die Kosten für auswärtige Verpflegung indessen nicht für ausgewiesen hielt<br />

und auch die Kosten für die Betreuung der Geschwister der Beschwerdeführerin mangels konkreten<br />

140


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Nachweises nur teilweise zusprach, besteht im Ergebnis kein Anlass, diesbezüglich in die Schadensberechnung<br />

der Vorinstanz einzugreifen. Zu ersetzen ist aber wiederum nur die konkrete, durch die<br />

Besuche verursachte Beeinträchtigung in der Haushaltsführung. Keine Rolle spielt, ob die Beeinträchtigung<br />

durch Anstellung von Hilfskräften oder Mehreinsatz der Betroffenen kompensiert wird. Insoweit<br />

kann an die Grundsätze des Haushaltschadens angeknüpft werden. Die unterschiedliche Behandlung<br />

der Mutter und des Vaters der Beschwerdeführerin, welche in der Beschwerde als stossend<br />

und rechtsungleich ausgegeben wird, rührt daher, dass soziale Kontakte zum Vater der Beschwerdeführerin<br />

während dessen Arbeitszeit auch ohne Unfall nicht möglich wären, bei den Haushaltsarbeiten<br />

dagegen schon.<br />

3.6 Mit Bezug auf den Besuchsschaden ist der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden und die<br />

Beschwerde insoweit abzuweisen.<br />

4.<br />

In der Beschwerde wird der Vorinstanz schliesslich Willkür in der Beweiswürdigung bei der Beurteilung<br />

der Transportkosten vorgeworfen. Die Vorinstanz erachtete die Vorbringen bezüglich der Transporte<br />

der Beschwerdeführerin beim Abholen vom Heim für widersprüchlich. Die Beschwerdeführerin<br />

hatte vor erster Instanz Ersatz für ein zu ihrem Transport angeschafftes Fahrzeug verlangt. Auf den<br />

Einwand der Beschwerdegegnerin, der Transport mit dem Tixi-Taxi, wie er vor Anschaffung des Fahrzeugs<br />

praktiziert worden sei, wäre günstiger, wurde in der erstinstanzlichen Replik erwidert, der Vater<br />

hätte die Beschwerdeführerin bei einem Transport mit dem Tixi-Taxi jeweils nicht auf dem Heimweg<br />

von der Arbeit nach Hause mit dem Fahrzeug mitnehmen können. Dies steht nach Auffassung<br />

der Vorinstanz im Widerspruch zu der in anderem Zusammenhang aufgestellten Behauptung, der<br />

Vater habe sich so organisiert, dass er Freitags immer frei gehabt habe, um die Beschwerdeführerin<br />

abzuholen, so dass er beim Abholen immer vom Wohnort (Kriens) weggefahren sei. Vor diesem Hintergrund<br />

erachtete es die Vorinstanz nicht als erwiesen, dass die Hinfahrten am Freitag von Kriens<br />

aus erfolgten.<br />

4.1 Die Beschwerdeführerin wendet mit Aktenhinweisen ein, sie habe bei den Transportkosten immer<br />

geltend gemacht, ihr Vater hätte sie am Freitag von Kriens aus abgeholt. Die Vorinstanz lasse die<br />

Bestätigung der Arbeitgeberin ausser Betracht, wonach ihr Vater bis Februar 2002 zu 80 % und ab<br />

März 2002 noch zu 60 % angestellt gewesen sei. Dies beweise, dass er zumindest am Freitag arbeitsfrei<br />

hatte. Die Ausführungen, wonach die Beschwerdeführerin beim Transport mit dem Tixi-Taxi nicht<br />

auf dem Weg von der Arbeit nach Hause hätte mitgenommen werden können, seien versehentlich so<br />

formuliert worden, dass sie die Vergangenheit beschlügen. Beim Kauf des Fahrzeugs zum Transport<br />

der Beschwerdeführerin sei geplant gewesen, diese nach einer späteren Wiedererhöhung des Arbeitspensums<br />

des Vaters (zeit- und kostensparend) im Verlauf des Freitagnachmittags auf dem<br />

Heimweg von der Arbeit mitzunehmen. Dass es dazu wegen der Pensenreduktion tatsächlich nicht<br />

gekommen sei, habe die Beschwerdeführerin in der Appellationsantwort in aller Form klargestellt.<br />

Überdies sei der Vater der Beschwerdeführerin ab Ende November 2004 ohne Anstellung, weshalb<br />

ab diesem Zeitpunkt ohnehin alle Transporte ab Kriens erfolgen mussten. Wenn die Eltern aus formellen<br />

Gründen nicht als Zeugen befragt würden, müsse ein Indizienbeweis genügen.<br />

4.2 Willkürlich ist ein Entscheid nach konstanter Rechtsprechung nicht schon dann, wenn eine andere<br />

Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre. Das Bundesgericht hebt einen kantonalen<br />

Entscheid wegen Willkür vielmehr nur auf, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen<br />

Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz<br />

krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Dabei<br />

genügt es nicht, wenn sich nur die Begründung des angefochtenen Entscheides als unhaltbar erweist.<br />

Eine Aufhebung rechtfertigt sich nur dann, wenn der Entscheid auch im Ergebnis verfassungswidrig<br />

ist (BGE 134 <strong>II</strong> 124 E. 4.1 S. 133 mit Hinweisen).<br />

141


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

4.3 Die Beschwerdegegnerin hatte in ihrer Appellationsbegründung behauptet, der Vater der Beschwerdeführerin<br />

habe diese jeweils am Freitag auf dem Nachhauseweg abgeholt. Dieser Umstand<br />

sei von der Beschwerdeführerin in der erstinstanzlichen Replik als Grund für die Anschaffung des<br />

PW's angeführt worden. An der Stelle in der Appellationsantwort, auf welche die Beschwerdeführerin<br />

in der Beschwerdeschrift verweist, stellt sie zwar klar, dass der Freitag infolge der Teilzeitbeschäftigung<br />

immer arbeitsfrei gewesen und die Abholung immer von Kriens aus erfolgt sei. Zum Beweis<br />

wird der Vater als Zeuge angeboten. Auf den Widerspruch mit der Aussage in der Replik wird indessen<br />

nicht im Einzelnen eingegangen. Namentlich wird nicht wie jetzt vor Bundesgericht erklärt, die<br />

betreffende Aussage in der erstinstanzlichen Replik beziehe sich auf eine in Zukunft geplante Aufstockung<br />

des Arbeitspensums. Damit konnte die Vorinstanz ohne Willkür festhalten, die Aussagen seien<br />

widersprüchlich. Dass die Vorinstanz dieses Prozessverhalten in die Beweiswürdigung einbezieht, ist<br />

nicht zu beanstanden (vgl. GULDENER, a.a.O., S. 322). Welche Tage arbeitsfrei waren, hätte zudem<br />

die Arbeitgeberin bestätigen können, so dass die Beschwerdeführerin diesbezüglich nicht auf die<br />

nach kantonalen Prozessrecht unzulässige Zeugenbefragung ihres Vaters angewiesen war. Die Vorinstanz<br />

verfiel demnach nicht in Willkür, wenn sie die Transporte von Kriens nicht als erwiesen erachtete.<br />

5.<br />

Die Vorinstanz gelangte zum Schluss, die anrechenbaren Leistungen der Beschwerdegegnerin bzw.<br />

der IV von Fr. 251'166.50 überstiegen die ausgewiesene Forderung der Beschwerdeführerin um Fr.<br />

14'181.75. Da die Vorinstanz bei der Berechnung des Pflegeschadens am Wochenende die geltend<br />

gemachten Ferien- Feiertags- und Sonntagszuschläge zu Unrecht ausser Acht liess, ist das angefochtene<br />

Urteil in teilweiser Gutheissung der Beschwerde aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung<br />

an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf<br />

einzutreten ist. Die Beschwerdeführerin, die vor Bundesgericht Fr. 169'888.50 nebst Zins verlangte,<br />

unterliegt im überwiegenden Teil. Danach sind die Kosten- und Entschädigungsfolgen des bundesgerichtlichen<br />

Verfahrens auszurichten.<br />

Demnach erkennt das Bundesgericht:<br />

1.<br />

In teilweiser Gutheissung der Beschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache<br />

an die Vorinstanz zurückgewiesen zu neuer Entscheidung über die von der Beschwerdeführerin im<br />

Zusammenhang mit dem Pflegeschaden geltend gemachten Ferien-, Feiertags- und Wochenendzuschläge.<br />

Im Übrigen ist die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.<br />

2.<br />

Die Gerichtskosten von Fr. 5'000.-- werden mit Fr. 4'000.-- der Beschwerdeführerin und mit Fr.<br />

1'000.-- der Beschwerdegegnerin auferlegt.<br />

3.<br />

Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.<br />

4'000.-- zu entschädigen.<br />

4.<br />

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, I. Kammer als Appellationsinstanz,<br />

schriftlich mitgeteilt.<br />

Lausanne, 25. Mai 2010<br />

Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung<br />

des Schweizerischen Bundesgerichts<br />

Die Präsidentin: Der Gerichtsschreiber:<br />

Klett Luczak<br />

142


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Hilfsmittel zur Schadensberechnung<br />

Auszug aus STAUFFER/SCHAETZLE, Barwerttafeln, 5. Auflage 2001<br />

Tafel 1 Sofort beginnende, lebenslängliche Rente<br />

Tafel 10 Sofort beginnende Aktivitätsrente<br />

Tafel 11 Temporäre Aktivitätsrente bis AHV-Rentenalter<br />

Tafel 40 Ausscheideordnung – Mortalität<br />

Tafel 41 Ausscheideordnung - Aktivität<br />

Tafel 42 Mittlere Lebenserwartung<br />

Tafel 43 Mittlere Dauer der Aktivität<br />

143


M<strong>OR</strong>TALITÄT<br />

M<strong>OR</strong>TALITÉ<br />

3.5 %<br />

Sofort beginnende, lebenslängliche Rente<br />

Rente viagère immédiate<br />

Alter Männer Frauen Âge Hommes Femmes<br />

0 26.76 27.40 50 18.70 20.83<br />

1 26.73 27.39 51 18.38 20.57<br />

2 26.65 27.34 52 18.05 20.30<br />

3 26.57 27.28 53 17.71 20.03<br />

4 26.49 27.22 54 17.37 19.74<br />

5 26.40 27.16 55 17.02 19.45<br />

6 26.30 27.09 56 16.67 19.15<br />

7 26.20 27.02 57 16.31 18.84<br />

8 26.10 26.95 58 15.95 18.52<br />

9 26.00 26.87 59 15.58 18.20<br />

10 25.89 26.80 60 15.21 17.86<br />

11 25.78 26.72 61 14.83 17.52<br />

12 25.67 26.63 62 14.44 17.17<br />

13 25.55 26.55 63 14.05 16.81<br />

14 25.43 26.46 64 13.65 16.44<br />

15 25.30 26.37 65 13.25 16.06<br />

16 25.17 26.28 66 12.85 15.67<br />

17 25.04 26.18 67 12.44 15.28<br />

18 24.90 26.08 68 12.04 14.87<br />

19 24.77 25.98 69 11.63 14.46<br />

20 24.65 25.88 70 11.22 14.04<br />

21 24.52 25.78 71 10.80 13.60<br />

22 24.39 25.68 72 10.37 13.15<br />

23 24.25 25.57 73 9.95 12.70<br />

24 24.12 25.46 74 9.52 12.24<br />

25 23.99 25.35 75 9.10 11.77<br />

26 23.86 25.23 76 8.68 11.29<br />

27 23.73 25.11 77 8.27 10.80<br />

28 23.60 24.99 78 7.85 10.31<br />

29 23.46 24.86 79 7.44 9.81<br />

30 23.31 24.72 80 7.03 9.31<br />

31 23.17 24.58 81 6.63 8.82<br />

32 23.01 24.44 82 6.24 8.33<br />

33 22.85 24.29 83 5.85 7.85<br />

34 22.68 24.13 84 5.47 7.38<br />

35 22.50 23.97 85 5.10 6.92<br />

36 22.31 23.80 86 4.77 6.46<br />

37 22.11 23.63 87 4.48 6.03<br />

38 21.90 23.45 88 4.22 5.61<br />

39 21.68 23.27 89 4.00 5.22<br />

40 21.45 23.08 90 3.81 4.85<br />

41 21.21 22.88 91 3.61 4.48<br />

42 20.96 22.68 92 3.38 4.10<br />

43 20.71 22.47 93 3.15 3.73<br />

44 20.45 22.26 94 2.93 3.38<br />

45 20.18 22.04 95 2.70 3.04<br />

46 19.90 21.81 96 2.48 2.75<br />

47 19.61 21.57 97 2.31 2.54<br />

48 19.32 21.33 98 2.13 2.34<br />

49 19.01 21.09 99 1.96 2.17<br />

0.5% – 12% → Beispiele / Exemples →<br />

20 9a 13a 15c 46 51b 59 61<br />

144<br />

1<br />

1


AKTIVITÄT<br />

ACTIVITÉ<br />

3.5 %<br />

Sofort beginnende Aktivitätsrente<br />

Rente immédiate d’activité<br />

Alter Männer Frauen Âge Hommes Femmes<br />

0 25.77 26.47 50 15.26 17.97<br />

1 25.72 26.43 51 14.88 17.67<br />

2 25.61 26.35 52 14.48 17.36<br />

3 25.50 26.27 53 14.09 17.05<br />

4 25.37 26.17 54 13.70 16.73<br />

5 25.24 26.07 55 13.30 16.40<br />

6 25.11 25.97 56 12.91 16.06<br />

7 24.97 25.86 57 12.53 15.72<br />

8 24.83 25.75 58 12.15 15.36<br />

9 24.68 25.64 59 11.76 14.99<br />

10 24.53 25.52 60 11.38 14.60<br />

11 24.37 25.40 61 11.00 14.19<br />

12 24.20 25.27 62 10.62 13.75<br />

13 24.03 25.14 63 10.23 13.30<br />

14 23.86 25.01 64 9.84 12.84<br />

15 23.68 24.87 65 9.45 12.38<br />

16 23.49 24.73 66 9.05 11.90<br />

17 23.30 24.59 67 8.65 11.43<br />

18 23.13 24.46 68 8.25 10.95<br />

19 22.98 24.36 69 7.86 10.49<br />

20 22.86 24.26 70 7.49 10.03<br />

21 22.72 24.14 71 7.14 9.56<br />

22 22.56 24.02 72 6.81 9.09<br />

23 22.39 23.88 73 6.49 8.63<br />

24 22.22 23.74 74 6.18 8.16<br />

25 22.04 23.59 75 5.87 7.71<br />

26 21.86 23.43 76 5.56 7.28<br />

27 21.69 23.27 77 5.25 6.86<br />

28 21.51 23.10 78 4.95 6.42<br />

29 21.33 22.93 79 4.66 5.98<br />

30 21.14 22.75 80 4.36 5.54<br />

31 20.95 22.57 81 4.07 5.12<br />

32 20.75 22.38 82 3.77 4.70<br />

33 20.55 22.19 83 3.46 4.29<br />

34 20.33 21.99 84 3.16 3.90<br />

35 20.11 21.79 85 2.88 3.54<br />

36 19.87 21.58 86 2.62 3.22<br />

37 19.61 21.36 87 2.37 2.94<br />

38 19.35 21.14 88 2.13 2.69<br />

39 19.07 20.91 89 1.89 2.46<br />

40 18.77 20.67 90 1.66 2.26<br />

41 18.47 20.42 91 1.45 2.06<br />

42 18.15 20.17 92 1.22 1.86<br />

43 17.82 19.92 93 0.99 1.64<br />

44 17.48 19.66 94 0.78 1.42<br />

45 17.14 19.39 95 0.64 1.21<br />

46 16.78 19.11 96 0.54 1.00<br />

47 16.41 18.83 97 0.82<br />

48 16.03 18.55 98 0.67<br />

49 15.65 18.26 99 0.54<br />

0.5% – 6% → Beispiele / Exemples →<br />

30 6a 7 8a<br />

145<br />

10<br />

1


AKTIVITÄT<br />

ACTIVITÉ<br />

3.5 %<br />

Temporäre Aktivitätsrente bis AHV-Rentenalter<br />

Rente d’activité jusqu’à l’âge AVS<br />

11<br />

Männer Frauen Frauen Frauen Hommes Femmes Femmes Femmes<br />

Alter bis bis bis bis 62 Âge jusqu’à jusqu’à jusqu’à jusqu’à<br />

65 64 63 62 65 64 63 62<br />

0 25.07 25.28 25.18 25.08 50 10.84 10.71 10.14 9.54<br />

1 24.99 25.19 25.09 24.99 51 10.28 10.12 9.52 8.90<br />

2 24.86 25.07 24.96 24.86 52 9.69 9.51 8.88 8.23<br />

3 24.72 24.94 24.84 24.73 53 9.09 8.88 8.22 7.55<br />

4 24.56 24.79 24.68 24.57 54 8.47 8.22 7.54 6.84<br />

5 24.40 24.65 24.53 24.42 55 7.83 7.53 6.83 6.09<br />

6 24.24 24.50 24.38 24.26 56 7.18 6.82 6.09 5.32<br />

7 24.07 24.33 24.21 24.09 57 6.52 6.09 5.33 4.53<br />

8 23.90 24.17 24.05 23.91 58 5.83 5.33 4.53 3.70<br />

9 23.72 24.01 23.88 23.74 59 5.10 4.53 3.70 2.83<br />

10 23.54 23.83 23.69 23.55 60 4.35 3.70 2.83 1.93<br />

11 23.34 23.65 23.51 23.36 61 3.57 2.83 1.93 0.99<br />

12 23.14 23.46 23.31 23.16 62 2.75 1.92 0.98<br />

13 22.93 23.26 23.11 22.96 63 1.88 0.98<br />

14 22.72 23.07 22.91 22.75 64 0.97<br />

15 22.50 22.86 22.70 22.53<br />

16 22.27 22.65 22.48 22.31<br />

17 22.04 22.43 22.26 22.08<br />

18 21.82 22.23 22.05 21.86<br />

19 21.62 22.04 21.86 21.66<br />

20 21.45 21.85 21.66 21.46<br />

21 21.25 21.64 21.44 21.24<br />

22 21.04 21.43 21.23 21.01<br />

23 20.81 21.20 20.98 20.76<br />

24 20.58 20.96 20.74 20.51<br />

25 20.34 20.71 20.48 20.24<br />

26 20.09 20.44 20.20 19.95<br />

27 19.85 20.17 19.92 19.67<br />

28 19.60 19.89 19.63 19.37<br />

29 19.35 19.60 19.33 19.06<br />

30 19.08 19.30 19.02 18.74<br />

31 18.81 18.99 18.70 18.41<br />

32 18.52 18.67 18.37 18.06<br />

33 18.24 18.34 18.03 17.71<br />

34 17.93 18.00 17.68 17.35<br />

35 17.61 17.65 17.32 16.98<br />

36 17.27 17.29 16.94 16.59<br />

37 16.91 16.91 16.55 16.18<br />

38 16.55 16.52 16.15 15.77<br />

39 16.16 16.12 15.74 15.34<br />

40 15.75 15.70 15.30 14.89<br />

41 15.34 15.26 14.85 14.42<br />

42 14.90 14.82 14.39 13.95<br />

43 14.44 14.36 13.92 13.46<br />

44 13.98 13.89 13.43 12.96<br />

45 13.50 13.40 12.92 12.43<br />

46 13.00 12.89 12.40 11.88<br />

47 12.48 12.37 11.85 11.32<br />

48 11.95 11.84 11.30 10.75<br />

49 11.41 11.28 10.73 10.15<br />

0.5% – 6% → Beispiele / Exemples → – – – 1<br />

31 1 6 14 18 45 67<br />

146


i M<strong>OR</strong>TALITÄT<br />

M<strong>OR</strong>TALITÉ<br />

2<br />

40<br />

Ausscheideordnung – Mortalität<br />

Ordre de sortie – mortalité<br />

Anzahl Lebende Personnes vivantes Anzahl Lebende<br />

Alter Männer Frauen Âge Hommes Femmes Alter Männer Frauen<br />

0 100000 100000 50 94241 97606 100 1262 5617<br />

1 99795 99818 51 94023 97476 101 783 3678<br />

2 99771 99790 52 93782 97339 102 458 2305<br />

3 99753 99767 53 93518 97190 103 249 1379<br />

4 99744 99759 54 93227 97028 104 124 784<br />

5 99737 99753 55 92905 96854 105 55 422<br />

6 99732 99749 56 92530 96667 106 21 214<br />

7 99728 99746 57 92096 96466 107 7 102<br />

8 99724 99743 58 91616 96250 108 2 45<br />

9 99719 99739 59 91085 96018 109 18<br />

10 99712 99735 60 90499 95771<br />

11 99703 99730 61 89866 95499<br />

12 99693 99725 62 89183 95199<br />

13 99683 99719 63 88433 94877<br />

14 99674 99712 64 87610 94532<br />

15 99664 99704 65 86709 94164<br />

16 99651 99693 66 85711 93761<br />

17 99631 99679 67 84612 93316<br />

18 99596 99660 68 83418 92832<br />

19 99533 99634 69 82121 92304<br />

20 99433 99600 70 80713 91729<br />

21 99315 99559 71 79224 91125<br />

22 99197 99512 72 77646 90482<br />

23 99072 99460 73 75926 89767<br />

24 98927 99405 74 74049 88970<br />

25 98754 99347 75 72008 88082<br />

26 98553 99287 76 69789 87124<br />

27 98333 99226 77 67394 86079<br />

28 98107 99166 78 64834 84897<br />

29 97881 99107 79 62104 83558<br />

30 97660 99050 80 59201 82044<br />

31 97433 98995 81 56104 80278<br />

32 97203 98942 82 52815 78226<br />

33 96985 98889 83 49356 75908<br />

34 96779 98836 84 45733 73284<br />

35 96585 98783 85 41956 70330<br />

36 96413 98729 86 37880 67023<br />

37 96261 98674 87 33558 63335<br />

38 96117 98619 88 29232 59254<br />

39 95980 98562 89 24985 54784<br />

40 95847 98504 90 20914 49954<br />

41 95710 98441 91 17384 45121<br />

42 95566 98372 92 14408 40350<br />

43 95420 98299 93 11712 35425<br />

44 95270 98222 94 9348 30466<br />

45 95114 98140 95 7325 25610<br />

46 94955 98050 96 5551 20619<br />

47 94793 97952 97 4034 15753<br />

48 94621 97846 98 2843 11612<br />

49 94438 97731 99 1935 8234<br />

Beispiele / Exemples →<br />

147<br />

21c 21d 35 42


AKTIVITÄT<br />

ACTIVITÉ<br />

Ausscheideordnung - Aktivität<br />

Ordre de sortie - activité<br />

Anzahl Aktive Personnes actives<br />

Alter Männer Frauen Âge Hommes Femmes<br />

0 99602 99680 50 88360 91658<br />

1 99341 99449 51 87812 91203<br />

2 99302 99402 52 87185 90723<br />

3 99280 99373 53 86472 90210<br />

4 99270 99356 54 85665 89668<br />

5 99262 99341 55 84755 89101<br />

6 99256 99328 56 83717 88512<br />

7 99251 99316 57 82546 87908<br />

8 99246 99304 58 81254 87296<br />

9 99240 99290 59 79842 86685<br />

10 99232 99276 60 78311 86088<br />

11 99222 99261 61 76677 85508<br />

12 99211 99246 62 74949 84961<br />

13 99201 99229 63 73122 84441<br />

14 99191 99210 64 71196 83845<br />

15 99180 99186 65 69185 83156<br />

16 99166 99155 66 67060 82446<br />

17 99145 99098 67 64840 81530<br />

18 99007 98981 68 62510 80536<br />

19 98751 98745 69 59950 79245<br />

20 98349 98475 70 57111 77797<br />

21 98014 98251 71 54050 76245<br />

22 97734 98060 72 50790 74529<br />

23 97481 97889 73 47411 72561<br />

24 97224 97731 74 43990 70415<br />

25 96946 97579 75 40566 68009<br />

26 96634 97427 76 37171 65183<br />

27 96295 97274 77 33797 62179<br />

28 95938 97116 78 30454 59084<br />

29 95567 96954 79 27160 55812<br />

30 95190 96788 80 23994 52419<br />

31 94797 96616 81 20981 48625<br />

32 94394 96440 82 18124 44595<br />

33 93999 96258 83 15421 40461<br />

34 93613 96071 84 12874 36021<br />

35 93242 95878 85 10471 31273<br />

36 92897 95679 86 8237 26431<br />

37 92578 95475 87 6249 21515<br />

38 92275 95265 88 4566 16977<br />

39 91987 95049 89 3196 12956<br />

40 91710 94827 90 2115 9453<br />

41 91436 94593 91 1281 6670<br />

42 91158 94345 92 716 4537<br />

43 90880 94083 93 345 2949<br />

44 90594 93806 94 130 1777<br />

45 90294 93512 95 29 972<br />

46 89977 93195 96 3 462<br />

47 89638 92852 97 171<br />

48 89262 92483 98 44<br />

49 88839 92086 99 6<br />

Beispiele / Exemples →<br />

148<br />

21c 38<br />

41<br />

1


i M<strong>OR</strong>TALITÄT<br />

M<strong>OR</strong>TALITÉ<br />

2<br />

42<br />

Mittlere Lebenserwartung<br />

Espérance de vie<br />

Alter Männer Frauen Âge Hommes Femmes Alter Männer Frauen<br />

0 79.01 87.03 50 31.86 38.38 100 1.85 2.09<br />

1 78.17 86.19 51 30.94 37.43 101 1.67 1.93<br />

2 77.19 85.21 52 30.02 36.48 102 1.50 1.79<br />

3 76.20 84.23 53 29.10 35.54 103 1.34 1.65<br />

4 75.21 83.24 54 28.19 34.60 104 1.19 1.52<br />

5 74.22 82.25 55 27.28 33.66 105 1.05 1.40<br />

6 73.22 81.25 56 26.39 32.72 106 0.93 1.27<br />

7 72.22 80.25 57 25.52 31.79 107 0.79 1.12<br />

8 71.23 79.25 58 24.65 30.86 108 0.50 0.90<br />

9 70.23 78.26 59 23.79 29.93 109 0.50<br />

10 69.23 77.26 60 22.94 29.01<br />

11 68.24 76.26 61 22.10 28.09<br />

12 67.25 75.27 62 21.26 27.18<br />

13 66.25 74.27 63 20.44 26.27<br />

14 65.26 73.28 64 19.62 25.36<br />

15 64.27 72.28 65 18.82 24.46<br />

16 63.27 71.29 66 18.04 23.56<br />

17 62.29 70.30 67 17.26 22.67<br />

18 61.31 69.31 68 16.50 21.79<br />

19 60.35 68.33 69 15.76 20.91<br />

20 59.41 67.36 70 15.02 20.04<br />

21 58.48 66.38 71 14.30 19.17<br />

22 57.55 65.41 72 13.58 18.30<br />

23 56.62 64.45 73 12.87 17.44<br />

24 55.70 63.48 74 12.19 16.59<br />

25 54.80 62.52 75 11.52 15.76<br />

26 53.91 61.56 76 10.87 14.92<br />

27 53.03 60.60 77 10.24 14.10<br />

28 52.15 59.63 78 9.62 13.29<br />

29 51.27 58.67 79 9.02 12.49<br />

30 50.38 57.70 80 8.44 11.72<br />

31 49.50 56.73 81 7.88 10.96<br />

32 48.62 55.76 82 7.34 10.24<br />

33 47.72 54.79 83 6.82 9.53<br />

34 46.82 53.82 84 6.32 8.86<br />

35 45.92 52.85 85 5.84 8.21<br />

36 45.00 51.88 86 5.42 7.59<br />

37 44.07 50.91 87 5.05 7.00<br />

38 43.13 49.94 88 4.72 6.45<br />

39 42.19 48.96 89 4.44 5.93<br />

40 41.25 47.99 90 4.21 5.46<br />

41 40.31 47.02 91 3.96 4.99<br />

42 39.37 46.06 92 3.67 4.52<br />

43 38.43 45.09 93 3.40 4.08<br />

44 37.49 44.12 94 3.14 3.66<br />

45 36.55 43.16 95 2.87 3.26<br />

46 35.61 42.20 96 2.62 2.93<br />

47 34.67 41.24 97 2.42 2.68<br />

48 33.73 40.29 98 2.22 2.46<br />

49 32.80 39.33 99 2.03 2.27<br />

Beispiel / Exemple →<br />

42<br />

149


AKTIVITÄT<br />

ACTIVITÉ<br />

Mittlere Dauer der Aktivität<br />

Durée moyenne de l’activité<br />

Alter Männer Frauen Âge Hommes Femmes<br />

0 68.67 75.97 50 23.23 29.66<br />

1 67.85 75.14 51 22.37 28.81<br />

2 66.88 74.18 52 21.53 27.96<br />

3 65.89 73.20 53 20.70 27.12<br />

4 64.90 72.21 54 19.89 26.28<br />

5 63.91 71.22 55 19.10 25.44<br />

6 62.91 70.23 56 18.33 24.61<br />

7 61.91 69.24 57 17.58 23.77<br />

8 60.92 68.25 58 16.85 22.94<br />

9 59.92 67.26 59 16.14 22.09<br />

10 58.93 66.27 60 15.45 21.24<br />

11 57.93 65.28 61 14.77 20.38<br />

12 56.94 64.29 62 14.10 19.51<br />

13 55.94 63.30 63 13.44 18.63<br />

14 54.95 62.31 64 12.79 17.76<br />

15 53.95 61.32 65 12.14 16.90<br />

16 52.96 60.34 66 11.51 16.04<br />

17 51.97 59.38 67 10.89 15.22<br />

18 51.05 58.45 68 10.28 14.40<br />

19 50.18 57.59 69 9.69 13.63<br />

20 49.38 56.74 70 9.15 12.87<br />

21 48.55 55.87 71 8.64 12.12<br />

22 47.68 54.98 72 8.16 11.39<br />

23 46.81 54.07 73 7.71 10.68<br />

24 45.93 53.16 74 7.27 9.99<br />

25 45.06 52.24 75 6.84 9.33<br />

26 44.20 51.32 76 6.42 8.71<br />

27 43.36 50.40 77 6.01 8.11<br />

28 42.52 49.48 78 5.62 7.51<br />

29 41.68 48.57 79 5.24 6.92<br />

30 40.84 47.65 80 4.87 6.34<br />

31 40.01 46.73 81 4.49 5.79<br />

32 39.18 45.82 82 4.12 5.27<br />

33 38.34 44.90 83 3.76 4.76<br />

34 37.50 43.99 84 3.40 4.28<br />

35 36.64 43.08 85 3.07 3.85<br />

36 35.78 42.16 86 2.76 3.47<br />

37 34.90 41.25 87 2.48 3.15<br />

38 34.01 40.34 88 2.21 2.86<br />

39 33.12 39.43 89 1.95 2.59<br />

40 32.22 38.53 90 1.68 2.36<br />

41 31.31 37.62 91 1.45 2.14<br />

42 30.41 36.72 92 1.21 1.91<br />

43 29.50 35.82 93 0.97 1.66<br />

44 28.59 34.92 94 0.75 1.43<br />

45 27.68 34.03 95 0.60 1.20<br />

46 26.78 33.14 96 0.50 0.98<br />

47 25.88 32.26 97 0.79<br />

48 24.98 31.39 98 0.64<br />

49 24.10 30.52 99 0.50<br />

150<br />

43<br />

1


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Erwerbsschaden<br />

AHV-Einkommensstatistik 2006, Schweizer Arbeitnehmer, Beitragsdauer 12 Monate (Stand 2008) – Männer<br />

Altersklassen<br />

1.<br />

Dezil<br />

2.<br />

Dezil<br />

3.<br />

Dezil<br />

4.<br />

Dezil<br />

5.<br />

Dezil<br />

6.<br />

Dezil<br />

7.<br />

Dezil<br />

8.<br />

Dezil<br />

9.<br />

Dezil<br />


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

AHV-Einkommensstatistik 2006, Schweizer Männer und Frauen, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen,<br />

Beitragsdauer 12 Monate (Stand 2008)<br />

100'000<br />

90'000<br />

80'000<br />

70'000<br />

60'000<br />

50'000<br />

40'000<br />

30'000<br />

20'000<br />

10'000<br />

0<br />

Median der AHV Einkommen<br />


Erwerbsquoten<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Wann endet die hypothetische Erwerbstätigkeit? Gemäss bundesgerichtlicher Praxis wird seit BGE<br />

123 <strong>II</strong>I 115 E. 6 angenommen, dass die Erwerbstätigkeit grundsätzlich mit Erreichen des AHV-Alters<br />

aufhört. Das ist die gültige Normhypothese. Wer etwas Abweichendes behauptet, ist hierfür beweispflichtig.<br />

100.0<br />

90.0<br />

80.0<br />

70.0<br />

60.0<br />

50.0<br />

40.0<br />

30.0<br />

20.0<br />

10.0<br />

100.0<br />

90.0<br />

80.0<br />

70.0<br />

60.0<br />

50.0<br />

40.0<br />

30.0<br />

20.0<br />

10.0<br />

0.0<br />

Erwerbsquoten der Männer nach Altersgruppe<br />

15-24 Jahre 25-39 Jahre 40-54 Jahre 55-64 Jahre 65 Jahre und älter<br />

Erwerbsquoten der Frauen nach Altersgruppe<br />

15-24 Jahre 25-39 Jahre 40-54 Jahre 55-64 Jahre 65 Jahre und älter<br />

Bundesamt für Statistik, SAKE 2009, Tabelle 03.01.02.02<br />

http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/03/02/blank/data/03.html<br />

153<br />

1991<br />

1995<br />

2000<br />

2005<br />

2009<br />

1991<br />

1995<br />

2000<br />

2005<br />

2009


Haushaltschaden<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

SAKE 2004 – Insgesamtwerte und Haushalttypen (ohne Berücksichtigung des Alters)<br />

Bevölkerungsgruppe<br />

Haus<br />

-halttyp<br />

Frauen Männer<br />

Erwerbssituation<br />

0%<br />

1-<br />

49%<br />

50-<br />

89%<br />

BFS, Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE) 2004: Modul Unbezahlte Arbeit<br />

SAKE 2007 – Insgesamtwerte und Haushalttypen (ohne Berücksichtigung des Alters)<br />

90-<br />

100<br />

Total 0%<br />

1-<br />

49%<br />

50-<br />

89%<br />

90-<br />

100%<br />

Alleinlebende 1 21.9 24.8 19.8 16.7 20.4 19.3 16.5 15.7 13.7 15.6<br />

2-Personen-<br />

Paarhaushalte<br />

Paarhaushalte<br />

mit einem Kind<br />

Paarhaushalte mit<br />

2 Kindern<br />

Paarhaushalte mit 3<br />

oder mehr Kindern<br />

Paarhaushalte mit Kindern<br />

insgesamt<br />

Alleinerziehende<br />

mit einem Kind<br />

Alleinerziehende mit<br />

2 oder mehr Kinder<br />

Alleinerziehende insgesamt<br />

Bevölkerungsgruppe<br />

Total<br />

2 30.4 28.8 22.8 19 26.1 19.2 17.3 14.2 13.6 15.9<br />

3 52.2 48.6 40.4 36.6 44.9 27.5 21.7 22.4<br />

4 57.8 48.3 41.2 40.5 48.6 30.8 22.6 23.4<br />

5 61.4 53.7 46.1 46.7 54.2 28.5 22.2 22.8<br />

3 - 5 57.1 49.7 41.7 39.9 48.6 29.1 22.2 23<br />

6 45.9 38.1 35.9 32.7 36.3 (30.8) 26.9 27.8<br />

6 56.9 47.2 42.4 32.6 43.3 (30.4) 20.9 22.7<br />

6 51.3 43.8 39.1 32.7 39.6 (30.7) 24.2 25.6<br />

Haus<br />

-halttyp<br />

Frauen Männer<br />

Erwerbssituation<br />

0%<br />

1-<br />

49%<br />

50-<br />

89%<br />

90-<br />

100<br />

Total 0%<br />

1-<br />

49%<br />

50-<br />

89%<br />

90-<br />

100%<br />

Alleinlebende 1 20.8 24.1 19.5 16.3 19.6 17 20.6 15.9 14.3 15.3<br />

2-Personen-<br />

Paarhaushalte<br />

Paarhaushalte<br />

mit einem Kind<br />

Paarhaushalte mit<br />

2 Kindern<br />

Paarhaushalte mit 3<br />

oder mehr Kindern<br />

Paarhaushalte mit Kindern<br />

insgesamt<br />

Alleinerziehende<br />

mit einem Kind<br />

Alleinerziehende mit<br />

2 oder mehr Kinder<br />

Alleinerziehende insgesamt<br />

Total<br />

2 29.1 28.2 23.5 20.1 25.8 18.7 17.9 15.1 14.3 16.2<br />

3 55.1 46.8 40.8 35.8 44.9 30.6 24.4 25.2<br />

4 60.1 49.3 43.5 39.8 49.7 29.5 25.2 25.7<br />

5 62.6 50.7 47.9 45.3 53.8 28.9 24.4 24.8<br />

3 - 5 59.4 48.9 43.2 39.1 49 29.8 24.8 25.3<br />

6 40.9 38.8 35 30.4 34.3 (30.5) 24.4 25.2<br />

6 54.2 45.6 39.2 36.9 41.9 ( ) (25.4) 25.4<br />

6 48.5 42.8 37.2 32.5 38 (27.6) 24.7 25.3<br />

154


Äquivalenzlöhne gemäss LSE<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Da die unbezahlte Hausarbeit keinen Marktwert hat, wird entweder auf einen Generalistenlohnansatz<br />

(Lohn einer hauswirtschaftlichen Angestellten) oder auf verschiedene Spezialistenlohnansätze<br />

(Kleinkindererzieher, Köche, Pflegepersonal) abgestellt. Als Richtschnur dienen dabei die Lohnansätze<br />

der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE).<br />

Wird keine Ersatzkraft angestellt bzw. kein Lohn für eine solche bezahlt, wird vom Durchschnittslohn<br />

einer für die bestimmte Tätigkeit möglichst gleichwertigen Ersatzkraft ausgegangen. Dabei bemisst<br />

sich der Durchschnittslohn grundsätzlich nach dem entsprechenden Stundenansatz, der für eine qualifizierte<br />

Ersatzkraft in der Wohnregion bezahlt werden muss.<br />

Äquivalenzlöhne gemäss Lohnstrukturerhebung (LSE), 2006<br />

Stundenlohn in CHF<br />

netto brutto Arbeitskosten<br />

Spezialistenlohnansatz (Median) (Median) (Mittelwert)<br />

Mahlzeiten zubereiten 20.70 23.50 33.30<br />

Abwaschen, Geschirr räumen, Tisch decken 20.00 22.60 32.60<br />

Einkaufen 22.50 26.00 36.40<br />

Putzen, aufräumen, betten usw. 21.00 23.80 34.00<br />

Waschen, bügeln 17.90 20.40 30.70<br />

Reparieren, renovieren, schneidern, stricken 26.20 30.50 44.50<br />

Haustierversorgung, Pflanzenpflege, Gartenarbeiten 21.10 24.00 33.80<br />

Administrative Arbeiten 30.50 35.00 52.60<br />

Kinder Essen geben, waschen, ins Bett bringen 29.40 33.90 49.90<br />

Mit Kindern spielen, Hausaufgaben machen, begleiten 35.10 40.50 58.40<br />

Betreuung pflegebedürftiger Haushaltsmitglieder 29.80 34.40 50.60<br />

Generalistenlohnansatz<br />

Durchschnittslohn aller Beschäftigten 28.40 32.80 51.50<br />

Gastgewerbliche und hauswirtschaftliche Tätigkeiten 20.00 22.60 32.60<br />

155


PERSONENSCHADEN <strong>II</strong><br />

BGE 102 <strong>II</strong> 90<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

16. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. April 1976 i.S. Basler Versicherungs-<br />

Gesellschaft gegen Fritz Scheidegger und Mitbeteiligte.<br />

Regeste<br />

Art. 45 Abs. 3 <strong>OR</strong>. Versorgerschaden infolge Todes der Ehefrau und Mutter.<br />

Hat der Ehemann nach dem Tod der Ehefrau schon aus eigenen Bedürfnissen Anspruch auf vollen<br />

Ersatz des durch die Anstellung einer Haushälterin bedingten Mehraufwandes, so können die Ersatzansprüche<br />

der Kinder nicht getrennt erhoben werden (Erw. 2).<br />

Berechnung des Mehraufwandes (Erw. 3a). Abzug wegen Aussicht auf Wiederverheiratung (Erw. 3b).<br />

Gekürzter Tatbestand<br />

A.- Die Eheleute Fritz und Hedwig Scheidegger-Bader spazierten am Abend des 28. Mai 1973 auf der<br />

Gemeindestrasse von Gerau nach Wigoltingen und wurden vom Motorrad des Werner Hauser angefahren.<br />

Hedwig Scheidegger erlitt tödliche, Fritz Scheidegger leichtere Verletzungen.<br />

B.- Mit Klage gegen die Basler-Haftpflichtversicherungs-Gesellschaft, die Haftpflichtversicherung<br />

Hausers, forderten Fritz Scheidegger (Kläger 1) als Genugtuung und Versorgerschaden wegen des<br />

Verlustes der Ehefrau Fr. 20'000.-- bzw. Fr. 161'348.--, als Genugtuung für Körperverletzung Fr.<br />

3'000.--, die zwei verheirateten Kinder (Kläger 2 und 3) je Fr. 7'000.-- und die drei ledigen Kinder (Kläger<br />

4 bis 6) je Fr. 8'000.-- als Genugtuung, zuzüglich Zins.<br />

Das Obergericht des Kantons Thurgau sprach dem Kläger 1 nach Verrechnung mit Anzahlungen der<br />

Beklagten von Fr. 60'896.-- noch Fr. 56'104.--, den Klägern 2 und 3 je Fr. 5'000.-- und den Klägern 4<br />

bis 6 je Fr. 8'000.-- nebst Zins zu.<br />

C.- Das Bundesgericht hiess die Berufung der Beklagten teilweise gut, sprach dem Kläger 1 nach Verrechnung<br />

mit den erhaltenen Anzahlungen noch Fr. 22'246.--, den Klägern 2 und 3 je Fr. 5'000.--, den<br />

Klägern 4 bis 6 je Fr. 8'000.-- nebst Zins zu und wies die Anschlussberufung der Kläger ab.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

2. Die Beklagte ist der Ansicht, der Kläger 1 habe auf ihre Kosten nicht ohne weiteres Anspruch auf<br />

Anstellung einer Haushälterin, jedenfalls nicht auf Lebenszeit, sondern höchstens bis zur Volljährigkeit<br />

des jüngsten Kindes im Jahre 1981. Sie wirft dem Obergericht zunächst insofern Verletzung von<br />

Bundesrecht vor, als es dem Kläger 1 einen dauernden Anspruch auf Ersatz von Versorgerschaden<br />

zubilligt, ohne dabei die nicht eingeklagten, aber selbständigen Ansprüche der Kinder auszuscheiden.<br />

a) Die Rechtsprechung betrachtet die Ehefrau und Mutter als Versorgerin des Ehemannes und der<br />

Kinder im Sinne des Art. 45 Abs. 3 <strong>OR</strong>, auch wenn sie nur den Haushalt führt (BGE 101 <strong>II</strong> 260 Erw. 1<br />

und dort erwähnte Entscheide). Sie verlangt, dass der Anspruch auf Ersatz des Versorgerschadens für<br />

jeden Berechtigten gesondert berechnet und zugesprochen werde (BGE 66 <strong>II</strong> 175; STAUF-<br />

FER/SCHÄTZLE, Barwerttafeln, 3. Aufl., S. 62 ff.). Diese Anforderung beruht auf der Überlegung, dass<br />

die Ansprüche nach Art und Dauer der Versorgung verschieden sind. Das heisst indessen nicht, dass<br />

zeitlich begrenzte Ansprüche der Kinder, wenn sie praktisch im Anspruch des Ehemannes aufgehen<br />

und schon durch die diesem zustehende Ersatzleistung gedeckt werden, nur wegen theoretischer<br />

Selbständigkeit ausgeschieden und abgetrennt werden müssen. Das führte entweder zu mehrfacher<br />

Befriedigung zusammenfallender Ansprüche oder zur Kürzung des Anspruches des Ehemannes. Bei-<br />

156


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

des wäre ungerechtfertigt. Starre Regeln für die Verteilung des Unterstützungsbeitrages der Ehefrau<br />

(Überschuss des Wertes ihrer Leistungen über denjenigen des Empfangenen) auf den Ehemann und<br />

die Kinder gibt es ohnehin nicht. Das Bundesgericht bestimmte auch im Entscheid BGE 101 <strong>II</strong> 257 ff.<br />

den Verteilungsschlüssel nicht schlechthin, sondern bloss für den konkreten Fall.<br />

b) Die Vorinstanz stellt fest, dass der Kläger 1 mit den jüngern Kindern ein altes Miethaus mit Garten<br />

bewohnt; dass die Versorgung des Haushaltes mehr als gelegentliche Aushilfen im Stundenlohn verlange;<br />

dass die Kosten für deren Beschäftigung im erforderlichen Umfange nicht geringer wären als<br />

für die feste Anstellung einer Haushälterin. Das Obergericht hält demnach dafür, dass der Kläger 1<br />

auch für die Zeit nach dem Ausscheiden der jüngsten Kinder Anspruch auf eine Haushälterin habe.<br />

Daraus folgt sinngemäss, dass der Kläger 1 schon vor jenem Zeitpunkt, d.h. bereits mit dem Tod der<br />

Ehefrau eine Haushälterin ungeachtet der vorläufig mit ihm in<br />

Hausgemeinschaft lebenden minderjährigen Kinder benötigte. Dieser Ansicht ist schon deshalb beizupflichten,<br />

weil im Gegensatz zu dem in BGE 101 <strong>II</strong> 257 ff. beurteilten Fall unter den jüngern Kindern<br />

des Klägers 1 keine heranwachsenden Töchter sind, die im Haushalt zunehmend die verstorbene<br />

Mutter vertreten könnten. Entgegen der Ansicht der Beklagten schloss das Bundesgericht im genannten<br />

Entscheid auch für bescheidene Verhältnisse den Anspruch auf Anstellung einer Haushälterin<br />

nicht aus, sondern legte seinen Berechnungen die gegenteilige Annahme zugrunde (vgl. a.a.O. S.<br />

261). Der massgebende Unterschied besteht darin, dass hier der Beizug einer entlöhnten Haushalthilfe<br />

nicht, wie im angeführten Entscheid (S. 262), hauptsächlich um der Kinder willen, sondern insbesondere<br />

aus eigenen Bedürfnissen des Ehemannes zu bejahen ist. Der Kläger 1 hat also nach dem<br />

Tod der Ehefrau schon allein Anspruch auf vollen Ersatz des durch die Anstellung einer Haushälterin<br />

bedingten Mehraufwandes. Freilich erfasst dieser Anspruch auch den Versorgerschaden der Kinder.<br />

Der Kläger 1 hat aber damit die Möglichkeit, für die Kinder nicht bloss seinen eigenen Unterhaltsbeitrag,<br />

sondern auch jenen der verstorbenen Ehefrau und Mutter zu leisten. Daraus folgt, dass sein<br />

Anspruch nicht um unterlassene Ersatzansprüche der Kinder zu kürzen ist und dass unter den gegebenen<br />

Umständen für die gesonderte Gutheissung von Kinderansprüchen, wären sie neben denen<br />

des Klägers erhoben worden, kein Raum bliebe.<br />

Die Vorinstanz ist der Meinung, der Kläger habe nach dem Ausscheiden der jüngsten Kinder Anspruch<br />

auf eine Haushälterin, weil man ihm nicht zumuten könne, das Haus mit Garten gegen eine<br />

Mietwohnung aufzugeben und damit auf die bisherige Lebenshaltung zu verzichten. Das schliesst die<br />

tatsächliche Feststellung ein, dass er einen solchen Wechsel nicht vornehmen müsste, wenn seine<br />

Frau noch lebte und ihm zur Seite stehen könnte. Ziel des <strong>Haftpflichtrecht</strong>es ist es gerade, den Zustand,<br />

wie er ohne den Tod des Versorgers wäre, annähernd zu erhalten und die Berechtigten nicht<br />

zu zwingen, ihre Lebensführung wesentlich zu ändern (BGE 101 <strong>II</strong> 260 Erw. 1a, BGE 28 <strong>II</strong> 16; OFTIN-<br />

GER, <strong>Haftpflichtrecht</strong> I, 4. Aufl. S. 236). Die Beurteilung des Ersatzanspruches des Klägers 1 durch das<br />

Obergericht ist somit grundsätzlich nicht zu beanstanden.<br />

3. a) Der Unfall vom 28. Mai 1973 fiel für den am 16. September 1926 geborenen Kläger 1 und seine<br />

am 16. November 1927 geborene Ehefrau in die zweite Hälfte des laufenden Lebensjahres. Für die<br />

Berechnung des Schadens ist auf ein Alter des Klägers 1 von 47 Jahren und seiner Ehefrau von 46<br />

Jahren (STAUFFER/SCHÄTZLE, a.a.O. S. 175) abzustellen.<br />

Die Beklagte bestreitet die Feststellung des Obergerichtes nicht, dass der Kläger 1 im Monat rund Fr.<br />

2'400.-- brutto verdient. Sie anerkennt auch, dass er für seine Ehefrau monatlich Fr. 700.-- bis Fr.<br />

800.-- aufgewendet hat. Hingegen beanstandet sie, dass die Vorinstanz den Aufwand für Barlohn und<br />

Nebenkosten der Haushälterin mit Fr. 1'700.-- bis Fr. 1'800.-- ansetzt und den Ersatzanspruch des<br />

Klägers auf monatlich Fr. 1'000.-- bemisst. Sie behauptet, im vorinstanzlichen Verfahren habe keine<br />

Partei von einem solchen Aufwand gesprochen.<br />

Das Obergericht spricht von "Mehraufwand", was auf Versehen beruht und zu berichtigen ist. Gemeint<br />

ist nämlich der monatliche Gesamtaufwand von Fr. 1'700.-- bis Fr. 1'800.-- für die Haushälterin.<br />

Dieser Betrag ist, soweit er eine Schätzung darstellt, überprüfbar (BGE 101 <strong>II</strong> 261). Indessen erklärt<br />

das Obergericht, "der Barlohn einer Haushälterin von Fr. 1'100.-- plus Nebenleistungen" sei im wesentlichen<br />

unbestritten. Die Beklagte behauptet nicht, diese Feststellung sei unter Verletzung bundesrechtlicher<br />

Beweisvorschriften zustande gekommen oder beruhe auf einem offensichtlichen Ver-<br />

157


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

sehen. Sie verweist hingegen in ihren Berechnungen auf die Darstellung der Kläger, welche den Barlohn<br />

mit Fr. 1'100.-- (wie tatsächlich bezahlt) und Nebenkosten mit Fr. 100.-- im Monat angeben.<br />

Werden die zum Gesamtaufwand gehörenden Kosten für Wohnung und Verpflegung einbezogen, so<br />

erscheint ein Betrag von Fr. 1'700.-- bis Fr. 1'800.-- nicht als übersetzt.<br />

Das Bundesgericht stellt sich im Entscheid 82 <strong>II</strong> 39 ff. auf den Standpunkt, dass jedenfalls in bürgerlichen<br />

Verhältnissen ("milieux bourgeois") beim Tod der Ehefrau, deren Tätigkeit auf die Führung des<br />

Haushaltes beschränkt war, für den Ehemann sich Nutzen und Aufwendungen im allgemeinen gegenseitig<br />

aufheben, dass also ein Versorgungsanspruch nicht bestehe. Diese Regel ist angesichts der<br />

heute für Dienstleistungen zu zahlenden Löhne nicht mehr massgebend, weder für bescheidene<br />

städtische oder ländliche noch für sogenannte bürgerliche Verhältnisse (vgl. STAUFFER/SCHÄTZLE,<br />

a.a.O. S. 63/64). Im Entscheid 101 <strong>II</strong> 262 Erw. 1c erklärte zwar das Bundesgericht, dass der Ehemann<br />

nach dem 18. Altersjahr des jüngsten Kindes keinen Versorgungsanspruch haben werde, weil die<br />

eventuellen Kosten für die Teilzeitbeschäftigung einer Haushalthilfe durch die Aufwendungen, welche<br />

er für die Ehefrau gehabt hätte, ausgeglichen würden. Damit erklärte es den Grundsatz im Entscheid<br />

82 <strong>II</strong> 39 nicht als allgemein gültig, sondern bestätigte ihn bloss für den zu beurteilenden Fall.<br />

Freilich ist denkbar, dass der Kläger 1 nach dem Ausscheiden der jüngsten Kinder aus der Hausgemeinschaft<br />

die Aufwendungen für seine Ehefrau erhöht haben würde. Das führte zu einer entsprechenden<br />

Verminderung des Mehraufwandes für die Haushälterin. Der Versorgerschaden müsste<br />

daher je für die Zeit vor und nach dem Ausscheiden der jüngsten Kinder gesondert berechnet werden.<br />

Das Obergericht rechnet indessen mit einem durchschnittlichen Mehraufwand, indem es für die fernere<br />

Zukunft eine gewisse Senkung des Lebensstandards des Klägers 1 berücksichtigen und einen<br />

"billigen Ausgleich" zwischen den höheren Aufwendungen in den Jahren seit dem Unfall bis zum Ausscheiden<br />

aller Kinder aus der Hausgemeinschaft und der späteren finanziellen Entlastung des Klägers<br />

1 schaffen will. Diese Berechnungsweise ist mindestens im vorliegenden Fall zulässig. Die Vorinstanz<br />

überschreitet aber augenfällig ihr Ermessen, wenn sie als mittlere Grösse einen Versorgerschaden<br />

von Fr. 1'000.-- im Monat annimmt. Das Bezirksgericht, auf dessen Urteil sie in diesem Punkte verweist,<br />

rechnet nicht mit Fr. 1'000.-- im Monat, sondern mit Fr. 10'000.-- im Jahr. Es liegt somit ein<br />

Versehen vor, das zu berichtigen ist. Der Betrag von Fr. 10'000.-- stimmt annähernd mit dem ursprünglichen<br />

Unterschied im Aufwand für die Ehefrau einerseits und die Haushälterin anderseits<br />

überein und liegt somit schon für die erste achtjährige Zeitspanne, d.h. vom Unfall bis zur Volljährigkeit<br />

des jüngsten Kindes im Jahre 1981, an der obersten Grenze. Er darf für die zweite auf 22 bis 23<br />

Jahre zu bemessende Periode (STAUFFER/SCHÄTZLE, a.a.O. Tafel 61) füglich um die Hälfte auf Fr.<br />

5'000.-- herabgesetzt werden. Danach ist der durchschnittliche Mehraufwand jährlich mit Fr. 6'000.--<br />

zu bemessen, was kapitalisiert (STAUFFER/SCHÄTZLE, a.a.O. Tafel 27 - Alter 46/47, Faktor 15, 51) Fr.<br />

93'060.-- ergibt.<br />

b) Streitig ist auch der Abzug für die Aussicht auf Wiederverheiratung des Klägers 1. Diese beträgt<br />

nach der Statistik bei STAUFFER/SCHÄTZLE (a.a.O., Tafel 60) für einen 47jährigen Mann 47%. Die Vorinstanz<br />

legt indessen den Abzug für den Kläger 1 bloss auf 38% fest, indem sie nach der eigenen<br />

Empfehlung der genannten Autoren (a.a.O. S. 65) die statistischen Zahlen mit Zurückhaltung anwendet.<br />

Die Beklagte ist in diesem Punkte mit dem Obergericht einverstanden. Der Kläger 1 verlangt dagegen,<br />

dass der Abzug höchstens 19 bis 20% betrage. Er verweist zur Begründung auf den Entscheid 101 <strong>II</strong><br />

264, wo das Bundesgericht für einen 33jährigen Mann die vom kantonalen Richter vorgenommene<br />

Ermässigung der statistischen Quote von 68% auf 30% schützte.<br />

Das Obergericht bezeichnet den Satz von 38% als "ausgewogene Lösung zwischen der früheren allzu<br />

engen Gerichtspraxis und den statistischen Werten". Die frühere Gerichtspraxis entbehrte der statistischen<br />

Unterlagen. Da solche jüngern Datums bestehen und als zuverlässig gelten, müssen sie gebührend<br />

berücksichtigt werden. Sie sind freilich mit gewisser Vorsicht und entsprechend den Besonderheiten<br />

des Einzelfalles zu benützen, was blosse Zahlenvergleiche verbietet. Aus BGE 101 <strong>II</strong> 257 ff.<br />

kann darum nicht einfach abgeleitet werden, der Abzug für den Kläger 1 dürfe nicht mehr als 20%<br />

betragen, bloss weil in jenem Urteil für einen um 14 Jahre jüngern Mann ein Quote von 30% als richtig<br />

befunden wurde. Die Auswirkungen des Altersunterschiedes sind als einigermassen ausgeglichen<br />

158


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

anzusehen, zieht man in Betracht, dass in genanntem Präjudiz die angegriffene Gesundheit des Mannes,<br />

dessen Fürsorge für drei Kinder im Alter zwischen drei und acht Jahren sowie die auf 15 Jahre<br />

begrenzte Ersatzleistung für Versorgerschaden die Aussicht einer Wiederverheiratung beeinträchtigen<br />

konnten. Im vorliegenden Fall besteht eine solche Beschränkung der Ersatzpflicht nicht und sind<br />

die familiären Lasten geringer (das letzte der in den Jahren 1953, 1956 und 1961 geborenen jüngern<br />

Kinder wird im Jahre 1981 volljährig sein), so dass nach den persönlichen Verhältnissen des Klägers 1<br />

mit der Wiederverheiratung eher zu rechnen ist und diese durch den vom Obergericht den Männern<br />

gleichen Alters zugeschriebenen Wunsch nach einem eigenen Hausstand noch gefördert werden<br />

mag. Der streitige Abzug für den Kläger 1 ist daher ebenfalls auf 30% oder Fr. 27'918.-- festzusetzen.<br />

BGE 113 <strong>II</strong> 323 E. 3<br />

60. Urteil der I. Zivilabteilung vom 2. Juni 1987 i.S. Frau X. und ihre drei Kinder gegen Versicherungsgesellschaft<br />

Z. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Zusammenstoss von zwei Lastwagen, Tod eines Lenkers, Haftung.<br />

1. Art. 59 Abs. 2 SVG und Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong>. Verteilung des Schadens auf die Haftpflichtigen: Bedeutung<br />

des beidseitigen Verschuldens (E. 1) und der Betriebsgefahren, wenn es um solidarische Haftung<br />

geht und eine der beiden Halterfirmen sich auf das Privileg des Art. 129 Abs. 2 KUVG berufen kann (E.<br />

2).<br />

2. Art. 45 Abs. 3 <strong>OR</strong>. Versorgerschaden der Witwe: Massgebliches Einkommen, Bedeutung und Berechnung<br />

der Teuerung (E. 3a); Ermittlung der Witwenquote (E. 3b); Abzug wegen Aussichten auf<br />

eine Wiederverheiratung (E. 3c); Berechnung des Schadens durch Kapitalisierung, anzurechnende<br />

Renten (E. 4).<br />

Erwägung 3<br />

3. Ein Versorgerschaden wird nur von der Witwe geltend gemacht, und zwar erst mit Wirkung ab 1.<br />

August 1988, wenn die Waisenrenten wegfallen werden. Anerkannt ist sodann, dass das Mitverschulden<br />

des Verunfallten wegen des Quotenvorrechts der Witwe keinen Einfluss auf die Berechnung<br />

dieses Schadens hat.<br />

a) Die Vorinstanz geht gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts vom Einkommen des X.<br />

zur Zeit des Todes (9. Dezember 1980) aus, das sich auf Fr. 41'753.-- belief. Erhöhend berücksichtigt<br />

sie sodann die Aussichten des X. auf den 13. Monatslohn und eine gewisse Reallohnsteigerung, hält<br />

ergänzend aber auch fest, dass sich in der Branche seit 1980 eine Stagnation bemerkbar mache und<br />

der Verunfallte keine Aussicht auf eine Beförderung gehabt habe. Die Teuerung wird von ihr unter<br />

Hinweis auf den Kapitalisierungszins von 3 1/2% nicht zusätzlich berücksichtigt. Die Vorinstanz ermittelt<br />

so ein massgebliches Jahreseinkommen von Fr. 50'000.--, das an sich unbestritten ist; es kann<br />

deshalb offenbleiben, wieweit es sich dabei um tatsächliche Feststellungen handelt. Die Kläger anerkennen<br />

sodann, dass die Schadensermittlung der Vorinstanz sich auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung<br />

stützt; sie kritisieren aber diese Rechtsprechung und verlangen, dass die Teuerung bis zum<br />

Urteilsdatum (19. November 1985) konkret mit 25% zu berechnen und die künftige zu schätzen sei.<br />

Was die künftige Teuerung angeht, bestreitet die Erstklägerin, dass der günstige Zinssatz von 3 1/2%<br />

den Ausgleich garantiere. Sie begnügt sich aber mit dem Vorschlag, dass von einem massgeblichen<br />

Basiseinkommen von Fr. 62'400.-- auszugehen sei, das nur die bisherige Teuerung berücksichtige;<br />

nach ihrer Ansicht würde eine Ersatzleistung in Form einer indexierten Rente der Problematik besser<br />

gerecht. Darauf einzugehen, erübrigt sich indes schon deshalb, weil die Erstklägerin nicht eine Rente,<br />

sondern eine Kapitalabfindung verlangt, bei der die künftige Teuerung nach ständiger Rechtsprechung<br />

nicht berücksichtigt wird (BGE 101 <strong>II</strong> 352 E. 3c, BGE 99 <strong>II</strong> 211 E. 6, BGE 96 <strong>II</strong> 446 E. 6 mit weitern<br />

Hinweisen). Auf diese Rechtsprechung zurückzukommen, besteht umso weniger Anlass, als auch<br />

159


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

die Lehre, soweit sie sich dazu überhaupt äussert, keine überzeugendere Alternative aufzuzeigen<br />

weiss (OFTINGER, I S. 212 ff. und 224/25).<br />

Was sodann die Teuerung betrifft, die bis zum Urteilstag der letzten kantonalen Instanz eingetreten<br />

ist, stellt das Bundesgericht seit 1958 (BGE 84 <strong>II</strong> 300 E. 7) beim Versorgerschaden - im Gegensatz zum<br />

Invaliditätsschaden - auf das Einkommen zur Zeit des Todes ab und berücksichtigt diese Teuerung<br />

gleich wie die künftige (BGE 108 <strong>II</strong> 440 E. 5a mit Hinweisen). Diese Rechtsprechung wird in der Lehre<br />

mehrheitlich gebilligt (SCHAER, Rz. 172; STAUFFER/SCHAETZLE, in SJZ 71/1975 S. 120; SZÖLLOSZY, in<br />

ZBJV 112/1976 S. 31 ff.; DESCHENAUX/TERCIER, S. 237 N. 28; BREHM, N. 94 zu Art. 45 <strong>OR</strong>; STARK,<br />

Skriptum N. 126). Andere Autoren fordern, dass die Teuerung auch beim Versorgerschaden bis zum<br />

Urteilstag konkret berechnet werde (ZEN-RUFFINEN, La perte de soutien, S. 59 ff., ZEN-RUFFINEN in<br />

Festgabe Jeanprêtre S. 148; MERZ, in ZBJV 119/1983 S. 134, MERZ in Schweiz. Privatrecht VI/1 S. 212;<br />

WEBER, N. 206 zu Art. 84 <strong>OR</strong>). Das leuchtet ein in Fällen, in denen auf Hypothesen abgestellt wird,<br />

obschon eine konkrete Berechnung möglich wäre und auch näherläge, namentlich wenn das Urteil<br />

erst Jahre nach dem Unfall erlassen wird. Das von der Kritik befürwortete Vorgehen ist aber häufig zu<br />

umständlich und führt, z.B. wenn der Arbeitgeber den Teuerungsausgleich nicht bezahlt hat, ebenfalls<br />

zu Abstrichen. Zu bedenken ist ferner, dass der gesetzliche Zins von 5% den Kapitalisierungszinsfuss<br />

übersteigt und regelmässig vom Todestag an zugesprochen wird, was meistens sogar einen vollen<br />

Ausgleich ergibt (STAUFFER/SCHAETZLE, Barwerttafeln, 3. Aufl. S. 176 ff.). Die mit BGE 84 <strong>II</strong> 300 E.<br />

7 eingeführte Vereinfachung in der Berechnung bietet eine praktische und im allgemeinen auch angemessene<br />

Lösung für einen Entscheid, der ohnehin weitgehend auf Schätzungen und Hypothesen<br />

beruht. Daran festzuhalten, rechtfertigt sich umso mehr, als gerade das <strong>Haftpflichtrecht</strong> angesichts<br />

der Häufigkeit von Schadenfällen, die übrigens grösstenteils durch Vergleich erledigt werden, auf<br />

eine einfache und praktische Berechnungsart angewiesen ist.<br />

b) Das Obergericht hat die Witwenquote auf 50% des Basiseinkommens von Fr. 50'000.-- festgesetzt.<br />

Die Erstklägerin verlangt eine Quote von 65%. Die Beklagte will dagegen nur 45% anerkennen, vor<br />

allem weil der Versorgerschaden nicht auf dem Basiseinkommen, sondern auf den gemeinsamen<br />

Ausgaben der Ehegatten zu berechnen, eine gewisse Sparquote also auszunehmen sei. Dem hielt<br />

schon das Obergericht zu Recht entgegen, dass jedenfalls nur von einer bescheidenen Sparquote die<br />

Rede sein könnte. Das gilt selbst dann, wenn berücksichtigt wird, dass der Kinderunterhalt sukzessive<br />

wegfällt, da dieser Umstand bei einem mässigen Einkommen erfahrungsgemäss eher dazu benutzt<br />

wird, die Lebenshaltung zu verbessern als vermehrt zu sparen. Es braucht deshalb auch nicht untersucht<br />

zu werden, ob eine allfällige Sparquote sich voll zulasten des Versorgeranteils auswirken müsste,<br />

was nach STARK (in ZSR 105/1986 S. 347) übrigens nur bei sehr hohen Einkommen anzunehmen<br />

ist.<br />

Das Bundesgericht hat früher in vergleichbaren Fällen Witwenquoten von 40 und 45% festgesetzt<br />

oder bestätigt (BGE 101 <strong>II</strong> 353 E. 4, BGE 99 <strong>II</strong> 210 E. 5), im Fall Blein (BGE 108 <strong>II</strong> 439 E. 4) dagegen<br />

erstmals eine Witwerquote von 65% angenommen. Demnach ist nicht massgebend, welcher Anteil<br />

der gemeinsamen Ausgaben auf den verstorbenen Ehegatten entfällt, sondern wieweit diese Ausgaben<br />

mit seinem Tod dahingefallen sind und wieviel der überlebende benötigt, um die bisherige Lebensweise<br />

beizubehalten; dabei ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass gewisse fixe Kosten unverändert<br />

weiterlaufen und dass deshalb die Kosten des überlebenden Ehegatten höher sind als sein<br />

Anteil an den gemeinsamen Ausgaben (S. 437 E. 2). Im Normalfall ist deshalb von einer hälftigen Beteiligung<br />

der beiden Ehegatten am gemeinsamen Aufwand auszugehen. Schon das ergibt einen Versorgerschaden<br />

von über 50%, weil Fixkosten zu berücksichtigen sind, die sich für den überlebenden<br />

Ehegatten nicht einfach halbieren lassen. Das gilt entgegen der Annahme des Obergerichts für die<br />

Witwe so gut wie für den Witwer und wird auch in der Lehre anerkannt (OFTINGER, I S. 238; STARK,<br />

in ZSR 105/1986 S. 344 ff.; STAUFFER/SCHAETZLE, Barwerttafeln, S. 55; BREHM, N. 51 ff. zu Art. 45<br />

<strong>OR</strong>).<br />

Wenn die Fixkosten einbezogen werden, ergibt sich auch vorliegend ein Versorgerschaden von über<br />

50%, da nichts dagegen spricht, dass die Ehegatten X. ab 1988 je hälftig vom Einkommen des Mannes<br />

gelebt hätten. Dagegen rechtfertigt sich nicht, auf die im Fall Blein ermittelte Quote abzustellen, wie<br />

die Erstklägerin dies verlangt; sie übersieht, dass der Anteil des überlebenden Ehegatten umso höher<br />

einzusetzen ist, je tiefer das massgebende Basiseinkommen ist (DESCHENAUX/TERCIER, S. 237 N. 30;<br />

160


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

STARK, Skriptum N. 116; BREHM, N. 104 zu Art. 45 <strong>OR</strong>). Dadurch unterscheidet der Fall Blein sich<br />

denn auch deutlich vom vorliegenden. Zu bedenken ist ferner, dass selbst für eine Witwe mit Kindern<br />

das Total der Versorgungsquoten zwischen 65 und 70% liegt und nicht überschritten werden sollte<br />

(SCHAER, Rz. 175; STARK, Skriptum N. 118; BREHM, N. 143 f. zu Art. 45 <strong>OR</strong>). Vorliegend erscheint<br />

eine Witwenquote zwischen 55 und 60% als angemessen, was bei 57,5% einen Versorgerschaden von<br />

Fr. 28'750.-- im Jahr ergibt.<br />

c) Umstritten ist ferner, wieweit die Aussichten auf eine Wiederverheiratung der Erstklägerin zu berücksichtigen<br />

sind. Das Obergericht macht dafür einen Abzug von 21%, den es ebenfalls vom Todestag<br />

an berechnet. Die Beklagte möchte den Abzug auf 31% erhöht wissen. Die Erstklägerin dagegen<br />

widersetzt sich jedem Abzug; jedenfalls gehe es auch in diesem Zusammenhang nicht an, auf den<br />

Todestag statt auf den Urteilstag abzustellen und als ungewiss zu behandeln, was sicher sei; die Wiederverheiratungschancen<br />

seien zudem zwischen dem 2. und 5. Jahr nach dem Tod des Gatten am<br />

höchsten. Die Auffassung des Obergerichts über den Berechnungstag entspricht indes der bundesgerichtlichen<br />

Rechtsprechung (BGE 108 <strong>II</strong> 44 E. 3c, BGE 95 <strong>II</strong> 418 E. 10), an der wie hinsichtlich der Teuerung<br />

festzuhalten ist, weil hier wie dort ähnliche Schwierigkeiten bestehen und es sich rechtfertigt,<br />

den gesamten Versorgerschaden auf den gleichen Tag zurückzurechnen.<br />

Als bundesrechtswidrig rügt die Erstklägerin sodann, dass die Vorinstanz auf Zahlen von STAUF-<br />

FER/SCHAETZLE abstellt, die längst überholt seien; die Gerichte setzten regelmässig weniger weit<br />

gehende Abzüge zwischen 0 und 30% fest; nach neueren Statistiken sei die Wiederverheiratungschance<br />

zudem stark gesunken. Die Beklagte möchte dagegen nach STAUFFER/SCHAETZLE den allgemeinen<br />

Abzug von 31% statt jenen für SUVA-Versicherte von 21% angewandt wissen. Dass die erwähnten<br />

Zahlen mit Zurückhaltung anzuwenden sind, anerkennt auch das Bundesgericht, da es sie<br />

seit Jahren erheblich zu unterschreiten pflegt (BGE 108 <strong>II</strong> 441 E. 5c, BGE 102 <strong>II</strong> 95 E. 3b, BGE 101 <strong>II</strong><br />

264 E. 3). Vorliegend ist indes zu beachten, dass der Ansatz für SUVA-Versicherte bereits um rund<br />

einen Drittel unter dem Normalwert liegt und eine weitere Kürzung nicht angebracht ist. Dass dabei<br />

Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen sind, wie z.B. die Anzahl der Kinder, hat das Obergericht<br />

nicht übersehen; es sieht darin einen heiratsfördernden Umstand. Gewiss kann diese Besonderheit<br />

die Heiratsbereitschaft einer Witwe erhöhen, was aber noch keineswegs heisst, dass sie auch<br />

ihre Heiratschancen verbessere. Wie es sich damit genau verhält, kann jedoch dahingestellt bleiben;<br />

die Beklagte ist nämlich wie die Erstklägerin der Meinung, dass mit dem Ausscheiden der Kinder aus<br />

der Unterhaltspflicht dieser Umstand ausser Betracht fällt.<br />

Die Beklagte wirft der Erstklägerin Rechtsmissbrauch vor, weil sie seit mehreren Jahren in einem<br />

eheähnlichen Verhältnis lebe und nur aus rentenpolitischen Überlegungen von einer Heirat absehe.<br />

Die Erstklägerin sieht darin eine neue unzulässige Behauptung, die übrigens schon im kantonalen<br />

Verfahren widerlegt worden sei. Dem angefochtenen Urteil ist für den Vorwurf nichts zu entnehmen<br />

und die Beklagte tut nicht dar, dass sie ihn rechtzeitig substantiiert habe (BGE 107 <strong>II</strong> 224). Dass aus<br />

dem Verhältnis angeblich ein Kind hervorgegangen ist, belegt noch kein Konkubinat. Es braucht deshalb<br />

auch nicht entschieden zu werden, ob ein solches den Versorgerschaden beeinflussen und insbesondere<br />

ausreichen würde, die Grundsätze über die Abänderung von Scheidungsrenten (BGE 109 <strong>II</strong><br />

190 ff.) sinngemäss anzuwenden. Die Zunahme eheähnlicher Gemeinschaften spricht zwar für einen<br />

Rückgang der Wiederverheiratungsquote; deswegen ein Konkubinat versorgungsrechtlich im vornherein<br />

einer Wiederverheiratung gleichsetzen zu wollen, geht indes nicht an.<br />

Bei diesem Ergebnis ist der Abzug von 21% nicht zu beanstanden, zumal die Beziehungen der Erstklägerin<br />

zu einem Mann auf durchaus normale Heiratschancen schliessen lassen.<br />

161


5C.7/2001<br />

20. Juli 2001<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Es wirken mit: Bundesrichter Reeb, Präsident der <strong>II</strong>. Zivilabteilung,<br />

Bundesrichter Raselli, Bundesrichter Merkli und<br />

Gerichtsschreiber Schneeberger.<br />

In Sachen<br />

A.________, gesetzlich vertreten durch B.________, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Max Sidler,<br />

Untermüli 6, Postfach, 6302 Zug,<br />

gegen<br />

Schweizerische Bundesbahnen (SBB AG), Hochschulstrasse 6,3000 Bern 65, handelnd durch deren<br />

Schadenzentrum, Inseli-quai 10, 6002 Luzern, Beklagte und Berufungsbeklagte,<br />

betreffend<br />

Eisenbahnhaftpflicht, hat sich ergeben:<br />

A.- Die 1953 geborene C.________ wurde am 22. Januar 1993 in ihrem Auto auf einem unbewachten<br />

Bahnübergang im Gebiet N.________ zwischen den Ortschaften X.________ und Y.________ von<br />

einem Zug der Seetalbahn erfasst und rund 15 Meter mitgeschleift. Dabei erlitt sie eine Unterschenkelamputation<br />

links, eine Tibiakopffraktur links, Rissquetschwunden am rechten Unterschenkel und<br />

eine beidseitige Trochlearisparese.<br />

Nach der Entlassung aus dem Kantonsspital Luzern am 6. März 1993 wurde C.________ vom Hausarzt<br />

betreut.<br />

Am 15. April 1993 nahm sie sich das Leben.<br />

B.- Der 1984 geborene Sohn der Verstorbenen, A.________, reichte (gesetzlich vertreten durch den<br />

Vater B.________) am 14. Februar 1996 Klage ein, mit der er um Zuspruch eines Betrages nach richterlichem<br />

Ermessen zuzüglich Verzugszins von 15 % seit dem 15. April 1993 ersuchte und den Streitwert<br />

mit maximal Fr. 175'000.-- bezifferte. Die ins Recht gefassten Schweizerischen Bundesbahnen<br />

beantragten die Abweisung der Klage. Das angerufene Bezirksgericht Aarau führte einen Augenschein<br />

an der Unfallstelle durch, vernahm Zeugen, holte ein psychiatrisches Gutachten ein und wies<br />

die Klage mit Urteil vom 16. April 1997 ab, weil es den Suizid als Selbstverschulden wertete.<br />

Auf Appellation des Klägers hob das Obergericht des Kantons Aargau den erstinstanzlichen Entscheid<br />

mit Urteil vom 28. Mai 1998 auf und wies die Sache an die erste Instanz zurück mit der Begründung,<br />

die Ursache des Suizids liege in einer reaktiven Depression, sei somit unfallbedingt und auf die Betriebsgefahr<br />

der Beklagten zurückzuführen.<br />

C.- Das erneut mit der Sache befasste Bezirksgericht errechnete den Versorgerschaden des Klägers<br />

und halbierte den Schaden und die Genugtuung mit der Begründung, die Verstorbene trage am Unfall<br />

ein erhebliches und überwiegendes Selbstverschulden. In der Folge hiess es die Klage mit Urteil<br />

vom 10. November 1999 teilweise gut und verpflichtete die Beklagte, dem Kläger Fr. 40'336. 30 als<br />

Schadenersatz und Fr. 10'000.-- als Genugtuung je nebst 5 % Zins seit dem 15. April 1993 zu bezahlen.<br />

Auf Appellation des Klägers und auf Anschlussappellation der Beklagten, die sich nur gegen den Zuspruch<br />

einer Genugtuung richtete, errechnete das Obergericht des Kantons Aargau einen (ungekürzten)<br />

Versorgerschaden des Klägers in der Höhe von Fr. 35'022.--. Mit Urteil vom 23. Oktober 2000<br />

verpflichtete es die Beklagte mit Rücksicht auf das Verbot der reformatio in peius, dem Kläger Scha-<br />

162


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

denersatz in der Höhe von Fr. 40'336. 30 nebst 5 % Zins seit dem 15. April 1993 zu zahlen; eine Genugtuung<br />

sprach es dem Kläger nicht zu.<br />

D.- Der Kläger beantragt dem Bundesgericht mit Berufung, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben<br />

und die Beklagte sei zu verpflichten, ihm einen (zusätzlichen) Schadenersatzbetrag von Fr.<br />

78'424.-- und eine Genugtuung in der Höhe von Fr. 30'000.-- je nebst 5 % Zins seit dem 15. April 1993<br />

zu leisten.<br />

Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung, soweit auf diese einzutreten sei. Das Obergericht<br />

hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.<br />

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:<br />

[…]<br />

6.- Im Schadenersatzrecht gilt das Bereicherungs- bzw. Überentschädigungsverbot, nach dem der<br />

Geschädigte vom gesamten Schadensausgleichssystem nicht mehr als den eingetretenen Schaden<br />

ersetzt bekommen darf (BGE 71 <strong>II</strong> 86 E. 4 S. 89; Brehm, N 25 zu Art. 43 <strong>OR</strong>; P. Beck, in: Handbücher<br />

für die Anwaltspraxis, Bd. V: Schaden - Haftung - Versicherung [Herausg.<br />

Geiser/Münch], S. 269 f. Rz 6.81 bis 6.83; Oftinger/Stark, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 1. Bd.:<br />

Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1995, S. 97 f.). Haften dem Geschädigten (Kläger) für den Schaden ein konkreter<br />

Haftpflichtiger (die Beklagte) und ein neutraler Ersatzpflichtiger (z.B. Sozialversicherer), so<br />

greift das Überentschädigungsverbot erst, wenn beide Ersatzpflichtigen zusammen mehr als den<br />

Schaden decken (BGE 124 <strong>II</strong>I 222 E. 3 S. 225). Darunter kann die Grenze wohl nur liegen, wenn der<br />

dem Geschädigten direkt zahlungspflichtige Sozialversicherer einen Abzug wegen Selbstverschuldens<br />

des Geschädigten machen darf (Beck, a.a.O.<br />

S. 278 f., 299 f., 301 ff. Rz 6.95 ff., 6.98, 6.138, 6.141, 6.143, 6.146 ff. und 6.149; Brehm, N 135 ff. zu<br />

Art. 51 <strong>OR</strong>).<br />

Zu diesem Problemkreis braucht sich das Bundesgericht im vorliegenden Fall aus zwei Gründen nicht<br />

weiter zu äussern:<br />

Zum einen kann das Obergericht nur zum Schluss gelangen, der Schaden des Klägers sei mit Sozialleistungen<br />

im Wert von jährlich Fr. 3'276.-- (Unfallversicherungsrente) und Fr. 5'880.-- (AHV-<br />

Waisenrente) gedeckt, weil es den Versorgerschaden mit jährlich Fr. 3'857.-- beziffert, was kapitalisiert<br />

Fr. 35'022.-- ausmacht. Zum anderen verlangt der Kläger vor Bundesgericht, die Beklagte habe<br />

ihm insgesamt Fr. 118'766. 40 zu bezahlen (E. 1 Abs. 1 hiervor); eine Summe, die auf einen korrespondierenden<br />

Jahreswert von Fr. 13'080.-- zurückgelegt, deutlich über dem Total der beiden genannten<br />

Renten liegt. Somit vermag das Überentschädigungsverbot den Streit über die Höhe des Versorgerschadens<br />

nicht zu einem solchen über blosse Motive des angefochtenen Entscheids zu machen.<br />

Auf die Berufung ist einzutreten, weil die Höhe des Versorgerschadens das Ergebnis des Verfahrens<br />

beeinflussen kann (BGE 103 <strong>II</strong> 155 E. 3 S. 159 f.; vgl. 122 <strong>II</strong>I 279 E. 3a S. 282; 114 <strong>II</strong> 189 E. 2; 101 <strong>II</strong> 177<br />

E. 4c S. 190).<br />

7.- Für die Berechnung des Versorgerschadens des Klägers hat das Obergericht den Haushalt des<br />

Klägers und seiner Eltern im Rahmen der Schwierigkeitskategorien eins bis elf einer Studie in der<br />

Kategorie acht eingeteilt (Schaetzle/ Pfiffner (Hirnverletzung und Haushaltschaden - ausgewählte<br />

rechtliche Probleme, in: Die Ermittlung des Haushaltschadens nach Hirnverletzung [Herausg. Ileri], S.<br />

120 f.). Es ist dementsprechend von einem monatlichen Wert der Haushaltsarbeit der Verunfallten<br />

von Fr. 3'867.-- bzw. Fr. 46'404.-- im Jahr ausgegangen mit der Begründung, es handle sich um einen<br />

Einfamilienhaushalt mit ein bis zwei Kindern. Das Obergericht hat weiter die (letzten) Jahreseinkommen<br />

der Eltern des Klägers ermittelt. Weil das Bundesgericht an tatsächliche Feststellungen zu Bestand<br />

und Umfang des Schadens gebunden ist (Art. 63 Abs. 2 OG), sind diese Beträge der Schadensberechnung<br />

zu Grunde zu legen. Das Bundesgericht kann als Rechtsfrage frei prüfen, ob das Sachgericht<br />

den Rechtsbegriff des Schadens oder Rechtsgrundsätze der Schadensberechnung verkannt hat<br />

(BGE 123 <strong>II</strong>I 241 E. a S. 243; 122 <strong>II</strong>I 61 E. 2c/bb S. 65, 219 E. 3b S. 222). Da diese Grundsätze auch im<br />

163


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Bereich des Versorgerschadens gelten (Praxis 85/1996 Nr. 206 S. 790 E. 4a S. 793), ist auf die Berufung<br />

insoweit einzutreten, als sie sich gegen die Berechnung des Versorgerschadens richtet.<br />

8.- Das Obergericht hat das Jahreseinkommen des Vaters des Klägers (Fr. 100'015.--) und dasjenige<br />

der Verunfallten (Fr. 21'194.--) sowie den Jahreswert der Haushaltsarbeit (Fr. 46'404.--) zusammengerechnet.<br />

Den so ermittelten Totalbetrag von Fr. 167'613.-- hat es entsprechend Stauffer/ Schaetzle<br />

(Tables de capitalisation, 4. Aufl. 1990, Rz 806a und 809a S. 263, Variante C: Witwer 52 % und ein<br />

Kind 17 %; vgl. Praxis 85/1996 Nr. 206 S. 790 E. 4b/bb S. 795) auf 69 % reduziert. Vom entsprechenden<br />

Betrag von Fr. 115'653.-- hat es das inskünftig noch immer erzielbare Jahreseinkommen des Vaters<br />

des Klägers (Fr. 100'000.--) abgezogen und festgestellt, dass der Versorgerschaden des Klägers<br />

und seines Vaters gemeinsam Fr. 15'653.-- pro Jahr ausmacht. Davon entfielen auf den Kläger allein<br />

Fr. 3'857.-- (= 17/69 von Fr. 15'653.--), was kapitalisiert Fr. 35'022.-- ergebe (Stauffer/Schaetzle,<br />

a.a.O. Tafel 24: Temporäre Aktivitätsrente - Frauen, S. 3: Alter 40, Dauer 11 Jahre, Faktor 9,08).<br />

Auch der Kläger geht von einem jährlichen Wert der Haushaltsarbeit von Fr. 46'404.-- aus. Weil gemäss<br />

Expertenzeugin 40 % der Haushaltsarbeit für das Kind geleistet werden, entfallen davon nach<br />

Ansicht des Klägers jährlich Fr. 18'561.-- (= 40 % von Fr. 46'404.--) auf ihn. In die Berechnung des Versorgerschadens<br />

setzt er diese Position von den Einkommen seiner Eltern gesondert ein. Denn der<br />

Kläger zählt zunächst nur deren Erwerbseinkommen zusammen und reduziert diese Summe von Fr.<br />

121'209.-- auf 69 %. Vom so ermittelten Betrag von Fr. 83'634.--, den er als Versorgerschaden bei<br />

einer Versorgungsquote von 69 % bezeichnet, zieht er bloss 69 % des Einkommens des Vaters des<br />

Klägers, mithin den Betrag von Fr. 69'010.-- ab. Die daraus resultierende Differenz (Fr. 83'634.-- abzüglich<br />

Fr. 69'010.--) von Fr. 14'624.-- bezeichnet er als den ungedeckten Versorgerschaden der Restfamilie,<br />

von dem ihm entsprechend der Quote von 17/69 der Betrag von Fr. 3'603.-- pro Jahr anzurechnen<br />

sei. Ungekürzt schulde ihm die Beklagte somit unter dem Titel Versorgerschaden total jährlich<br />

Fr. 22'164.-- (= Fr. 3'603.-- + Fr. 18'561.-- [= 40 % des Wertes der Haushaltsarbeit]), wovon die<br />

Sozialrenten im Gesamtbetrag von Fr. 9'156.-- abzuziehen seien. Den so ermittelten Restbetrag von<br />

Fr. 13'080.-- kapitalisiert er gleich wie das Obergericht. Von der errechneten Summe von Fr. 118'766.<br />

40 zieht er die erstinstanzlich zugesprochenen Fr. 40'336. 30 ab und verlangt im Ergebnis um Zuspruch<br />

von weiteren Fr. 78'424.-- (E. 1 Abs. 1 hiervor).<br />

a) Zwar kann es erforderlich sein, weitere als die vorerwähnten Einkommens- und Ausgabenpositionen<br />

in die Berechnung des Versorgerschadens einzubeziehen oder Zu- oder Abschläge anzubringen<br />

(vgl. z.B. Praxis 85/1996 Nr. 206 S. 790 E. 4b/bb Abs. 2 S. 795, BGE 113 <strong>II</strong> 323 E. 3b und c, 113 <strong>II</strong> 345 E.<br />

1b/aa; allgemein Brehm, N 50, 55 ff. und 104 zu Art. 45 <strong>OR</strong> und Keller, a.a.O. S. 86 und 96 ff.). Je-<br />

doch macht der Kläger solche nicht gesetzeskonform geltend (Art. 55 Abs. 1 lit. c und d sowie Art. 64<br />

OG) mit der Folge, dass allein von den beiden Einkommen und dem Wert der Haushaltsarbeit ausgegangen<br />

werden darf.<br />

b) Der Versorgerschaden ist eine besondere Art von Reflexschaden, bzw. indirektem Schaden, der im<br />

Wegfall der Unterhaltsleistung des verstorbenen Versorgers unter Berücksichtigung der für ihn nicht<br />

mehr erforderlichen Aufwendungen besteht. Dabei spielt keine Rolle, ob es sich um der Versorgungsgemeinschaft<br />

zugewendetes Erwerbseinkommen oder um den Wert handelt, den der ausgefallene<br />

Versorger mit seiner Arbeit im Haushalt beigetragen hat. Wie bei jeder Schadenersatzberechnung<br />

ist die wirtschaftliche Situation der Versorgungsgemeinschaft vor dem Ausfall des Versorgers<br />

mit der ökonomischen Lage nach dessen Ausfall zu vergleichen. Der um den ausgefallenen Versorger<br />

verminderte Haushalt soll mit dem Versorgerschaden, der eine Bedürftigkeit vermeiden soll, im Wesentlichen<br />

den bisherigen Lebensstandard weiterführen können.<br />

Der Ansprecher soll nicht den ganzen Schaden ersetzt bekommen, sondern nur denjenigen, der<br />

durch den Wegfall der benötigten Versorgung entsteht (BGE 112 <strong>II</strong> 87 E. 2b; 108 <strong>II</strong> 434 E. 2; 101 <strong>II</strong> 257<br />

E. 1a; Brehm, N 27, 31, 40 ff., 51 ff., 54, 59, 157 ff. und 169 zu Art. 45 <strong>OR</strong>; A. Keller, Haftpflicht im<br />

Privatrecht, Bd. I, 3. Aufl. 1993, S. 59; derselbe, a.a.O. Bd. 2, 2. Aufl. 1998, S. 79 f., 82 f., 88 f. und 93;<br />

H. Honsell, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 3. Aufl. 2000, § 8 Rz. 89 f. S. 95).<br />

164


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Die in der Praxis verwendeten Prozent- oder Versorgungsquoten stellen beweisrechtlich im Lichte<br />

von Art. 42 Abs. 2 <strong>OR</strong> zu sehende Erfahrungsregeln dar, nach denen der Bedarf ausgerechnet wird,<br />

den die Versorgungsgemeinschaft nach dem Ausfall des Versorgers in Prozenten des ursprünglichen<br />

Bedarfs noch hat (BGE 113 <strong>II</strong> 323 E. 3b S. 333 f.; 108 <strong>II</strong> 434 E. 4 S. 439 f.; Praxis 85/1996 Nr. 206 S. 790<br />

E. 4b/bb Abs. 3 S. 795; Brehm, N 89, 97, 106 und 141 ff. zu Art. 45 <strong>OR</strong>; Keller, a.a.O. S. 90 f.). Entsprechend<br />

dem Versorgungszweck ist der Prozentsatz umso niedriger anzusetzen, je höher das Einkommen<br />

des Getöteten war (Brehm, N 104 zu Art. 45 <strong>OR</strong>; Stauffer/Schaetzle, a.a.O. Rz 783, 804 und 806a<br />

S. 258 und 262 f.). Umgekehrt ist angesichts fixer Lebenskosten der Prozentsatz des Versorgerschadens<br />

bei bescheidenen Einkommen höher anzusetzen (BGE 113 <strong>II</strong> 323 E. 3b S. 334; unveröffentlichtes<br />

Urteil der I. Zivilabteilung des Bundesgerichts vom 29. Juni 1993 i.S. Z., E. 8a [4C. 39/1991]; Keller,<br />

a.a.O. S. 87 oben). Somit kann zwar in gewissen Schranken auf die Einkommenssituation Rücksicht<br />

genommen, aber nicht vermieden werden, dass in Fällen, wo den Versorgten nach dem Ausfall des<br />

Versorgers weiterhin ein hohes Einkommen zur Verfügung steht, nur ein geringer Versorgerschaden<br />

entstehen kann.<br />

c) Die Festlegung der Versorgungsquoten beschlägt die von den Umständen des konkreten Falls abhängige<br />

Rechtsanwendung (so im Ergebnis BGE 113 <strong>II</strong> 323 E. 3b S. 334). Das Bundesgericht greift in<br />

den Ermessensentscheid des kantonalen Sachrichters bloss mit Zurückhaltung ein (unveröffentlichte<br />

Urteile der I. Zivilabteilung des Bundesgerichts vom 9. September 1998 i.S. D., E. 7a, und vom 29. Juni<br />

1993 i.S. Z., E. 8b [4C. 495/1997 und 4C.39/1991]). Da der Kläger auch mit 69 % für sich und seinen<br />

Vater, bzw. mit 17 % für sich allein rechnet, stellt er die verwendeten Versorgungsquoten nicht infrage<br />

(Art. 55 Abs. 1 lit. c OG), weshalb von diesen auszugehen ist.<br />

d) Indem der Kläger zu Beginn seiner Berechnung bloss die beiden Jahreseinkommen seiner Eltern<br />

zusammenzählt, die Quote von 69 % davon errechnet, davon das aktuelle Einkommen seines Vaters<br />

nur im Betrag von 69 % abzieht und vom Ergebnis den Bruchteil von 17/69 in Anschlag bringt, fällt<br />

der Versorgerschaden unabhängig von der Höhe des väterlichen Einkommens stets gleich hoch aus.<br />

Das gibt der Kläger selber zu, erklärt er doch, dass auch 17 % des letzten Jahreseinkommens seiner<br />

verstorbenen Mutter dem Betrag von Fr. 3'603.-- entsprechen (= 17 % von Fr. 21'194.--). Der Kläger<br />

verkennt, dass das väterliche Einkommen auch nach dem Tod seiner Mutter noch uneingeschränkt<br />

zur Verfügung steht und somit vom Bedarf der Restfamilie abzuziehen ist (108 <strong>II</strong> 434 E. 4 S. 440 oben;<br />

Brehm, N 159 und 169 zu Art. 45 <strong>OR</strong>; Keller, a.a.O. S. 89 oben). Es entspricht offensichtlich nicht Sinn<br />

und Zweck des Versorgerschadenersatzrechts, ihm den gleichen Betrag zukommen zu lassen unabhängig<br />

davon, ob sein Vater jährlich Fr. 10'000.-- oder gar erheblich mehr als die in die Berechnung<br />

einbezogene Summe verdient.<br />

Aus ähnlichen Gründen ist die Berechnung des Klägers auch insofern bundesrechtswidrig, als er 40 %<br />

des Wertes der Haushaltsarbeit von Fr. 46'404.-- bloss am Schluss mit Fr. 18'561.-- in seine Berechnung<br />

des Versorgerschadens einbezieht.<br />

Der Kläger und seine Eltern haben vor dem Tod seiner Mutter eine Versorgungsgemeinschaft gebildet<br />

(vgl. Brehm, N 175 ff. zu Art. 45 <strong>OR</strong>), der zwei Einkommen und der Wert der Haushaltsarbeit der<br />

Verunfallten zur Verfügung standen. Infolgedessen ist für die Schadensberechnung davon abzuziehen,<br />

was der um eine Person kleiner gewordenen Versorgungsgemeinschaft nach dem Wegfall der<br />

Mutter des Klägers als Versorgerin noch immer an Einkommen zufliesst (BGE 108 <strong>II</strong> 434 E. 4 S. 440<br />

oben; so im Ergebnis auch Praxis 85/1996 Nr. 206 S. 790 E. 4b/cc S. 797 und das unveröffentlichte<br />

Urteil der I. Zivilabteilung des Bundesgerichts vom 9. September 1998 i.S. D., E. 6 und 7b [4C.<br />

495/1997]). Indem der klägerische Anwalt den Wert der Haushaltsarbeit zu Beginn der Berechnung<br />

des Versorgerschadens nicht berücksichtigt, hat er die wirtschaftliche Lage des Haushalts vor dem<br />

Tod der Verunfallten nicht zutreffend erfasst: er hat die der Versorgungsgemeinschaft damals zur<br />

Verfügung stehenden Werte nicht vollständig berücksichtigt und diese auch nicht korrekt mit denen<br />

nach dem Tod verglichen (Brehm, N 42, 43, 159 und 169 zu Art. 45 <strong>OR</strong>; unveröffentlichtes Urteil der I.<br />

Zivilabteilung des Bundesgerichts vom 29. Juni 1998 i.S. Z., E. 8a [4C. 39/1991]).<br />

Wenn der klägerische Anwalt den aktuellen Lohn des Vaters auf 69 % kürzt, verkennt er schliesslich,<br />

dass diese Prozentzahl dem gesamten (mutmasslichen) aktuellen Bedarf des Klägers und seines Va-<br />

165


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

ters entspricht, weshalb das Obergericht ohne Verletzung von Bundesrecht auf 69 % des vorbestandenen<br />

Haushaltsbedarfs abgestellt hat (Praxis 85/1996 Nr. 206 S. 790 E. 4a a.E. S. 793; unveröffentlichtes<br />

Urteil der I. Zivilabteilung des Bundesgerichts vom 9. September 1998 i.S. D., E. 7b [4C.<br />

495/1997]). Diese Prozentzahl hat nichts mit dem noch immer gleich hohen Lohn des Vaters des Klägers<br />

zu tun.<br />

[…]<br />

Demnach erkennt das Bundesgericht:<br />

1.- Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist, und das Urteil des Obergerichts (1.<br />

Zivilkammer) des Kantons Aargau vom 23. Oktober 2000 wird bestätigt.<br />

2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 6'000.-- wird dem Kläger auferlegt.<br />

3.- Der Kläger hat die Beklagte für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 6'000.-- zu entschädigen.<br />

4.- Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht (1. Zivilkammer) des Kantons Aargau schriftlich<br />

mitgeteilt<br />

166


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

BGE 135 <strong>II</strong>I 397 = Pra 99 (2010) Nr. 7<br />

59. Extrait de l'arrêt de la Ire Cour de droit civil dans la cause A. et consorts contre X. (recours en<br />

matière civile)<br />

4A_14/2009 du 2 avril 2009<br />

Regeste<br />

Art. 74 Abs. 2 lit. a BGG; Art. 45 Abs. 1 <strong>OR</strong>; Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung; Bestattungskosten.<br />

Eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung liegt vor, wenn diese zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit<br />

führt und daher dringend einer Klärung durch das Bundesgericht bedarf (E. 1).<br />

Wer den Tod einer Person zu verantworten und die Bestattungskosten zu ersetzen hat (Art. 45 Abs. 1<br />

<strong>OR</strong>), kann nicht als Umstand, für den der Geschädigte einstehen muss (Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong>), geltend<br />

machen, dass der Tod in nächster Zeit aus einem anderen Grund ohnehin eingetreten wäre, namentlich<br />

aufgrund des hohen Alters des Opfers (E. 2).<br />

Sachverhalt<br />

Am 16. Mai 2006 erfasste X. in N. (Freiburg) um 15.15 Uhr die 89-jährige V. mit ihrem Auto, als diese<br />

die Fahrbahn ausserhalb eines Fussgängerstreifens überqueren wollte. Z. wurde mit einem Hubschrauber<br />

ins Center C. transportiert, wo sie weniger als zwei Stunden später ihren Verletzungen<br />

erlag.<br />

Mit Urteil vom 25. Mai 2007 verurteilte das Bezirksgericht Broye X. wegen fahrlässiger Tötung zu<br />

einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen (à CHF 20.00) bedingt auf 2 Jahre sowie zur Bezahlung einer<br />

Busse von CHF 1500.00. Dieser Entscheid blieb unangefochten.<br />

Im Zivilpunkt verpflichtete das Gericht X. zur Zahlung von CHF 2000.– an die drei Kinder des Opfers<br />

(A., B., C.) als Schadenersatz für die entstandenen Bestattungskosten sowie von CHF 350.– pro Partei<br />

für die Kosten der Beteiligung als Zivilpartei am Strafprozess. Überdies verpflichtete es X. zur Zahlung<br />

einer Genugtuung in der Höhe von CHF 4000.– an A.<br />

Die drei Kinder des Opfers fochten das Urteil des Strafrichters in Bezug auf den Zivilpunkt an.<br />

Mit Urteil vom 17. November 2008 bestätigte der Strafappellationshof des Kantonsgerichts Freiburg<br />

den angefochtenen Entscheid mit Ausnahme des Schadenersatzes für die Bestattungskosten, welcher<br />

von CHF 2000.– auf CHF 3500.– erhöht wurde. Das Kantonsgericht stellte fest, dass sich die Bestattungskosten<br />

auf CHF 15 241.65 beliefen. Aufgrund des hohen Alters des Opfers ging es gestützt<br />

auf die Mortalitätstabelle davon aus, dass die Erben die Bestattungskosten ungefähr sechs Jahre<br />

später ohnehin hätten tragen müssen. Daraus schloss es, dass der Schaden lediglich darin bestehe,<br />

dass diese Kosten sechs Jahre früher angefallen seien. Davon ausgehend, dass die Erben nicht mehr<br />

als 5 % Zins im Jahr auf den Betrag der Bestattungskosten verlangen könnten, bezifferte es den Schadenersatz<br />

auf CHF 4575.– und kürzte diesen unter Berücksichtigung des Mitverschuldens des Opfers<br />

(die Lenkerin sei sicherlich unaufmerksam gewesen, jedoch sei das Opfer nicht vortrittsberechtigt<br />

gewesen, weil es die Strasse ausserhalb eines Fussgängerstreifens überquerte) um einen Viertel.<br />

Gerundet legte es einen Schadenersatz in Höhe von CHF 3500.00 fest.<br />

A., B. und C. erheben gegen den Entscheid vom 17. November 2008 beim Bundesgericht Beschwerde<br />

in Zivilsachen, eventualiter subsidiäre Verfassungsbeschwerde. Die Beschwerde bezieht sich einzig<br />

auf die Kürzung des Schadenersatzes für die Bestattungskosten aufgrund des hohen Alters des Opfers.<br />

Die Beschwerdeführer machen geltend, der Schadenersatz für die Bestattungskosten gemäss<br />

Art. 45 Abs. 1 <strong>OR</strong> könne nicht wegen des hohen Alters des Opfers herabgesetzt werden als Umstand,<br />

für den es im Sinne von Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong> einstehen müsse. Sie stellen fest, dass das Bundesgericht<br />

diese Frage noch nie entschieden habe und zeigen unter Verweis auf die entsprechende Literatur<br />

auf, dass das Problem in der Lehre umstritten sei, so dass eine Klärung notwendig sei. Unter Anerkennung<br />

einer Kürzung von 25 % wegen Mitverschuldens verlangen sie einen Schadenersatz für die<br />

167


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Bestattungskosten in Höhe von CHF 11 431.75 (75 % von CHF 15 241.65) unter Kosten- und Entschädigungsfolge;<br />

eventualiter schliessen sie auf Rückweisung der Angelegenheit an die Vorinstanz, subeventualiter<br />

auf die Prüfung der Frage unter dem Gesichtswinkel der Willkür (Art. 9 BV) im Rahmen<br />

der subsidiären Verfassungsbeschwerde.<br />

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und ändert den angefochtenen Entscheid dahingehend,<br />

dass die Angeklagte verurteilt wird, den Beschwerdeführern als Schadenersatz einen Betrag von CHF<br />

11 431.25 zu bezahlen.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

2.<br />

2.1 Vor Bundesgericht strittig ist einzig die Berücksichtigung des hohen Alters des Opfers bei der<br />

Festlegung des für die Bestattungskosten geschuldeten Schadenersatzes.<br />

2.2 Gemäss Art. 45 Abs. 1 <strong>OR</strong> sind im Falle der Tötung eines Menschen die entstandenen Kosten,<br />

insbesondere diejenigen der Bestattung, zu ersetzen.<br />

Das Bundesgericht hatte bereits Gelegenheit den Begriff der Bestattungskosten zu präzisieren; es hat<br />

die Kosten des Grabunterhaltes davon ausgenommen, jene für die Trauerkleider dagegen berücksichtigt,<br />

wenn anzunehmen ist, dass der Erbe sie vernünftigerweise nur anlässlich des Begräbnisses anziehen<br />

kann (BGE 113 <strong>II</strong> 323 E. 5 S. 338 f. mit weiteren Hinweisen).<br />

Es hat bestätigt, dass der Schadenersatz wegen Mitverschulden des Opfers herabgesetzt werden<br />

kann (BGE 113 <strong>II</strong> 323 E. 5 S. 338).<br />

Dagegen hat es den Unterschied zwischen dem Schadenersatz für die Bestattungskosten und demjenigen<br />

für den Versorgerschaden betont; es hat erwogen, dass es – liegen nur Bestattungskosten im<br />

Streit – nicht angebracht sei, in Anwendung des Grundsatzes der «compensatio damni cum lucro»<br />

die Höhe des Schadenersatzes herabzusetzen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Erben<br />

den Unterhalt der verstorbenen Person einsparen würden (BGE 112 Ib 322 E. 5 a S. 330 = Pra 76 Nr.<br />

91, Entscheid betreffend die kantonale Staatshaftung).<br />

Das Bundesgericht hat indessen noch nie die Frage der Berücksichtigung des Alters als Umstand, für<br />

den der Geschädigte im Sinne von Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong> einstehen muss, prüfen müssen.<br />

Die Lehre hat die Problematik seit langem erkannt. Sie besteht darin, dass jeder Mensch stirbt und<br />

die Bestattungskosten früher oder später ohnehin anfallen werden.<br />

Oser/Schönenberger halten fest, dass dieses Argument unberücksichtigt zu bleiben habe und dass<br />

voller Schadenersatz geschuldet sei, weil das Todesdatum seiner Natur nach höchst ungewiss sei (ZK-<br />

Oser/Schönenberger, N. 5 zu Art. 45 <strong>OR</strong>).<br />

Einzelne Autoren sind der Meinung, dass es nach den allgemeinen Haftungsgrundsätzen zwar logischer<br />

erscheinen würde, nur vom Zinsverlust als Folge der verfrühten Beerdigung auszugehen. Sie<br />

halten jedoch fest, dass der Gesetzestext zwingend sei und der Schädiger die vollen Bestattungskosten<br />

zu ersetzen habe (Oftinger/Stark, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Allg. Teil I, 5. Aufl. 1995, S.<br />

332 N. 253; Heinz Rey, Ausservertragliches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4. Aufl. 2008, S. 65 insb. N. 281).<br />

Zahlreiche Autoren sind noch entschiedener; sie gehen davon aus, der Gesetzgeber habe in Art. 45<br />

Abs. 1 <strong>OR</strong> eine bestimmte Wahl getroffen, indem er den Schädiger zum Ersatz der Bestattungskosten<br />

verpflichtet habe, ohne dass dieser geltend machen könne, der Tod wäre früher oder später ohnehin<br />

aus einem anderen Grund eingetreten (ZK-Landolt, N. 22 zu Art. 45 <strong>OR</strong>; Ingeborg Schwenzer, Schweizerisches<br />

Obligationenrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 2006, S. 120 N. 18.29 und S. 130 insb. N. 21.05; Alfred<br />

Keller, Haftpflicht im Privatrecht <strong>II</strong>, 2. Aufl. 1998, S. 77; Beat Schönenberger, in: Kurzkommentar Obligationenrecht,<br />

2008, N. 4 zu Art. 45 <strong>OR</strong>; Hans Merz, Schweizerisches Privatrecht VI/1, 1984, S. 204).<br />

Hingegen vertreten Deschenaux/Tercier die Auffassung, Art. 45 Abs. 1 <strong>OR</strong> enthalte eine unbestimmte<br />

Regel, welche restriktiv auszulegen sei; nur der mit dem Unfalltod verbundene zusätzliche Schaden<br />

sei zu ersetzen (Deschenaux/Tercier, La responsabilité civile, 2. Aufl. 1982, S. 234 N. 13). Diese Meinung<br />

wird von Franz Werro zitiert, wobei nicht ersichtlich ist, ob er sie teilt oder nicht, nachdem er<br />

kurz vorher festhält, dass die Tatsache, dass die Bestattungskosten ohnehin eines Tages anfallen<br />

würden, keine grosse Bedeutung habe (Franz Werro, La responsabilité civile, 2005, S. 268 N. 1060 f.).<br />

Im Commentaire romand erwägt derselbe Autor, dass der Schädiger die Bestattungskosten zu erset-<br />

168


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

zen habe, ohne auf die Meinung von Deschenaux/Tercier zu verweisen (CR CO I-Werro, N. 3 und 4 zu<br />

Art. 45 <strong>OR</strong>).<br />

Sehr wohl zugebend, dass der Gesetzestext diese Auslegung vielleicht nicht zulasse, vertritt Roland<br />

Brehm die Meinung, dass eine Herabsetzung nach Art. 44 Abs. 1 <strong>OR</strong> (Umstand, für den der Geschädigte<br />

einzustehen hat) bei einer Person sehr hohen Alters möglich sein sollte (BK-Brehm, N. 7–11 zu<br />

Art. 45 <strong>OR</strong>). Dieser Herabsetzungsgrund wird auch von Anton K. Schnyder anerkannt (BSK <strong>OR</strong> I, N. 2<br />

zu Art. 45 <strong>OR</strong>).<br />

2.3 Die Begründung, wonach die Kosten lediglich verfrüht anfallen, vermag nicht vollständig zu überzeugen.<br />

Nimmt man – wie vorliegend – an, dass die Bestattungskosten sechs Jahre später angefallen<br />

wären, ist klar, dass deren Höhe aufgrund der Preisentwicklung nicht identisch sein würde.<br />

Überdies sind die Bestattungskosten, welche naturgemäss nach dem Tod entstehen, von den Erben<br />

zu tragen, welche die Leistungen in Auftrag geben (selbst wenn sie im Rahmen des Erbgangs zurückerlangt<br />

werden können: Art. 474 Abs. 2 ZGB); nicht sicher ist, dass es sich hierbei um dieselben Personen<br />

handelt wie sechs Jahre später. Möglich ist beispielsweise, dass ein Erbe vorverstirbt oder dass<br />

der Erblasser im Rahmen der frei verfügbaren Quote testamentarisch einen anderen Erben bestimmt.<br />

Es kann demnach nicht behauptet werden, dass dieselben Personen notwendigerweise einige<br />

Jahre später dieselben Kosten tragen müssen.<br />

Ebenso wenig vermag der Vergleich mit den aus dem Begriff der konstitutionellen Prädisposition<br />

entwickelten Grundsätzen wirklich zu überzeugen. Zunächst besitzt nicht jede Person eine Prädisposition;<br />

die daraus abgeleiteten Grundsätze zielen dahin, einen Entscheid anzupassen, um besonderen<br />

Fällen Rechnung tragen zu können; es handelt sich grundsätzlich um eine Methode der Individualisierung.<br />

Dies ist nicht vergleichbar mit der Feststellung, dass jeder Mensch stirbt und früher oder später<br />

Bestattungskosten generieren wird. Es handelt sich um ein generelles Problem, welches grundsätzlich<br />

vom Gesetz geregelt werden muss. Schliesslich ist zu beachten, dass die Grundsätze betreffend<br />

die konstitutionelle Prädisposition im Zusammenhang mit der Kapitalisierung von Renten wegen<br />

Arbeitsunfähigkeit oder mit dem Versorgerschaden entwickelt worden sind. Die Bestattungskosten<br />

fallen nicht in der gleichen Höhe an, was ein einfacheres und rascheres System rechtfertigen kann<br />

(vgl. BGE 112 Ib 322 E. 5 a S. 330 = Pra 76 Nr. 91).<br />

Wenn man – wie es das kantonale Gericht tut – annehmen würde, dass man den Zeitpunkt bestimmen<br />

müsste, in dem der Tod ohne den Unfall eingetreten wäre, würde man sich auf gewagte Spekulationen<br />

einlassen. Es trifft zwar zu, dass seriöse Statistiken über die Lebenserwartung bestehen.<br />

Folgte man einer solchen Argumentation, wäre jedoch nicht ersichtlich, weshalb man nicht eine Korrektur<br />

der statistischen Durchschnittswerte zulassen sollte, um dem wirklichen Gesundheitszustand<br />

der betreffenden Person Rechnung tragen zu können. So ist offensichtlich, dass selbst ein junger<br />

Mensch, der an einer schweren und oft tödlich endenden Krankheit leidet, eine kurze Lebenserwartung<br />

hat. Zu denken ist etwa an eine Person mit Krebs im Endstadium. Bedenkt man, dass die Bestattungskosten<br />

immer verhältnismässig klein sind, ist zweifelhaft, ob sich ein solch kompliziertes Verfahren<br />

rechtfertigt, das überdies zu Erwägungen führt, welche mit Sicherheit die Verwandten des Opfers<br />

stark in ihren Gefühlen treffen.<br />

Die Vorinstanz erläutert, dass sie sich von der Meinung von Deschenaux/Tercier betreffend den tatsächlich<br />

verursachten Schaden hat überzeugen lassen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass dieselben<br />

Autoren die Auffassung vertreten, der Schädiger habe den ganzen verursachten Schaden zu ersetzen,<br />

ohne geltend machen zu können, dass eine zusätzliche Ursache später ohnehin zum selben<br />

Schaden geführt hätte (Figur der überholenden Kausalität) (Deschenaux/Tercier, a.a.O., S. 57 N. 25).<br />

Genau darum geht es und die Regel, welche die Mehrheit der Lehre aus Art. 45 Abs. 1 <strong>OR</strong> ableiten<br />

will, geht genau in diese Richtung (vgl. Ingeborg Schwenzer, a.a.O., S. 130 insb. N. 21.05).<br />

Mit seiner Argumentation hat das kantonale Gericht den Erben nicht einen Schadenersatz zugesprochen,<br />

welcher ganz oder teilweise den angenommenen Bestattungskosten entspricht. Es hat im Gegenteil<br />

auf eine Art Diskont von 5 % pro Jahr für die im Voraus geleistete Zahlung erkannt. Diese Auffassungsweise<br />

widerspricht dem Gesetzestext diametral. Dieser sieht unmissverständlich vor, dass<br />

der Schadenersatz die Bestattungskosten beinhalten muss. Ein Diskont auf die Bestattungskosten<br />

kommt nicht in Frage.<br />

169


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Nach dem Gesagten ist Art. 45 Abs. 1 <strong>OR</strong> nach dem Wortlaut auszulegen. Derjenige, der den Tod<br />

einer Person zu verantworten hat, schuldet Schadenersatz für die von ihm verursachten Bestattungskosten.<br />

Der Schädiger kann demnach nicht geltend machen, dass eine andere Ursache später zum<br />

Tod geführt und die Bestattungskosten mit sich gebracht hätte.<br />

2.4 Die Höhe der Bestattungskosten wurde in für das Bundesgericht verbindlicher Weise festgestellt<br />

(Art. 105 Abs. 1 BGG).<br />

Die Herabsetzung um einen Viertel wegen Mitverschuldens ist – ebenso wie die übrigen Punkte des<br />

Dispositivs – nicht bestritten, weshalb nicht darauf zurückzukommen ist.<br />

BGE 112 <strong>II</strong> 220<br />

37. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 22. April 1986 i.S. C.X. gegen V. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Genugtuungsanspruch des Ehegatten (Art. 47 und 49 <strong>OR</strong>).<br />

Genugtuungsanspruch des Ehemannes einer durch Unfall schwer invalid gewordenen Frau wegen<br />

Verletzung der Persönlichkeit.<br />

Sachverhalt<br />

A.- E. X., die Ehefrau von C. X., wurde am 16. April 1977 in Zürich auf einem Fussgängerstreifen von<br />

einem Motorradfahrer angefahren und schwer verletzt. Folge der Verletzung war namentlich die<br />

völlige Erblindung sowie ein Zustand tiefer Bewusstlosigkeit. Frau X. lag in diesem Zustand zunächst<br />

in der chirurgischen Universitätsklinik und seit Anfang 1978 in der Krankenstation Hegibach. Zwar<br />

erfolgte die Atmung nach einiger Zeit wieder spontan, jedoch nur durch eine Öffnung am Hals. Obwohl<br />

sich vereinzelt Phasen der Aufhellung einzustellen begannen, schlossen die Ärzte damals eine<br />

auch nur geringfügige Besserung aus.<br />

Im Herbst 1980 wurde Frau X. ins Krankenheim Y. verlegt, wo ihr Ehemann seit 1975 als Haustechniker<br />

angestellt war. Hier wurde die Patientin erstmals aus dem Bett genommen, um sie mit anderen<br />

Menschen in Kontakt zu bringen und physiotherapeutisch zu behandeln. Entgegen den bisherigen<br />

Prognosen begann sie, sich sprachlich auf primitive Weise auszudrücken. Sie lernte auch schlucken<br />

und vermochte wieder Nahrung aufzunehmen, blieb jedoch pflegebedürftig und an den Rollstuhl<br />

gebunden. Ihr Bewusstsein ist beeinträchtigt, indessen realisiert Frau X., dass sie blind ist. Eine Wiederherstellung<br />

ist ausgeschlossen; die Lebenserwartung erscheint als herabgesetzt.<br />

Die Ansprüche von Frau X. gegen die V. Versicherungs-Gesellschaft, die Haftpflichtversicherung des<br />

verantwortlichen Motorradfahrers, wurden vergleichsweise erledigt. Im Rahmen einer Pauschalabfindung<br />

erhielt Frau X. u.a. eine Genugtuung von Fr. 60'000.-- nebst Zins. Der von ihrem Ehemann<br />

geltend gemachte Genugtuungsanspruch wurde ausdrücklich vom Vergleich ausgenommen und einer<br />

getrennten prozessualen Auseinandersetzung vorbehalten.<br />

B.- Am 10. Januar 1985 klagte C.X. gestützt auf Art. 47 und 49 <strong>OR</strong> gegen die V. Versicherungs-<br />

Gesellschaft beim Handelsgericht des Kantons Zürich auf Zahlung von Fr. 40'000.-- nebst<br />

BGE 112 <strong>II</strong> 220 S. 222<br />

Zins zu 5% seit 16. April 1977 als Genugtuung für die schwere Verletzung in den persönlichen Verhältnissen,<br />

die ihm durch die bei seiner Frau eingetretenen Unfallfolgen zugefügt worden sei. Am 9.<br />

Juli 1985 wies das Handelsgericht des Kantons Zürich die Klage ab.<br />

C.- Gegen das Urteil des Handelsgerichts hat der Kläger Berufung eingelegt und beantragt, das angefochtenen<br />

Urteil aufzuheben und die Klage gutzuheissen.<br />

Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung.<br />

170


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Das Bundesgericht heisst die Berufung gut.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

2. Der angefochtene Entscheid wird im wesentlichen damit begründet, Art. 47 <strong>OR</strong> enthalte eine Haftungsbeschränkung,<br />

die es verbiete, dem durch eine Körperverletzung nur reflexartig betroffenen<br />

Angehörigen einen eigenen Anspruch zu gewähren. Daran ändere auch die allgemeine Vorschrift von<br />

Art. 49 <strong>OR</strong> nichts, gehe doch Art. 47 als lex specialis vor.<br />

a) Im Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. März 1986 i.S. G. gegen Schweizerische Eidgenossenschaft<br />

(BGE 112 <strong>II</strong> 121 ff.) hat das Bundesgericht einem Vater, der wegen des Unfalltodes zweier Söhne einen<br />

Schock erlitten hatte und darob invalid geworden war, eine Genugtuung zugesprochen. Es hat<br />

den Einwand der Beklagten, blosse Reflexschäden seien nicht zu ersetzen, ausdrücklich zurückgewiesen.<br />

Wer in seinen eigenen, durch absolute Rechte geschützten Gütern beeinträchtigt werde, sei<br />

widerrechtlich und auch dann unmittelbar geschädigt, wenn sich in der Kausalkette zwischen dem<br />

schädigenden Ereignis und dem Geschädigten eine mit diesem in Beziehung stehende Person befinde<br />

(E. 5e). Zum Genugtuungsanspruch aus Art. 47 <strong>OR</strong> trete derjenige, der dazu bestimmt sei, die psychische<br />

Beeinträchtigung als Folge der Invalidität auszugleichen (E. 6). Dem stehe Art. 45 <strong>OR</strong> nicht entgegen,<br />

schränke diese Bestimmung doch lediglich den Kreis der Drittansprecher ein, die rein vermögensrechtliche,<br />

zufolge des Todes eines anderen entstandene Ansprüche geltend machen könnten;<br />

davon würden jedoch die Forderungen des in seiner körperlichen Integrität Beeinträchtigten nicht<br />

berührt (E. 5e). BGE 54 <strong>II</strong> 141 E. 3, der den Eltern eines auf tragische Weise getöteten Kindes jeden<br />

Ersatz der ihnen wegen Nervenschocks entstandenen Behandlungskosten verweigert habe, weil Art.<br />

45 und 47 <strong>OR</strong> die Ansprüche Angehöriger einschränkend aufzählten, sei insoweit überholt (E. 5b und<br />

e).<br />

Vorliegend ist die Beeinträchtigung der persönlichen Verhältnisse des Klägers zu beurteilen, die<br />

ebenfalls als absolutes Recht geschützt sind (Art. 28 ZGB). Somit kann die Genugtuung nicht mit dem<br />

Hinweis verweigert werden, bloss reflexartige Betroffenheit begründe keinen eigenen Anspruch. Mit<br />

der neuen Praxis nicht mehr zu vereinbaren ist auch die Annahme der Vorinstanz, Art. 47 <strong>OR</strong> schliesse<br />

als Spezialvorschrift die Anwendbarkeit von Art. 49 <strong>OR</strong> schlechthin aus, verlangt doch der Kläger<br />

Genugtuung für die Verletzung in seinen eigenen persönlichen Verhältnissen. Im Gegensatz zum Urteil<br />

vom 11. März 1986 kann er sich indes nicht zusätzlich auf eine physische Beeinträchtigung seiner<br />

Person berufen; Ursache seiner psychischen Beeinträchtigung ist sodann nicht der Tod, sondern ausschliesslich<br />

die Invalidität eines Angehörigen.<br />

b) Gemäss Art. 49 Abs. 1 <strong>OR</strong> in der vorliegend anzuwendenden altrechtlichen Fassung (Botschaft des<br />

Bundesrates über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 5. Mai 1982, BBl 1982 <strong>II</strong><br />

S. 683; BROGGINI, Schweizerisches Privatrecht, Bd. I, S. 460) hat Anspruch auf Leistung einer Geldsumme<br />

als Genugtuung, wer in seinen persönlichen Verhältnissen verletzt wird, wenn es die besondere<br />

Schwere der Verletzung und des Verschuldens rechtfertigen.<br />

Bereits nach dem Wortlaut ist jeder in seinen persönlichen Verhältnissen Verletzte anspruchsberechtigt,<br />

wenn besondere Umstände vorliegen. Ein Ausschluss bestimmter Personen lässt sich der Vorschrift<br />

nicht entnehmen, ebensowenig eine Einschränkung auf bestimmte Ursachen und Arten der<br />

Verletzung.<br />

c) In BGE 108 <strong>II</strong> 433 f. hat das Bundesgericht bei der Festsetzung der Genugtuung für ein dauernd<br />

bewusstloses Mädchen der Beeinträchtigung der es pflegenden Eltern Rechnung getragen und so der<br />

Sache nach auf dem Umweg über den Verletzten auch nahen Angehörigen, obwohl von diesen keine<br />

Klage erhoben worden ist, eine Genugtuung zugesprochen. Damit berücksichtigte es, ohne von der<br />

bisherigen Praxis abzuweichen, die den Angehörigen des Verletzten keinen eigenen Genugtuungsanspruch<br />

zugestand, dass der seelische Schmerz von Angehörigen in derartigen Fällen womöglich grösser<br />

ist als im Fall des Todes, für den Art. 47 <strong>OR</strong> ausdrücklich einen Genugtuungsanspruch vorsieht (S.<br />

433 f.). Der vom Bundesgericht eingeschlagene Umweg über den Verletzten blieb jedoch nicht ohne<br />

Kritik und veranlasste TERCIER, in der Diskussion dieses Urteils die Frage aufzuwerfen, ob es nicht<br />

konsequenter wäre, nahen Angehörigen ein direktes Klagerecht zuzugestehen, sei es in analoger<br />

Anwendung von Art. 47 <strong>OR</strong>, sei es unmittelbar aufgrund von Art. 49 <strong>OR</strong> (SJZ 80 (1984) S. 54 f.; vgl.<br />

171


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

auch TERCIER, Le nouveau droit de la personnalité, N. 1992 f.; TERCIER in Gedächtnisschrift Jäggi, S.<br />

253 mit Hinweisen in FN 52; DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, 2. Auflage, 1982, S. 93 N.<br />

26; MERZ, Schweizerisches Privatrecht, Band VI/1, S. 240 FN 11; P. GIOVANNONI, ZSR 1977 I S. 42 f.,<br />

Ziff. 2.2; P. STEIN, Die Genugtuung, 3. Auflage, 1976, S. 9 oben).<br />

d) In zwei Urteilen kantonaler Gerichte ist eine Anspruchsberechtigung Angehöriger für Genugtuung<br />

prinzipiell bejaht worden, so in einem Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 9. Mai 1967 (SJZ 65<br />

(1969) S. 97 f., Ziff. 42) zugunsten eines Vaters, dessen Kind durch einen Dritten gezüchtigt worden<br />

war, sofern der Eingriff in die Vater-Kind-Sphäre besonders schwer wiege und ein besonders schweres<br />

Verschulden gegeben sei, eine Voraussetzung, die im zu beurteilenden Fall allerdings nicht erfüllt<br />

war; das Tribunal civil de l'arrondissement de la Sarine hat in einem Urteil vom 5. November 1984 i.S.<br />

M. den Eltern eines schwer unfallgeschädigten Kindes aufgrund von Art. 49 <strong>OR</strong> in Verbindung mit Art.<br />

28 ZGB Genugtuung für die Beeinträchtigung ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte zugesprochen.<br />

e) Die französische Praxis erkennt bei schwerer Körperverletzung seit langem nahen Angehörigen<br />

einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens zu (ZWEIGERT/KÖTZ, Einführung in die<br />

Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Bd. <strong>II</strong>, 2. Auflage 1984, S. 358; MAZEAUD, Traité<br />

de la responsabilité civile, 6e éd., <strong>II</strong>, n. 1874, p. 950).<br />

Aus der italienischen Praxis ist ein Urteil bekanntgeworden, das der Mutter eines durch Unfall<br />

schwerverletzten minderjährigen Sohnes eine Genugtuung zuspricht (Tribunale civile di Busto Arsizio,<br />

Urteil vom 26. September 1984, Archivio giuridico della circolazione e dei sinistri stradali 1985, S. 818<br />

ff., Anmerkung G. Gussoni, S. 823 f.) mit der Begründung, der seelische Schmerz von Angehörigen<br />

eines schwer Verletzten könne gleich gross oder gar grösser sein, als wenn dieser gestorben wäre (S.<br />

820).<br />

f) Aus der Revision von Art. 27 ff. ZGB und 49 <strong>OR</strong> ergibt sich nichts für die Frage der Anspruchsberechtigung<br />

von Angehörigen. Weder in der Botschaft über die Änderung des schweizerischen Zivilgesetzbuches<br />

vom 5. Mai 1982 (BBl 1982 <strong>II</strong> S. 636 ff.) noch in den Ratsprotokollen findet sich eine Stellungnahme<br />

zu diesem Problem, obwohl das am 19. September 1973 dem Ständerat überwiesene<br />

Postulat Dillier (Amtl.Bull. S. 514) auf die seelische Unbill Angehöriger hingewiesen hat, die bei<br />

schweren Verletzungen sicher nicht kleiner sei als bei einem Unfalltod. Dem Postulat Dillier ist durch<br />

die Revision denn auch nur teilweise Rechnung getragen worden (BBl 1982 <strong>II</strong> 681). Die neue Fassung<br />

von Art. 49 <strong>OR</strong> setzt für Genugtuung kein schweres Verschulden mehr voraus; überdies ist, wenn<br />

Schadenersatz ohne Verschulden geleistet werden muss, auch für Genugtuung kein Verschulden<br />

erforderlich (vgl. Amtl.Bull. Ständerat 1983, S. 654 f. Votum Hänsenberger; TERCIER, Le nouveau droit<br />

de la personnalité, S. 266 N. 2022). In der Revision von Art. 49 <strong>OR</strong> liegt somit keine gesetzgeberische<br />

Entscheidung für oder gegen die Anspruchsberechtigung Angehöriger.<br />

g) Wenn zur psychischen wie im Urteil G. gegen Schweizerische Eidgenossenschaft vom 11. März<br />

1986 noch eine physische Beeinträchtigung hinzutritt, so kann diese die von Art. 49 <strong>OR</strong> vorausgesetzte<br />

Schwere der Verletzung in den persönlichen Verhältnissen zwar mitbegründen; notwendige Bedingung<br />

ist sie jedoch nicht. Für die Genugtuung kommt es auf die Intensität der Auswirkung an, die<br />

das schädigende Ereignis auf die unter dem Persönlichkeitsschutz stehende eheliche Gemeinschaft<br />

und damit auch auf die Persönlichkeitssphäre des Klägers zeitigt.<br />

3. Aus dem Dargelegten erhellt, dass die Anspruchsberechtigung des Klägers zu bejahen ist. Zu prüfen<br />

bleibt, ob die Voraussetzungen von Art. 49 <strong>OR</strong> im vorliegenden Fall erfüllt sind. Dabei kann auch<br />

dem mit Resolution 75-7 vom 14. März 1975 durch das Ministerkomitee des Europarates empfohlenen<br />

Grundsatz Nr. 13 Rechnung getragen werden, der nur bei ausserordentlichem seelischem<br />

Schmerz ("souffrances d'un caractère exceptionnel") der Angehörigen Genugtuung vorsieht (vgl. J.-F.<br />

Egli in Mélanges André Grisel, S. 325 und 338). Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gestatten<br />

es dem Bundesgericht, diese Voraussetzungen selbst zu prüfen; sie sind zweifellos erfüllt.<br />

a) Nach dem angefochtenen Urteil sind die Eheleute X. im Zeitpunkt des Unfalls 24 Jahre verheiratet<br />

gewesen. Der Unfall hat die bisherigen Lebensverhältnisse des Klägers geradezu umgestürzt. Die<br />

eheliche Gemeinschaft ist weitgehend zerstört, was um so schwerer wiegt, als die Ehe kinderlos geblieben<br />

ist. Der Kläger, der an der Pflege seiner Ehefrau intensiv Anteil nimmt, hat ausserhalb seiner<br />

Berufstätigkeit im Krankenheim kaum mehr Zeit für sich. Eine zusätzliche Belastung ergibt sich dar-<br />

172


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

aus, dass Frau X. ihren Zustand wenigstens teilweise realisiert. Die Beeinträchtigung in den persönlichen<br />

Verhältnissen des Klägers ist so schwer, dass offenbleiben kann, ob und inwiefern sich seine<br />

eigene Krankheit - nach seiner Darstellung leidet er an einer Art Arthritis - durch die weggefallene<br />

Pflege durch seine Ehefrau verschlimmert hat.<br />

Auch am besonders schweren Verschulden des Schädigers kann kein Zweifel bestehen, da der Motorradfahrer<br />

Frau X. auf dem Fussgängerstreifen angefahren hat und mit Urteil vom 6. April 1978<br />

vom Einzelrichter für Strafsachen am Bezirksgericht Zürich wegen fahrlässiger Körperverletzung zu 14<br />

Tagen Haft und 500 Franken Busse verurteilt worden ist. Überdies stellt die Beklagte die Schwere des<br />

Verschuldens in der Berufungsantwort nicht in Frage.<br />

b) Die verlangte Genugtuung wird von der Beklagten der Höhe nach nicht bestritten. Der Betrag von<br />

40'000 Franken nebst Zins zu 5% seit dem Umfalldatum ist deshalb zuzusprechen.<br />

173


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Berechnung Versorgungsschaden: Versorgungsquoten<br />

Im Todesfall sind regelmässig Versorgungsquoten zu bilden, was v.a. dann anspruchsvoll ist, wenn die<br />

getötete Person mehrere Personen hinterlässt. Jede hinterlassene Person hat einen eigenen Anspruch.<br />

Ausgehend von der Annahme, dass der Versorgungsausfall eines hinterlassenen Partners ohne minderjährige<br />

Kinder unter Berücksichtigung der Fixkosten zwischen 50% bis 70% des Einkommens der<br />

verstorbenen Person betragen dürfte, sind im Folgenden fünf entsprechende Varianten beschrieben:<br />

Tabelle aus: SCHAETZLE/WEBER, Kapitalisieren - Handbuch zur Anwendung der Barwerttafeln, S. 521.<br />

Anwendungsbeispiel: Für den Fall, dass bei einer Familie mit zwei Kindern Variante C gewählt wird,<br />

erhält nach Zeile 3 der überlebende Ehegatte 45%, während auf die beiden Kinder je 15% entfallen,<br />

was zusammen 75% ergibt. Wird das ältere Kind erwerbstätig, so hätte der Versorger von diesem<br />

Zeitpunkt an etwas weniger von seinem Einkommen für die kleinere Familie aufgewendet, weshalb<br />

die Quoten für den überlebenden Ehegatten möglicherweise auf 52% und für das jüngere Kind auf<br />

17% steigen, total somit 69% ( Zeile 2). Ist auch das jüngere Kind selbstständig, so erhält der überlebende<br />

Ehegatte 60% zugesprochen, was Ausgangspunkt war für die Wahl der Variante C (erste Zeile).<br />

174


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

175


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

176


VERJÄHRUNG<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

BGE 137 <strong>II</strong>I 481(Veröffentlichung in Pra geplant)<br />

Zusammenfassung<br />

Anlässlich einer Kollision von zwei Personenwagen in der Stadt Genf anfangs Februar 1998 wurde der<br />

Lenker eines Wagens getötet und dessen Ehefrau schwer verletzt. Der fehlbare andere Lenker wurde<br />

vom Polizeigericht wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger schweren Körperverletzung rechtskräftig<br />

verurteilt und dessen Autohaftpflichtversicherer entrichtete der Witwe diverse Akontozahlungen<br />

vom März 2001 bis Oktober 2005. Zudem verzichtete der Versicherer in diversen Schreiben der Witwe<br />

gegenüber auf die Einrede der Verjährung unter der Bedingung, dass diese nicht bereits eingetreten<br />

war. Mit einem Schreiben vom 1. Februar 2008 verzichtete der Versicherer auf die Einrede bis 5. Februar<br />

2009. Und mit einem Schreiben vom 6. März 2009 verzichtete er bis 5. Februar 2010 auf die Einrede.<br />

Umstritten ist, ob zwischen 5. Februar und 6. März 2009 tatsächlich eine Lücke in der Verzichtszeit<br />

einstanden und somit die Verjährung eingetreten ist, wie der Versicherer behauptet oder ob die<br />

Verjährung aus anderen Gründen nicht eingetreten ist, wie die Witwe vorbringt und im August 2009<br />

überdies eine Klage gegen den Versicherer im Umfang von rund CHF 1,2 Mio. anhängig machen lässt.<br />

Die Vorinstanzen erkannten mit Zwischenentscheiden und unterschiedlichen Begründungen, dass die<br />

Verjährung nicht eingetreten sei. Das Bundesgericht erkennt, dass sich die Witwe gemäss Art. 83 Abs.<br />

1 SVG, der in diesem Punkt mit Art. 60 Abs. 2 <strong>OR</strong> identisch sei, auf die strafrechtlichen Verjährungsfristen<br />

berufen könne. Massgebend im Vergleich zu den zivilrechtlichen Verjährungsfristen sei indessen<br />

die relative und nicht die absolute strafrechtliche Verjährungsfrist. Auch wenn man sich auf die<br />

strafrechtlichen Verjährungsfristen berufen könne, seien die zivilrechtlichen Bestimmungen betreffend<br />

Unterbrechung gemäss Art. 135 – 138 <strong>OR</strong> anwendbar. Wird eine strafrechtliche Verjährungsfrist unterbrochen,<br />

beginnt diese von neuem. Ist hingegen die absolute strafrechtliche Verjährungsfrist eingetreten,<br />

beginne bei einer erfolgreichen Unterbrechung eine zivilrechtliche Frist (E. 2.4 – 2.5.). Ändern<br />

sich die strafrechtlichen Verjährungsfristen infolge von Strafrechtsrevisionen, die am 1. Oktober 2002,<br />

resp. 1. Januar 2007 in Kraft traten, bestimmt sich die Frage, welche Frist massgeblich ist, nach dem<br />

Strafrecht und demgemäss nach der lex mitior für den Täter. Nach dem neuen Recht würden beide<br />

Straftaten innert 7 Jahren verjähren, nach dem alten betrage die relative Verjährungsfrist 5 Jahre und<br />

sei demzufolge anzuwenden (E. 2.6). Die alte absolute Verjährungsfist (7,5 Jahre) sei vorliegend am 5.<br />

August 2005 abgelaufen und die neue von 7 Jahren am 5. Februar 2005. Unbestritten habe der Versicherer<br />

seit März 2001 Akontozahlungen entrichtet, eine im November 2004 und damit die absolute<br />

Verjährungsfrist unterbrochen. Deshalb habe im November 2004 eine neue Frist von 5 Jahren zu laufen<br />

begonnen, die im November 2009 abgelaufen sei. Die Klage sei rechtzeitig erhoben worden. Damit<br />

haben im Ergebnis die Vorinstanzen zu Recht die Verjährungsreinrede verworfen (E. 2.7). Auch<br />

wenn die Frage nicht zu entscheiden sei, stelle es keinen Rechtsmissbrauch dar, wenn sich ein Versicherer<br />

trotz Akontozahlungen und Verjährungsverzichtserklärungen auf die zwischenzeitlich eingetretene<br />

Verjährung berufe (E. 2.8).<br />

72. Extrait de l'arrêt de la Ire Cour de droit civil dans la cause Assurance X. SA contre F.Y. (recours en<br />

matière civile)<br />

4A_325/2011 du 11 octobre 2011<br />

Regeste<br />

Schadenersatzklage aus einem durch ein Fahrzeug verursachten Unfall; längere strafrechtliche Verjährung<br />

(Art. 83 Abs. 1 SVG und Art. 60 Abs. 2 <strong>OR</strong>).<br />

177


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Hat sich der Inhalt der strafrechtlichen Bestimmungen seit dem Unfall geändert, bestimmt sich nach<br />

den strafrechtlichen Regeln, auf welche Version abzustellen ist, um die Dauer der im Zivilrecht anwendbaren<br />

längeren strafrechtlichen Verjährung festzusetzen (E. 2).<br />

A. Le 5 février 1998, le véhicule conduit par A. - qui était assuré contre le risque de la responsabilité<br />

civile automobile auprès de l'assurance X. SA -, circulant à Genève, a heurté violemment la voiture<br />

conduite par H.Z., qui était accompagné de son épouse F.Y. (ex-Z.), causant ainsi la mort de H.Z. et<br />

blessant grièvement F.Y.<br />

Par jugement du 13 octobre 1999, le Tribunal de police de Genève a reconnu A. coupable d'homicide<br />

par négligence et de lésions corporelles graves par négligence et l'a condamné à la peine de douze<br />

mois d'emprisonnement, sous déduction de la détention préventive subie, et prononcé son expulsion<br />

judiciaire du territoire de la Confédération pour une durée de quatre ans, avec sursis pendant cinq<br />

ans.<br />

Pour obtenir réparation du préjudice subi, F.Y. s'est adressée à l'assurance X. SA (ci-après: l'assureur),<br />

en sa qualité d'assurance couvrant la responsabilité civile en matière automobile de A.<br />

L'assureur a versé différents montants à F.Y., respectivement les 20 mars 2001, 8 mai 2001, 15 août<br />

2001, 8 juin 2004, 10 novembre 2004 et 27 octobre 2005.<br />

Par ailleurs, l'assureur, puis son mandataire, ont adressé au conseil de F.Y. des déclarations de renonciation<br />

à se prévaloir de la prescription, assorties à chaque fois de la réserve que ces renonciations<br />

n'étaient valables qu'à la condition que la prescription ne soit pas déjà acquise au jour où la<br />

renonciation était émise.<br />

Ainsi, à la suite d'une série de renonciations, l'assureur, par une lettre du 1 er février 2008, a renoncé<br />

à se prévaloir de la prescription jusqu'au 5 février 2009. Ensuite, ce n'est que par une lettre du 6<br />

mars 2009 qu'il a renoncé à se prévaloir de la prescription jusqu'au 5 février 2010. Constatant que les<br />

renonciations successives ne couvraient pas la période entre le 5 février 2009 et le 6 mars 2009,<br />

l'assureur a estimé que la lettre du 6 mars 2009, en raison de la réserve qu'elle contenait, ne pouvait<br />

pas avoir d'effet rétroactif, de sorte qu'il était en droit de se prévaloir de la prescription, laquelle,<br />

selon lui, était acquise.<br />

B. Par demande du 24 août 2009 déposée devant les autorités genevoises, F.Y. a exercé une action<br />

en paiement contre l'assurance X. SA, lui réclamant diverses sommes avec différents intérêts, sous<br />

déduction des acomptes versés.<br />

L'assureur a soulevé le moyen tiré de la prescription.<br />

Par jugement du 18 mars 2010, le Tribunal de première instance de Genève a rejeté le moyen tiré de<br />

la prescription.<br />

Statuant sur appel par arrêt du 15 avril 2011, la Chambre civile de la Cour de justice du canton de<br />

Genève a confirmé le jugement attaqué. La cour cantonale a notamment considéré que la réserve<br />

d'une prescription déjà acquise contenue dans la renonciation du 6 mars 2009 n'était qu'une "clause<br />

de style" et que l'assureur, qui avait versé des acomptes et renoncé plusieurs fois à la prescription,<br />

commettait un abus de droit, au sens de l'art. 2 al. 2 CC, en soulevant ce moyen.<br />

C. L'assurance X. SA exerce un recours en matière civile au Tribunal fédéral. Invoquant une violation<br />

des art. 18 CO et 2 al. 2 CC, elle soutient que la réserve contenue dans la renonciation ne peut pas<br />

être sans effet juridique et que son comportement n'est pas contraire aux règles de la bonne foi. Elle<br />

conclut à l'annulation de l'arrêt attaqué et au déboutement de sa partie adverse, subsidiairement au<br />

renvoi de la cause à la cour cantonale pour nouvelle décision. L'intimée conclut tant à l'irrecevabilité<br />

du recours qu'à son rejet.<br />

(résumé)<br />

Erwägungen<br />

Extrait des considérants:<br />

178


2.<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

2.1 En raison du domicile à l'étranger de l'intimée, l'affaire revêt un caractère international (ATF 131<br />

<strong>II</strong>I 76 consid. 2). Saisi d'un recours en matière civile, le Tribunal fédéral doit contrôler d'office la question<br />

du droit applicable, laquelle se résout selon la loi du for, soit en l'occurrence la loi fédérale du 18<br />

décembre 1987 sur le droit international privé (LDIP; RS 291; ATF 135 <strong>II</strong>I 259 consid. 2.1 p. 261; ATF<br />

133 <strong>II</strong>I 37 consid. 2, ATF 133 <strong>II</strong>I 323 consid. 2.1).<br />

En vertu de l'art. 134 LDIP, norme qui renvoie à l'art. 3 de la Convention de La Haye du 4 mai 1971<br />

sur la loi applicable en matière d'accidents de la circulation routière (RS 0.741.31), le droit interne<br />

suisse est applicable en l'espèce, en tant que loi du lieu de l'accident.<br />

2.2 L'action en dommages-intérêts et en réparation du tort moral introduite par l'intimée relève entièrement<br />

du droit fédéral. En conséquence, le Tribunal fédéral applique le droit d'office et réexamine<br />

librement la question juridique posée (art. 106 al. 1 LTF).<br />

2.3 Selon l'art. 83 al. 1 de la loi fédérale du 19 décembre 1958 sur la circulation routière (LCR; RS<br />

741.01), les actions en dommages-intérêts et en réparation du tort moral qui découlent d'accidents<br />

causés par des véhicules automobiles ou des cycles se prescrivent par deux ans à partir du jour où le<br />

lésé a eu connaissance du dommage et de la personne qui en est responsable, mais en tout cas par<br />

dix ans dès le jour de l'accident. Toutefois, si les dommages-intérêts dérivent d'un acte punissable<br />

soumis par les lois pénales à une prescription de plus longue durée, cette prescription s'applique à<br />

l'action civile. En prévoyant l'application de la prescription pénale si elle est de plus longue durée, le<br />

législateur a voulu éviter que le lésé ne puisse plus agir contre le responsable à un moment où celuici<br />

pourrait encore faire l'objet d'une procédure pénale dont les conséquences sont en principe plus<br />

lourdes pour lui (ATF 136 <strong>II</strong>I 502 consid. 6.1 p. 503; ATF 131 <strong>II</strong>I 430 consid. 1.2 p. 433; ATF 127 <strong>II</strong>I 538<br />

consid. 4c p. 541; ATF 125 <strong>II</strong>I 339 consid. 3a p. 340).<br />

La prescription pénale plus longue doit aussi être appliquée à l'action que le lésé a le droit d'intenter<br />

directement à l'assureur en responsabilité civile de l'auteur de l'infraction, en vertu de l'art. 65 al. 1<br />

LCR (ATF 112 <strong>II</strong> 79 consid. 3c p. 82 s.).<br />

Lorsque la prescription est interrompue à l'égard de la personne responsable, elle l'est aussi à l'égard<br />

de l'assureur, et vice versa (art. 83 al. 2 LCR).<br />

Pour le reste - c'est-à-dire notamment la question de l'interruption et de la suspension de la prescription<br />

-, le code des obligations est applicable (art. 83 al. 4 LCR).<br />

2.4 Pour que la prescription pénale entre en considération en vertu de l'art. 83 al. 1 LCR (ou de l'art.<br />

60 al. 2 CO qui est identique sur ce point), il faut que les prétentions civiles résultent, avec causalité<br />

naturelle et adéquate, d'un comportement du responsable qui constitue, d'un point de vue objectif<br />

et subjectif, une infraction pénale prévue par une norme ayant notamment pour but de protéger le<br />

lésé; pour dire s'il y a ou non une infraction pénale, le juge civil est lié par une condamnation ou une<br />

décision libératoire prononcée au pénal (ATF 136 <strong>II</strong>I 502 consid. 6.1 p. 503).<br />

En l'espèce, toutes les prétentions de l'intimée découlent de l'accident causé par la faute de l'automobiliste<br />

dont le comportement a été qualifié, par un jugement pénal entré en force, d'homicide par<br />

négligence (art. 117 CP) et de lésions corporelles graves par négligence (art. 125 CP).<br />

Il faut donc examiner s'il y a lieu d'appliquer le délai de prescription prévu par le droit pénal.<br />

2.5 Pour dire si le délai de prescription est plus long au pénal qu'au civil, il faut prendre en considération<br />

la prescription relative du droit pénal, et non pas la prescription absolue (ATF 100 <strong>II</strong> 339 consid.<br />

1b p. 342).<br />

Même si l'on parvient à la conclusion qu'il faut appliquer le délai de la prescription pénale, celui-ci est<br />

peut-être interrompu selon les règles du droit civil (ATF 100 <strong>II</strong> 339 consid. 1b p. 342). Autrement dit,<br />

la prescription de l'action civile, dans son mécanisme, est entièrement régie par le droit privé; cela<br />

vaut notamment pour déterminer les actes interruptifs de la prescription et les effets d'une interrup-<br />

179


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

tion; le droit pénal n'intervient que pour substituer au délai prévu par le droit civil le délai plus long<br />

découlant du droit pénal.<br />

En conséquence, pour connaître les actes qui peuvent interrompre la prescription, il faut se référer<br />

aux art. 135 et 138 CO. Lorsque la prescription a été interrompue, un nouveau délai commence à<br />

courir dès l'interruption (art. 137 al. 1 CO).<br />

Lorsque le délai de la prescription pénale est applicable, son interruption fait courir à nouveau le<br />

délai de la prescription pénale, quand bien même la prescription pénale absolue interviendrait dans<br />

ce nouveau délai (ATF 131 <strong>II</strong>I 430 consid. 1.2 p. 434 let. d; ATF 127 <strong>II</strong>I 538 consid. 4d p. 542).<br />

En revanche, lorsque la prescription pénale absolue est atteinte, un acte interruptif ultérieur ne peut<br />

faire courir que le délai prévu par le droit civil (ATF 131 <strong>II</strong>I 430 consid. 1.3 et 1.4 p. 435).<br />

2.6 Au moment de l'accident, les deux infractions pénales retenues (l'homicide par négligence au<br />

sens de l'art. 117 CP et les lésions corporelles graves par négligence au sens de l'art. 125 CP) étaient<br />

passibles de l'emprisonnement - d'une durée maximum de trois ans (art. 36 CP) - ou de l'amende. Il<br />

en résultait que le délai de la prescription relative - qui est déterminant - était de cinq ans (art. 70<br />

CP), tandis que le délai de la prescription absolue était de sept ans et demi (art. 72 al. 3 CP). Dès lors<br />

que le délai relatif est de cinq ans, il faut constater, à ce stade du raisonnement, qu'il est plus long<br />

que le délai de deux ans prévu par le droit civil (art. 83 al. 1 LCR) et qu'il est donc en principe applicable.<br />

Par la suite, l'art. 70 CP a été modifié par une loi du 5 octobre 2001, entrée en vigueur le 1 er octobre<br />

2002 (RO 2002 2993). Désormais, le droit pénal ne fait plus de distinction entre la prescription relative<br />

et la prescription absolue; le délai de prescription (unique) pour les deux infractions en cause est<br />

de sept ans (art. 70 révisé CP).<br />

Par une loi du 13 décembre 2002 entrée en vigueur le 1 er janvier 2007 (RO 2006 3459), une nouvelle<br />

partie générale du code pénal a été adoptée. Les deux infractions en cause sont désormais passibles<br />

d'une peine privative de liberté de trois ans au plus ou d'une peine pécuniaire (cf. art. 117 et 125<br />

CP). Il en résulte que le délai de prescription (unique) est de sept ans (art. 97 al. 1 let. c CP).<br />

On voit donc que la teneur du droit pénal a été modifiée depuis l'accident. Dans une telle situation,<br />

c'est à la lumière des règles du droit pénal qu'il faut déterminer la version qui doit être retenue pour<br />

fixer la durée de la prescription pénale applicable au civil (cf. ATF 132 <strong>II</strong>I 661 consid. 4.3 p. 666).<br />

En vertu du principe de la lex mitior (art. 2 CP), repris désormais expressément pour le problème de<br />

la prescription par le nouvel art. 389 al. 1 CP, il convient d'appliquer, pour la question en cause, la loi<br />

la plus favorable au responsable. S'agissant du délai relatif qui est déterminant, il est évident que le<br />

délai de cinq ans prévu par l'ancien droit est plus favorable que le nouveau délai fixé à sept ans.<br />

2.7 A considérer ce qui vient d'être dit, le cas d'espèce doit être résolu de la façon suivante.<br />

L'accident (donc les infractions en cause) est survenu le 5 février 1998.<br />

La prescription pénale absolue a été atteinte, selon l'ancien droit (sept ans et demi), le 5 août 2005<br />

et, selon le nouveau droit (sept ans), le 5 février 2005. Il a été constaté en fait - d'une manière qui lie<br />

le Tribunal fédéral (art. 105 al. 1 LTF) - que l'assureur a versé divers acomptes dès le 20 mars 2001,<br />

dont un le 10 novembre 2004. Ce fait est donc antérieur au moment où la prescription absolue a été<br />

atteinte. Le versement d'un acompte est incontestablement interruptif de la prescription (art. 135<br />

ch. 1 CO). Dès lors que l'interruption est intervenue avant que la prescription absolue ne soit atteinte,<br />

c'est un nouveau délai pénal plus long (cinq ans au lieu de deux ans) qui a commencé à courir.<br />

A compter du 10 novembre 2004, ce délai a expiré le 10 novembre 2009. En conséquence, la demande<br />

déposée le 24 août 2009 - qui a interrompu la prescription (art. 138 al. 1 CO) - est intervenue<br />

à un moment où l'action n'était pas prescrite. Partant, il faut constater, par substitution de motifs,<br />

que c'est à juste titre que le moyen tiré de la prescription a été écarté. La décision attaquée, dans<br />

son résultat, ne viole pas le droit fédéral et le recours doit être rejeté.<br />

2.8 Il n'est pas nécessaire de se pencher sur l'argumentation retenue par la cour cantonale. Sachant<br />

que la renonciation à la prescription est souvent demandée dans l'urgence et que la question de la<br />

prescription est parfois complexe, on ne voit pas pourquoi la formule selon laquelle la renonciation<br />

180


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

n'intervient qu'à la condition que la prescription ne soit pas déjà acquise serait dépourvue de sens et<br />

d'effet juridique. Qu'un assureur paie des acomptes ou renonce pendant un certain temps à se prévaloir<br />

de la prescription n'implique nullement qu'il renonce définitivement à faire valoir un tel moyen<br />

dans l'avenir, de sorte que l'on ne parvient pas à discerner en quoi l'assureur aurait agi en la matière<br />

contrairement aux règles de la bonne foi.<br />

BGE 125 <strong>II</strong>I 339<br />

59. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 25. August 1999 i.S. V. gegen Versicherung X. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Art. 83 Abs. 3 SVG; Verjährung der Rückgriffsrechte.<br />

Gemäss Art. 83 Abs. 1 SVG tritt die Verjährung von Schadenersatz- und Genugtuungsansprüchen aus<br />

Motorfahrzeug- oder Fahrradunfällen, die aus einer strafbaren Handlung hergeleitet werden, nicht<br />

vor der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung ein. Dasselbe gilt auch für Rückgriffsansprüche gemäss<br />

Art. 83 Abs. 3 SVG (E. 3-5).<br />

Sachverhalt<br />

V. fuhr am 10. Oktober 1994 mit dem Lastwagen seiner Arbeitgeberin von Liestal Richtung Sissach,<br />

als er mit der Leiteinrichtung einer Baustellenabschrankung am rechten Strassenrand kollidierte.<br />

Durch den Aufprall geriet das Fahrzeug auf die gegenüberliegende Strassenseite, wo es schliesslich<br />

an einer Lärmschutzwand am Fahrbahnrand zum Stehen kam. An dem Lastwagen, der Baustellenabschrankung<br />

und der Lärmschutzwand sowie am Personenwagen eines Dritten entstand Sachschaden<br />

in der Höhe von insgesamt Fr. 144'312.55. Aufgrund dieses Unfalls wurde V. mit Strafbefehl vom 7.<br />

Juni 1995 wegen grober Verkehrsregelverletzung gebüsst, wobei der Strafbefehl auch einen zweiten,<br />

im vorliegenden Zusammenhang nicht interessierenden Unfall mit einfacher Verkehrsregelverletzung<br />

umfasste.<br />

Die Haftpflichtversicherung der Halterin des Lastwagens, die Versicherung X., beglich den Schaden<br />

bis auf Fr. 1'000.- Selbstbehalt und nahm auf V. Rückgriff wegen grobfahrlässiger Verursachung des<br />

Unfalls. Dieser widersetzte sich einer Zahlung mit der Begründung, der Anspruch sei verjährt.<br />

Das Bezirksgericht Liestal hiess die Klage der Versicherung mit Urteil vom 14. Mai 1998 im Betrage<br />

von Fr. 20'000.- nebst Zins gut. Gleich entschied das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft mit<br />

Urteil vom 23. März 1999.<br />

Das Bundesgericht weist die Berufung des Beklagten ab aus folgenden<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

3. a) Art. 83 des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr (SVG; SR 741.01) regelt die Verjährung<br />

sowohl der direkten Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche aus Motorfahrzeug- und Fahrradunfällen<br />

als auch der im Strassenverkehrsgesetz vorgesehenen Rückgriffsrechte. In beiden Fällen beträgt<br />

die Verjährungsfrist grundsätzlich zwei Jahre. Wird der Anspruch jedoch aus einer strafbaren<br />

Handlung hergeleitet, für die das Strafrecht eine längere Verjährung vorsieht, so gilt diese gemäss<br />

Art. 83 Abs. 1 SVG auch für den zivilrechtlichen Direktanspruch. Demgegenüber enthält Absatz 3,<br />

welcher die Verjährung der Rückgriffsrechte zum Gegenstand hat, dem Wortlaut nach keine entsprechende<br />

Präzisierung. Weder aus der Botschaft des Bundesrates zum Strassenverkehrsgesetz noch aus<br />

den Beratungen in National- und Ständerat geht hervor, aus welchen Gründen in Absatz 3 ein Verweis<br />

auf die strafrechtlichen Verjährungsfristen unterblieb bzw. ob die Differenz zwischen den beiden<br />

Absätzen auf eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zurückgeht. Der Botschaft lässt sich<br />

immerhin entnehmen, dass eine einheitliche Verjährung des Anspruchs gegen den Fahrzeugführer,<br />

181


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

den Halter und den Haftpflichtversicherer sowie gegen weitere, neben dem Halter haftende Personen<br />

angestrebt wurde. Entsprechend der Regel von Art. 60 <strong>OR</strong> sollte ferner vermieden werden, dass<br />

der Zivilanspruch verjährt, bevor die Verfolgungsverjährung des Strafrechts eintritt. Was die Verjährung<br />

der Rückgriffsrechte anbelangt, erwähnte die Botschaft wiederum das Ziel einer einheitlichen<br />

Regelung, ohne aber zur Frage der Anwendbarkeit der strafrechtlichen Verjährungsfristen Stellung zu<br />

nehmen (BBl 1955 <strong>II</strong> 58 f.).<br />

b) Die Verjährungsfristen des Strafrechtes gelten subsidiär in weiten Bereichen des ausservertraglichen<br />

<strong>Haftpflichtrecht</strong>s. Neben Art. 60 Abs. 2 <strong>OR</strong> und Art. 83 Abs. 1 SVG sieht auch Art. 39 Abs. 1 RLG<br />

(Rohrleitungsgesetz; SR 746.1) sie ausdrücklich vor. Ausserdem gelten sie mittels Verweis auf Art. 60<br />

<strong>OR</strong> auch im Umweltschutzgesetz (SR 814.01), Sprengstoffgesetz (SR 941.41) und Jagdgesetz (SR<br />

922.0). Sinn und Zweck dieser Ausnahmeregelungen ist die Harmonisierung der Vorschriften des<br />

Zivil- und Strafrechts im Bereich der Verjährung. Es erschiene unbefriedigend, wenn der Täter zwar<br />

noch bestraft werden könnte, die Wiedergutmachung des zugefügten Schadens aber nicht mehr<br />

verlangt werden dürfte (BGE 122 <strong>II</strong>I 225 E. 5 S. 228; BGE 122 <strong>II</strong>I 5 E. 2b S. 7; BGE 100 <strong>II</strong> 332 E. 2a S.<br />

334 f.; BREHM, Berner Kommentar, 2. Aufl., Bern 1998, N. 66 f.; ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht,<br />

Bd. <strong>II</strong>, 2. Aufl., Bern 1998, S. 269 f.; BERTI, Basler Kommentar, 2. Aufl., Basel 1996, N. 11 zu Art.<br />

60 <strong>OR</strong>).<br />

In BGE 111 <strong>II</strong> 429 E. 2d S. 439 f. (bestätigt in BGE 112 <strong>II</strong> 172 E. <strong>II</strong>/2c S. 190) entschied das Bundesgericht,<br />

die längere strafrechtliche Verjährungsfrist sei auch juristischen Personen entgegenzuhalten,<br />

welche den von ihren Organen verursachten Schaden zu ersetzen haben. In BGE 112 <strong>II</strong> 79 E. 3 S. 81 ff.<br />

hielt das Bundesgericht sodann fest, auch der unmittelbare Anspruch gegen den Versicherer gemäss<br />

Art. 65 Abs. 1 SVG unterliege gegebenenfalls der strafrechtlichen Verjährungsfrist. Es führte aus, der<br />

Wortlaut von Art. 83 Abs. 1 SVG mache - ebenso wie Art. 60 Abs. 2 <strong>OR</strong> - die Anwendung der strafrechtlichen<br />

Verjährungsfrist allein davon abhängig, dass die Klage aus einer strafbaren Handlung<br />

hergeleitet werde, setze aber nicht voraus, dass diese Handlung vom Beklagten selbst begangen<br />

worden sei. Ein Teil der Lehre schloss daraus, Art. 60 Abs. 2 <strong>OR</strong> gelte allgemein auch gegenüber demjenigen,<br />

der für das Verhalten des Täters wie für sein eigenes einzustehen habe (BREHM, a.a.O., N.<br />

101 zu Art. 60 <strong>OR</strong>). Diese Auffassung wurde in BGE 122 <strong>II</strong>I 225 E. 5 S. 228 bestätigt und die längere<br />

Verjährungsfrist nach Art. 60 Abs. 2 <strong>OR</strong> folgerichtig auch auf die Hilfspersonenhaftung gemäss Art. 55<br />

<strong>OR</strong> ausgedehnt.<br />

c) Wird ein Haftpflichtversicherer vom Geschädigten unmittelbar in Anspruch genommen, kann er<br />

diesem gemäss Art. 65 Abs. 2 SVG keinerlei Einreden aus dem Versicherungsvertrag oder aus dem<br />

Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag (VVG; SR 221.229.1) entgegenhalten. Im Interesse eines<br />

konsequenten und umfassenden Schutzes des Geschädigten ist der Versicherer deshalb unter<br />

Umständen gehalten, Leistungen zu erbringen, die er aufgrund des internen Rechtsverhältnisses zwischen<br />

ihm und dem Versicherungsnehmer bzw. dem Versicherten abzulehnen oder zu kürzen berechtigt<br />

wäre. Zum Ausgleich räumt ihm Art. 65 Abs. 3 SVG ein gesetzliches Rückgriffsrecht ein. Diesen<br />

Anspruch in verjährungsrechtlicher Hinsicht anders zu behandeln als das direkte Forderungsrecht<br />

des Geschädigten, ist sachlich nicht gerechtfertigt. Der Versicherer, der von Gesetzes wegen eine<br />

Leistung zu erbringen hat, zu der er vertraglich nicht verpflichtet ist, muss sich vom Geschädigten die<br />

längere strafrechtliche Verjährungsfrist entgegenhalten lassen (BGE 112 <strong>II</strong> 79 E. 3 S. 81 ff.). Es wäre<br />

daher unbillig, wenn sein Rückgriff gegen den Schädiger seinerseits der kürzeren zweijährigen Verjährungsfrist<br />

unterliegen würde. Umgekehrt gibt es keinen Grund, einen Schädiger, der eine strafbare<br />

Handlung begangen hat, zu privilegieren und seine zivilrechtliche Leistungspflicht vor dem ihr zugrunde<br />

liegenden Delikt verjähren zu lassen, nur weil der Geschädigte in Anwendung von Art. 65 Abs.<br />

1 SVG direkt gegen den Versicherer vorgegangen ist. Es erschiene nicht weniger unbefriedigend als<br />

im Falle des Direktanspruchs, wenn der Regressanspruch verjähren könnte, solange der Schädiger<br />

noch strafrechtlich verfolgt werden kann. Dies ist denn auch die einhellige Meinung jener Autoren,<br />

die sich zu dieser Frage äussern (OFTINGER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Besonderer<br />

Teil, Bd. <strong>II</strong>/2, 4. Aufl., Zürich 1989, Rz. 776; BUSSY/RUSCONI, a.a.O., N. 5.3 zu Art. 83 SVG; SCHAFF-<br />

HAUSER/ZELLWEGER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. <strong>II</strong>, Bern 1988, Rz.<br />

1508).<br />

182


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

d) Diese Überlegungen führen zum Schluss, dass der Gesetzgeber den Verweis auf die Verjährungsfristen<br />

des Strafrechts in Art. 83 Abs. 3 SVG nicht bewusst unterlassen hat. Beim Erlass dieser Bestimmung<br />

stand eine einheitliche Regelung von Beginn und Dauer der Verjährung der Rückgriffsrechte<br />

des Strassenverkehrsgesetzes im Vordergrund (E. 3a hiervor). Einer Klärung bedurfte namentlich<br />

der Beginn der Verjährung, wofür - zusätzlich zur Kenntnis des Ersatzpflichtigen - der Zeitpunkt der<br />

letzten Zahlung des Rückgriffsberechtigten nahe lag, da damit erst das Regressrecht entstehen und<br />

dessen Obergrenze bestimmt werden kann. Eine Abweichung von den in Art. 83 Abs. 1 SVG vorgesehenen<br />

Fristen wurde hingegen nicht beabsichtigt. Dem Bestreben nach möglichst weitgehender Vereinheitlichung<br />

der Verjährung würde vielmehr zuwiderlaufen, den regressierenden Versicherer anders<br />

zu behandeln als den unmittelbar Geschädigten. Demnach ist Abs. 3 so zu lesen, dass die erneute<br />

Erwähnung derselben Verjährungsfrist wie in Abs. 1 lediglich den Gleichlauf der Verjährungsdauer<br />

betont, während eigentlicher Regelungsgegenstand der dies a quo ist. Bei Herleitung der Schadenersatzklage<br />

aus einer strafbaren Handlung muss die in Art. 83 Abs. 1 SVG vorgesehene strafrechtliche<br />

Verjährungsfrist deshalb auch für den Regressanspruch gelten.<br />

4. a) Was der Beklagte in der Berufungsschrift dagegen vorbringt, vermag daran nichts zu ändern.<br />

Verfehlt ist zunächst das Argument, der Regress des Versicherers sei vertraglicher Natur, so dass es<br />

an einer strafbaren Handlung und damit an einer Voraussetzung für die Anwendung der strafrechtlichen<br />

Verjährungsfrist fehle. Wie aus dem Wortlaut von Art. 83 Abs. 1 SVG hervorgeht, setzt die Anwendbarkeit<br />

der längeren strafrechtlichen Verjährungsfrist bloss voraus, dass die Klage aus einer<br />

strafbaren Handlung hergeleitet wird. Weder kommt es darauf an, dass die Straftat vom Beklagten<br />

selbst begangen wurde (BGE 122 <strong>II</strong>I 225 E. 5 S. 228), noch verlangt der Wortlaut dieser Bestimmung,<br />

dass der Kläger als Opfer zu betrachten ist. Die Rechtsnatur des Rückgriffsrechts des Versiche-rers ist<br />

im Übrigen umstritten (vgl. OFTINGER/STARK, a.a.O., § 26 Rz. 214 und FN 376). Fest steht jedoch,<br />

dass der Regress auf dem Gesetz, nämlich Art. 65 Abs. 3 SVG beruht, und dass er auf eine Rückerstattung<br />

von Leistungen zielt, die der Versicherer über seine Vertragspflicht hinaus erbracht hat. Diese<br />

Leistungen erbringt der Versicherer mithin entgegen der Auffassung des Beklagten nicht in Erfüllung<br />

seiner vertraglichen Pflichten, sondern vielmehr - aufgrund des gesetzlichen Einredenausschlusses<br />

gemäss Art. 65 Abs. 2 SVG - trotz möglicher Einreden aus Vertrag oder Gesetz.<br />

b) Auch die vom Beklagten vorgeschlagene grammatikalische Auslegung von Art. 83 Abs. 1 SVG vermag<br />

nicht zu überzeugen. Beim Regress des Versicherers gemäss Art. 65 Abs. 3 SVG wird der Anspruch<br />

offensichtlich «aus einer strafbaren Handlung hergeleitet», ist diese (bzw. die grobfahrlässige<br />

Herbeiführung des Schadenereignisses) doch gerade Grund und Voraussetzung für den Rückgriff.<br />

c) Der Beklagte will seinen Standpunkt ferner aufgrund systematischer Auslegung gestützt wissen. Er<br />

macht geltend, das Rückgriffsrecht des Versicherers bezwecke eine Wiederherstellung der «normalen<br />

Verhältnisse gemäss VVG». Dieses Gesetz sehe aber in Art. 46 VVG für alle Forderungen aus Versicherungsverträgen<br />

eine<br />

zweijährige Verjährungsfrist vor. Der Beklagte übersieht allerdings, dass Art. 83 SVG eigene Verjährungsbestimmungen<br />

enthält und nicht auf das VVG verweist. Das erscheint folgerichtig, da der Einredenausschluss<br />

gemäss Art. 65 Abs. 2 SVG und als dessen Ausgleich der Regress des Versicherers gemäss<br />

Art. 65 Abs. 3 SVG ihre Grundlage nicht im Versicherungsvertrag, sondern im Gesetz haben<br />

(OFTINGER/STARK, a.a.O., § 26 Rz. 214 und FN 376). Im Übrigen hätte es der Gesetzgeber, wenn er<br />

eine blosse Anpassung an die Fristen des VVG bezweckt hätte, bei einem Verweis belassen können.<br />

d) Unbegründet ist sodann die Befürchtung des Beklagten, die allgemeine zweijährige Verjährungsfrist<br />

gemäss Art. 83 Abs. 3 SVG würde zur Makulatur verkommen, weil einige der im SVG geregelten<br />

Rückgriffsrechte stets mit einer als Vergehen strafbaren Handlung in Zusammenhang stünden. Wie<br />

der Beklagte selbst aufzeigt, handelt es sich dabei um weniger als die Hälfte, nämlich um zwei der<br />

insgesamt fünf Rückgriffsrechte, welche das SVG erwähnt. Für die Anwendung der zweijährigen Verjährungsfrist<br />

bleibt mithin genügend Raum.<br />

e) Die Ausführungen des Beklagten zu den Unterschieden zwischen Ersatz- und Rückgriffsanspruch<br />

vermögen seinen Standpunkt ebenso wenig zu stützen. Namentlich trifft nicht zu, dass es der Versicherer<br />

in der Hand habe, den Beginn der Verjährungsfrist durch Erbringen der letzten Zahlung selbst<br />

festzusetzen. Die Zahlungen an den Geschädigten stehen nicht im Belieben des Versicherers, sondern<br />

183


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

er ist von Gesetzes wegen dazu verpflichtet (Art. 65 Abs. 1 SVG) und kann im Rahmen des vom Schädiger<br />

zu ersetzenden Schadens vom Geschädigten dazu angehalten werden. Auch das Argument, der<br />

Versicherer werde anders als der Geschädigte an den Schadenfall und damit an die Möglichkeit des<br />

Regresses erinnert, wenn er vom Geschädigten direkt in Anspruch genommen werde, ist verfehlt.<br />

Der Beklagte verkennt dabei den wahren Regelungszweck, die Harmonisierung der zivil- und strafrechtlichen<br />

Verjährung (E. 3b hiervor). Namentlich kann er aus einer anders gelagerten, speziellen<br />

Verjährungsregelung im Kernenergiehaftpflichtgesetz nichts zu seinen Gunsten ableiten. Dasselbe gilt<br />

für die vom Beklagten angeführte Anzeigeobliegenheit gemäss Vorentwurf zur Revision des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s,<br />

den das geltende Recht nicht kennt.<br />

f) Schliesslich lässt sich auch aus dem Aspekt der Rechtssicherheit nichts zu Gunsten des Beklagten<br />

ableiten. Die Anwendbarkeit der längeren strafrechtlichen Verjährungsfristen bedeutet keineswegs,<br />

dass der Schuldner in alle Zukunft noch in Anspruch genommen werden kann, sondern nur, dass<br />

Direktanspruch und Regress-anspruch in verjährungsrechtlicher Hinsicht einheitlich behandelt werden.<br />

5. Nach dem Gesagten unterliegt die Regressforderung der Klägerin der längeren strafrechtlichen<br />

Verjährungsfrist. Der Beklagte wurde wegen des Unfalls vom 10. Oktober 1994 wegen grober Verletzung<br />

der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG verurteilt. Diese Bestimmung sieht als Strafe Gefängnis<br />

oder Busse vor. Gemäss Art. 70 StGB tritt die Verfolgungsverjährung in diesem Fall nach fünf<br />

Jahren ein. Die Vorinstanz hat mithin im Ergebnis kein Bundesrecht verletzt, wenn sie die Verjährungseinrede<br />

des Beklagten abgewiesen hat.<br />

BGE 111 <strong>II</strong> 55 = Pra 74 (1995) Nr. 129<br />

129. Schadenersatz aus unerlaubter Handlung. Beginn der Verjährung bei Sachschaden, <strong>OR</strong> 60 I. Die<br />

«Kenntnis vom Schaden» ist beim Geschädigten, der unverzüglich hat reparieren lassen, spätestens<br />

vorhanden, wenn er die Reparaturrechnung erhält; die Beweislast dafür, dass der Geschädigte schon<br />

früher Kenntnis hatte, trägt der Beklagte, der die Verjährung einwendet (E. 3 a; Bestätigung der<br />

Rechtsprechung). Anwendung auf den konkreten Fall (E. 3 b).<br />

Sachverhalt<br />

Am 25. Oktober 1980 verunfallte X in Lausanne mit seinem Porsche Carrera, Modell 1973, wobei<br />

dieser Wagen schwer beschädigt wurde. Für die Reparatur stellte die Herstellerfirma in Stuttgart am<br />

9. März 1981 Rechnung in Höhe von DM 23 604.93 (= Fr. 21504.05). Ausserdem bezahlte X Fr.<br />

1128.90 Zollabgaben. Er klagte am 26. Januar 1982 gegen die Stadt Lausanne als Strasseneigentümerin<br />

(<strong>OR</strong> 58) auf Zahlung der ihm entstandenen Kosten. Die Beklagte erhob die Einrede der Verjährung,<br />

bestritt ihre Haftung und stellte 760 Fr. zur Verrechnung für den Ersatz eines beim Unfall zerstörten<br />

Baumes. Das Kantg Waadt wies die Klage in Gutheissung der Verjährungseinrede ab. Auf<br />

Berufung des Klägers hin verwirft das Bg die Einrede der Verjährung und weist zurück.<br />

Aus den Erwägungen<br />

2. Nach richtiger Auffassung der Vi beurteilt sich die Verjährung nach <strong>OR</strong> 60 und nicht nach SVG 83.<br />

Die Klage stützt sich auf <strong>OR</strong> 58 unter Ausschluss irgendwelcher Bestimmungen des SVG. Die Verjährung<br />

nach diesem Spezialgesetz findet auf X nicht schon deswegen Anwendung, weil der Schaden<br />

durch den Betrieb seines eigenen Automobils verursacht wurde (vgl. das Urteil des Obg Zürich, das<br />

vom Bg bestätigt wurde, in ZR 75 Nr.24, S. 87; Bussy/Rusconi, Code suisse de la circulation routière,<br />

N. 1.6 zu SVG 83; Deschenaux/Tercier, La responsabilité civile, S.200). Es liegt auch kein Fall solidarischer<br />

Haftung nach SVG 60 I vor, der die Anwendung von SVG 83 zur Folge hätte (Oftinger, <strong>II</strong>/2, S.<br />

682; vgl. Cour de justice civile Genf, in SJ 1974, S. 205 ff.). Dass die Beklagte eine Schadenersatzforde-<br />

184


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

rung gegen X in dessen Eigenschaft als Halter eines Automobils zur Verrechnung gestellt hat, genügt<br />

nicht, um eine ausschliesslich auf dem gemeinen Recht beruhende Klage der ausserordentlichen<br />

zweijährigen Verjährung zu unterstellen, ohne dass eine auf das Spezialgesetz gegründete Haftpflicht<br />

mitspielt.<br />

3. Nach <strong>OR</strong> 60 I verjährt die Schadenersatzklage in 1 Jahr von dem Tag hinweg, an dem der Geschädigte<br />

Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat, jedenfalls aber mit<br />

dem Ablauf von 10 Jahren seit dem Tag der schädigenden Handlung.<br />

Die Vi führt aus, der Schaden des X sei einige Tage nach dem Unfall im wesentlichen bestimmbar<br />

gewesen, also mehr als 1 Jahr vor dem Datum der Klage (26. Januar 1982); «die Schäden an seinem<br />

Wagen waren gut sichtbar und erheblich ... wenn er den Wagen wegen des erheblichen Schadens der<br />

Herstellerfirma zur Reparatur geschickt hat, so wusste er schon damals um die besondere Schwere<br />

des Schadens». X macht demgegenüber geltend, er habe keine Kenntnis vom Schaden gehabt, bevor<br />

er die Rechnungen der Firma Porsche und der Zollverwaltung erhalten habe.<br />

a) Nach der Rechtsprechung des Bg hat der Gläubiger genügende Kenntnis vom Schaden, wenn er<br />

dessen Existenz, Beschaffenheit und Merkmale so kennt, dass eine gerichtliche Klage zu rechtfertigen<br />

und zu begründen ist; der Gläubiger darf mit seiner Klage nicht zuwarten bis zum Moment, in dem er<br />

den ganz genauen Schadensbetrag kennt, kann der Schaden doch nach <strong>OR</strong> 42 <strong>II</strong> zu schätzen sein; im<br />

übrigen ist der Schaden genügend bestimmt, wenn der Gläubiger über die Grundlagen verfügt, um<br />

ihn abzuschätzen (BGE 108 I b 99 mit Hinweisen). Im Hinblick auf die kurze Verjährungsfrist von 1<br />

Jahr darf diesbezüglich vom Gläubiger nicht zuviel verlangt werden (BGE 74 <strong>II</strong> 34 = Pr 37 Nr. 127); je<br />

nach den Umständen muss ihm noch eine gewisse Zeit gelassen werden, um das definitive Ausmass<br />

des Schadens abzuschätzen, allein oder mit Hilfe Dritter (BGE 96 <strong>II</strong> 41 Pr 59 Nr. 111 mit Hinweisen).<br />

Die Frist von <strong>OR</strong> 60 I beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Geschädigte vom Schaden im obengenannten<br />

Sinn tatsächlich Kenntnis hat, und nicht mit demjenigen, in dem er bei Anwendung der nach<br />

den Umständen gebotenen Aufmerksamkeit die Höhe seiner Forderung hätte kennen können (BGE<br />

109 <strong>II</strong> 434 = Pr 73 Nr. 78). Bleibt zweifelhaft, ob die Tatsachen zur Begründung einer gerichtlichen<br />

Klage ausreichten, so muss sich das gegen den Schuldner auswirken, der die Einrede der Verjährung<br />

erhebt und dem die Beweislast obliegt (ZGB 8; vgl. Spiro, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs–,<br />

Verwirkungs- und Fatalfristen, I S. 894; Kummer, N. 178 und 304 in fine zu ZGB 8;<br />

Deschenaux, Der Einleitungstitel, S.255).<br />

In BGE 82 <strong>II</strong> 44 f. = Pr 45 Nr. 41 hat das Bg hinsichtlich der Reparaturkosten einer beschädigten Sache<br />

ausgeführt, der Gläubiger habe jedenfalls eine genügende Kenntnis vom Schaden, wenn er die Rechnung<br />

für die Reparaturkosten erhält. Schwander (Die Verjährung ausservertraglicher und vertraglicher<br />

Schadenersatzforderungen, Diss. Freiburg 1963, S.17) stimmt diesem Urteil zu und hebt hervor,<br />

der Gläubiger werde meistens die Reparaturkosten schon kennen, bevor er die Rechnung erhalte.<br />

Jaeger (La prescription des créances en dommages-intérêts, in Journées du droit de la circulation<br />

routière, Fribourg 1984, S.11) zitiert das obenerwähnte Urteil und fasst es dahin zusammen, bei<br />

Sachschaden sei der Empfang der Reparaturrechnung massgebend. Stark (Ausservertragliches <strong>Haftpflichtrecht</strong>,<br />

Skriptum 1982, No. 1082) ist der Ansicht, bei Sachschaden beginne die Verjährungsfrist<br />

erst mit dem Empfang der Reparaturrechnung ... oder bei Totalschaden mit der Feststellung, dass die<br />

Reparaturkosten höher wären als der Wert der Sache vor dem Unfall.<br />

BGE 82 <strong>II</strong> 45 = Pr 45 Nr. 41 ist zu bestätigen. Von aussergewöhnlichen Umständen abgesehen, hat der<br />

Geschädigte jedenfalls Kenntnis vom Schaden, wenn er die Reparaturrechnung erhält. Das schliesst<br />

aber nicht aus, dass er schon vorher eine genügende Kenntnis haben kann. Das wird der Fall sein,<br />

wenn ein vertrauenswürdiges Gutachten über die Reparaturkosten vorliegt, wenn ein Unternehmer<br />

sich verpflichtet, zu einem Pauschalpreis oder aufgrund eines präzisen Kostenvoranschlags zu reparieren,<br />

oder wenn der Geschädigte über andere Informationen verfügt, welche eine Abschätzung des<br />

Schadens erlauben. Dagegen wird in andern Fällen erst die Zustellung der Rechnung dem Gläubiger<br />

die nötigen Informationen verschaffen ... Entscheidend sind daher die näheren Umstände des Einzelfalles.<br />

Beim Fehlen jedes Anhaltspunktes dafür, dass der Gläubiger über das Ausmass des Schadens<br />

schon vorher informiert gewesen wäre, ist massgebender Zeitpunkt der Empfang der Rechnung, sofern<br />

wenigstens der Gläubiger unverzüglich hat reparieren lassen.<br />

185


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

b) Wird im vorliegenden Falle das Ausmass der Schäden, die mögliche Ungewissheit über die Zweckmässigkeit<br />

einer Reparatur und der Transport des Wagens zur Herstellerfirma nach Stuttgart berücksichtigt,<br />

lässt sich nicht sagen, X habe mit der Reparatur übertrieben lange zugewartet. Es ist zudem<br />

völlig unbekannt, ob über die Kosten der Reparatur ein Gutachten erstellt wurde, ob der Genfer Garagist,<br />

der X beraten hat, ihm diesbezüglich genaue Angaben machen konnte, und ob die Firma Porsche<br />

einen Kostenvoranschlag ausgearbeitet hat. Es ist deshalb möglich, aber nicht bewiesen, dass X<br />

das Ausmass des Schadens schon vor dem Empfang der Rechnungen gekannt hat. Die diesbezügliche<br />

Ungewissheit geht zu Lasten der Beklagten, welche die Verjährungseinrede erhoben hat. Freilich<br />

stellt das angefochtene Urteil fest, dass X «die besondere Schwere des Schadens ... kannte», doch<br />

handelt es sich dabei nicht um eine so genaue Kenntnis, dass sie die Verjährungsfrist von <strong>OR</strong> 60 I<br />

hätte in Gang setzen können. Der Nachweis, dass diese Frist bei Einleitung der Klage abgelaufen war,<br />

ist nicht erbracht, und die Vi hat die von der Beklagten erhobene Verjährungseinrede zu Unrecht<br />

geschützt. Die Sache ist daher zur Prüfung des übrigen Vorbringens der Parteien nach allfälliger Aktenergänzung<br />

gemäss kant. Prozessrecht an die Vi zurückzuweisen (OG 64).<br />

BGE 136 <strong>II</strong> 187<br />

18. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. H. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt<br />

(SUVA) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)<br />

8C_470/2009 vom 29. Januar 2010<br />

Regeste<br />

Art. 20 Abs. 1 VG; Schadenersatzansprüche der Witwe eines Asbestopfers; Beginn der absoluten<br />

Verwirkung.<br />

Die absolute Verwirkungsfrist von zehn Jahren beginnt entsprechend dem Wortlaut von Art. 20 Abs.<br />

1 VG mit dem Tag der schädigenden Handlung bzw. Unterlassung mit der Konsequenz, dass der<br />

Schadenersatzanspruch vor Eintritt des Schadens - hier Ausbruch der Krankheit/Tod - verwirkt sein<br />

kann (E. 7). Dem steht Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht entgegen (E. 8.2).<br />

Sachverhalt<br />

A.<br />

A.a Der 1946 geborene M. sel. absolvierte ab 1962 eine Lehre als Maschinenschlosser bei der Firma<br />

O., welche später von der Firma B. bzw. von der Firma A. übernommen wurde und schliesslich zur<br />

Firma L. AG gehörte. Ab 1965 wurde er in der Maschinenmontage und bei Revisionsarbeiten im In-<br />

und Ausland eingesetzt und kam bei diesen Tätigkeiten mit Asbest in Kontakt. Ab 1978 war er im<br />

Innendienst tätig. Nach eigenen Angaben ist er bei zwei Einsätzen, 1992 in den USA und 1996 auf<br />

Aruba, nochmals mit Asbest in Kontakt gekommen. Im Mai 2004 wurde bei M. sel. ein malignes, asbestinduziertes<br />

Pleuramesotheliom diagnostiziert. Die SUVA anerkannte das Leiden als Berufskrankheit<br />

und erbrachte bis zum Hinschied von M. am 10. November 2005 die gesetzlichen Leistungen.<br />

Zudem richtete sie eine Integritätsentschädigung von 80 % aus.<br />

A.b Mit Schreiben vom 14. November 2005 liess die Witwe H. eine Genugtuungsforderung von Fr.<br />

50'000.- gegen die SUVA stellen, da diese aus unerlaubter Handlung infolge Unterlassung solidarisch<br />

mit der Arbeitgeberin für den Tod des Versicherten hafte. Am 6. Oktober 2006 wurde das Begehren<br />

ergänzt und es wurden zusätzlich Genugtuungsforderungen der beiden Töchter des Verstorbenen<br />

sowie Haushaltschaden, Versorgerschaden und Anwaltskosten geltend gemacht. Nach diversen Abklärungen,<br />

namentlich nach Einholung einer Stellungnahme der Arbeitgeberin vom 16. November<br />

2006 zum Arbeitsplatz des Verstorbenen, zu seinem Tätigkeitsbereich und seinen Auslandaufenthal-<br />

186


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

ten sowie zu den Sicherheitsanweisungen, wies die SUVA die Schadenersatzforderungen mit Verfügung<br />

vom 16. Oktober 2007 ab.<br />

B. Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher zunächst Schadenersatz für die Witwe H. sowie<br />

für die Töchter C. und N. beantragt worden war, wobei im Laufe des Verfahrens die Schadenersatzbegehren<br />

der beiden Töchter zurückgezogen wurden, wies das Versicherungsgericht des Kantons<br />

Aargau mit Entscheid vom 8. April 2009 ab, soweit sie nicht durch Rückzug erledigt war.<br />

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt H. beantragen, die SUVA sei zu<br />

verpflichten, ihr Schadenersatz sowie Genugtuung nach richterlichem Ermessen zu bezahlen und das<br />

Verfahren sei zur Bemessung der Schadenersatzforderung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die<br />

SUVA sei sodann anzuweisen, das Gutachten des Prof. Dr. G. vom 14. Dezember 1968 sowie das Betriebsdossier<br />

Firma A./L. vollumfänglich zu edieren, wobei das Verfahren für weitere Vorbringen nach<br />

Einsicht in das Betriebsdossier offen zu halten sei.<br />

Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden könne. Das<br />

Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.<br />

In einer Stellungnahme zur Vernehmlassung der SUVA lässt H. an ihrem Standpunkt festhalten.<br />

Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

3.<br />

3.1 Was die Rechtsgrundlagen für die Frage der Haftung der SUVA anbelangt, sind SUVA und Vorinstanz<br />

bezüglich Zuständigkeits- und Verfahrensbestimmungen zu Recht davon ausgegangen, dass<br />

Art. 78 Abs. 2 und 4 des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen ATSG (SR 830.1) anwendbar ist. Dies<br />

entspricht dem allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsatz, wonach neue Verfahrensbestimmungen<br />

unter Vorbehalt abweichender Übergangsbestimmungen mit dem Tag ihres Inkrafttretens in<br />

der Regel sofort und in vollem Umfang anwendbar sind (BGE 131 V 314 E. 3.3 S. 316 mit Hinweisen).<br />

Dieser Grundsatz beruht auf der relativen Wertneutralität des Prozessrechts und erscheint jedenfalls<br />

dann zweckmässig sowie geboten, wenn mit dem neuen Recht keine grundlegend neue Verfahrensordnung<br />

geschaffen wird, mithin zwischen neuem und altem Recht eine Kontinuität des verfahrensrechtlichen<br />

Systems besteht (vgl. BGE 132 V 93 E. 2.2 S. 96; BGE 112 V 356 E. 4a S. 360; ALFRED KÖLZ,<br />

Intertemporales Verwaltungsrecht, ZSR 102/1983 <strong>II</strong> S. 222; MEYER/ARNOLD, Intertemporales Recht.<br />

Eine Bestandesaufnahme anhand der Rechtsprechung der beiden öffentlich-rechtlichen Abteilungen<br />

des Bundesgerichts und des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, ZSR 124/2005 I S. 115 ff., dort S.<br />

135 und 140). Das trifft im vorliegenden Fall zu. Indem Art. 78 Abs. 2 ATSG die zuständige Behörde<br />

verpflichtet, über streitige "Ersatzforderungen" mittels Verfügung zu entscheiden und Art. 78 Abs. 4<br />

Satz 1 ATSG für das Beschwerdeverfahren auf die entsprechenden Bestimmungen des ATSG (Art. 56-<br />

62) verweist, knüpfen die neuen, am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Verfahrens- und Zuständigkeitsbestimmungen<br />

von Art. 78 ATSG an die allgemeine Verfahrensregelung in Art. 10 Abs. 1 des<br />

Bundesgesetzes vom 14. März 1958 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder<br />

und Beamten (Verantwortlichkeitsgesetz, VG; SR 170.32) an. Für das sozialversicherungsrechtliche<br />

Haftungsrecht wurde somit mit dem ATSG keine grundlegend neue Verfahrens- und Zuständigkeitsordnung<br />

geschaffen (vgl. SVR 2009 UV Nr. 9 S. 36, 8C_510/2007 E. 3).<br />

3.2 Materiellrechtlich nimmt die Übergangsbestimmung von Art. 82 Abs. 1 ATSG grundsätzlich die bei<br />

seinem Inkrafttreten laufenden Leistungen und festgesetzten Forderungen von der Anwendbarkeit<br />

dieses Gesetzes aus, somit jene Fälle, in welchen über die Rechte und Pflichten vor dem 1. Januar<br />

2003 rechtskräftig verfügt worden ist. In Bezug auf Leistungen, welche bei Inkrafttreten des ATSG<br />

noch nicht rechtskräftig festgesetzt worden sind, ist gemäss Rechtsprechung - vorbehältlich der in<br />

Art. 82 Abs. 1 ATSG speziell normierten Tatbestände - von einer echten Lücke auszugehen, welche<br />

grundsätzlich unter Rückgriff auf den (materiell) intertemporal-rechtlichen Grundsatz auszufüllen ist,<br />

187


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

wonach in zeitlicher Hinsicht bei einer Änderung der gesetzlichen Grundlage in der Regel diejenigen<br />

Rechtssätze massgebend sind, die im Zeitraum der Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden<br />

Sachverhaltes in Kraft standen (vgl. BGE 131 V 425 E. 5 S. 429; siehe auch MEYER/ARNOLD, a.a.O., S.<br />

127 ff.). Die streitige Haftung der SUVA ist somit für die Zeit vor Inkrafttreten des ATSG aufgrund der<br />

damals anwendbaren Bestimmungen des VG und nur für die Zeit ab 1. Januar 2003 nach den Bestimmungen<br />

des ATSG zu beurteilen. Die Unterscheidung ist vorliegend insofern nicht von grosser Bedeutung,<br />

als in der Verantwortlichkeitsbestimmung von Art. 78 ATSG die Art. 3-9, 11, 12, 20 Abs. 1,<br />

21 und 23 VG sinngemäss anwendbar erklärt werden (Art. 78 Abs. 4 ATSG).<br />

4. Der Versicherte ist am 10. November 2005 an den Folgen eines malignen, asbestinduzierten Pleuramesothelioms,<br />

welches die SUVA als Berufskrankheit anerkannt hatte, verstorben. Streitig und zu<br />

prüfen sind Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche der Witwe des Verstorbenen gegenüber der<br />

SUVA zufolge Unterlassung gesetzlich gebotener Schutzpflichten.<br />

4.1 Wie die Vorinstanz dargelegt hat, ist die SUVA eine öffentlich-rechtliche Anstalt des Bundes mit<br />

eigener Rechtspersönlichkeit (Art. 61 UVG; SR 832.20). Ihre vorliegend zu prüfende Haftung richtet<br />

sich - wie in Erwägung 3.2 hievor ausgeführt - nach den Bestimmungen des VG (bis 31. Dezember<br />

2002 direkt nach Art. 19 VG und ab 1. Januar 2003 sinngemäss nach bestimmten Vorschriften des VG<br />

gestützt auf den Verweis in Art. 78 ATSG). Für einem Dritten zugefügten Schaden haftet die SUVA<br />

demzufolge nach Massgabe von Art. 3-6 VG. Es handelt sich dabei gemäss Art. 3 Abs. 1 VG um eine<br />

Kausalhaftung, die kein Verschulden voraussetzt. Für den Anspruch auf Schadenersatz genügt das<br />

Vorliegen eines Schadens, eines widerrechtlichen Verhaltens und eines Kausalzusammenhangs zwischen<br />

den beiden erstgenannten Voraussetzungen. Wird ein Mensch getötet oder erleidet er eine<br />

Körperverletzung, kann unter Würdigung der besonderen Umstände zusätzlich eine Genugtuung<br />

ausgerichtet werden, falls den fehlbaren Angestellten ein Verschulden trifft (Art. 6 Abs. 1 VG).<br />

4.2 Auch eine Unterlassung, womit die Beschwerdeführerin ihren Anspruch begründet, kann widerrechtlich<br />

sein, indessen - wie das kantonale Gericht zutreffend dargelegt hat - nur, wenn eine eigentliche<br />

Pflicht der Behörde bzw. Anstalt zum Handeln bestand. Für Schädigungen infolge einer Unterlassung<br />

kann sich eine Haftpflicht somit nicht aus einer natürlichen Kausalität ergeben, sondern nur<br />

dadurch, dass eine Garantenpflicht verletzt worden ist. Eine solche kann lediglich durch rechtliche<br />

Vorschriften begründet werden (BGE 133 V 14 E. 8.1 S. 19; SVR 2009 UV Nr. 9 S. 39, 8C_510/2007 E.<br />

7.3.1; je mit Hinweisen). Die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen betreffend Zuständigkeit<br />

der SUVA im Rahmen der Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten hat die Vorinstanz<br />

korrekt wiedergegeben (Art. 84 und 85 UVG; Art. 47 ff. der Verordnung vom 19. Dezember 1983 über<br />

die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten [Verordnung über die Unfallverhütung, VUV; SR<br />

832.30]). Da sie im vorliegenden Verfahren nicht weiter relevant sind, kann diesbezüglich auf den<br />

angefochtenen Entscheid verwiesen werden. Präzisierend ist lediglich darauf hinzuweisen, dass bereits<br />

vor Inkrafttreten der VUV am 1. Januar 1984 gestützt auf die (aufgehobene) Verordnung vom<br />

23. Dezember 1960 über die Verhütung von Berufskrankheiten eine ähnliche, jedoch weniger detaillierte<br />

Regelung galt (vgl. Urteil 2A.402/2000 vom 23. August 2001 E. 3b/bb).<br />

4.3 Die Haftung der SUVA erlischt, wie die Vorinstanz zutreffend dargelegt hat, wenn der Geschädigte<br />

sein Begehren auf Schadenersatz oder Genugtuung nicht innert eines Jahres seit Kenntnis des<br />

Schadens einreicht, auf alle Fälle nach zehn Jahren seit dem Tage der schädigenden Handlung (Art.<br />

20 Abs. 1 VG). Bei Unterlassungen ist für den Fristenlauf der Zeitpunkt der letzten relevanten Unterlassung<br />

massgebend (Urteil 6B_627/2007 vom 11. August 2008 E. 4.4, nicht publ. in: BGE 134 IV 297).<br />

Die relative Frist von einem Jahr seit Kenntnis des Schadens ist mit der Eingabe vom 14. November<br />

2005 unbestrittenermassen eingehalten. Anknüpfend an die absolute Frist von zehn Jahren seit dem<br />

Tag der schädigenden Handlung führte das kantonale Gericht aus, zur Beurteilung, ob ein Anspruch<br />

aus einem allfälligen schädigenden Verhalten der Beschwerdegegnerin vorliege, sei lediglich der<br />

Sachverhalt ab 14. November 1995 zu prüfen, wobei es die Voraussetzungen verneinte. Ein Anspruch<br />

aus einem allfälligen schädigenden Verhalten vor diesem Zeitpunkt, namentlich in den Jahren 1965-<br />

188


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

1978 (Wechsel in den Innendienst), in welchen der verstorbene Versicherte bei der Arbeit asbesthaltigen<br />

Substanzen ausgesetzt war, sei verwirkt - so die Vorinstanz.<br />

5. Die Beschwerdeführerin thematisiert aufgrund des Vorfragecharakters der Verjährungs-<br />

/Verwirkungsproblematik in erster Linie die Frage der Verjährung. Sie macht im Wesentlichen geltend,<br />

für den Zeitraum vor 14. November 1995 sei weder Verjährung noch Verwirkung eingetreten,<br />

da eine Schadenersatzforderung nicht verjähren könne, bevor der Schaden feststehe. Was den Zeitraum<br />

ab 14. November 1995 anbelange, sei der Sachverhalt ungenügend abgeklärt bzw. unrichtig<br />

festgestellt und zu Unrecht eine Sorgfaltspflichtverletzung der Beschwerdegegnerin verneint worden.<br />

6. Soweit die Beschwerdeführerin zunächst eine Rechtsverletzung darin sieht, dass die Vorinstanz auf<br />

Verwirkung allfälliger Verantwortlichkeitsansprüche und nicht auf deren Verjährung erkannt hat, ist<br />

ihr entgegenzuhalten, dass Rechtsprechung und herrschende Lehre beim Erlöschen der Haftung gemäss<br />

Art. 20 Abs. 1 VG von einer Verwirkung der Ansprüche ausgehen (vgl. BGE 133 V 14 E. 6 S. 18;<br />

BGE 126 <strong>II</strong> 145 E. 2a S. 150; je mit Hinweisen; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht,<br />

5. Aufl. 2006, S. 168 f.; PIERRE MO<strong>OR</strong>, Droit administratif <strong>II</strong>, Les actes administratifs et<br />

leur contrôle, 2. Aufl. 2002, S. 87 ff. und 714; a.M.: CHRISTINE CHAPPUIS, La péremption en droit de<br />

la responsabilité civile, in: Le temps dans la responsabilité civile, 2007, S. 121 ff.). Die Frist kann somit<br />

- im Gegensatz zu einer Verjährungsfrist - grundsätzlich weder gehemmt oder unterbrochen noch<br />

erstreckt werden und ist stets von Amtes wegen zu berücksichtigen (HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN,<br />

a.a.O., S. 168; MO<strong>OR</strong>, a.a.O., S. 88 f.). Auf die Unterscheidung zwischen Verwirkung und Verjährung,<br />

welche das Bundesgericht terminologisch nicht immer einheitlich durchgeführt hat (vgl. BGE 126 <strong>II</strong><br />

145 E. 2a S. 150 f. mit Hinweisen), braucht nicht näher eingegangen zu werden, da die Frist von zehn<br />

Jahren vorliegend weder gehemmt oder unterbrochen noch erstreckt wurde und die Beschwerdegegnerin<br />

die Einrede der Verjährung/Verwirkung erhoben hat. Der Beschwerdeführerin ist insoweit<br />

zuzustimmen, als gemäss Rechtsprechung eine Verwirkungsfrist unter bestimmten Voraussetzungen<br />

wiederhergestellt werden kann, so etwa wenn die berechtigte Person aus unverschuldeten, unüberwindbaren<br />

Gründen verhindert war, den Anspruch rechtzeitig geltend zu machen. Die Wiederherstellung<br />

von Verwirkungsfristen gilt als allgemeiner Rechtsgrundsatz und berücksichtigt Hinderungsgründe<br />

wie Krankheit, Unfall, Naturkatastrophen, o.Ä. (vgl. BGE 114 V 123 E. 3b S. 124 mit Hinweisen;<br />

ANDRÉ PIERRE HOLZER, Verjährung und Verwirkung der Leistungsansprüche im Sozialversicherungsrecht,<br />

2005, S. 42 f.; ATTILIO GADOLA, Verjährung und Verwirkung im öffentlichen Recht, AJP 1995 S.<br />

57; MO<strong>OR</strong>, a.a.O., S. 88 f.; je mit Hinweisen). Ein solcher Grund liegt nicht vor. Die von der Beschwerdeführerin<br />

diesbezüglich geltend gemachte fehlende Kenntnis des Schadens kann nicht als unüberwindbarer<br />

Grund im oben dargelegten Sinne gelten, betrifft sie doch die eigentliche Frage der Verwirkung<br />

selber, nicht bloss deren Geltendmachung, und würde die Anerkennung eines solchen Grundes<br />

dem Zweck der absoluten Verwirkung - dem Erlöschen der Haftung zehn Jahre nach dem Tag der<br />

schädigenden Handlung - zuwiderlaufen.<br />

7. Zu prüfen ist sodann die Grundsatzfrage, ob gestützt auf Art. 78 ATSG bzw. Art. 19 VG geltend gemachte<br />

Verantwortlichkeitsansprüche erlöschen können, bevor der Schaden überhaupt eingetreten<br />

ist.<br />

7.1 Gemäss Art. 20 Abs. 1 VG, auf welchen Art. 78 ATSG verweist, erlischt die Haftung des Bundes,<br />

wenn der Geschädigte sein Begehren auf Schadenersatz oder Genugtuung nicht innert eines Jahres<br />

seit Kenntnis des Schadens einreicht, auf alle Fälle nach zehn Jahren seit dem Tag der schädigenden<br />

Handlung des Beamten. Der Wortlaut dieser Bestimmung ist klar und entspricht sowohl der<br />

französischen wie auch der italienischen Fassung (französische Fassung: "La responsabilité de la Confédération<br />

s'éteint si le lésé n'introduit pas sa demande de dommages-intérêts ou d'indemnité à titre<br />

de réparation morale dans l'année à compter du jour où il a eu connaissance du dommage, et en tout<br />

cas dans les dix ans à compter de l'acte dommageable du fonctionnaire."; italienische Fassung: "La<br />

responsabilità della Confederazione si estingue, se il danneggiato non domanda il risarcimento, o<br />

l'indennità pecuniaria a titolo di riparazione, nel termine di un anno dal giorno in cui conobbe il dan-<br />

189


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

no e, in ogni caso, nel termine di dieci anni dal giorno in cui il funzionario commise l'atto che l'ha<br />

cagionato."). Während die relative Frist von einem Jahr an die Kenntnis des Schadens anknüpft, läuft<br />

die absolute Frist von zehn Jahren ab dem Tag der schädigenden Handlung und somit unabhängig<br />

vom Zeitpunkt des Schadenseintritts.<br />

7.2 Die Beschwerdeführerin rügt die Anwendung dieser Bestimmung gemäss Wortlaut, weil dadurch<br />

eine Schadenersatzforderung durch Zeitablauf untergehen könne, bevor der Schaden überhaupt<br />

entstehe und feststehe, was in verschiedener Hinsicht eine Rechtsverletzung darstelle.<br />

7.3 Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut. Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst<br />

heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zu Grunde liegenden Wertungen<br />

auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat<br />

sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut allein die Norm darstellt, sondern<br />

erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige<br />

Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis.<br />

Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich<br />

ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen (BGE<br />

134 V 170 E. 4.1 S. 174 mit Hinweis).<br />

7.4 Art. 20 Abs. 1 VG regelt im Abschnitt "Verjährung und Verwirkung" das Erlöschen der Haftung des<br />

Bundes bzw. mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben des Bundes betrauter Organisationen durch Zeitablauf<br />

ab dem Tag der schädigenden Handlung. Der Rechtsgrund dieser Bestimmung liegt - wie bei Verjährungs-<br />

und Verwirkungsregelungen im Allgemeinen - gemäss Rechtsprechung und herrschender<br />

Lehre im öffentlichen Interesse, in erster Linie in der Wahrung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden.<br />

Weiter wird dadurch dem Umstand Rechnung getragen, dass Zeitablauf die Verhältnisse verdunkelt<br />

und dadurch der Beweis erschwert wird. Das Rechtsinstitut schützt schliesslich den Schuldner<br />

vor Ansprüchen aus lange zurückliegender Zeit (vgl. GADOLA, a.a.O., S. 48; HOLZER, a.a.O., S. 12<br />

ff. und 34 ff.; je mit Hinweisen). Zu Diskussionen Anlass gegeben hat diese Regelung bei Spätschäden,<br />

d.h. in Fällen, bei denen der Schaden erst später als zehn Jahre nach der schädigenden Handlung<br />

bzw. Unterlassung eintritt und somit der Schadenersatzanspruch bereits erloschen ist. Namentlich<br />

hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Asbestopfer, bei welchen zufolge der sehr langen<br />

Latenzzeit der Ausbruch der Krankheit bzw. der Tod erst nach Ablauf von zehn Jahren nach der<br />

Asbestexposition eintritt. Diese Konstellation findet sich nicht nur bei den vorliegend streitigen Schadenersatz-<br />

und Genugtuungsansprüchen gegenüber der SUVA nach Verantwortlichkeitsgesetz, sondern<br />

auch bei Ansprüchen aus Strafrecht, aus Opferhilfe sowie aus unerlaubter Handlung. Im Folgenden<br />

wird die jeweilige Rechtsprechung aufgezeigt:<br />

7.4.1 Bezüglich Anwendung von Art. 20 Abs. 1 VG hat das Bundesgericht in Fällen um Haftungsansprüche<br />

gegen die Eidgenossenschaft aus Handlungen der Grenzorgane während des Zweiten Weltkriegs<br />

sowie wegen rechtswidriger Einflussnahme der Staatsschutzbehörden auf die Arbeitgeberin<br />

entschieden, dass die absolute Verwirkung eintreten kann, bevor die geschädigte Person ihre Ersatzansprüche<br />

kennt. Zur Begründung hat es darauf hingewiesen, dass Ausgangspunkt der subsidiären<br />

absoluten Verjährung oder Verwirkung von zehn Jahren eben die unerlaubte Handlung im weiteren<br />

Sinn ist, d.h. das schädigende Verhalten, welches eine Rechtsgutsverletzung nach sich zieht, und zwar<br />

unabhängig davon, ob die geschädigte Person vom Verhalten, vom verursachten Schaden oder der<br />

Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis hat (BGE 126 <strong>II</strong> 145 E. 2b S. 151; Urteil 2A.288/1996 vom 25.<br />

Februar 1997 E. 3b).<br />

7.4.2 Im Strafrecht hat das Bundesgericht in BGE 134 IV 297 im Rahmen eines Strafverfahrens wegen<br />

Tötung und Körperverletzung im Zusammenhang mit Asbestexposition die bisherige Rechtsprechung,<br />

gemäss welcher die Verjährung nach Art. 98 lit. a StGB bzw. aArt. 71 Abs. 1 StGB mit dem Tag beginnt,<br />

an dem der Täter die strafbare Handlung bzw. Tätigkeit ausführt, und somit für den Beginn des<br />

Fristenlaufs der Zeitpunkt des tatbestandsmässigen Verhaltens, nicht der Eintritt des allenfalls zur<br />

190


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Vollendung des Delikts erforderlichen Erfolgs massgebend ist, einer Überprüfung unterzogen. Es wies<br />

bei der Gesetzesauslegung zunächst darauf hin, dass sich der Wortlaut der Bestimmung über den<br />

Beginn der Verjährung in sämtlichen drei Sprachen auf die Tätigkeit, nicht auf das Delikt insgesamt<br />

und auch nicht auf den Erfolg bezieht. Dies, so das Bundesgericht, werde auch bestätigt durch die<br />

Entstehungsgeschichte der Regelung, da mit der Verabschiedung des neuen Allgemeinen Teils des<br />

Strafgesetzbuches am 13. Dezember 2002 kein Zweifel daran bestehen könne, dass der Gesetzgeber<br />

auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Straftaten verjährt sein können, bevor der Straftatbestand<br />

erfüllt ist, die Tathandlung und nicht den Erfolg für den Verjährungsbeginn als massgebend<br />

erachtet habe. Es setzte sich sodann mit der Frage auseinander, ob die wörtliche Auslegung des<br />

Gesetzes der aus der ratio legis abzuleitenden Funktion der Verjährung widerspreche. Unter diesem<br />

Gesichtspunkt führte das Bundesgericht im Wesentlichen aus, es entspreche in unserem Rechtskreis<br />

allgemeiner Überzeugung, dass Straftaten nach gewisser Zeit nicht mehr verfolgt werden sollen.<br />

Nach Ablauf einer gewissen Zeit erscheine eine Bestrafung weder als kriminalpolitisch notwendig<br />

noch als gerecht. Das Bedürfnis nach Ausgleich begangenen Unrechts durch Verhängung einer Strafe<br />

schwinde mit der Zeit und damit auch die dadurch angestrebte Bewährung der Rechtsordnung wie<br />

auch die Notwendigkeit spezialpräventiver Einwirkung auf den Täter. Des weiteren gewichtete das<br />

Bundesgericht die mit dem Zeitablauf zunehmenden Beweisschwierigkeiten sowie das Gebot der<br />

Verfahrensökonomie in dem Sinne, als sich die Strafverfolgungsbehörden angesichts der beschränkten<br />

Ressourcen auf die strafrechtliche Verarbeitung von Fällen konzentrieren können, bei denen<br />

noch eine realistische Aussicht auf Aufklärung besteht. Eine Auseinandersetzung mit diesen Argumenten<br />

führte das Bundesgericht zum Schluss, es widerspreche der Ratio der Verjährung nicht, diese<br />

nicht erst ab Erfolg, sondern schon mit der Tathandlung laufen zu lassen. Die Anknüpfung der Verjährung<br />

an das Handlungsunrecht, so schliesslich das Bundesgericht, beruhe auf sachlichen Gründen<br />

und halte damit auch den Anforderungen einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung<br />

stand. Es bestätigte somit die bisherige strafrechtliche Rechtsprechung mit der Konsequenz, dass<br />

Straftaten verjährt sein können, bevor der Erfolg eingetreten ist (zum Ganzen: BGE 134 IV 297 mit<br />

Hinweisen auf Judikatur und Literatur).<br />

7.4.3 Im Bereich der Opferhilfe befasste sich das Bundesgericht in BGE 134 <strong>II</strong> 308 im Rahmen der<br />

Beschwerde eines Asbestopfers bzw. dessen Witwe mit der Frage, ob sich der zeitliche Geltungsbereich<br />

der Art. 11-17 OHG (SR 312.5) über die Entschädigung und Genugtuung bei fahrlässigen Erfolgsdelikten<br />

mit grossem zeitlichem Abstand der Tathandlung zum Eintritt des tatbestandsmässigen<br />

Erfolgs auch auf Angelegenheiten erstrecke, bei welchen das strafbare Verhalten vor Inkrafttreten<br />

dieser opferhilferechtlichen Bestimmungen stattfand, der strafrechtlich relevante Erfolg aber erst<br />

nach dem Inkrafttreten des OHG eintrat. Das Bundesgericht legte zunächst dar, dass Art. 12 Abs. 3<br />

OHV (SR 312.51), gemäss welchem die erwähnten Bestimmungen des Opferhilfegesetzes nur für<br />

Straftaten gelten, welche nach Inkrafttreten des OHG per 1. Januar 1993 begangen wurden, auf einer<br />

hinreichenden gesetzlichen Grundlage in Art. 19 Abs. 2 OHG beruht. Zu prüfen sei jedoch im Hinblick<br />

auf die erst rund 40 Jahre nach der geltend gemachten Asbestexposition aufgetretene schwere Erkrankung,<br />

so das Bundesgericht, in welchem Zeitpunkt die mutmassliche Straftat im Sinne von Art. 12<br />

Abs. 3 OHV "begangen" worden sei, und dabei namentlich die Frage, ob im Sinne der im Strafrecht<br />

vorherrschenden täterbezogenen Betrachtungsweise lediglich der Zeitpunkt des tatbestandsmässigen<br />

Verhaltens und nicht derjenige des Eintritts des zur Vollendung eines Delikts erforderlichen Erfolgs<br />

massgebend sei. Unter Berücksichtigung der in Erwägung 7.3 hievor dargelegten Auslegungskriterien<br />

führte das Bundesgericht aus, Zweck des OHG sei die Gewährleistung von wirksamer Hilfe an<br />

Opfer von Straftaten und die Verbesserung ihrer Rechtsstellung mittels Beratung, Schutz des Opfers<br />

und seiner Rechte im Strafverfahren sowie Entschädigung und Genugtuung. Die Opferhilfeleistungen,<br />

so das Gericht, knüpfen an das Vorliegen einer Straftat an, wozu das Vorliegen der objektiven Tatbestandsmerkmale<br />

gehöre. Dementsprechend erhalte gemäss Art. 1 Abs. 1 OHG jede Person, die durch<br />

eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt<br />

worden sei (Opfer), Hilfe nach dem Opferhilfegesetz. Anders als im Strafrecht ergebe sich aus dem<br />

Regelungszweck und der gesetzlichen Umschreibung des Geltungsbereichs des OHG somit ein opferbezogener<br />

Ansatz. Aus dieser Sichtweise in Verbindung mit dem in Art. 5 Abs. 3 BV verankerten<br />

191


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Grundsatz von Treu und Glauben habe das Bundesgericht bereits früher entschieden, dass ein Opfer<br />

die massgebende Schädigung bzw. Verletzung erkennen können müsse, bevor es sich auf das Vorliegen<br />

einer Straftat im Sinne des OHG berufen könne. Diese Rechtsprechung habe Eingang in Art. 25<br />

Abs. 1 des revidierten, am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Opferhilfegesetzes gefunden, wonach<br />

ein Gesuch um Entschädigung und Genugtuung innert fünf Jahren nach der Straftat oder nach<br />

Kenntnis der Straftat einzureichen sei, andernfalls die Ansprüche verwirkten. Da das Opferhilferecht<br />

insgesamt von einer opferbezogenen Betrachtungsweise beherrscht werde, sei auch der zeitliche<br />

Geltungsbereich aus der Opferperspektive zu beurteilen. Beim vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt,<br />

bei welchem das angeblich als fahrlässige Körperverletzung einzustufende Verhalten in einer<br />

Verletzung von Sorgfaltspflichten durch den Arbeitgeber in den Jahren 1963-1967 bestehen soll und<br />

die aus der Sorgfaltswidrigkeit abgeleitete Erkrankung im Jahr 2006 festgestellt wurde, kann laut<br />

Bundesgericht aus der im Opferhilferecht massgebenden Opferperspektive bei Beendigung des sorgfaltswidrigen<br />

Verhaltens noch nicht von der Begehung einer Straftat im Sinne des OHG gesprochen<br />

werden, solange kein tatbestandsmässiger Erfolg vorliegt. Bezüglich des zeitlichen Geltungsbereichs<br />

im Sinne von Art. 12 Abs. 3 OHV gehöre zur Begehung einer Straftat nicht bloss das fahrlässige Verhalten<br />

als Ursache des Erfolgseintritts, sondern massgebend sei vielmehr der Eintritt des tatbestandsmässigen<br />

Erfolgs solchen Verhaltens. Das sich durch dieses Auslegungsergebnis zeigende unterschiedliche<br />

Verständnis der "Begehung einer Straftat" nach Art. 12 Abs. 3 OHV und der "Ausführung<br />

der strafbaren Tätigkeit" bei den Verjährungsregeln von Art. 98 StGB liegt, so das Bundesgericht,<br />

in den nicht identischen Zielsetzungen des OHG und der Verjährungsbestimmungen des StGB<br />

begründet. Zur Erreichung des Ziels des Opferhilferechts werde in verschiedener Hinsicht von strafrechtlichen<br />

Grundsätzen abgewichen, sei es doch beispielsweise auch gerechtfertigt, das Vorliegen<br />

einer Straftat im Sinne von Art. 1 Abs. 1 OHG zu bejahen, obwohl der Täter wegen der strafrechtlichen<br />

Verjährungsregeln vom Strafrichter nicht mehr verurteilt werden könne (zum Ganzen: BGE 134<br />

<strong>II</strong> 308 mit Hinweisen auf Judikatur und Literatur).<br />

7.4.4 Was schliesslich den Bereich des ausservertraglichen <strong>Haftpflichtrecht</strong>s anbelangt, verjährt der<br />

Anspruch auf Schadenersatz oder Genugtuung gemäss Art. 60 Abs. 1 <strong>OR</strong> in einem Jahr von dem Tag<br />

hinweg, wo der Geschädigte Kenntnis vom Schaden und von der Person des Haftpflichtigen erlangt<br />

hat, jedenfalls aber mit dem Ablauf von zehn Jahren, vom Tag der schädigenden Handlung an gerechnet.<br />

Das Bundesgericht geht in konstanter Rechtsprechung davon aus, dass der Beginn der Zehnjahresfrist<br />

vom Schadenseintritt und von der Kenntnis des Schadens durch die geschädigte Person<br />

unabhängig ist und einzig der Zeitpunkt des den Schaden verursachenden Verhaltens massgeblich ist<br />

(BGE 127 <strong>II</strong>I 257 E. 2b/aa S. 259; BGE 126 <strong>II</strong> 145 E. 2b S. 151; je mit Hinweisen; Urteil 2C.3/2005vom<br />

10. Januar 2007 E. 4.1). Dies hat zur Folge, dass im Bereich desausservertraglichen <strong>Haftpflichtrecht</strong>s<br />

gemäss Bundesgericht und herrschender Lehre eine Ersatzforderung verjähren kann, bevor die geschädigte<br />

Person ihren Schaden wahrgenommen hat. Wie die Beschwerdeführerin darlegt, wird dies<br />

in der Lehre teilweise kritisiert,namentlich in Fällen, bei denen der Schaden zeitverzögert eintritt(vgl.<br />

FRANZ WERRO, in: Commentaire romand, Code des obligations,Bd. I, 2003, N. 25 zu Art. 60 <strong>OR</strong>; PAS-<br />

CAL PICHONNAZ, La prescriptionde l'action en dommages-intérêts: Un besoin de réforme, in: Le<br />

temps dans la responsabilité civile, 2007, S. 89 ff.). Mehrheitlich wird indessen darauf hingewiesen,<br />

dass diese Konsequenz - trotzmöglicherweise auftretenden unbilligen Härten in Einzelfällen - im Interesse<br />

der Rechtssicherheit in Kauf genommen werde (vgl. ROBERT K. DÄPPEN, in: Basler Kommentar,<br />

Obligationenrecht, Bd. I, 2007, N. 9 zu Art. 60 <strong>OR</strong>; ROLAND BREHM, Berner Kommentar, 3. Aufl. 2006,<br />

N. 64 zu Art. 60 <strong>OR</strong>; HEINZ REY, Ausservertragliches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4. Aufl. 2008, Rz. 1630 ff.). Zur<br />

Begründung wird etwa ausgeführt, dass ein Beginn der Zehnjahresfrist in zeitlich unbeschränkter<br />

Weise erst bei Kenntnisnahme von Schaden und Ersatzpflichtigem durch den Geschädigten zu einer<br />

kaum vertretbarenVerschlechterung der Schuldnerstellung und zu möglicherweise jahrelang andauernder<br />

Rechtsunsicherheit führen würde, was mit dem Zweckgedanken des Verjährungsinstitutes<br />

kaum vereinbar wäre(vgl. REY, a.a.O., Rz. 1630). Selbst wenn teilweise die Idee, den Schadenseintritt<br />

als Fristbeginn zu nehmen, im Rahmen einer teleologischen Auslegung begrüsst wird, geht die herrschende<br />

Lehre davon aus, dass dies mit der heutigen gesetzlichen Regelung nicht vereinbar wäre<br />

(vgl. BREHM, a.a.O., N. 64a zu Art. 60 <strong>OR</strong>; DÄPPEN, a.a.O., N. 9 zu Art. 60 <strong>OR</strong>). In diesem Zusammen-<br />

192


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

hang ist darauf hinzuweisen, dass zur Zeit aufgrund einer angenommenen Motion (07.3763) eine<br />

Gesetzesänderung zur Verlängerung der Verjährungsfristen im <strong>Haftpflichtrecht</strong> vorbereitet wird.<br />

Damit soll gewährleistet werden, dass Opfer auch bei Spätschäden Schadenersatzansprüche geltend<br />

machen können, wobei namentlich auf die Asbestfälle hingewiesen wird, bei welchen Schadenersatzansprüche<br />

verjähren können, bevor das Opfer den erlittenen Schaden überhaupt bemerkt.<br />

7.5 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass gemäss konstanter Rechtsprechung sowohl bei Haftungsansprüchen<br />

nach VG, wie auch im Bereich des Strafrechts und des ausservertraglichen <strong>Haftpflichtrecht</strong>s<br />

für den Beginn der Frist der absoluten Verjährung/Verwirkung entsprechend dem Wortlaut<br />

der jeweiligen Bestimmung auf den Zeitpunkt der schädigenden Handlung, nicht auf denjenigen<br />

des Eintritts des Schadens bzw. Erfolgs abgestellt wird mit der Konsequenz, dass ein Anspruch vor<br />

Kenntnis des Schadens verjährt/verwirkt sein kann. Dies lässt sich damit begründen, dass der Wortlaut<br />

der entsprechenden Bestimmungen von deren ratio legis, nämlich vor allem Wahrung von<br />

Rechtssicherheit und Rechtsfrieden, Berücksichtigung der durch Zeitablauf eintretenden Verdunkelung<br />

der Verhältnisse und Erschwerung des Beweises sowie schliesslich auch Schuldnerschutz vor<br />

Ansprüchen aus lange zurückliegender Zeit, gedeckt ist. Am klarsten ergibt sich dies im Bereich des<br />

Strafrechts einerseits aus der in Erwägung 7.4.2 hievor erwähnten täterspezifischen Betrachtungsweise,<br />

anderseits aus den in Erwägung 7.4 dargelegten Rechtsgründen der Verjährung/Verwirkung<br />

allgemein. Diese Rechtsgründe gelten nicht nur im Bereich des Strafrechts, sondern auch im Bereich<br />

der Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche aus Verantwortlichkeitsgesetz oder aus ausservertraglichem<br />

<strong>Haftpflichtrecht</strong>. Davon abweichend wird lediglich im Bereich der Opferhilfe nicht der<br />

Zeitpunkt der schädigenden Handlung, sondern der Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs als massgebend<br />

erachtet. Dies liegt jedoch in der ratio legis des Opferhilfegesetzes begründet, nämlich in<br />

der Unterstützung und im Schutz des Opfers, was wiederum die opferbezogene Sichtweise im Sinne<br />

des Anknüpfens an den Schadenseintritt bedingt. Einer Abwägung der gegenüberstehenden Interessen<br />

kommt im Gegensatz zu den erwähnten andern Rechtsgebieten eine weitaus kleinere Bedeutung<br />

zu. Wenn zur Zeit aufgrund der in den letzten Jahren an Aktualität gewonnenen Problematik von<br />

Spätschäden zufolge Asbestexposition - ebenfalls im Sinne einer stärker opferbezogenen Betrachtungsweise<br />

- eine Gesetzesrevision zur Verlängerung der Verjährungsfristen im ausservertraglichen<br />

<strong>Haftpflichtrecht</strong> vorbereitet wird, ist dies eine politische Entscheidung, welche der Gesetzgeber zu<br />

treffen hat.<br />

8. Es bleibt schliesslich zu prüfen, ob der Berücksichtigung der Verwirkungsfrist von zehn Jahren ab<br />

dem Tag der schädigenden Handlung, wie sie Art. 20 Abs. 1 VG vorsieht, im vorliegenden Fall<br />

Rechtssätze des internationalen oder schweizerischen Rechts entgegenstehen, die es gebieten, dem<br />

Zeitablauf keine Rechnung zu tragen (vgl. BGE 126 <strong>II</strong> 145 E. 3 S. 152).<br />

8.1 Der Zeitablauf als Hinderungsgrund für die Durchsetzbarkeit bzw. als Untergangsgrund für einen<br />

Anspruch gilt unter dem allgemeinen Vorbehalt von Treu und Glauben (GADOLA, a.a.O., S. 55;<br />

MO<strong>OR</strong>, a.a.O., S. 83 Ziff. 1.3.1 und S. 89 Ziff. 1.3.2). Die Beschwerdeführerin ruft den Grundsatz von<br />

Treu und Glauben, welcher ein loyales und vertrauenswürdiges Verhalten im Rechtsverkehr gebietet,<br />

lediglich im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Frist an. Dass die fehlende Kenntnis des<br />

Schadens nicht als unverschuldeter, unüberwindbarer Grund der verspäteten Geltendmachung des<br />

Anspruchs und somit als Wiederherstellungsgrund der Verwirkungsfrist gelten kann, wurde in Erwägung<br />

6 hievor dargelegt. Eine anderweitige Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben wird<br />

nicht geltend gemacht und ist auch aus den Akten nicht ersichtlich. Namentlich liegt kein Verhalten<br />

des Schuldners vor, welches den Gläubiger bzw. die Gläubigerin von der rechtzeitigen Geltendmachung<br />

des Anspruchs abgehalten hätte, sondern ist die Frist ohne Zutun des Schuldners unbenutzt<br />

verstrichen (vgl. BGE 126 <strong>II</strong> 145 E. 3b/aa S. 153).<br />

8.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Eintritt von Verjährung/Verwirkung des Schadenersatzanspruchs<br />

vor Kenntnis des Schadens verstosse gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens und<br />

des freien Zugangs zum Gericht gemäss Art. 6 EMRK. Diese Frage wurde in BGE 134 IV 297 E. 4.3.5 S.<br />

193


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

305 f. angesprochen, jedoch nicht näher geprüft, da weder zivilrechtliche Ansprüche noch die Stichhaltigkeit<br />

der gegen eine Person gerichteten strafrechtlichen Anklage zu prüfen waren.<br />

8.2.1 Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug<br />

auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche<br />

Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in<br />

einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird (Satz 1). Von<br />

dieser Konventionsbestimmung werden nicht nur zivilrechtliche Streitigkeiten im eigentlichen Sinne<br />

erfasst, sondern auch Verwaltungsakte hoheitlich handelnder Behörden, die massgeblich in private<br />

Rechtspositionen eingreifen. In diesem Sinne als zivilrechtlich gelten unter anderem auch Schadenersatzforderungen<br />

gegenüber dem Gemeinwesen (vgl. BGE 134 I 331 E. 2.1 S. 332; 130 I 388 E. 5.1 S.<br />

394 und E. 5.3 S. 397; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, N. 15 f. zu Art. 6 EMRK;<br />

MARK VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], 2. Aufl. 1999, N.<br />

385 zu Art. 6 EMRK; JENS MEYER-LADEWIG, Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar,<br />

2. Aufl. 2006, N. 8 zu Art. 6 EMRK). Bei der vorliegenden Staatshaftungsstreitigkeit handelt es sich<br />

somit um eine zivilrechtliche Streitigkeit im Sinne von Art. 6 EMRK, bei welcher der Zugang zu einem<br />

Gericht zu gewähren ist. Selbst der durch die Konventionsbestimmung gewährte Zugang gilt indessen<br />

nicht voraussetzungslos und absolut. Vielmehr kann er an sachliche Bedingungen geknüpft werden.<br />

Einschränkungen müssen jedoch einen rechtmässigen Zweck verfolgen und dürfen im Hinblick auf<br />

den zu erreichenden Zweck nicht unverhältnismässig sein. Sie dürfen nicht so weit gehen, dass sie<br />

das Recht auf Zugang zum Gericht seiner Substanz entleeren (Urteil des EGMR Stubbings et al. gegen<br />

Vereinigtes Königreich vom 22. Oktober 1996, Recueil CourEDH 1996-IV S. 1487 Ziff. 50).Als nicht<br />

grundsätzlich konventionswidrig gelten beispielsweise Substantiierungsanforderungen, ein Anwaltszwang<br />

mit der Möglichkeit der unentgeltlichen Rechtspflege, Form- und Fristvorschriften usw. (vgl.<br />

FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., N. 64 ff. zu Art. 6 EMRK; VILLIGER, a.a.O., N. 432 zu Art. 6 EMRK; MEYER-<br />

LADEWIG, a.a.O., N. 20 ff. zu Art. 6 EMRK).<br />

8.2.2 Was die vorliegend zur Diskussion stehenden Vorschriften betreffend Verjährung/Verwirkung<br />

anbelangt, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Verjährungsrecht einen bedeutsamen Bestandteil<br />

moderner Rechtsordnungen darstellt und dass - soweit ersichtlich - in sämtlichen europäischen<br />

Staaten die Möglichkeit der gerichtlichen Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche aus Gründen<br />

der Rechtssicherheit befristet ist (vgl. REINHARD ZIMMERMANN, "... ut sit finis litium", Grundlinien<br />

eines modernen Verjährungsrechts auf rechtsvergleichender Grundlage, Juristen Zeitung 2000 S. 853<br />

ff.). Die Verwirkung der geltend gemachten Schadenersatzforderung ist sodann nicht unverhältnismässig,<br />

da das schweizerische System Asbestopfern und ihren überlebenden Angehörigen über das<br />

Unfallversicherungsrecht in Form von Pflegeleistungen, Rentenleistungen sowie Integritätsentschädigung<br />

- unabhängig von der Verwirkungsfrist für Verantwortlichkeitsansprüche gemäss Art. 20 Abs.<br />

1 VG - eine sachgerechte Entschädigung bietet. Eine Verletzung von Art. 6 EMRK ist somit nicht auszumachen.<br />

8.3 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Berücksichtigung der Verwirkungsfrist von zehn<br />

Jahren ab dem Tag der schädigenden Handlung auch keine Rechtssätze des internationalen oder<br />

schweizerischen Rechts entgegenstehen. Die Vorinstanz ist somit zu Recht zum Schluss gekommen,<br />

dass eine allfällige Haftung der SUVA für schädigende Handlungen oder Unterlassungen vor dem 14.<br />

November 1995 erloschen ist.<br />

194


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

MEHRERE ERSATZPFLICHTIGE<br />

BGE 115 <strong>II</strong> 42<br />

8. Urteil der I. Zivilabteilung vom 31. Januar 1989 i.S. A. gegen B. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Regressforderung des Unternehmers gegen den Architekten, Verjährung.<br />

1. Art. 50 Abs. 1 und 51 Abs. 1 <strong>OR</strong>. Berufung auf Deliktshaftung, obschon Haftung aus Vertrag anzunehmen<br />

ist. Solidarität unter mehreren Schuldnern, die dem Bauherrn aus verschiedenen Rechtsgründen<br />

für den gleichen Schaden haften. Rechtsfolgen; Bestätigung der Rechtsprechung (E. 1).<br />

2. Art. 60 Abs. 1, Art. 67 und 127 <strong>OR</strong>. Umstände, unter denen die Verjährung einer Regressforderung<br />

mangels Unterbrechung nicht nur nach der Deliktshaftung, sondern auch nach einer vertraglichen<br />

Haftung zu bejahen ist (E. 2).<br />

A.- Mit Werkvertrag vom 19. Juni/2. Juli 1973 übernahm die Firma A. von X. die Baumeisterarbeiten<br />

für ein Einfamilienhaus in Wangs. Der Vertrag wurde vom bauleitenden Architekten B. mitunterzeichnet.<br />

Nach Beginn des Aushubs drang Wasser in die Baugrube. Die Parteien zogen daraufhin Ingenieur<br />

C. bei, der zur Sicherung des Hanges zusammen mit dem Architekten Massnahmen anordnete.<br />

Die Sicherung erwies sich als ungenügend. Am 21. Juni und 17. Juli 1973 kam es nach Regenfällen<br />

zu Erdrutschen, welche die Baugrube verschütteten und die Betonschalungen zerstörten.<br />

Da X. die Bezahlung des Mehraufwandes verweigerte, belangte die Baufirma ihn für Fr. 83703.25. In<br />

einem gerichtlichen Vergleich vom 15. April 1985 einigten die Parteien sich dahin, dass die Baufirma<br />

ihre Forderung um Fr. 26560.-- kürzte. Daraus und aus der jahrelangen Auseinandersetzung mit X.<br />

erwuchs ihr angeblich ein Schaden von Fr. 57950.--. Für einen Teil davon, der mit den Erdrutschen<br />

zusammenhing, will sie auf den Architekten zurückgreifen, weil sie ihn zusammen mit dem Ingenieur<br />

für solidarisch haftbar hält.<br />

B.- Nach einer erfolglosen Betreibung vom 18. April 1986 klagte die Baufirma am 18. August 1986<br />

gegen B. auf Zahlung von Fr. 20755.-- nebst Zins. Der Beklagte widersetzte sich der Regressforderung<br />

und verkündete C. den Streit; er berief sich zudem auf Verjährung. Das Verfahren wurde vorerst auf<br />

diese Einrede beschränkt. C. nahm daran nicht teil.<br />

Das Bezirksgericht Sargans und auf Appellation hin am 14. Januar 1988 auch das Kantonsgericht St.<br />

Gallen wiesen die Klage wegen Verjährung der Forderung ab.<br />

C.- Die Klägerin hat Berufung eingereicht mit den Anträgen, das Urteil des Kantonsgerichts aufzuheben,<br />

die Verjährung zu verneinen und die Sache zur weitern Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.<br />

Der Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:<br />

1. Die Klägerin macht geltend, gegenüber dem geschädigten Bauherrn sei entgegen der Auffassung<br />

der Vorinstanz nicht unechte, sondern echte Solidarität der Parteien im Sinne von Art. 50 Abs. 1 <strong>OR</strong><br />

anzunehmen; bei der Würdigung dieser Frage würden zudem vom Kantonsgericht zuvor klar festgestellte<br />

Tatsachen missverständlich wiedergegeben. Sie beharrt ferner auf dem Standpunkt, dass sie<br />

und der Beklagte gegenüber dem Bauherrn aus Art. 41 ff. <strong>OR</strong> haften, weshalb auch im Regressprozess<br />

von einer Deliktshaftung auszugehen sei.<br />

195


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

a) Was die Klägerin zur Begründung einer solchen Haftung vorbringt, läuft durchwegs auf den Vorwurf<br />

hinaus, der Beklagte habe vertragliche Pflichten verletzt, spricht sie doch mit der Vorinstanz von<br />

seiner Aufsichts- und Überwachungsfunktion und von seiner Abmahnungspflicht. Dass das eine wie<br />

das andere zu den vertraglichen Verpflichtungen eines Architekten gehört, leuchtet namentlich dann<br />

ein, wenn er wie hier ausdrücklich mit der Bauleitung beauftragt wird (vgl. BGE 111 <strong>II</strong> 75). Die Verletzung<br />

solcher Pflichten ergibt daher auch einen vertraglichen Haftungsgrund, zumal die Widerrechtlichkeit<br />

als allgemeine Voraussetzung der Verschuldenshaftung ebenfalls nur in einer Vertragsverletzung<br />

liegen könnte; die mit der Planung und dem Bau beauftragten Fachleute verstiessen dadurch,<br />

dass sie der Gefahr von Erdrutschen nur ungenügend vorbeugten, nicht gegen ein absolutes Recht<br />

des Bauherrn (BGE 112 <strong>II</strong> 128 mit Hinweisen).<br />

Die Klägerin hat sich freilich schon im kantonalen Verfahren ausdrücklich auf ausservertragliche Haftung<br />

berufen, und die Vorinstanz hat sich damit abgefunden, weil der Geschädigte sich bei Anspruchskonkurrenz<br />

"grundsätzlich immer nebeneinander auf die vertragliche Haftung und die Haftung<br />

aus unerlaubter Handlung stützen" könne. Das Kantonsgericht ist deshalb bei der Frage der<br />

Verjährung von einer Deliktshaftung ausgegangen. Von einer solchen Haftung könnte im Ernst indes<br />

nur die Rede sein, wenn der Beklagte nicht nur eine vertragliche Pflicht verletzt, sondern auch eine<br />

unerlaubte Handlung begangen hätte (BGE 99 <strong>II</strong> 321 E. 5 mit Zitaten). Dafür ist den Vorwürfen, welche<br />

die Klägerin<br />

dem Beklagten macht, aber nichts zu entnehmen. Ob die durch einen Anwalt vertretene Klägerin<br />

unbekümmert darum, dass das Bundesgericht das Bundesrecht von Amtes wegen anzuwenden hat,<br />

wenn dessen tatsächliche Voraussetzungen prozessual ordnungsgemäss behauptet worden sind (BGE<br />

107 <strong>II</strong> 417 /18), bei ihrer Berufung auf Deliktshaftung zu behaften wäre, kann indes offenbleiben, da<br />

die Art der Haftung am Ausgang des Verfahrens so oder anders nichts ändert.<br />

b) Gemäss Art. 50 Abs. 1 <strong>OR</strong> haften mehrere Personen dem Geschädigten solidarisch, wenn sie den<br />

Schaden gemeinsam verschuldet oder, wie es in den romanischen Gesetzestexten heisst, gemeinsam<br />

verursacht haben. Das Bundesgericht hat diese Bestimmung, die gemäss Art. 99 Abs. 3 <strong>OR</strong> auch für<br />

die vertragliche Haftung gilt, noch in neuester Zeit dahin ausgelegt, dass sie ein schuldhaftes Zusammenwirken<br />

bei der Schadensverursachung voraussetzt, jeder Schädiger um das pflichtwidrige Verhalten<br />

des andern also weiss oder jedenfalls wissen könnte. Fehlt es an einem gemeinsamen Verschulden<br />

in diesem Sinne, weil mehrere Personen voneinander unabhängige Handlungen begangen haben<br />

oder sonstwie aus verschiedenen Rechtsgründen für den gleichen Schaden haften, so ist unechte<br />

Solidarität gemäss Art. 51 Abs. 1 <strong>OR</strong> anzunehmen, der das Rückgriffsrecht unter Solidarschuldnern<br />

regelt (BGE 112 <strong>II</strong> 143 E. 4 und 104 <strong>II</strong> 229 E. 4 mit Hinweisen). Von dieser Rechtsprechung ist das<br />

Bundesgericht wiederholt auch in Baurechtsstreitigkeiten ausgegangen, so in BGE 93 <strong>II</strong> 313 und 322,<br />

wo es jeweils um die Haftpflicht des Unternehmers und des Architekten aus verschiedenen Rechtsgründen<br />

und damit um einen Fall unechter Solidarität oder Anspruchskonkurrenz gemäss Art. 51 <strong>OR</strong><br />

ging. In einem weitern Fall, in dem die Bauherrin nur den Unternehmer belangte, sich aber auf unechte<br />

Solidarität berief, musste die Klägerin sich das schuldhafte Verhalten ihres Architekten, der als<br />

ihre Hilfsperson anzusehen war, anrechnen und daher eine Kürzung gefallen lassen (BGE 95 <strong>II</strong> 52 E.<br />

4). Unechte Solidarität unter mehreren Personen, die für die Folgen einer falschen Vermessung im<br />

Strassenbau vertraglich hafteten, war ferner in BGE 98 <strong>II</strong> 103 f. anzunehmen.<br />

Dass das Bundesgericht zwischen echter Solidarität bei gemeinsamem Verschulden (Art. 50 <strong>OR</strong>) und<br />

unechter Solidarität oder Anspruchskonkurrenz bei Haftpflicht mehrerer aus verschiedenen Rechtsgründen<br />

(Art. 51 <strong>OR</strong>) zu unterscheiden pflegt, wird von einem Teil der Lehre seit Jahren als unbefriedigend<br />

kritisiert (DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, 2. Aufl. S. 279 mit Hinweisen). Das<br />

Bundesgericht hat sich mit dieser Kritik letztmals in BGE 104 <strong>II</strong> 230 ff. näher auseinandergesetzt, an<br />

der Unterscheidung aber festgehalten, weil die Frage nicht losgelöst von Art. 136 Abs. 1 und 143 ff.<br />

<strong>OR</strong> entschieden werden könne. Zu den vom Gesetz bestimmten Fällen, von denen in Art. 143 Abs. 2<br />

<strong>OR</strong> die Rede sei, gehöre gemäss Art. 50 Abs. 1 <strong>OR</strong> nur der Fall der Schadensverursachung durch gemeinsames<br />

Verschulden, nicht aber die Anspruchskonkurrenz bei Haftung aus verschiedenen Rechtsgründen.<br />

Dazu komme, dass Art. 136 Abs. 1 <strong>OR</strong> als Ausnahmebestimmung nicht weit auszulegen sei,<br />

es folglich nicht angehe, die Unterbrechung der Verjährung gegen einen Schuldner auf Personen<br />

auszudehnen, die aus andern Rechtsgründen mithaften. Das Bundesgericht hat dabei nicht verkannt,<br />

196


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

dass diese Ausdehnung nicht nur die wichtigste, sondern wahrscheinlich auch die einzige unerwünschte<br />

Folge wäre, falls die kritisierte Unterscheidung aufgegeben würde. Die wohlbegründete<br />

Beschränkung des Art. 136 Abs. 1 <strong>OR</strong> auf die echte Solidarität würde diesfalls in der Tat bedeutungslos<br />

(SPIRO, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Bd. I S.<br />

493). Stossende Ergebnisse wären zudem nicht zu vermeiden.<br />

Bisher nicht geäussert hat sich das Bundesgericht zum Vorschlag von MERZ (in Schweizerisches Privatrecht<br />

[SPR] VI/1 S. 103 ff. und ZBJV 116/1980 S. 13), gestützt auf die romanischen Fassungen von<br />

Art. 50 <strong>OR</strong> die Haftung mehrerer unbekümmert darum, ob sie auf dem gleichen oder auf verschiedenen<br />

Rechtsgründen beruhe und ob gemeinsames oder selbständiges Verschulden anzunehmen sei,<br />

dieser Bestimmung zu unterstellen; Art. 51 <strong>OR</strong> wäre dann nur noch als Regel für den internen Regress<br />

unter den Haftpflichtigen zu verstehen. MERZ ist sich bewusst, dass er damit an die Grenzen<br />

erlaubter Textinterpretation stösst; nach seiner Auffassung ergäbe eine solche Auslegung aber nicht<br />

nur eine befriedigendere, sondern auch eine klare Lösung und wäre daher zu verantworten, zumal<br />

die beiden Bestimmungen auch nach ihrer Entstehung eines innern Zusammenhangs entbehrten.<br />

Dies deckt sich mit weitern Ausführungen zur Entstehungsgeschichte des Art. 51 <strong>OR</strong> (WIDMER, in<br />

Festschrift Assista 1979 S. 269 ff.; SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen,<br />

S. 289 ff.). Die Auffassung von MERZ wird befürwortet von STARK (ZBJV 121/1985 S. 486)<br />

und sinngemäss auch von BUCHER (<strong>OR</strong> Allg. Teil, 2. Aufl. S. 498/99), der die Angleichung allerdings<br />

dem Gesetzgeber vorbehält (vgl. ferner DESCHENAUX/TERCIER, S. 279 Rz. 18 f.). Richtig ist, dass der<br />

Unterschied in der Entstehung der Haftung für sich allein keine ungleiche Behandlung rechtfertigt,<br />

zumal die praktischen Auswirkungen, wie MERZ einräumt (SPR VI/1 S. 105 oben), trotzdem fast vollständig<br />

übereinstimmen. Gegen eine analoge Anwendung der Bestimmungen über die echte Solidarität<br />

ist deshalb nichts einzuwenden, wo sie möglich und sachlich gerechtfertigt ist. Erschwert oder gar<br />

verunmöglicht wird eine solche Anwendung aber insbesondere, wenn der zahlende Schuldner sich im<br />

Regressprozess auf eine Verjährungsunterbrechung durch den Gläubiger oder auf dessen Rechte<br />

beruft, er daraus jedoch nichts für sich ableiten kann, weil nicht nur Art. 136 Abs. 1, sondern auch<br />

Art. 149 Abs. 1 <strong>OR</strong> bloss im Bereiche der echten Solidarität gilt (BGE 96 <strong>II</strong> 175; SCHAER, S. 288 Rz. 839<br />

mit Zitaten; BUCHER, S. 498 Anm. 67).<br />

c) Weitere Ausführungen zur Anregung von MERZ erübrigen sich einstweilen, da vorliegend kein Anlass<br />

zu einer Änderung der Rechtsprechung besteht. Das Kantonsgericht hatte sich nur mit der Solidarität<br />

unter den Prozessparteien, d.h. der Baufirma und dem Architekten zu befassen; die Klägerin<br />

hat den Rückgriff auf den Architekten beschränkt, und Ingenieur C. hat trotz Streitverkündung durch<br />

den Beklagten am Prozess nicht teilgenommen. Fragen kann sich daher bloss, ob die Prozessparteien<br />

den Schaden im Sinne von Art. 50 Abs. 1 <strong>OR</strong> gemeinsam verschuldet haben. Das Kantonsgericht stellt<br />

dazu fest, dass der Beklagte nach dem ersten Wassereinbruch zusammen mit dem Ingenieur angeordnet<br />

hat, das Wasser abzuleiten und zur Sicherung des Hanges eine Larsenwand zu erstellen. Für<br />

eine Mitverantwortung der Klägerin an dieser Anordnung ist dem angefochtenen Urteil nichts zu<br />

entnehmen. Entgegen der Berufung lässt sich daher schon von der Planung der Massnahmen nicht<br />

sagen, die Klägerin und der Beklagte hätten zur gleichen Zeit in Form einer Unterlassung den gleichen<br />

Fehler begangen. Richtig ist bloss, dass die Verantwortung zwischen Ingenieur und Architekt nicht<br />

leicht abzugrenzen wäre, wie das Kantonsgericht bemerkt, da sie beide rechtzeitig für eine ausreichende<br />

Sicherung hätten sorgen müssen.<br />

Dass der Beklagte nach der Anordnung von Massnahmen als Inhaber der Bauleitung überwachungspflichtig<br />

blieb und auf seine Weisungen hätte zurückkommen müssen, als die Larsenwand sich als<br />

untauglich erwies, ändert daran nichts; in seiner Unterlassung ist vielmehr eine weitere selbständige<br />

Vertragsverletzung zu erblicken, die der Annahme eines schuldhaften Zusammenwirkens im Sinne<br />

der Rechtsprechung ebenfalls entgegensteht (BGE 104 <strong>II</strong> 230). Ein solches Zusammenwirken zwischen<br />

Architekt und Unternehmer ist wegen der Verschiedenheit ihrer vertraglichen Verpflichtungen<br />

und der unterschiedlichen Haftung, die sich daraus im Falle einer schlechten Erfüllung des Vertrages<br />

zugunsten des Bauherrn ergibt, auch nach der Lehre nicht leichthin anzunehmen (GAUCH, Der Werkvertrag,<br />

3. Aufl. Rz. 2022 und 2027; GAUTSCHI, N. 38a zu Art. 398 <strong>OR</strong>; R. SCHUMACHER, in Das Architektenrecht,<br />

S. 105 ff. Rz. 716 und 717). Die Auffassung der Vorinstanz, zwischen den Prozessparteien<br />

sei bloss unechte Solidarität anzunehmen, verstösst daher nicht gegen Art. 50 <strong>OR</strong>.<br />

197


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

2. Die Klägerin macht geltend, mit ihrer Betreibung des Bauherrn vom 28. Juni 1975 und dem anschliessenden<br />

Prozess über die Höhe ihres Werklohnes sei die Verjährung wiederholt unterbrochen<br />

worden. Entgegen der Annahme des Kantonsgerichts lasse sich daher nicht sagen, dass die absolute<br />

Verjährung eingetreten sei, bevor sie dem Beklagten gegenüber mit der Betreibung vom 18. April<br />

1986 eine verjährungsunterbrechende Handlung vorgenommen habe; damals sei seit Beendigung<br />

des Hauptprozesses, den das Kantonsgericht am 24. April 1985 als durch Vergleich erledigt abgeschrieben<br />

habe, weniger als ein Jahr verstrichen.<br />

a) Die Klägerin anerkennt, dass es sich bei der Unterbrechung der Verjährung gemäss Art. 136 Abs. 1<br />

<strong>OR</strong> um einen Rechtsvorteil zugunsten des Gläubigers handelt, und dass dieser Vorteil auf Fälle echter<br />

Solidarität zu beschränken ist. Sie übersieht aber, dass sie sich gegenüber dem Beklagten nicht auf<br />

Subrogation der Gläubigerrechte gemäss Art. 149 Abs. 1 <strong>OR</strong>, sondern nur auf einen Ausgleichsanspruch<br />

berufen kann, weil von unechter Solidarität oder einer blossen Anspruchskonkurrenz des Geschädigten<br />

auszugehen ist. Der Ausgleichsanspruch entsteht zwar erst mit der Zahlung des Regressberechtigten,<br />

was aber nicht heisst, dass er unbekümmert darum, ob konkurrierende Ansprüche des<br />

Geschädigten gegenüber einem andern Haftpflichtigen bereits verjährt oder (z.B. infolge unterbliebener<br />

Mängelrüge) verwirkt seien, noch gegen einen Mitschuldner durchgesetzt werden könne. Davon<br />

kann jedenfalls dann keine Rede sein, wenn der Regressberechtigte von der Möglichkeit, auf<br />

einen andern zurückzugreifen, rechtzeitig Kenntnis erhält, aber nichts unternimmt (vgl. SPIRO, I S.<br />

491 ff.; BUGNON, L'action récursoire en matière de concours de responsabilités civiles, S. 144 ff.).<br />

So verhielt es sich hier. Gewiss stellte sich der Bauherr im Hauptprozess auf den Standpunkt, dass der<br />

Mehraufwand infolge der Erdrutsche als Schaden wegen schlechter Erfüllung des Vertrages vom<br />

Werklohn abzuziehen sei. Weder er noch die Klägerin haben aber dem Architekten oder dem Ingenieur<br />

in jenem Prozess den Streit verkündet, sie nötigenfalls selber belangt oder dem Richter beantragt,<br />

das Regressrecht gemäss Art. 50 Abs. 2 <strong>OR</strong> festzusetzen. Dazu hätte namentlich die Klägerin<br />

allen Anlass gehabt, wie ihr das Kantonsgericht sinngemäss vorhält, als sie gestützt auf das gerichtliche<br />

Gutachten vom 23. September 1981 erfuhr, dass eine Larsenwand zur Sicherung des Hanges von<br />

vornherein nicht genügte, der Schaden in erster Linie also vom Ingenieur und vom Architekten zu<br />

verantworten war (BGE 89 <strong>II</strong> 123 E. 5a am Ende, BGE 58 <strong>II</strong> 441; vgl. ferner GAUCH, Rz. 2040; OFTIN-<br />

GER, Schweiz. <strong>Haftpflichtrecht</strong> I, 3. Aufl. S. 353).<br />

Die schädigenden Auswirkungen der ungenügenden Hangsicherung endeten am 17. Juli 1973 mit<br />

dem letzten Erdrutsch. An diesem Tag begann nicht nur die allgemeine Frist von zehn Jahren gemäss<br />

Art. 127 <strong>OR</strong> wegen Verletzung des Vertrages (BGE 113 <strong>II</strong> 267 E. 2b), sondern auch die absolute Frist<br />

des Art. 60 Abs. 1 <strong>OR</strong> zu laufen, falls die Streitfrage nach der Deliktshaftung zu entscheiden wäre, wie<br />

das Kantonsgericht angenommen hat und die Klägerin noch mit der Berufung behauptet. Die Frist<br />

des Art. 127 <strong>OR</strong> wurde gegenüber dem Beklagten innert zehn Jahren nie unterbrochen; sie lief daher<br />

am 17. Juli 1983 ab. Nach der Deliktshaftung lief der Klägerin vom 23. September 1981 an, als sie von<br />

der Mitverantwortung des Architekten und des Ingenieurs Kenntnis erhielt, gemäss Art. 60 Abs. 1 <strong>OR</strong><br />

eine einjährige Frist, um ihnen den Streit zu verkünden oder sie direkt zu belangen. Ähnlich verhielte<br />

es sich, wenn man davon ausgehend, dass der Grund der Rückgriffsforderung in einer Geschäftsführung<br />

oder einer Bereicherung zu erblicken sei, Art. 67 <strong>OR</strong> analog anwenden wollte, wie dies SPIRO (S.<br />

482 ff.) und BUGNON (S. 144 ff.) vorschlagen. Die Klägerin hat nicht nur die relative Frist von einem<br />

Jahr, sondern auch die absolute Frist von zehn Jahren unbenützt verstreichen lassen, weshalb ihrer<br />

Betreibung vom 18. April 1986 keine unterbrechende Wirkung mehr zukam.<br />

b) In verschiedenen Sonderbestimmungen hat der Gesetzgeber allerdings ausdrücklich vorgesehen,<br />

dass die Verjährung der Rückgriffsforderung<br />

erst am Tag zu laufen beginnt, an dem der Regressberechtigte den Gläubiger befriedigt. Dies gilt insbesondere<br />

für den Regress des Bürgen (Art. 507 Abs. 5 <strong>OR</strong>), des Genossenschafters (Art. 878 Abs. 3<br />

<strong>OR</strong>), eines Haftpflichtigen im Strassenverkehr (Art. 83 Abs. 3 SVG) und unter mehreren Haftpflichtigen<br />

für Schäden aus Rohrleitungsanlagen (Art. 39 Abs. 3 RLG). Die Klägerin versucht aus solchen Sondervorschriften<br />

zu Recht keine allgemeine Verjährungsbestimmung für Regressansprüche abzuleiten,<br />

zumal die Entstehungsgeschichte sich darüber ausschweigt und die Sondervorschriften selbst unter<br />

sich der Einheit entbehren (SPIRO, I S. 489 f.).<br />

198


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Ein solcher Schluss wäre vorliegend auch sachlich nicht gerechtfertigt, widerspricht es doch dem Sinn<br />

und Zweck der Verjährung, dass ein Anspruchsberechtigter jahrelang zuwartet, obschon er den<br />

Pflichtigen kennt und sich auch über den Umfang des Schadens Rechenschaft geben kann (BGE 114 <strong>II</strong><br />

256 mit Hinweisen). Dazu kommt der Schutz der Pflichtigen gemäss Art. 371 Abs. 2 <strong>OR</strong>; diese Bestimmung<br />

lässt ebenfalls nicht darauf schliessen, dass der Gesetzgeber einen Rückgriff auch noch<br />

gestatten wollte, nachdem die Hauptschuld verjährt ist (GAUCH, Rz. 1663 und 2039 mit Hinweisen).<br />

Das angefochtene Urteil ist daher im Ergebnis nicht zu beanstanden.<br />

BGE 127 <strong>II</strong>I 257<br />

45. Auszug aus dem Urteil der <strong>II</strong>. Zivilabteilung vom 4. April 2001 i.S. A. Rapold & Co. KG gegen Werner<br />

Bleiker und Mitb. (Berufung)<br />

Regeste<br />

Schädigung einer Nachbarliegenschaft durch Grabungen und Bauten; Verjährung; Art. 679/685 ZGB,<br />

Art. 51 und Art. 60 Abs. 1 <strong>OR</strong>.<br />

Beginn der absoluten Verjährung bei fortwährender Vergrösserung des Schadens (E. 2b).<br />

Solidarische Haftung von Grundeigentümern (E. 4b).<br />

Tragweite der solidarischen Haftung (E. 5a).<br />

Keine Haftungsreduktion bei fehlender Durchsetzbarkeit des Ausgleichsanspruches gegen solidarisch<br />

Mithaftende (E. 6b).<br />

Ausgleichsanspruch des Belangten gegen die in unechter Solidarität Mihaftenden bei Verjährung<br />

konkurrierender Ersatzansprüche des Geschädigten (E. 6c).<br />

A.- Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstückes Kat.-Nr. 6344 am Wydlerweg 7 in Zürich. Auf ihrer<br />

Parzelle steht ein im Jahre 1872 errichtetes Wohnhaus; 1948 wurden eine Werkstatt und eine Garage<br />

angebaut. Südöstlich und westlich der klägerischen Liegenschaft liegen die Grundstücke Kat.-Nr.<br />

6339 und 6341, die dem Beklagten 1 gehören. Auf ihnen befindet sich die Überbauung "Albisriederdörfli",<br />

die von 1981 bis Ende 1982 erbaut wurde. Den Beklagten 2 gehört die Parzelle Kat.-Nr. 6343<br />

im Nordwesten des Grundstückes der Klägerin; auf dieser wurde zwischen Ende 1981 und Ende des<br />

Jahres 1982 eine Mehrfamilienhausüberbauung mit Tiefgarage errichtet. Eigentümerin des im Norden<br />

und Nordosten an das Grundstück der Klägerin angrenzenden Grundstückes Kat.-Nr. 6345 ist die<br />

Stadt Zürich, wobei auf ihrem Grundstück zu Gunsten der Beklagten 3 ein selbständiges und dauerndes<br />

Baurecht eingetragen ist. In den Jahren 1984 und 1985 erbaute diese dort mehrere Mehrfamilienhäuser.<br />

Mit Schreiben vom 25. März 1988 und vom 10. Juni 1988 teilte die Klägerin den Beklagten 1 und 3<br />

mit, dass an ihrem Gebäude Schäden aufgetreten seien, die mit den Bauarbeiten auf den Nachbargrundstücken<br />

in Zusammenhang stünden. Am 16. Juni 1993 betrieb die Klägerin die Beklagten 1, 2<br />

und 3 je für den Betrag von Fr. 1'000'000.-, worauf alle drei Beklagten Rechtsvorschlag erhoben.<br />

B.- Die Klägerin erhob am 17. November 1993 beim Bezirksgericht Zürich Klage und beantragte, die<br />

Beklagten 1, 2 und 3 solidarisch zur Zahlung von Fr. 1'689'330.35 nebst 5% Zins seit dem 30. April<br />

1993 zu verurteilen. Zudem seien sie zu verpflichten, unverzüglich alle Massnahmen zur Vermeidung<br />

weiterer Schäden an der klägerischen Liegenschaft zu ergreifen, insbesondere die Entwässerungsleitungen<br />

in der Nähe ihrer Grundstücksgrenze stillzulegen. Mit Urteil vom 24. Juli 1997 hiess das Bezirksgericht<br />

die Klage teilweise gut und verpflichtete die Beklagten unter solidarischer Haftung für<br />

den gesamten Betrag zur Bezahlung von Fr. 748'762.- nebst Zins. Zugleich legte es die von den Beklagten<br />

im Innenverhältnis zu tragenden Haftungsquoten fest; im Übrigen wies es die Klage ab. Hiergegen<br />

erklärten die drei Beklagten Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich, welches die Kla-<br />

199


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

ge gegen die Beklagten 1 und 2 abwies, die Beklagte 3 dagegen zur Bezahlung von Fr. 310'000.- nebst<br />

Zins zu 5% seit dem 30. April 1993 verurteilte.<br />

C.- Gegen das Urteil des Obergerichts haben sowohl die Klägerin als auch die Beklagte 3 Berufung an<br />

das Bundesgericht erhoben. Die Klägerin verlangt die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die<br />

solidarische Verurteilung der Beklagten 1-3 zur Bezahlung von Fr. 665'511.10 nebst 5% Zins seit dem<br />

30. April 1993. Die drei Beklagten tragen Abweisung der Berufung an; die Beklagte 3 ersucht überdies<br />

in ihrer Berufung um teilweise Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und Abweisung der Klage,<br />

eventuell Reduktion der zu bezahlenden Summe. Die Klägerin schliesst auf Abweisung dieser Begehren;<br />

das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Das Bundesgericht heisst beide Berufungen<br />

teilweise gut, hebt den angefochtenen Entscheid teilweise auf und weist die Sache zu neuer<br />

Entscheidung an die Vorinstanz zurück.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

2. b) Die Klägerin macht sodann geltend, die absolute Verjährung beginne nicht zu laufen, solange<br />

das schädigende Ereignis fortdauere und kein abgeschlossener Schaden vorliege. Im vorliegenden<br />

Fall seien Einrichtungen zur dauernden Entwässerung installiert worden, die fortwährend auf die<br />

Liegenschaft der Klägerin einwirkten. Diese schädigende Einwirkung habe bis heute nicht aufgehört.<br />

aa) Ausservertragliche Schadenersatzansprüche unterliegen der relativen einjährigen und der absoluten<br />

zehnjährigen Verjährungsfrist gemäss Art. 60 Abs. 1 <strong>OR</strong>. Diese Verjährungsordnung gilt auch für<br />

Ansprüche aus Art. 679/685 Abs. 1 ZGB, wie die Vorinstanz zu Recht erwogen hat (BGE 109 <strong>II</strong> 418 E. 3<br />

S. 420 mit Hinweis).<br />

Während die relative Verjährungsfrist von dem Tage an läuft, an dem der Geschädigte Kenntnis vom<br />

Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat, beginnt die absolute Verjährungsfrist<br />

bereits am Tage der schädigenden Handlung zu laufen (Art. 60 Abs. 1 <strong>OR</strong>). Der Beginn der Zehnjahresfrist<br />

ist somit vom Schadenseintritt und von der Kenntnis des Schadens durch den Geschädigten<br />

unabhängig; massgeblich ist einzig der Zeitpunkt des den Schaden verursachenden Verhaltens (BGE<br />

106 <strong>II</strong> 134 E. 2a-c S. 136 ff.; BGE 119 <strong>II</strong> 216 E. 4a/aa S. 219; je mit Hinweisen).<br />

bb) Damit ist es für den Lauf der absoluten Verjährung unerheblich, ob sich der Schaden auf dem<br />

Grundstück der Klägerin noch fortentwickelt. Dass die Grabungen und die bauliche Tätigkeit der Beklagten<br />

1 und 2 mehr als zehn Jahre vor der Einleitung der Betreibung im Juni 1993 abgeschlossen<br />

waren, steht aufgrund der für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz fest<br />

(Art. 63 Abs. 2 OG). Fraglich ist nur, ob damit auch das schädigende Verhalten als abgeschlossen zu<br />

betrachten ist oder ob die auf die Sickerleitungen zurückzuführende Absenkung des Grundwasserspiegels<br />

eine fortwährende schädigende Handlung darstellt, die den Verjährungseintritt verhindert.<br />

Die Klägerin beruft sich in diesem Zusammenhang zunächst auf MEIER-HAYOZ (Berner Kommentar, 3.<br />

Aufl., Bern 1974, N. 145 zu Art. 679 ZGB), der sich seinerseits auf BGE 81 <strong>II</strong> 439 E. 3 und 4 S. 445 ff.<br />

bezieht. Dort ging es um eine Haftung aus Art. 679 in Verbindung mit Art. 684 ZGB; eine Kunstseidefabrik<br />

leitete ihre Abwässer in undichte Klärbecken, wo sie versickerten und das Grundwasser mit<br />

Sulfatsalzen verunreinigten. Obwohl die letzte Benutzung der Klärbecken mehr als zehn Jahre zurücklag,<br />

erachtete das Bundesgericht die Ersatzforderung nicht als verjährt, weil die Verunreinigung des<br />

Grundwassers angedauert habe und somit von immer neuen Immissionen auszugehen sei. Ob an<br />

diesem Entscheid uneingeschränkt festzuhalten ist, kann offen bleiben, weil der vorliegende Sachverhalt<br />

mit dem dortigen nicht vergleichbar ist, wie auch die Vorinstanz zu Recht erkannt hat. Die<br />

Errichtung der Bauten einschliesslich der Sickerleitungen ist verjährungsrechtlich als einmalige, abgeschlossene<br />

Handlung zu würdigen (BGE 107 <strong>II</strong> 134 E. 4 S. 140). Schädigende Handlungen im Sinne von<br />

Art. 60 Abs. 1 <strong>OR</strong> stellen die Grab- und Bautätigkeiten der Beklagten 1 und 2 unter Einschluss der<br />

Installation der Sickerleitungen dar, während die durch die anhaltende Senkung des Grundwasserspiegels<br />

sich vergrössernden Schäden als Entwicklung des auf der ursprünglichen Schädigungshandlung<br />

beruhenden Schadens zu begreifen sind. Nichts anderes ergibt sich aus dem von der Klägerin<br />

angerufenen BGE 109 <strong>II</strong> 418 E. 3 S. 421 f. und dem Zitat von BREHM (Berner Kommentar, 2. Aufl.,<br />

Bern 1998, N. 30 zu Art. 60 <strong>OR</strong>), wonach die Verjährungsfrist nicht zu laufen beginne, solange die<br />

200


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Handlung des Schädigers andauere. Nach dem Dargelegten trifft dieser Tatbestand hier gerade nicht<br />

zu, denn es währt nicht die schädigende Handlung fort, sondern allenfalls deren Auswirkungen. Damit<br />

sind die Annahmen der Vorinstanz über den Beginn der absoluten Verjährungsfrist nicht zu beanstanden.<br />

4. a) Die Beklagte 3 beanstandet, die Vorinstanz habe Art. 50 und 51 <strong>OR</strong> sowie Art. 679 und Art. 685<br />

ZGB verletzt, weil sie im Verhältnis zwischen den Beklagten 1-3 Solidarität angenommen habe. Dem<br />

hält sie entgegen, dass keine Solidarität entstehe, wenn mehrere Grundeigentümer je für sich ihr<br />

Eigentumsrecht überschritten und dadurch den Nachbarn schädigten. Nach den Feststellungen der<br />

Vorinstanz habe die Beklagte 3 nicht mit den Beklagten 1 und 2 zusammen gehandelt, habe sie doch<br />

ihr Bauvorhaben zweieinhalb Jahre später und unabhängig von diesen begonnen. Zu Beginn ihres<br />

Bauvorhabens seien bereits Schäden vorhanden gewesen; die Beklagten hätten durch ihre Bautätigkeit<br />

nicht denselben Schaden herbeigeführt, sondern jeder Grundeigentümer habe einen Schadensanteil<br />

verursacht. Eine solidarische Haftung zwischen benachbarten Grundeigentümern bestehe<br />

nur, wenn ein Schaden die Folge sogenannter summierter Immissionen sei, was die Vorinstanz verkannt<br />

habe.<br />

b) aa) Die Bebauung der Grundstücke der Beklagten 1 und 2 in den Jahren 1981/1982 bzw. der Beklagten<br />

3 in den Jahren 1984/85 bewirkte eine Senkung des Grundwasserspiegels und dadurch eine<br />

Schädigung des klägerischen Gebäudes. Während MEIER-HAYOZ anfänglich unter Bezugnahme auf<br />

BGE 68 <strong>II</strong> 369 E. 6 S. 375 f. noch die Ansicht vertrat, es bestehe keine Solidarität, wenn die schädigende<br />

Einwirkung von mehreren selbständigen Grundstücken ausgehe (a.a.O., N. 135 zu Art. 679<br />

ZGB), hält er in der späteren Kommentierung zu Art. 684 ZGB dafür, der Schutz des geschädigten<br />

Nachbarn erheische, dass mehrere verantwortliche Störer solidarisch hafteten (Berner Kommentar,<br />

3. Aufl., Bern 1975, N. 151 zu Art. 684 ZGB).<br />

bb) In der Tat ist nicht einzusehen, weshalb für solche Fälle eine Ausnahme vom Solidaritätsprinzip<br />

gelten sollte. Im angeführten Entscheid des Bundesgerichtes aus dem Jahre 1942 ging es um die Versumpfung<br />

eines Grundstückes infolge übermässiger Wasserzufuhr von mehreren Nachbarliegenschaften.<br />

Obwohl das Bundesgericht von einem einheitlichen Schaden ausging, verwarf es eine solidarische<br />

Haftung der Schädiger. Es begründete dies damit, dass sich ermitteln lasse, in welchem Verhältnis<br />

der Wasserzufluss von den Grundstücken der Schädiger zur Schadensentstehung beigetragen<br />

habe, weshalb auf eine Teilhaftung zu erkennen sei. Dies sei um so mehr angezeigt, als nicht eine<br />

Verschuldens-, sondern eine Kausalhaftung in Frage stehe (BGE 68 <strong>II</strong> 369 E. 6 S. 375 f.). Dieser Begründung<br />

kann nicht mehr vorbehaltlos gefolgt werden (kritisch bereits GUISAN, JdT 1943 I S. 473 f.).<br />

Liegt ein einheitlicher Schaden vor, der durch mehrere verursacht worden ist, auferlegt das Gesetz<br />

den Schädigern eine solidarische Haftung (Art. 50 und 51 <strong>OR</strong>), und zwar ungeachtet dessen, ob die<br />

Anspruchsgrundlage eine Verschuldens- oder Kausalhaftung ist. Eigenheit der Solidarität ist es, dass<br />

sich der Geschädigte nicht um das Innenverhältnis und damit die endgültige Aufteilung des Schadens<br />

zwischen den Schädigern zu kümmern braucht (BGE 114 <strong>II</strong> 342 E. 2b S. 344). Demgegenüber trägt der<br />

erwähnte Entscheid dem Innenverhältnis vorbehaltene Erwägungen ins Aussenverhältnis und versagt<br />

dadurch dem Geschädigten die ihm aufgrund der gesetzlich vorgesehenen Solidarität zustehende<br />

Vorzugsstellung.<br />

Der Umstand, dass im vorliegenden Fall die schädigenden Einwirkungen der Beklagten 1 und 2 sowie<br />

der Beklagten 3 von verschiedenen Grundstücken ausgingen, spricht daher nicht gegen ihre solidarische<br />

Haftung gegenüber der Klägerin. Nicht einzugehen ist in diesem Zusammenhang auf die von der<br />

Beklagten 3 aufgeworfene Problematik der sogenannten summierten Immissionen. Darunter werden<br />

Fälle verstanden, in denen die von mehreren Nachbarn ausgehenden Einwirkungen auf das Grundstück<br />

des Geschädigten erst in ihrem Zusammenwirken das zulässige Mass überschreiten (MEIER-<br />

HAYOZ, a.a.O., N. 148 zu Art. 684 ZGB). Dass dies vorliegend zuträfe, ergibt sich aus den vorinstanzlichen<br />

Feststellungen nicht.<br />

5. a) Die Beklagte 3 wirft der Vorinstanz sinngemäss vor, den Begriff der Solidarität verkannt zu haben.<br />

Sie trägt vor, die Solidarität werde durch die externe Haftung begrenzt, und macht geltend, das<br />

Verhalten der Beklagten 3 sei nicht für den gesamten entstandenen Schaden kausal gewesen.<br />

201


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Die Verantwortlichkeit als Solidarschuldner wird durch die Reichweite der ihn treffenden Haftung<br />

beschränkt. Haftet jemand von vornherein überhaupt nicht oder nur für einen Teil des Schadens, weil<br />

sein Verhalten nicht für den gesamten eingetretenen Schaden adäquat-kausal ist, hat er auch nicht<br />

als Solidarschuldner neben anderen Mitschädigern für mehr einzustehen, als er aufgrund seiner eigenen<br />

Haftung verpflichtet ist (vgl. BGE 93 <strong>II</strong> 329 E. 3b S. 334; BGE 95 <strong>II</strong> 333 E. 3 S. 337; BREHM,<br />

a.a.O., N. 26 zu Art. 51 <strong>OR</strong>; ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. <strong>II</strong>, 2. Aufl., Bern 1998, S.<br />

179; PIERRE WIDMER, Privatrechtliche Haftung, in: Schaden - Haftung - Versicherung, Basel 1999, S.<br />

75 f.). Soweit daher der eingeklagte Schaden ausschliesslich von den Beklagten 1 und 2 verursacht<br />

worden ist und die Beklagte 3 auch nicht zu dessen Verschlimmerung beigetragen hat, entfällt in<br />

diesem Ausmass von vornherein ihre solidarische Mithaftung. Soweit aber der von der Beklagten 3<br />

verursachte Schaden sich mit dem von den Beklagten 1 und 2 zu vertretenden überschneidet, d.h. zu<br />

dessen Vergrösserung geführt hat, haftet die Beklagte 3 hierfür solidarisch mit den anderen Beklagten.<br />

b) Die Vorinstanz hat festgestellt, zwischen der Bautätigkeit der Beklagten 3 und den auf dem Grundstück<br />

der Klägerin aufgetretenen Rissschäden bestehe ein natürlicher Kausalzusammenhang, allerdings<br />

mit Ausnahme der Schäden, die vom Gutachter entweder alleine der Bautätigkeit der Beklagten<br />

1 oder alleine jener der Beklagten 2 zugewiesen worden sind. Trotzdem hat die Vorinstanz den<br />

natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten der Beklagten 3 und offenbar allen entstandenen<br />

Rissschäden bejaht. Aus den Feststellungen und Erwägungen der Vorinstanz geht gerade<br />

nicht schlüssig hervor, ob die Bautätigkeit der Beklagten 3 in Bezug auf den ganzen Schaden kausal<br />

ist, für den sie schliesslich haftbar erklärt worden ist. Die Feststellungen der Vorinstanz liefern vielmehr<br />

Anhaltspunkte dafür, dass gewisse Schäden ausschliesslich von den Beklagten 1 und 2 verursacht<br />

worden sind und das Verhalten der Beklagten 3 darauf keinen Einfluss gezeitigt hat. Es liegt die<br />

Annahme nahe, dass nur diejenigen Schäden mit der Bautätigkeit der Beklagten 3 in kausaler Beziehung<br />

stehen, die der Experte ihrer "Einflussfläche" zugewiesen hat; denn wo kein Einfluss stattfindet,<br />

ist selbstredend keine Schadensverursachung denkbar. Ob dieser Einflussbereich mit der Gesamtheit<br />

der Schäden übereinstimmt, für welche die Vorinstanz die Beklagte 3 als solidarisch haftbar erklärt<br />

hat, bleibt letztlich unklar. Fehlen aber eindeutige Feststellungen der Vorinstanz, kann der Umfang<br />

der Haftung der Beklagten 3 vom Bundesgericht nicht abschliessend beurteilt werden. Nicht massgeblich<br />

sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Experten über den Verursachungsanteil<br />

der Beklagten 3, den er mit 21 % beziffert hat; dabei ging es nicht um die Frage, für welche Schäden<br />

die Bautätigkeit der Beklagten 3 eine (Mit-)Ursache gesetzt hat, sondern um das hiervon zu unterscheidende<br />

Innenverhältnis. Die Sache muss daher zur Ergänzung des Sachverhaltes im Hinblick auf<br />

die Klärung der Kausalitätsfrage an die Vorinstanz zurückgewiesen werden (Art. 64 Abs. 1 OG; BGE<br />

127 <strong>II</strong>I 68 E. 3 S. 73). Ergibt sich dabei, dass das Verhalten der Beklagten 3 nicht für den ganzen Schaden<br />

kausal war, besteht Solidarität von vornherein nur in entsprechend reduziertem Umfang. Insoweit<br />

erweist sich die Berufung der Beklagten 3 als begründet.<br />

Nicht zu hören ist die in diesem Zusammenhang erhobene Rüge, die Annahmen des Experten über<br />

den der Beklagten 3 zuzurechnenden Beitrag an der Schadensverursachung beruhten lediglich auf<br />

Mutmassungen. Nach Art. 55 Abs. 1 lit. c OG ist in der Berufungsschrift anzugeben, welche Bundesrechtssätze<br />

und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt sind; dagegen ist appellatorische<br />

Kritik an der Beweiswürdigung im Berufungsverfahren nicht statthaft (BGE 120 <strong>II</strong> 97 E. 2b S.<br />

99; BGE 125 <strong>II</strong>I 78 E. 3a S. 79 mit Hinweisen).<br />

6. a) Art. 136 Abs. 1 <strong>OR</strong> bestimmt, dass die Unterbrechung der Verjährung gegen einen Solidarschuldner<br />

auch gegen die übrigen Mitschuldner wirkt. Dies gilt nach ständiger Rechtsprechung nur<br />

für die echte Solidarität, nicht aber für Verpflichtungen aus unechter Solidarität, weil dort jede Forderung<br />

ihre eigene Verjährung hat und infolgedessen auch die Unterbrechung je nur den einzelnen<br />

Anspruch trifft (BGE 104 <strong>II</strong> 225 E. 4b S. 232; BGE 112 <strong>II</strong> 138 E. 4a S. 143; BGE 115 <strong>II</strong> 42 E 1b S. 47). Die<br />

Vorinstanz ist von unechter Solidarschuldnerschaft im Sinne von Art. 51 <strong>OR</strong> ausgegangen und hat<br />

demgemäss dafür gehalten, dass die Verjährungsunterbrechung gegenüber der Beklagten 3 am Lauf<br />

der Verjährung gegenüber den Beklagten 1 und 2 nichts ändere.<br />

202


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Dazu ist anzumerken, dass ein gemeinsames Verschulden, welches echte Solidarität im Sinne von Art.<br />

50 Abs. 1 <strong>OR</strong> zu begründen vermöchte, nur vorläge, wenn jeder Schädiger um das pflichtwidrige Verhalten<br />

des anderen weiss oder jedenfalls wissen könnte (BGE 115 <strong>II</strong> 42 E. 1b S. 45). Da die Beklagten<br />

1 und 2 ihre Bauprojekte bereits in den Jahren 1981/1982 begonnen hatten, konnten sie von der erst<br />

Jahre später einsetzenden Bautätigkeit der Beklagten 3 keine Kenntnis haben, geschweige denn von<br />

einer pflichtwidrigen Handlung der Beklagten 3. Ist aber kein gemeinsames Verschulden auszumachen,<br />

kann nur auf unechte Solidarschuldnerschaft erkannt werden, wie die Vorinstanz zutreffend<br />

erwogen hat und auch die Parteien zu Recht nicht bestritten haben. Die Vorrichter haben sodann auf<br />

die Rechtsprechung des Bundesgerichtes (BGE 115 <strong>II</strong> 42 E. 2a S. 48 f.) verwiesen, wonach bei unechter<br />

Solidarität Ausgleichsansprüche des zahlenden Mitschuldners nicht durchgesetzt werden könnten,<br />

wenn konkurrierende Ansprüche des Geschädigten gegen einen Mithaftenden bereits verjährt<br />

sind (in diesem Sinne auch SPIRO, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs-<br />

und Fatalfristen, Bd. I, Bern 1975, S. 493 f.). Dessen eingedenk hat die Vorinstanz es aus Billigkeitsgründen<br />

für gerechtfertigt gehalten, die Ersatzpflicht der Beklagten 3 in Anwendung von Art. 43 Abs.<br />

1 <strong>OR</strong> im Umfang von 54 % herabzusetzen. Die Klägerin ficht diese Reduktion als unzulässig an, während<br />

nach Ansicht der Beklagten 3 die von der Vorinstanz vorgenommene Herabsetzung ungenügend<br />

ist.<br />

Ob die von der Vorinstanz zitierte Rechtsprechung den Schluss zulässt, dass bei Verjährung konkurrierender<br />

Ansprüche des Geschädigten die Durchsetzung von Ausgleichsansprüchen gegen Mitschuldner<br />

in jedem Fall ausgeschlossen ist, erscheint zumindest als fraglich (nachfolgend E. 6c). Aber<br />

selbst wenn dies der Fall sein sollte, rechtfertigte dies keine Herabsetzung.<br />

b) Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist eine Herabsetzung nach Art. 43 Abs. 1 <strong>OR</strong> im externen<br />

Verhältnis der unechten Solidarität zwar nicht ausgeschlossen, doch ist dabei grosse Zurückhaltung<br />

angezeigt, weil andernfalls der Grundsatz der Solidarität, der es dem Geschädigten auszuwählen<br />

erlaubt, gegen welchen Schädiger er vorgehen will, in Frage gestellt würde (BGE 97 <strong>II</strong> 339 E. 3<br />

S. 343 f.; BGE 112 <strong>II</strong> 138 E. 4a S. 143 f.; BREHM, a.a.O., N. 27 f. zu Art. 51 <strong>OR</strong> mit weiteren Hinweisen).<br />

Macht beispielsweise die Insolvenz eines anderen Haftpflichtigen den Rückgriff illusorisch, lehnt die<br />

Rechtsprechung eine Herabsetzung ab, da es noch unbilliger wäre, statt des belangten Haftpflichtigen<br />

den Geschädigten den Schaden tragen zu lassen (BGE 97 <strong>II</strong> 403 E. 7d S. 416; BGE 112 <strong>II</strong> 138 E. 4a<br />

S. 144). Von einer solchen Konstellation unterscheidet sich der vorliegende Fall zwar insoweit, als<br />

zwischen dem Verhalten der Klägerin, die die konkurrierenden Ansprüche gegen die Beklagten 1 und<br />

2 verjähren liess, und der allfälligen Unmöglichkeit des Rückgriffs ein direkter Zusammenhang besteht.<br />

Dennoch würde der Zweck der Solidarität verkannt, würde man im Aussenverhältnis den Haftungsanteil<br />

der Beklagten 3 kürzen, nur weil sie gegebenenfalls nicht mehr imstande wäre, auf die<br />

Mitschuldner Regress zu nehmen. Ist dem Geschädigten zuzugestehen, nach seinem Belieben auszuwählen,<br />

welchen Solidarschuldner er ins Recht fassen möchte, so darf ihm konsequenterweise aus<br />

dem Umstand, dass die konkurrierenden Ansprüche gegen die anderen Mitschuldner verjährt sind,<br />

kein Nachteil erwachsen. Die von der Vorinstanz vorgenommene Kürzung erweist sich demnach als<br />

bundesrechtswidrig; um so weniger kommt eine von der Beklagten 3 beantragte Erhöhung des Kürzungssatzes<br />

in Frage. Zwar ist nach der Praxis eine Herabsetzung allenfalls dann in Betracht zu ziehen,<br />

wenn der Beitrag des belangten Solidarschuldners im Vergleich zu jenem der anderen als überaus<br />

geringfügig erscheint (BGE 112 <strong>II</strong> 138 E. 4a S. 144). Solches aber ist den Feststellungen der Vorinstanz<br />

nicht zu entnehmen und die Frage bleibt ohnehin insoweit offen, als der haftungsmässig<br />

relevante Beitrag der Beklagten 3 bzw. dessen Umfang infolge der Rückweisung gegenwärtig noch<br />

nicht definitiv feststeht.<br />

c) Die Verjährung einer Forderung kann nicht zu laufen beginnen, bevor überhaupt die Forderung<br />

entstanden ist (vgl. VON TUHR/ESCHER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts,<br />

Bd. <strong>II</strong>, 3. Aufl., Zürich 1974, § 80 IV S. 217 f.). Bei der unechten Solidarität tritt der rückgriffsberechtigte<br />

Mitschuldner nicht gemäss Art. 149 Abs. 1 <strong>OR</strong> in die Gläubigerrechte des Geschädigten ein, sondern<br />

es steht ihm lediglich ein Ausgleichsanspruch gegen seine Mitschuldner zu, der im Zeitpunkt der<br />

Zahlung an den Geschädigten entsteht (BGE 115 <strong>II</strong> 42 E. 2a S. 48). Ist demnach der Ausgleichsanspruch<br />

noch nicht verjährt oder hat dessen Verjährung noch nicht einmal zu laufen begonnen, während<br />

konkurrierende Forderungen des Geschädigten gegen andere Mitschuldner bereits verjährt<br />

203


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

sind, hätte dies zur Folge, dass diese im Innenverhältnis dennoch für einen Teil des Schadenersatzes<br />

aufkommen müssten. Damit gingen sie letztlich der mit der Verjährung des Hauptanspruchs einhergehenden<br />

Privilegierung verlustig, könnten sie nicht auch dem regressberechtigten Mitschuldner die<br />

Verjährungseinrede entgegenhalten. Obwohl der Ausgleichsanspruch ein selbständiges Recht ist,<br />

versagt deshalb das Bundesgericht dem Regressberechtigten bei Verjährung konkurrierender Ansprüche<br />

des Geschädigten die Durchsetzung seiner Ausgleichsforderung, wenn der Regressberechtigte<br />

von der Möglichkeit, auf einen anderen Haftpflichtigen zurückzugreifen, rechtzeitig Kenntnis erhält,<br />

aber dennoch nichts unternimmt. Dies war der Fall bei einem Regressberechtigten, der bei noch<br />

offener Verjährung des konkurrierenden Anspruchs weder im Rahmen des vom Geschädigten gegen<br />

ihn angehobenen Prozesses dem Mitschuldner den Streit verkündet noch selber diesen belangt, noch<br />

dem Richter beantragt hatte, das Regressrecht festzusetzen (BGE 115 <strong>II</strong> 42 E. 2a S. 48 f.). Verschlechtert<br />

der Regressberechtigte dergestalt grundlos die Position eines anderen Haftpflichtigen, verdient<br />

er in der Tat keinen Rechtsschutz. Vielmehr ist Art. 2 Abs. 2 ZGB als rechtsbegrenzendes Korrektiv<br />

heranzuziehen und der Regressforderung ungeachtet ihrer noch nicht eingetretenen Verjährung die<br />

Durchsetzung zu versagen. Das Bundesgericht hat in anderem Zusammenhang mehrfach darauf hingewiesen,<br />

dass unter qualifizierten Umständen das zu lange Zuwarten mit der Erhebung eines Anspruches<br />

eine rechtsmissbräuchliche Verzögerung darstellen kann (BGE 94 <strong>II</strong> 37 E. 6b-d S. 41 f.; BGE<br />

116 <strong>II</strong> 428 E. 2 S. 431).<br />

Nicht entschieden wurde damit die Frage, wie es sich verhielte, wenn der Regressberechtigte vor der<br />

Verjährung konkurrierender Forderungen des Geschädigten gegen andere Mitschuldner keinerlei<br />

Veranlassung hatte, seinen Ausgleichsanspruch zu erheben oder ihn gar nicht geltend machen konnte,<br />

weil er von der Rückgriffsmöglichkeit nicht rechtzeitig Kenntnis erlangt hat. Es kann ihm dann<br />

unter solchen Umständen kein treuwidriges Verhalten vorgehalten werden, wenn er erst nach Verjährung<br />

der anderen Ersatzforderungen seinen Ausgleichsanspruch anmeldet. Da es im vorliegenden<br />

Fall nicht um die Beurteilung eines Ausgleichsanspruchs der Beklagten 3 geht, besteht kein Anlass,<br />

zur Frage der Durchsetzbarkeit unverjährter Ausgleichsansprüche bei gleichzeitiger Verjährung konkurrierender<br />

Ansprüche des Geschädigten abschliessend Stellung zu nehmen.<br />

204


Kausalität und Solidarität – Schadenszurechnung<br />

bei einer Mehrheit von tatsächlichen oder potenziellen<br />

Schädigern<br />

Stephan Weber *<br />

Mit einer Mehrheit von Schädigern stellen sich<br />

diverse Fragen, mit denen sich der nachfolgende<br />

Beitrag befasst. Er untersucht die verschiedenen<br />

Kausalitätsformen und zeigt auf, wann eine Zurechnung<br />

bei einer Konkurrenz von Teil- und Gesamtursachen<br />

möglich ist. Können die Kausalanteile<br />

der Schädiger nicht aufgeklärt werden, soll<br />

eine Beweislastumkehr eingreifen. Für <strong>OR</strong> 50 und<br />

SVG 60/61 wird als Folge der echten Solidarität<br />

eine kollektive Zurechnung befürwortet, die auch<br />

eine individuelle Schadenersatzbemessung ausschliessen<br />

soll. Damit wird der Unterscheidung<br />

von echter und unechter Solidarität Bedeutung<br />

zugemessen. Auch das im Forum behandelte Abkommen<br />

zur Regulierung von Massenkollisionen<br />

wird im Lichte der gewonnenen Erkenntnisse kurz<br />

gewürdigt.<br />

I. Einstieg<br />

Thema des folgenden Beitrags sind die Schadenszurechungsprobleme<br />

bei einer Mehrheit von Ersatzpflichtigen.<br />

Zum Glück sind Ereignisse wie die Massenkarambolage<br />

auf der A1 im November 2003 oder jenes<br />

auf der A9, das sich im April 2008 ereignet hat 1 , in der<br />

Schweiz selten. Zum Glück nicht nur mit Blick auf die<br />

tragischen Folgen, sondern auch, weil die haftpflichtrechtlichen<br />

Folgen alles andere als klar sind. Zum einen<br />

lässt sich der Ablauf der Kollisionen kaum mehr<br />

so rekonstruieren, dass die Kausalitäts- und Schuldfragen<br />

mit der nötigen Gewissheit beantwortet werden<br />

können. Wer wem welchen Schaden zugefügt hat,<br />

kann meist auch durch unfallanalytische und biomechanische<br />

Analysen nicht über das Aufzeigen blosser<br />

Möglichkeiten aufgehellt werden. Zum andern wird<br />

bei Personenschäden die Zurechnungsfrage durch weitere<br />

Momente erschwert, etwa dadurch, dass einige die<br />

Gurten nicht getragen haben, andere schon vor dem<br />

Unfall mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen<br />

hatten oder sich solche über früh oder lang auch ohne<br />

* Dr.iur.h.c., Geschäftsführer Leonardo Productions AG, Handelsrichter<br />

am Obergericht Zürich. Der Beitrag basiert auf dem an der Haftpflichtprozesstagung<br />

2008 gehaltenen Referat.<br />

1 Vgl. zu den beiden Schadenereignissen auch die Beiträge von<br />

SCHEURER/ODERMATT und RAVY-WIDMER im Forum dieser Ausgabe.<br />

HAVE/REAS 2/2010<br />

205<br />

La présente contribution traite des diverses questions<br />

que pose la pluralité des auteurs du dommage.<br />

Elle examine les différentes formes de causalité et<br />

indique quand l’imputation est possible en présence<br />

d’un concours de causes partielles ou totales. S’il<br />

n’est pas possible de déterminer la part de causalité<br />

afférente à chaque auteur, il y a lieu de procéder à<br />

un renversement du fardeau de la preuve. Dans le<br />

cadre de 50 CO et 60 LCR, l’auteur plaide en faveur<br />

d’une imputation collective en tant que conséquence<br />

de la solidarité parfaite, imputation qui exclut une<br />

appréciation individualisée des dommages-intérêts<br />

et qui souligne ainsi la distinction entre la solidarité<br />

parfaite et imparfaite. La contribution porte<br />

également sur l’appréciation, à la lumière des expériences<br />

faites, de la Convention sur les collisions<br />

en chaîne traitée dans le Forum du présent numéro.<br />

HAVE<br />

Unfall eingestellt hätten. Vielleicht war der eine oder<br />

andere schon zuvor einmal in einen Verkehrsunfall<br />

verwickelt und es lässt sich nun nicht mehr eruieren,<br />

welche Verletzungsfolgen auf welche Ereignisse zurückzuführen<br />

sind.<br />

Bei solchen Schadenereignissen sind regelmässig mehrere<br />

Ursachen beteiligt und immer wieder auch mehr<br />

als eine haftpflichtige Person. Das <strong>Haftpflichtrecht</strong> ist<br />

nicht für solche Mehrparteienverhältnisse konzipiert,<br />

sondern auf die individuelle Verantwortlichkeit eines<br />

Schädigers zugeschnitten. Sobald die Schadenregulierung<br />

nicht zweiseitig abgewickelt werden kann, sind<br />

zusätzliche Gesichtspunkte und Wertungen zu berücksichtigen.<br />

So verkörpern mehrere Schädiger ein höheres<br />

Gefährdungspotenzial und es treten vermehrt Beweisprobleme<br />

auf. Leider lässt uns das Gesetz mit den<br />

vielen sich stellenden Fragen über weite Strecken im<br />

Stich. Im <strong>OR</strong> befassen sich nur gerade zwei Bestimmungen,<br />

Art. 50 und 51 <strong>OR</strong>, mit einer Mehrheit von<br />

Ersatzpflichtigen, aber auch sie behandeln das Phänomen<br />

nicht umfassend und auch nicht durchwegs überzeugend.<br />

Und dort wo die Spezialgesetze wie das SVG<br />

eigene Regeln aufstellen, ist unklar, inwieweit diese<br />

von den allgemeinen Grundsätzen abweichen. Schon<br />

hier ist anzumerken, dass übereinstimmende Vorstellungen<br />

über die Abwicklung von Schadenfällen mit<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

115


HAVE<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

einer Schädigermehrheit auch in der Literatur nicht zu<br />

finden sind. Im Gegenteil, vieles ist kontrovers. Und<br />

die Diskussion begleiten viele Missverständnisse und<br />

Ungenauigkeiten und das wiederum lässt die Diskrepanzen<br />

oft gar nicht ins Bewusstsein treten.<br />

Dieser Beitrag soll einen Überblick über die Problemstellungen<br />

bieten und ein paar Lösungsansätze aufzeigen.<br />

Dabei sind thematische Beschränkungen nötig.<br />

Ich werde mich nicht dazu äussern, was unter dem natürlichen<br />

und dem adäquaten Kausalzusammenhang zu<br />

verstehen ist, obwohl dieses Vorverständnis durchaus<br />

wichtig wäre, vor allem für die Frage, was Gegenstand<br />

des Beweises ist und wann wir vor einer ungeklärten<br />

Kausalität stehen, auf die hier der Blick besonders gerichtet<br />

ist. Der Hinweis muss genügen, dass wir nicht<br />

mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit am Werke<br />

sind. Wir stützen uns regelmässig auf blosse Erfahrungswerte,<br />

die wir von irgendwoher beziehen und<br />

wissenschaftlich angehaucht als Wahrscheinlichkeiten<br />

und manchmal sogar als Naturgesetze deklarieren. Viel<br />

eher vollzieht sich das Feststellungsprozedere so wie<br />

im folgenden Goethe-Zitat: «Der Mensch findet sich<br />

mitten unter Wirkungen und kann sich nicht enthalten,<br />

nach den Ursachen zu fragen; als ein bequemes Wesen<br />

greift er nach der nächsten als der besten und beruhigt<br />

sich dabei; besonders ist dies die Art des allgemeinen<br />

Menschenverstandes» 2 .<br />

Ausgangspunkt der nachfolgenden Betrachtungen bildet<br />

ein schon etliche Jahre zurückliegender Bundesgerichtsentscheid,<br />

BGE 127 <strong>II</strong>I 257. In diesem Entscheid<br />

ging es um die Schädigung einer Liegenschaft durch<br />

Grabungen und Bauten auf Nachbargrundstücken 3 .<br />

Die drei Beklagten hatten ihre Grundstücke (unabhängig<br />

voneinander) in den Jahren 1981 bis 1985 überbaut,<br />

was eine Senkung des Grundwasserspiegels zur<br />

Folge hatte. Der Entscheid drehte sich einerseits um<br />

die Frage der Verjährung, die hier nicht weiter interessiert,<br />

vor allem aber um den Begriff der Solidarität,<br />

dem eine zentrale Rolle bei mehreren Schädigern zufällt<br />

und zu dem folgende Feststellung gemacht wird:<br />

«Die Verantwortlichkeit als Solidarschuldner wird<br />

durch die Reichweite der ihn treffenden Haftung beschränkt.<br />

Haftet jemand von vornherein überhaupt<br />

nicht oder nur für einen Teil des Schadens, weil sein<br />

Verhalten nicht für den gesamten eingetretenen Schaden<br />

adäquat-kausal ist, hat er auch nicht als Solidarschuldner<br />

neben anderen Mitschädigern für mehr<br />

einzustehen, als er aufgrund seiner eigenen Haftung<br />

verpflichtet ist» 4 .<br />

2 Aus «Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden».<br />

3 Eine Urteilsbesprechung von WALTER FELLMANN findet sich in HAVE<br />

2002, 113 ff.<br />

4 BGE 127 <strong>II</strong>I 257, E. 5 a.<br />

Stephan Weber<br />

Mit dieser Auffassung konnte sich das Bundesgericht<br />

sowohl auf diverse frühere Entscheide wie auch auf<br />

die Literatur berufen 5 . Interessant für die vorliegenden<br />

Gedankenspiele sind auch die weiteren Ausführungen:<br />

«Soweit daher der eingeklagte Schaden ausschliesslich<br />

von den Beklagten 1 und 2 verursacht worden ist und<br />

die Beklagte 3 auch nicht zu dessen Verschlimmerung<br />

beigetragen hat, entfällt in diesem Ausmass von vornherein<br />

ihre solidarische Mithaftung. Soweit aber der<br />

von der Beklagten 3 verursachte Schaden sich mit dem<br />

von den Beklagten 1 und 2 zu vertretenden überschneidet,<br />

d.h. zu dessen Vergrösserung geführt hat, haftet<br />

die Beklagte 3 hierfür solidarisch mit den anderen Beklagten»<br />

6 .<br />

Ganz offensichtlich steht und fällt die Solidarität mit<br />

der Kausalität. Ob dem wirklich so ist, soll im ersten<br />

Teil dieses Beitrags untersucht werden. Dabei sind namentlich<br />

die unterschiedlichen Formen des kausalen<br />

Zusammenwirkens näher zu beleuchten, die für die<br />

Zurechnung entscheidend sind. Untersucht werden soll<br />

auch die für überflüssig gehaltene Unterscheidung von<br />

echter und unechter Solidarität, für die hier – erneut 7<br />

und fast gegen die gesamte Literatur – eine Lanze gebrochen<br />

wird. Unter die Lupe genommen wird auch,<br />

was das Bundesgericht mit dem einheitlichen Schaden<br />

meint, der zwingend Solidarität zur Folge haben soll:<br />

«Liegt ein einheitlicher Schaden vor, der durch mehrere<br />

verursacht worden ist, auferlegt das Gesetz den<br />

Schädigern eine solidarische Haftung (Art. 50 und 51<br />

<strong>OR</strong>), und zwar ungeachtet dessen, ob die Anspruchsgrundlage<br />

eine Verschuldens- oder Kausalhaftung ist» 8 .<br />

5 Zitiert werden BGE 93 <strong>II</strong> 329 E. 3b; 95 <strong>II</strong> 333 E. 3. BK-BREHM, Art. 51 <strong>OR</strong><br />

N 26, ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. <strong>II</strong>, 2. Aufl., Bern<br />

1998, 179; sowie PIERRE WIDMER, Privatrechtliche Haftung, in: Schaden<br />

– Haftung – Versicherung, Basel 1999, 75 ff.<br />

6 Die Frage war nicht hinreichend abgeklärt: «Aus den Feststellungen<br />

und Erwägungen der Vorinstanz geht gerade nicht schlüssig hervor,<br />

ob die Bautätigkeit der Beklagten 3 in Bezug auf den ganzen Schaden<br />

kausal ist, für den sie schliesslich haftbar erklärt worden ist. Die<br />

Feststellungen der Vorinstanz liefern vielmehr Anhaltspunkte dafür,<br />

dass gewisse Schäden ausschliesslich von den Beklagten 1 und 2<br />

verursacht worden sind und das Verhalten der Beklagten 3 darauf<br />

keinen Einfluss gezeitigt hat. Es liegt die Annahme nahe, dass nur<br />

diejenigen Schäden mit der Bautätigkeit der Beklagten 3 in kausaler<br />

Beziehung stehen, die der Experte ihrer «Einflussfläche» zugewiesen<br />

hat; denn wo kein Einfluss stattfindet, ist selbstredend keine Schadensverursachung<br />

denkbar. Ob dieser Einflussbereich mit der Gesamtheit<br />

der Schäden übereinstimmt, für welche die Vorinstanz die<br />

Beklagte 3 als solidarisch haftbar erklärt hat, bleibt letztlich unklar».<br />

7 Mit dem Thema und einigen der hier beleuchteten Fragen habe ich<br />

mich bereits in früheren Beiträgen befasst, so unter dem Titel «Eine<br />

einheitliche Lösung für eine Mehrheit von Ersatzpflichtigen?» in: HEL-<br />

MUT KOZIOL / JAAP SPIER (Hrsg.), Liber Amicorum Pierre Widmer, Wien/<br />

New York 2003, 341 ff. sowie im Tagungsband zum Personen-Schaden-Forum<br />

2007, Zürich 2007, 135 ff. und 147 ff. unter dem Aspekt der<br />

«Reduktion von Schadenersatzleistungen».<br />

8 BGE 127 <strong>II</strong>I 257 E. 4 b) bb).<br />

116 2/2010 HAVE/REAS<br />

206


Kausalität und Solidarität<br />

Der zweite Teil des Beitrags setzt sich mit der Frage<br />

auseinander, inwieweit es bei einer Mehrheit von Ersatzpflichtigen<br />

zu einer individuellen Bemessung der<br />

Schadenersatzansprüche kommen kann. Auch dazu<br />

äussert sich das Bundesgericht: «Gemäss bundesgerichtlicher<br />

Rechtsprechung ist eine Herabsetzung nach<br />

Art. 43 Abs. 1 <strong>OR</strong> im externen Verhältnis der unechten<br />

Solidarität zwar nicht ausgeschlossen, doch ist dabei<br />

grosse Zurückhaltung angezeigt, weil andernfalls der<br />

Grundsatz der Solidarität, der es dem Geschädigten<br />

auszuwählen erlaubt, gegen welchen Schädiger er<br />

vorgehen will, in Frage gestellt würde […]. Macht beispielsweise<br />

die Insolvenz eines anderen Haftpflichtigen<br />

den Rückgriff illusorisch, lehnt die Rechtsprechung<br />

eine Herabsetzung ab, da es noch unbilliger wäre, statt<br />

des belangten Haftpflichtigen den Geschädigten den<br />

Schaden tragen zu lassen» 9 .<br />

<strong>II</strong>. Spielarten des kausalen Zusammenwirkens<br />

A. Konkurrenz von Teilursachen<br />

Da wir Teil eines grossen Räderwerks sind, entspricht<br />

es auch dem Regelfall, dass mit der haftungsbegründenden<br />

Ursache häufig nur eine Teilursache für den<br />

eingetretenen Schaden gesetzt wird. Zumindest das<br />

Ausmass des Schadens wird durchwegs von weiteren<br />

Faktoren mitbestimmt. Im <strong>Haftpflichtrecht</strong> gilt der<br />

Grundsatz, dass eine Teilursache für die Zurechnung<br />

des gesamten Schadens genügt. Nicht immer liegt aber<br />

eine konkurrierende Teilursache vor, die zu einer «Mithaftung»<br />

führt. Das trifft nur zu, wenn sich Ursachen<br />

genseitig bedingen. Der auf den Verletzungsfolgen basierende<br />

Schaden kann sich auch aus mehreren unabhängigen<br />

Teilwirkungen zusammensetzen. Dann wird<br />

nur für den verursachten Anteil gehaftet.<br />

Oft entscheidet sich schon unter dem Kausalaspekt,<br />

dass ein Schaden nicht zugerechnet werden kann, mithin<br />

für den ganzen oder zumindest einen Schadensteil<br />

nicht gehaftet wird. In einigen Konstellationen findet<br />

aber auch eine Zurechnung statt, ohne dass der Beitrag<br />

des Schädigers kausal geworden ist oder ein Zusammenhang<br />

nachgewiesen werden kann. Kurzum: Die<br />

Form des kausalen Zusammenwirkens hat einen entscheidenden<br />

Einfluss auf die Zurechnung, ein Aspekt,<br />

der in der Praxis zu wenig beachtet und dem im Folgenden<br />

nachgegangen wird.<br />

1. Gesamthaftung bei komplementärer Kausalität<br />

oder einheitlichem Schaden<br />

Bei der Konkurrenz von Teilursachen ist, wie soeben<br />

angedeutet, entscheidend, ob die Kausalreihen in einer<br />

gegenseitigen Bedingtheit stehen oder hinter dem<br />

9 BGE 127 <strong>II</strong>I 257 E. 6b).<br />

HAVE/REAS 2/2010<br />

207<br />

10 Die Terminologie für die einzelnen Kausalitätsformen ist uneinheitlich.<br />

In der deutschen Literatur wird die komplementäre Kausalität<br />

meist als koinzidierende oder auch kumulative bezeichnet (vgl. z.B.<br />

THOMAS WECKERLE, Die deliktische Verantwortlichkeit mehrerer, Karlsruhe<br />

1974, 90 ff., der noch die kumulativ koindizierende Kausalität unterscheidet<br />

und darunter die Konstellation zusammenfasst, in denen<br />

jede Ursache für sich allein einen Schaden bewirkt, der eingetretene<br />

Schaden aber ein Mehr oder etwas qualitativ anderes als die blosse<br />

Summe der Einzelschäden darstellt), während die kumulative Kausalität<br />

in der Schweiz (überwiegend) auf Fälle angewendet wird, in<br />

denen jede der beteiligten Ursachen für sich allein den Erfolg herbeigeführt<br />

hätte. Diese Konstellation wird andernorts – und damit ist die<br />

Verwirrung perfekt – als alternative Kausalität bezeichnet (HERMANN<br />

LANGE/GOTTFRIED SCHIEMANN, Schadensersatz, 3. Auflage, Tübingen<br />

2003, 156), mit der überwiegend und auch hier das Problem der bloss<br />

möglichen Verursachung durch einen Beteiligten gemeint ist.<br />

11 So z.B. OFTINGER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Allgemeiner<br />

Teil, Bd. 1, 5. Aufl. Zürich 1995, § 10 N 10 insbes. Fn. 10.<br />

12 Beispiel von WECKERLE, Fn. 10, 90.<br />

HAVE<br />

Schaden mehrere voneinander nicht abhängige Kausalbeiträge<br />

stehen. Entsteht ein Schaden erst aus dem<br />

Zusammenwirken der beteiligten Ursachen, dergestalt,<br />

dass das Wegfallen einer Bedingung dazu führt, dass<br />

die Verletzungsfolgen oder zumindest einzelne Teile<br />

ohne die Mitursache erst gar nicht eingetreten wären,<br />

liegt eine hier als komplementär bezeichnete 10 Ursache<br />

vor. Jede Ursache wäre für sich allein nicht bzw. nicht<br />

in die eingetretene Richtung wirksam geworden. Man<br />

spricht daher auch von einer qualitativen und nicht<br />

bloss quantitativen Veränderung 11 . Die Besonderheit<br />

des kausalen Zusammenspiels liegt bei dieser Konstellation<br />

darin, dass sich die anfänglich getrennt verlaufenden<br />

Kausalreihen im schädigenden Ereignis vereinigen.<br />

Jede Ursache wird zur notwendigen Bedingung<br />

des eingetretenen Erfolges.<br />

Grafisch lässt sich die komplementäre Kausalität bei<br />

zwei Schädigern S1 und S2 wie folgt visualisieren:<br />

S1<br />

S2<br />

Komplementäre Ursachen haben wir vor uns, wenn ein<br />

Velofahrer und ein Motorfahrzeug infolge des unvorsichtigen<br />

Fahrstils der Lenker kollidieren, wenn ein<br />

Personenschaden nur eintritt, weil die betroffene Person<br />

bereits zuvor gesundheitliche Probleme hatte, oder<br />

wenn eine Umweltverschmutzung auf zwei Substanzen<br />

zurückzuführen ist, die beide an sich harmlos sind<br />

und erst durch die chemische Verbindung schädlich<br />

wirken 12 . Bei diesen Konstellationen lassen sich keine<br />

Kausalanteile isolieren, die den einzelnen Ursachen<br />

zugeordnet werden können, denn die eine hätte ohne<br />

die andere den konkret eingetretenen Schaden nicht<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

117


HAVE<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

bewirken können 13 . Das Unvermögen, Erfolgsanteile<br />

bei der komplementären Kausalität zu isolieren, bedeutet,<br />

dass diesem Umstand auf Stufe der Haftungsbegründung<br />

keine Rechnung getragen werden kann.<br />

Der mitverursachte Verletzungserfolg wird vollumfänglich<br />

zugerechnet. Inwieweit im Rahmen der Schadenersatzbemessung<br />

mitwirkenden Ursachen Beachtung<br />

zu schenken ist, wird anschliessend noch näher<br />

untersucht. Bereits hier kann festgestellt werden, dass<br />

die Kriterien für eine Schadensteilung, die v.a. auf der<br />

Regressebene vorzunehmen ist, nicht auf der Grundlage<br />

der Kausalität gefunden werden können.<br />

Das Zusammenwirken komplementärer Ursachen steht<br />

wohl auch hinter der Aussage des Bundesgerichts, dass<br />

eine solidarische Haftung immer dann eingreife, wenn<br />

«ein einheitlicher Schaden» vorliege 14 . Damit kann nur<br />

gemeint sein, dass sich der Schaden nicht in Verursachungsanteile<br />

zerlegen lässt 15 . Wer wie viel beigetragen<br />

hat, lässt sich bei der komplementären Kausalität<br />

nicht mehr eruieren, der Schaden bildet bei einer kausalen<br />

Betrachtung eine Einheit.<br />

Die Konsequenz, dass sämtliche Folgen auch bei einer<br />

Teilursache zugerechnet werden, basiert auf einer wertfreien<br />

Betrachtung der beteiligten Ursachen und korre-<br />

13 Die unterschiedlichen Kausalkonstellationen sollten auch bei den<br />

Fragestellungen in medizinischen Gutachten vermehrt beachtet<br />

werden. Oft wird ohne nähere Differenzierung nach dem Anteil der<br />

involvierten Ursachen gefragt. Dabei können auch die Mediziner<br />

bei komplementären Ursachen keine Prozentangaben machen! Es<br />

empfiehlt sich daher, getrennt abzufragen, welche Verletzungsfolgen<br />

den einzelnen infrage stehenden Ursachen zuzuschreiben sind.<br />

Dies sollte zunächst mit der Frage erfolgen: Wären die körperliche<br />

Schädigung oder einzelne Verletzungsfolgen auch ohne das Haftungsereignis<br />

aufgetreten? Danach ist die Frage dahin zu richten, ob<br />

die Schädigung auf das Zusammenwirken mit anderen Ursachen zurückführen<br />

ist und/oder ob (ein Teil der) Verletzungsfolgen dadurch<br />

verschlimmert worden sind. Zur Abklärung der Kausalkonstellation<br />

gehört auch die Frage, ob sich eine solche Abgrenzung überhaupt<br />

eruieren lässt. Die Verneinung der Frage, daher die Relevanz, hat<br />

nicht einfach zur Konsequenz, dass der Schadenersatzanspruch am<br />

Kausalnachweis scheitert. Entscheidend ist, wer das Unaufklärbarkeitsrisiko<br />

zu tragen hat und das ist nicht durchwegs die geschädigte<br />

Person; dazu, wie mit Anteilszweifeln zu verfahren ist, nachstehend<br />

Ziff. <strong>II</strong>.C.3.<br />

14 BGE 127 <strong>II</strong>I 257 E. b. Komplementäre Kausalität setzt auch <strong>OR</strong> 51 <strong>II</strong> voraus,<br />

der verlangt, dass mehrere Personen «für denselben Schaden»<br />

haften.<br />

15 Gleiches Verständnis auch bei OLIVER HABLÜTZEL, Solidarität in der aktienrechtlichen<br />

Verantwortlichkeit, St. Gallen 2009, 8; vgl. auch die<br />

Ausführungen bei WALTER FELLMANN; HAVE 2002, 116 f. WECKERLE, zit.<br />

Fn. 10, gliedert seine Arbeit in die «Zusammenfassung von der Handlungsseite<br />

her» (vgl. S. 57 ff.) und meint damit die Fälle der Mittäterschaft,<br />

in denen die Tatbeiträge gegenseitig zugerechnet werden<br />

und in die «Zusammenfassung von der Schadensseite her» (S. 89 ff.,<br />

mit denen zum einen die hier behandelten Fälle der komplementären<br />

– in seiner Terminologie der koinzidierenden – Kausalität gemeint<br />

sind, anderseits aber auch die Fälle zusammengefasst werden,<br />

in der die Kausalitätsfrage nicht geklärt werden kann, «aber jeder<br />

der mehreren mit dem Schaden in einer solchen Beziehung steht,<br />

dass es gerechtfertigt erscheint, ihn mit dem Risiko dieser Unaufklärbarkeit<br />

zu belasten.»).<br />

16 Statt vieler LANGE/SCHIEMANN, Fn. 10, 79 f.<br />

Stephan Weber<br />

spondiert mit dem naturwissenschaftlichen Kausalverständnis.<br />

Das Resultat entspricht aber nicht einfach der<br />

Logik, wie man das immer wieder nachlesen kann. Es<br />

basiert auf dem Denkansatz der Äquivalenztheorie, die<br />

unterstellt, dass alle Ursachen gleichermassen relevant<br />

und damit gleichwertig sind. Jeder Umstand gilt als ursächlich,<br />

der nicht weggedacht werden kann, ohne dass<br />

der Erfolg entfällt, der also conditio sine qua non des<br />

schädigenden Ereignisses ist 16 . Es liesse sich durchaus<br />

auch die Ansicht vertreten, beim Setzen einer Teilursache<br />

nur einen Teil des Schadens zu ersetzen. Eine Prorata-Haftung<br />

erscheint jedenfalls nicht unlogischer als<br />

die volle Schadensüberwälzung. Zumindest bei einer<br />

wertenden Betrachtung wirkt es gekünstelt, wenn die<br />

involvierten Ursachen durchwegs als gleichwertig<br />

eingestuft werden, da sich vielfach Differenzierungen<br />

anstellen lassen. Häufig bleibt der Haftungsentscheid<br />

ja auch nicht bei diesem Resultat stehen. Die für angemessen<br />

erachteten Korrekturen erfolgen unter dem<br />

Gesichtspunkt der Adäquanz oder bei der Schadenersatzbemessung.<br />

Wenn haftungsrelevante Mitursachen<br />

beteiligt sind, wird spätestens bei der Regressabwicklung<br />

eine Anteilshaftung praktiziert. Das Unvermögen,<br />

Erfolgsanteile bei der komplementären Kausalität zu<br />

isolieren, bedeutet, dass sich die Schadensteilung nicht<br />

nach Kausalitätskriterien richten kann, sondern andere<br />

Wertungen nötig sind.<br />

2. Blosse Teilhaftung bei additiver Kausalität<br />

Der eingetretene Schaden resp. Verletzungserfolg kann<br />

sich auch aus mehreren selbständigen Teilwirkungen<br />

zusammensetzten. Letzteres haben wir vor uns, wenn<br />

durch verschiedene Unfälle unterschiedliche Körperteile<br />

verletzt werden, zunächst z.B. der Arm und dann<br />

das Bein. Oder im eingangs geschilderten Fallbeispiel<br />

mit den Bauschäden, wenn die Schädigungen an der<br />

Liegenschaft auf die einzelnen Bauvorhaben zurückzuführen<br />

sind, also nichts miteinander zu tun haben.<br />

Als Neunerprobe gilt: Denkt man die einzelnen Ursachen<br />

weg, so entfällt nicht der Gesamterfolg, sondern<br />

nur ein Teil der Verletzungsfolgen resp. des Schadens.<br />

Bildhaft lässt sich die additive Kausalität – wiederum<br />

mit zwei Schädigern – so darstellen:<br />

118 2/2010 HAVE/REAS<br />

208<br />

S1<br />

S2


Kausalität und Solidarität<br />

Da die Zurechnung grundsätzlich nicht weiter reicht<br />

als der Kausalzusammenhang, hat der Haftpflichtige<br />

nur für den verursachten Anteil einzustehen. Die auf<br />

die einzelnen Urheber resp. Ursachen entfallenden<br />

Verletzungsanteile resp. die daraus resultierenden<br />

Schäden können hier zugeordnet werden. Es liegt kein<br />

einheitlicher Schaden vor. Jeder Schädiger haftet daher<br />

nur für den von ihm verursachten Teil des eingetretenen<br />

Schadens. Es gibt keinen Anlass, einen Schädiger<br />

für den Anteil eines anderen haften zu lassen. Ein mitwirkendes<br />

Drittverhalten tangiert den Ersatzanspruch<br />

grundsätzlich nicht.<br />

Da bereits aus kausalen Erwägungen die Zurechnung<br />

zu verneinen ist, erübrigt sich eine nachträgliche Korrektur,<br />

etwa im Rahmen der Ersatzbemessung oder bei<br />

der Bestimmung der (internen) Regressanteile. Die<br />

von einzelnen Autoren postulierte anteilsmässige Haftung<br />

bei einer Mehrheit von Schädigern ist daher für<br />

die additive Kausalität nicht nur die angemessene, sondern<br />

bereits unter dem Kausalaspekt die zwingende<br />

Lösung.<br />

B. Konkurrenz von Gesamtursachen<br />

Hinter einem Schaden können nicht nur Teilursachen<br />

stehen, möglich ist auch, dass sog. Gesamtursachen<br />

involviert sind. Solche hat man vor sich, wenn die<br />

haftungsbegründende Ursache das Potenzial hat, den<br />

gesamten Schaden allein herbeizuführen. Auch hier<br />

müssen verschiedene Formen unterschieden werden.<br />

1. Kumulative Kausalität<br />

Bei der kumulativen Kausalität hätte jede Ursache<br />

auch allein den gleichen Schaden herbeigeführt. Lehrbuchbeispiel<br />

sind die beiden Fabriken, die unabhängig<br />

voneinander giftige Abwässer in einen See leiten, wobei<br />

schon die eine Anlage das Trinkwasser verseucht<br />

und die Fischbestände dezimiert hätte 17 . Etwas realistischer<br />

ist der schwere Verkehrsunfall, bei dem jedes<br />

Fahrzeug für sich allein die Körperverletzung oder den<br />

Tod des Opfers herbeigeführt haben könnte.<br />

Auch wenn hier die conditio-Formel versagt 18 , herrscht<br />

grosse Einigkeit, die kumulativen Verursacher solidarisch<br />

haften zu lassen 19 . Die Begründung ist ebenso<br />

simpel wie einleuchtend: Wenn bereits für eine Teilursache<br />

gehaftet wird, dann erst recht, wenn eine<br />

Ursache das Potenzial hat, den Schaden auch alleine<br />

herbeizuführen. Eine gleichzeitige Einwirkung von<br />

17 Ein solcher Fall in BGHZ 57, 257 zit. bei HEINRICH HONSELL, Schweizerisches<br />

<strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4. A. Zürich 2005 § 3 N 70 ff.<br />

18 Der Schaden entfällt nicht, wenn eine der beteiligten Ursache gedanklich<br />

eliminiert wird.<br />

19 So z.B. VITO ROBERTO, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Zürich 2002,<br />

N 163; HEINZ REY, Ausservertragliches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4. A. Zürich<br />

2008, N 616.<br />

HAVE/REAS 2/2010<br />

209<br />

20 Ein solcher Fall in BGE 113 IV 58.<br />

21 BGE 42 <strong>II</strong> 473.<br />

22 Und dies selbst wenn man die Schwelle tief ansetzt; zu den unterschiedlichen<br />

Beweisanforderungen ISABELLE BERGER STEINER, Der Kausalitätsbeweis,<br />

in: Personen-Schaden-Forum 2009, Zürich 2009, 18 ff.<br />

Die Fälle zeichnen sich dadurch aus, dass keine Ursache wesentlich<br />

wahrscheinlicher als die andere ist.<br />

23 Eine Haftung verneint z.B. ROLAND BREHM, Berner Kommentar VI/1/3/1,<br />

<strong>OR</strong> 41 N 145 ff., für Anteilshaftung ROGER QUENDOZ, Modell einer Haftung<br />

bei alternativer Kausalität, Diss. Zürich 1991, 75 und OFTINGER/<br />

STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 5. A.<br />

Zürich 1995, § 3 N 116 ff., für Solidarität HONSELL, Fn. 17, § 3 N 67. RO-<br />

BERTO, Fn. 19, N 173 plädiert dagegen für eine Beweislastumkehr, ein<br />

Lösungsansatz der m.E. überzeugt, vgl. zur ungeklärten Kausalität<br />

auch nachstehend Ziff. <strong>II</strong>.C.3.<br />

HAVE<br />

Gesamtursachen dürfte sich in der Praxis selten ereignen.<br />

Viel eher wird es sich so verhalten, dass nicht klar<br />

ist, welche Ursache den Schaden tatsächlich herbeigeführt<br />

hat, womit wir dann einen Anwendungsfall der<br />

alternativen oder hypothetischen Kausalität vor uns<br />

haben.<br />

2. Alternative Kausalität<br />

Kommen mehrere Schadenursachen in Betracht, die<br />

den Schaden herbeigeführt haben könnten, ohne dass<br />

sich nachweisen lässt, welche Ursache tatsächlich kausal<br />

war, spricht man von alternativer Kausalität. Gewissheit<br />

besteht in diesen Fällen nur darüber, dass lediglich<br />

eine der Ursachen den Schaden herbeigeführt<br />

haben kann und dass keine weiteren in Betracht kommen.<br />

Berühmte Beispiele liefern die Jäger, die einen<br />

Passanten mit einer Gewehrkugel verletzen oder die<br />

Jungen, die Steine einen Abhang hinunterrollen 20 oder<br />

mit Knallerbsen spielen 21 und eine Person verletzen,<br />

ohne dass festgestellt werden kann, auf welche Handlung<br />

die Verletzung zurückführt.<br />

Der geschädigten Person gelingt in diesen Fällen der<br />

Kausalitätsbeweis nicht, da eine überwiegende Wahrscheinlichkeit<br />

nicht nachgewiesen werden kann 22 . Damit<br />

müsste der Anspruch scheitern, ein Resultat, das<br />

aber nicht durchwegs befriedigt.<br />

In der Literatur reichen die Lösungsvorschläge von der<br />

Ablehnung der Haftung – die wohl immer noch herrschende<br />

Meinung – bis hin zur solidarischen Haftung,<br />

andere wiederum treten für eine Beweislastumkehr<br />

oder Anteilshaftung nach Massgabe von Wahrscheinlichkeitsquoten<br />

ein 23 . Darauf ist noch näher einzugehen,<br />

allerdings erst, wenn die weiteren Kombinationen<br />

des kausalen Zusammenwirkens aufgezeigt worden<br />

sind. Das Problem der unsicheren Kausalität beschlägt<br />

nämlich längst nicht nur die Fälle sich ausschliessender<br />

Gesamtursachen, die Unsicherheit kann auch –<br />

und praktisch viel häufiger – das Zusammenwirken<br />

von Teilursachen betreffen.<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

119


HAVE<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

3. Überholende und hypothetische Kausalität<br />

Hinter der hypothetischen oder überholenden Kausalität<br />

verbirgt sich der Sachverhalt, dass eine Ursache,<br />

ihre schädliche Wirkung nicht entfalten kann, weil ihr<br />

eine andere zuvor kommt 24 . Eine blosse Reserveursache<br />

kann nicht zu einer Haftung führen, es fehlt eben<br />

gerade an der Kausalität. Das Problem beschlägt nicht<br />

den Kausalzusammenhang, sondern die Schadensberechnung.<br />

Die hypothetischen Ursachen geraten erst<br />

mit der Differenzhypothese ins Blickfeld, wenn es<br />

darum geht, die schadensfreie Vermögenslage zu rekonstruieren.<br />

Auch in diesen Fällen kann dem Gesetz<br />

keine Lösung entnommen werden, doch sind hypothetische<br />

Ohnehin-Schäden, wie sie wohl besser genannt<br />

würden, grundsätzlich relevant, es sei denn der reale<br />

Schädiger vereitle die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen.<br />

Dann ist darin der relevante Schaden<br />

zu sehen 25 .<br />

C. Mischformen und Kausalitätszweifel<br />

1. Mischformen<br />

Mit der Typologie der unterschiedlichen Kausalitätsformen<br />

ist es freilich nicht getan, denn damit sind<br />

nur die Grundmuster skizziert. Die Realität ist komplexer<br />

und liefert eine Vielzahl von Kombinationen.<br />

Häufig lässt sich ein Schadenfall nicht auf eine einzelne<br />

Kausalitätsform zurückführen, sondern basiert<br />

auf Mischformen, z.B. auf additiv, wie komplementär<br />

verursachte Schäden. Ein Teil der Verletzungsfolgen<br />

lässt sich einzelnen Ursachen zuordnen, bei anderen<br />

ist dies nicht möglich, weil erst das Zusammenwirken<br />

den Schadenseintritt bewirkt hat. Diese Konstellation<br />

ist vor allem typisch für zeitlich aufeinanderfolgende<br />

Schadenereignisse: Ein Autofahrer verunfallt ein zweites<br />

oder sogar drittes Mal und erleidet weitere Verletzungen.<br />

Die einen Positionen, etwa die Heilungskosten,<br />

können mit den einzelnen Ereignissen in Verbindung<br />

gebracht werden, die durch den Zweitunfall resultierenden<br />

Verschlimmerungen z.B. in Form einer eintretenden<br />

oder sich vergrössernden Erwerbsunfähigkeit<br />

basieren dagegen auf dem ersten und dem zweiten<br />

Unfall und sind daher als komplementär verursachte<br />

Schadensfolgen zu deuten.<br />

2. Umgang mit Kausalitätszweifeln<br />

Die Kausalitätsformen lassen sich oft nur schwer unterscheiden<br />

und abgrenzen. Alsdann stellt sich die<br />

Frage, wie mit den Anteilszweifeln zu verfahren ist.<br />

Die Lösung lässt sich, da die Zurechnungsfrage die<br />

Kausalität und nicht die Schadenschätzung betrifft,<br />

24 Umfassend zu dieser Rechtsfigur BERNHARD STUDHALTER, Die Berufung<br />

des präsumtiven Haftpflichtigen auf hypothetische Kausalverläufe,<br />

Zürich1995.<br />

25 Die Frage ist umstritten, vgl. STUDHALTER, Fn. 24, 114 ff.<br />

Stephan Weber<br />

nicht einfach über <strong>OR</strong> 42 <strong>II</strong> lösen, der dem Richter<br />

ein gewisses Ermessen einräumt und auch eine Quotierung<br />

nach Wahrscheinlichkeiten zulässt. Auch wenn<br />

sich das Bundesgericht dieser Lösung zum Teil verweigert,<br />

wird sie andernorts ganz selbstverständlich praktiziert,<br />

z.B. bei der Erschwerung des wirtschaftlichen<br />

Fortkommens, bei der Kapitalisierung mit einer statistischen<br />

Lebenserwartung oder z.B. beim Versorgungsschaden<br />

mit dem Abzug der Wiederverheiratungschancen.<br />

In all diesen Fällen wird die Ungewissheit mit<br />

einer Wahrscheinlichkeitsschätzung überbrückt. <strong>OR</strong><br />

42 <strong>II</strong> wurde auch schon auf die Kausalitätsfrage erstreckt<br />

26 , denn ein Schaden ist auch dann unbezifferbar,<br />

wenn kein Nachweis erbracht werden kann, welche<br />

Verletzungsfolgen auf das Schadenereignis zurückzuführen<br />

sind und nicht nur, wenn die wirtschaftlichen<br />

Auswirkungen nicht bestimmbar sind 27 . Gleichwohl<br />

überzeugt die Lösung über <strong>OR</strong> 42 <strong>II</strong> nicht, da die geschädigte<br />

Person so stets nur einen Teil des Schadens<br />

ersetzt erhält.<br />

Wenn die Ungewissheit die Frage betrifft, wer von<br />

welchen Haftpflichtigen zum Schaden beigetragen hat,<br />

dann sollten die Schädiger und nicht die geschädigte<br />

Person das Unaufklärbarkeitsrisiko tragen. Stammt<br />

der Schaden aus der Sphäre der Schädiger und führt<br />

die Beweisnot gerade auf die Beteiligung mehrerer<br />

Haftpflichtiger zurück, rechtfertigt es sich, die Ersatzpflichtigen<br />

mit der Unsicherheit zu belasten. Die<br />

Beweisnot wurde durch die Schädiger veranlasst und<br />

diese können in der Regel auch besser zu deren Aufklärung<br />

beitragen. Als adäquates Mittel erscheint mir<br />

daher in diesen Fällen eine Beweislastumkehr 28 . Die<br />

geschädigte Person hat lediglich nachzuweisen, dass<br />

der Schaden auf die infrage stehenden Ursachen zurückführt.<br />

Wer welchen Anteil zu übernehmen hat,<br />

müssen die Schädiger im internen Verhältnis klären.<br />

Den Ersatzpflichtigen steht bei der Beweislastumkehr<br />

26 In BGE 109 <strong>II</strong> 304/312 wurden durch Fluoremmissionen aus einer Aluminiumfabrik<br />

Aprikosenplantagen beschädigt, der darauf zurückführende<br />

Anteil liess sich aber nicht bestimmen. Hier ging es um mehr<br />

als eine reine Schadenschätzung, es standen unter dem Kausalaspekt<br />

auch die Klimaeinflüsse und die Immissionen aus weiteren Fabriken<br />

zur Diskussion.<br />

27 Das Bundesgericht macht denn auch bei der perte d’une chance<br />

die Unterscheidung zwischen der Kausalitäts- und Schadensebene,<br />

lehnt aber in BGE 133 <strong>II</strong>I 462 die Auffassung ab, den Verlust<br />

der Chance als Vermögensbestandteil zu sehen: «Vu son caractère<br />

dynamique et évolutif, la chance n’est pas destinée à rester dans le<br />

patrimoine.» (E. 4.4.3, S. 472). Im Urteil 4A_227/2007 vom 26.9.2007 hat<br />

das Bundesgericht die Frage nach entgangenen Aufträgen eines<br />

Taxi fahrers nicht als Problem der perte d’une chance» gesehen, sondern<br />

als Problem der Schadenschätzung nach <strong>OR</strong> 42 <strong>II</strong>, da nicht die<br />

Kausalität unsicher sei.<br />

28 Gleich für die alternative Kausalität auch ROBERTO, zit. Fn 19, N 173,<br />

der zu Recht betont, dass die übrigen haftungsbegründenden Voraussetzungen<br />

erfüllt sein müssen.<br />

120 2/2010 HAVE/REAS<br />

210


Kausalität und Solidarität<br />

der Nachweis offen, dass der persönliche Tatbeitrag<br />

nicht kausal war.<br />

Denkbar wäre auch, die Ersatzpflichtigen solidarisch<br />

haften zu lassen, wie dies in Deutschland in BGB<br />

830 <strong>II</strong> Satz 2 so vorgesehen ist, der nach heutigem<br />

Verständnis nicht nur bei der alternativen Kausalität,<br />

sondern auch bei ungeklärter Teilkausalität zum Zuge<br />

kommt 29 . Die gleiche Regelung gilt auch in Österreich.<br />

Nach § 1302 ABGB haften mehrere Schädiger solidarisch,<br />

wenn sich die Anteile nicht bestimmen lassen.<br />

Die Bestimmung erfasst nicht nur die komplementäre<br />

Kausalität, sondern auch die Fälle der ungeklärten<br />

Kausalanteile und sie wird auch als Grundlage der<br />

alternativen Kausalität im Sinne der Konkurrenz von<br />

Gesamtursachen gesehen. Der Umkehrschluss geht in<br />

Österreich in die gegenteilige Richtung 30 .<br />

Trotzdem überzeugt die solidarische Haftung nicht.<br />

Die damit verbundene Rechtsfolge sollte nur zum Zuge<br />

kommen, wenn ein qualifiziertes Zusammenwirken<br />

die Kausalitätsfrage in den Hintergrund rückt 31 . Allein<br />

Kausalitätszweifel können noch keine Zurechnung begründen.<br />

Eine Beweislastumkehr, mit der Möglichkeit,<br />

die Kausalität nachzuweisen und mit dem Risiko und<br />

der Chance, im internen Verhältnis den Schaden ganz<br />

oder teilweise abzuwälzen, scheint demgegenüber die<br />

passendere Lösung. Als weitere Variante würde sich<br />

eine Anteilshaftung anbieten. Grundlage dafür wäre<br />

eine Wahrscheinlichkeitsschätzung 32 . Diese Lösung<br />

hätte zur Konsequenz, dass die geschädigte Person gegen<br />

die verschiedenen Schädiger Teilansprüche durchsetzen<br />

müsste 33 .<br />

3. Fast beliebige Kombinationen<br />

Mischformen finden sich regelmässig auch bei Doppelunfällen,<br />

in denen aus dem ersten Unfall eine Schadensanfälligkeit<br />

resultiert, die dann bei einem zweiten<br />

oder noch weiteren, zeitlich nachfolgenden Schadenereignissen<br />

manifest wird. Auch hier können oft die Anteile<br />

nicht mehr separiert werden, was dann für den<br />

Geschädigten nicht problematisch ist, wenn der Erstschädiger<br />

für den gesamten Schaden einstehen muss,<br />

während dem zweiten Vorfall nur die Weiterungen<br />

anzulasten sind. Dann empfiehlt es sich, gegen den<br />

Erstschädiger vorzugehen. Auch der Zweitschädiger<br />

29 Zu den Grenzen der Anwendung von BGB 830 bei Massenschäden<br />

GERDA MÜLLER, Haftungsrechtliche Probleme des Massenschadens,<br />

VersR 1998, 1181 ff.<br />

30 HELMUT KOZIOL, Österreichisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Band I, Allgemeiner<br />

Teil, 3. Auflage, Wien 1997, N 14/10 ff., 14/13.<br />

31 Dazu nachstehend Ziff. <strong>II</strong>I.A.<br />

32 So insbesondere QUENDOZ, Fn. 23, 93 ff.<br />

33 Im Unterschied zu Gesamthaftung trägt hier der Mitschädiger kein<br />

Insolvenzrisiko, was dem Umstand, dass der Haftpflichtige u.U. für<br />

einen Schaden einstehen muss, den er nicht verursacht hat, besser<br />

entspricht.<br />

HAVE/REAS 2/2010<br />

211<br />

34 Urteil vom 27.10.1989 i.S. Aguet & Cons. / Conseil d’Etat VD, SG 662.<br />

35 Vgl. auch die Zusammenstellung möglicher Varianten bei WECKERLE,<br />

zit. Fn. 10, 99, der aber mit anderen Begriffen operiert und noch weiter<br />

differenziert, indem er zusätzlich die kumulativ koindizierende<br />

Kausalität unterscheidet, die hier der Kombination von additiver und<br />

komplementärerer Kausalität entspricht.<br />

HAVE<br />

kann sich oft nicht entlasten, denn eine Prädisposition<br />

kann nur ausnahmsweise – bei einem Missverhältnis<br />

von Ursache und Wirkung – zu einer Reduktion des<br />

Anspruchs führen. Daran ändert auch nichts, wenn für<br />

den Vorzustand ein Haftpflichtiger einstehen muss.<br />

Die Korrektur kann dann im internen Verhältnis vollzogen<br />

werden, sie sollte nicht das Aussenverhältnis<br />

belasten. Wenn sich die Auswirkungen dagegen später<br />

auch ohne den Zweitunfall gezeigt hätten, wird der<br />

Zweitschädiger entlastet, weil in diesem Umfange kein<br />

zusätzlicher Schaden entstanden ist. Lässt sich dagegen<br />

die Frage, ob es sich um eine komplementäre oder<br />

additive Folge handelt, nicht klären, sollte wieder eine<br />

Beweislastumkehr über die Anteilszweifel entscheiden.<br />

Das Unkaufklärbarkeitsrisiko ist bei den Schädigern<br />

und nicht beim Geschädigten zu platzieren.<br />

Gerade bei einer Massenkarambolage trifft man häufig<br />

auf eine Vielzahl von Kausalitätsformen. Oft ist unklar,<br />

ob ein Fahrzeug auf ein anderes aufgefahren ist und<br />

damit, ob eine Verletzung bereits vor der nächsten Kollision<br />

eingetreten ist oder nicht. Dann haben wir, wenn<br />

beide Kollisionen den ganzen Schaden verursacht<br />

haben könnten, alternative Kausalität vor uns. Möglich<br />

ist auch, dass eine spätere Kollision den gleichen<br />

Schaden herbeigeführt hätte, alsdann würde es sich bei<br />

dieser um eine hypothetische Ursache handeln. Bereits<br />

die Frage, ob Gesamt- oder blosse Teilursache kann<br />

im Dunkeln liegen und ebenso, ob sie als Teilursache<br />

komplementär oder additiv miteinander verhängt sind.<br />

Die Form des Zusammenwirkens von Ursachen ist<br />

auch in folgendem Beispiel nicht sofort erkennbar:<br />

Beim Wegtransport von Aushubmaterial fahren Lastwagen<br />

beim Kreuzen jeweils über den Strassenrand.<br />

Für den dadurch entstandenen Schaden werden die<br />

am Transport beteiligten Firmen im Verhältnis des<br />

transportierten Materials zur Verantwortung gezogen.<br />

Das Bundesgericht weist die Klage ab, da der Verursachungsbeitrag<br />

nicht nachgewiesen werden könne 34 .<br />

Hier gehen die möglichen Konstellationen wiederum<br />

von additiv bis kumulativ. Nach der hier vorgeschlagenen<br />

Beweislastumkehr hätten die einzelnen Firmen für<br />

den ganzen Schaden belangt werden können, mit der<br />

Möglichkeit nachzuweisen, dass sie nicht für den Schaden<br />

ursächlich waren. Für die interne Aufteilung hätte<br />

die Transportmenge einen tauglichen Verteilschlüssel<br />

für die nicht nachweisbaren Kausalteile geliefert.<br />

Bei einer Mehrheit von Schädigern sind folgende<br />

Kombinationen denkbar 35 :<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

121


HAVE<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

Stephan Weber<br />

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14<br />

komplementär • • • • • • •<br />

additiv • • • • • • •<br />

kumulativ • • • • • • • •<br />

alternativ • • • • • • •<br />

Die Differenzierungen bei der Kausalitätsprüfung mögen<br />

kompliziert erscheinen, sie sind aber unumgänglich.<br />

Sie entscheiden nicht nur über die Zurechnung,<br />

sondern auch darüber, wem das Beweisrisiko anzulasten<br />

ist. Soweit die Kausalanteile zwischen mehreren<br />

beteiligten Haftpflichtigen unklar sind, soll nach dem<br />

hier gemachten Vorschlag nicht die geschädigte Person<br />

die Folgen der Beweislosigkeit tragen müssen.<br />

D. Mitwirkung durch Geschädigten<br />

und Zufallsursachen<br />

Hinter konkurrierenden Ursachen können nicht<br />

nur mehrere Drittpersonen stehen, sondern auch<br />

die geschädigte Person oder zufällige, nicht haftungsrelevante<br />

Ereignisse. Es gelten dann folgende<br />

Zurechnungs regeln:<br />

Handelt es sich um komplementäre Ursachen, wird<br />

der Schaden gleichwohl dem Haftpflichtigen voll zugerechnet.<br />

Die Korrektur erfolgt im Rahmen der Schadenersatzbemessung,<br />

wenn der Mitwirkungsbeitrag<br />

einen Reduktionsgrund verkörpert. Gleich verhält<br />

es sich auch beim mitwirkenden Zufall. Auch dieser<br />

ändert an der grundsätzlich vollen Haftung nichts, er<br />

kann aber als reduzierender Umstand bei der Schadenersatzbemessung<br />

einfliessen 36 . Die Aufteilung<br />

des Schadens vollzieht sich hier nicht wie bei einer<br />

Mehrheit von Ersatzpflichtigen in zwei Schritten, im<br />

Aussenverhältnis und intern beim Ausgleich mittels<br />

Regress. Die Frage muss vielmehr unmittelbar bei der<br />

Festlegung des Schadenersatzanspruchs entschieden<br />

werden.<br />

Auch hier ist nicht selten ungewiss, auf welche Ursache<br />

die Rechtsgutsverletzung zurückführt, ob auf das<br />

Verhalten des Schädigers oder des Geschädigten. Ein<br />

weiteres Beispiel: Ein Fahrzeug kollidiert mit einem<br />

anderen, das zuvor ins Schleudern geraten ist und sich<br />

auf der Fahrbahn überschlagen hat. Es ist ungewiss, ob<br />

sich der Geschädigte die Verletzungen bereits beim<br />

ersten Unfall zugezogen hat, oder ob sie eine Folge der<br />

zweiten Kollision sind oder auf beide Ereignisse zurückzuführen<br />

sind.<br />

In dieser Situation hilft auch die Beweislastumkehr<br />

nicht weiter, bzw. wäre deplatziert. Nicht angemessen<br />

wäre es aber auch, den Geschädigten auf dem ganzen<br />

Schaden sitzen zu lassen. Als Ausweg bietet sich an,<br />

36 Grundsätzlich muss der Haftpflichtige auch für Zufallsereignisse einstehen,<br />

einzig höhere Gewalt gilt als Entlastungsgrund.<br />

mittels einer Wahrscheinlichkeitsschätzung die Anteile<br />

zu bestimmen. Ist es nicht möglich, einer Ursache im<br />

Verhältnis zu anderen eine höhere Wahrscheinlichkeit<br />

zuzumessen, dann liegt man mit einer Kürzung um<br />

50%, resp. um den gleichen Anteil wie die potenziell<br />

konkurrierenden Ursachen, wohl richtig.<br />

Wie aber soll sich eine solche Kürzung auswirken?<br />

Der Kürzungsentscheid betrifft nicht die Korrektur<br />

eines dem Grunde nach gegebenen Anspruchs, vielmehr<br />

müsste der Anspruch, soweit es sich um additive<br />

Mitursachen handelt 37 , beweismässig scheitern. Soweit<br />

eine additive Teilkausalität infrage steht, ist der Anspruch<br />

dem Grunde nach zu kürzen, also nur im Umfange<br />

der auf den Ersatzpflichtigen fallenden Quote<br />

überhaupt zuzurechnen. Das bringt mit sich, dass dem<br />

Geschädigten kein Quotenvorrecht zustehen kann.<br />

Im Umfange der auf den Geschädigten entfallenden<br />

Quote fehlt die Kausalität, mithin eine Voraussetzung<br />

des Schadenersatzanspruchs 38 . Allfällige weitere Reduktionsgründe<br />

beziehen sich dann auch nur auf den<br />

zugerechneten Schadensteil und nicht auf den Gesamtschaden.<br />

Im erwähnten Beispiel mit dem Selbstunfall, der sich<br />

vor einer weiteren Kollision ereignet hat, betrage die<br />

Kürzung für die möglicherweise auf den Selbstunfall<br />

zurückführenden Verletzungen 50%, weil sich die Anteile<br />

nicht eruieren lassen. Der Schaden belaufe sich<br />

auf 500 000. Davon werden 250 000 zugerechnet und<br />

an diesen Betrag in der Folge auch nur die Hälfte der<br />

Sozialversicherungsleistungen angerechnet. Belaufen<br />

sich diese auf 200 000 und geht man weiter von einer<br />

Kürzung infolge Selbstverschulden und Betriebsgefahr<br />

in Höhe von 40% aus, bekommt die geschädigte Person<br />

vom Haftpflichtigen 50 000. Der Regress reduziert sich<br />

damit auf 100 000 (geschuldeter Schadenersatz abzüglich<br />

Direktschaden: 150 000 – 50 000). Der Geschädigte<br />

erhält insgesamt also 450 000 (Sozialversicherungsleistungen<br />

und Direktschaden: 400 000 + 50 000).<br />

Gleich zu verfahren ist auch, wenn die Haftungsursache<br />

mit einer (nicht haftpflichtrelevanten) Drittursache<br />

oder einem Zufall konkurriert. Wenn die Ursachen<br />

nicht komplementär sondern additiv einwirken, dann<br />

stünde dem Geschädigten in diesem Umfange auch<br />

37 In unserem Beispiel die Verletzungen, die sich der Geschädigte beim<br />

Selbstunfall zugezogen hat.<br />

38 Anders QUENDOZ, Fn. 23, der die Quotierung bei der Schadenersatzbe-<br />

messung ansiedelt, 69 ff.<br />

122 2/2010 HAVE/REAS<br />

212


Kausalität und Solidarität<br />

kein Schadenersatzanspruch zu. Also muss der auf<br />

diese entfallende Anteil geschätzt und in Abzug gebracht<br />

werden.<br />

<strong>II</strong>I. Einfluss der Solidarität auf die Schadenszurechnung<br />

und -bemessung<br />

Die Betrachtungen zur Kausalität haben gezeigt, dass<br />

für die Zurechnung das Setzen einer Teilursache genügt.<br />

Soweit die mitwirkenden Ursachen komplementär zur<br />

konkurrierenden Ursache stehen, wird der Schaden<br />

den Urhebern in gleichem Umfange zugerechnet. Dem<br />

Geschädigten stehen konkurrierende Ansprüche zu.<br />

Dieses Ergebnis liefern uns die allgemeinen Grundsätze<br />

des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s und sie lassen sich auch<br />

auf <strong>OR</strong> 51 abstützen, der zwar lediglich den internen<br />

Ausgleich regelt, damit aber eine gemeinsame Haftung<br />

voraussetzt. In einigen Bestimmung wie z.B. <strong>OR</strong> 50<br />

I oder SVG 60 I und 61 <strong>II</strong>I wird bei einer Mehrheit<br />

von Ersatzpflichtigen eine solidarische Haftung angeordnet.<br />

Sieht das Gesetz die solidarische Haftung ausdrücklich<br />

vor, spricht man von echter Solidarität, im<br />

Gegensatz zur bloss zufälligen Anspruchkonkurrenz<br />

bzw. unechten Solidarität 39 . Was aber unterscheidet<br />

die echte von der unechten Solidarität 40 und welchen<br />

Einfluss hat eine solidarische Haftung auf das Kausalitätserfordernis?<br />

A. <strong>OR</strong> 50: Mitgegangen – Mitgefangen<br />

<strong>OR</strong> 50 I statuiert eine solidarische Haftung, wenn ein<br />

Schaden durch gemeinsames Verschulden verursacht<br />

wird. Als Formen des gemeinsamen Zusammenwirkens<br />

erwähnt die Bestimmung den Anstifter, Urheber<br />

und den Gehilfen. In der Praxis wird das gemeinsame<br />

Verschulden z.T. sehr weit ausgelegt, was nicht unproblematisch<br />

ist 41 . Die Besonderheit, die <strong>OR</strong> 50 durch<br />

den Grundsatz der solidarischen Haftung anordnet,<br />

liegt nämlich darin, dass jeder Beteiligte nicht nur für<br />

den von ihm verursachten Schadensanteil einzustehen<br />

hat, sondern unabhängig vom eigenen Kausalbeitrag<br />

für den gesamten gemeinsam verursachten Schaden.<br />

Auch wer nur einen begrenzten (additiven) Tatbeitrag<br />

leistet, wird mit der ganzen Ersatzverbindlichkeit belastet.<br />

Der Bestimmung kommt insofern eine haftungsbegründende<br />

Funktion zu. Sie statuiert eine kollektive<br />

Haftung 42 .<br />

39 In Deutschland spricht man auch von der Nebentäterschaft und<br />

bringt damit zum Ausdruck, dass die Schädiger nicht bewusst zusammenwirken.<br />

40 Abgesehen von Subrogation und Verjährung.<br />

41 Vgl. die Beispiele bei PAMELA KÜTTEL, Begriff der Teilnahme nach Art.<br />

50 <strong>OR</strong>, HAVE/REAS 2008, 320 ff., dazu auch CHRISTOPH MÜLLER, La solidarité<br />

parfaite, in La pluralité des responsables, Colloque du droit de<br />

la responsabilité civile 2007, hrsg. v. Franz Werro, Freiburg 2007, 31 ff.<br />

insbes. 35 ff.<br />

42 Nähere Begründung bei WEBER, Einheitliche Lösung, Fn. 7, 348 ff. Den<br />

solidarisch Beteiligten steht bei der hier vertreten Ansicht auch der<br />

HAVE/REAS 2/2010<br />

213<br />

Nachweis nicht offen, dass ihnen nur ein Teil der Schäden zuzurechnen<br />

ist, wie dies ROBERTO, zit. Fn.19, 550 befürwortet.<br />

43 OFTINGER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Besonderer Teil,<br />

Bd. <strong>II</strong>/1, 4. A. Zürich 1987, § 16 N 319 und REY, zit. Fn. 19, N 1428.<br />

44 So auch THOMAS PROBST, La solidarité imparfaite, in: FRANZ WERRO, La<br />

pluralité des responsables, Bern 2009, 58 ff.<br />

45 GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/EMMENEGGER, Schweizerisches Obligationenrecht,<br />

Allgemeiner Teil, 9. A. Zürich 2008, N 3972. Gegen die Differenzierung<br />

auch ALFRED KELLER, Fn 5, 177: «So erweist sich denn das<br />

grosse Gerede der Gelehrten und Gerichte um diesen Gegensatz als<br />

ungerechtfertigt. Eine Unterscheidung, die weder im Gesetz noch in<br />

HAVE<br />

Die Ausweitung des Haftungsumfangs durch Art. 50<br />

I <strong>OR</strong> lässt sich kausaltheoretisch nicht begründen, sie<br />

ist durch das gemeinsame Verschulden legitimiert, das<br />

als substituierendes Zurechnungselement die Kausalität<br />

kompensiert. Wer die Haftungsbegründung als bewegliches<br />

System begreift, bei dem die einzelnen Elemente<br />

in unterschiedlicher Ausprägung auftreten und<br />

sich gegenseitig kompensieren können, tut sich nicht<br />

weiter schwer, dieses Ergebnis zu akzeptieren. Wer auf<br />

das Vorhandensein sämtlicher Haftungselemente pocht,<br />

kann sich den allenfalls fehlenden Kausalbeitrag als<br />

psychisch vermittelte Ursache denken 43 oder als unwiderlegbare<br />

Vermutung, dass die Gemeinschaftlichkeit<br />

auf die Verursachung schliessen lässt.<br />

B. <strong>OR</strong> 51: Bloss zufälliges Zusammen treffen<br />

Im Gegensatz zu <strong>OR</strong> 50 muss die «gemeinsame» Haftung<br />

bei <strong>OR</strong> 51 nicht erst begründet werden, denn<br />

sie wird als bereits bestehend vorausgesetzt. Für die<br />

einzelnen Ansprüche müssen sämtliche Haftungsvoraussetzungen<br />

erfüllt sein, namentlich der erforderliche<br />

Kausalzusammenhang, auch wenn dabei eine Teilursache<br />

ausreicht und sogar die Regel sein wird 44 . Sie<br />

haben, wie soeben ausgeführt, nur zufällig «denselben<br />

Schaden» zum Gegenstand. Die geschädigte Person<br />

hat gegenüber jedem Schädiger einen Ersatzanspruch.<br />

Es besteht Anspruchkonkurrenz soweit sich die Ansprüche<br />

überschneiden.<br />

C. Notwendige Unterscheidung von echter<br />

und unechter Solidarität<br />

Trotz der soeben aufgezeigten strukturellen Unterschiede<br />

von <strong>OR</strong> 50 und 51 soll bei einer Mehrheit von<br />

Ersatzpflichtigen eine identische Rechtsfolge eintreten.<br />

Die Solidarität sei zwar in <strong>OR</strong> 51 eine unechte, doch<br />

wird diese, sieht man von der Verjährung und der Subrogation<br />

einmal ab, der echten gleichgestellt.<br />

Dem kann nicht zugestimmt werden. Die Unterscheidung<br />

von echter und unechter Solidarität ist nicht bloss<br />

«begriffsjuristisch und ohne praktische Konsequenzen»<br />

45 . Die verfehlte Ansicht hängt eng mit der Nivellierung<br />

der Unterschiede zwischen <strong>OR</strong> 50 und 51 <strong>OR</strong><br />

zusammen. Unterschiede zeigen sich nebst der Kausalität,<br />

die bei <strong>OR</strong> 50 gelockert ist, auch bei der Schadenersatzbemessung.<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

123


HAVE<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

Ein Teil der Lehre befürwortet eine individuelle Bemessung<br />

der Schadenersatzansprüche, sowohl bei echter<br />

wie unechter Solidarität. Andere Autoren sehen in<br />

der Zulassung von individuellen Bemessungsfaktoren<br />

eine Durchlöcherung des Solidaritätsgedankens und<br />

wollen persönliche Gründe erst im internen Verhältnis<br />

zum Zuge kommen lassen. Wiederum andere unterscheiden<br />

nach Solidarität und Anspruchskonkurrenz<br />

bzw. echter und unechter Solidarität 46 .<br />

Für eine täterbezogene Abstufung der Ersatzpflicht<br />

bleibt in <strong>OR</strong> 50 kein Raum. <strong>OR</strong> 50 knüpft am gemeinsamen<br />

Verschulden an und schliesst im Aussenverhältnis<br />

eine Differenzierung nach – durchaus denkbaren<br />

– unterschiedlichen Verschuldensgraden aus. Die<br />

Haftung knüpft am kollektiven Beitrag an und nicht an<br />

der individuellen Verantwortlichkeit.<br />

G<br />

S1<br />

S2<br />

S3<br />

Die solidarische Haftung steht einer Schadenersatzreduktion<br />

selbstverständlich nicht gänzlich entgegen.<br />

Eine Kürzung des Ersatzanspruchs setzt aber voraus,<br />

dass sich alle Beteiligten auf die Reduktionsgründe<br />

berufen können. Dies trifft insbesondere für die Schadenersatzreduktion<br />

infolge Selbstverschulden nach<br />

<strong>OR</strong> 44 I zu. Wohl selten aber denkbar ist auch, dass<br />

das gemeinsame Verschulden leicht wiegt und weitere<br />

Umstände eine Reduktion nahe legen 47 .<br />

Anders verhält es sich bei blosser Anspruchskonkurrenz.<br />

Bei der sog. unechten Solidarität sind die Schadenersatzansprüche<br />

gleich wie bei der «Einzeltäterschaft»<br />

individuell zu bestimmen. Jeder Beteiligte<br />

kann sich im externen Verhältnis vollumfänglich auf<br />

der Sache eine Stütze findet, keine grosse Rolle spielt und überdies<br />

nicht immer sauber durchzuführen ist, sollte man aus dem <strong>Haftpflichtrecht</strong><br />

verbannen». Gegen die Unterscheidung von echter und<br />

unechter Solidarität jüngst auch ALAIN GAUTSCHI, Solidarschuld und<br />

Ausgleich, St. Gallen 2009, N 122 ff.<br />

46 Einzelheiten und Nachweise bei STEPHAN WEBER, Reduktion von Schadenersatzleistungen<br />

in: Personen-Schaden-Forum 2007, Zürich 2007,<br />

135 ff., 147 ff. Seither haben sich weitere Autoren mit der Frage der<br />

individuellen Schadenersatzbemessung befasst: HABLÜTZEL, Fn. 15,<br />

108 ff.; GAUTSCHI, Fn. 45, 114 ff. und FRANZ WERRO, La pluralité des responsables:<br />

quelques principes et distinctions, in: FRANZ WERRO, La<br />

pluralité des responsables, Bern 2009, 19 ff.<br />

47 Dagegen ist die in <strong>OR</strong> 44 <strong>II</strong> vorgesehen Notlage, in die der Haftpflichtige<br />

geraten könnte, auch bei <strong>OR</strong> 50 im Sinne eines individuellen Reduktionsgrundes<br />

gelten zu lassen, aber nur, wenn der Haftpflichtige<br />

trotz seiner Rückgriffsmöglichkeiten in eine Notlage geraten könnte.<br />

Stephan Weber<br />

die persönlichen Bemessungsfaktoren berufen. Eine<br />

gemeinsame Haftung im Sinne konkurrierender Ansprüche<br />

besteht nur im Umfang der jeweils kleinsten<br />

Ersatzforderung.<br />

48 Vgl. dazu WEBER, Reduktion 149 ff. Offen ist die Frage, ob die einzelnen<br />

Schädiger alsdann bis zur Gesamtquote belangt werden dürfen,<br />

oder ob der im Wege der Einzelabwägung festgelegte Schadenersatz<br />

die Haftungshöchstgrenze bildet. Im Beitrag am Personen-<br />

Schaden-Forum 2007 habe ich die Meinung vertreten, dass die einzelnen<br />

Schädiger nur bis zur Höhe der im Wege der Einzelabwägung<br />

festgestellten Quote belangt werden können, aber angedeutet, dass<br />

sich auch daran denken liesse, den Anspruch auf die Insgesamt-<br />

Quote zuzulassen. Der Belangte würde dann das volle Insolvenz- und<br />

Prozessrisiko tragen. Man würde damit das Bemessungsverfahren<br />

sehr weitgehend der echten Solidarität annähern. Eine Lösung<br />

könnte darin bestehen, dass eine Haftung im Umfange der Insgesamt-Quote<br />

nur dann zugelassen wird, wenn dem Ersatzpflichtigen<br />

eine Regress möglichkeit zusteht. In diese Richtung auch HANS-JÖRG<br />

STEINER, Anrechnung des Mitverursachungsanteils des Geschädigten<br />

bei Solidarhaftung und Anspruchskonkurrenz, SJZ 79/1983, 144. Man<br />

darf bei einer Mehrheit von Ersatzpflichtigen nicht nur die Belastung<br />

gegen aussen sehen, entscheidend ist, was nach dem internen Ausgleich<br />

resultiert. Regelmässig müssen die Ersatzpflichtigen weniger<br />

124 2/2010 HAVE/REAS<br />

214<br />

G<br />

S1<br />

S2<br />

S3<br />

Im Gegensatz zur solidarischen Haftung nach <strong>OR</strong> 50<br />

stehen dem Geschädigten bei der Anspruchskonkurrenz<br />

dem Grunde und der Höhe nach unterschiedliche<br />

Ersatzforderungen zu, aus denen er maximal den vollen<br />

Schaden ersetzt erhält.<br />

Die individuelle Bestimmung des Haftungsanspruchs<br />

in den Fällen der Anspruchskonkurrenz vermag nicht<br />

ganz zu befriedigen, da mit einer Einzelabwägung die<br />

Ursachen an Gewicht verlieren. Der Geschädigte kann<br />

dem Einzelschädiger nur seine Haftungsquote entgegenhalten,<br />

die für die Schädigung ausschlaggebende<br />

Gefährdung resultiert aber aus dem Zusammenwirken<br />

der sich kumulierenden Schädigungspotenziale. Zum<br />

Ausgleich der mit der Einzelbetrachtung verbundenen<br />

Benachteiligung wird in Deutschland eine kombinierte<br />

Abwägungsmethode postuliert, die die Einzelabwägung<br />

durch eine Gesamtschau ergänzt, sodass die<br />

Ersatzpflichtigen zusammen jenen Teil des Schadens<br />

übernehmen müssen, der sämtlichen Schädigerbeiträgen<br />

entspricht 48 .<br />

D. Bedeutung der Solidarität im SVG<br />

Auch in SVG 60 I und 61 <strong>II</strong>I ist explizit von Solidarität<br />

die Rede, womit wir einen weiteren Anwendungsfall


Kausalität und Solidarität<br />

von echter Solidarität vor uns haben 49 . Es fragt sich, ob<br />

bei Verkehrsunfällen die gleiche Rechtsfolge wie bei<br />

<strong>OR</strong> 50 eintreten soll, das heisst ebenfalls eine u.U. über<br />

den persönlichen Kausalbeitrag hinausgehende Zurechnung<br />

des Schadens und eine einheitliche Bemessung<br />

des Schadenersatzes. Dies hätte zur Konsequenz,<br />

dass die an einem Verkehrsunfall Beteiligten gegen<br />

Aussen in gleichem Umfange für den Schaden einzustehen<br />

haben, unabhängig davon, ob sie ganz oder nur<br />

teilweise zum Schaden beigetragen haben. Ein Teil der<br />

Lehre lehnt diese Lösung mit der Argumentation ab,<br />

dass es sich bei den Beteiligten – SVG 60 I verlangt<br />

lediglich, dass ein Fahrzeug am Unfall beteiligt ist –<br />

um ganz unterschiedliche Haftungsarten handeln kann,<br />

womit der Tatbestand der unechten Solidarität passender<br />

wäre 50 .<br />

Um den SVG-Bestimmungen etwas näher zu kommen,<br />

lohnt sich ein Blick zurück auf die Entstehungsgeschichte.<br />

Ursprünglich sah das SVG in einem dritten<br />

Absatz von Art. 60 eine Ausnahme zum Solidaritätsgrundsatz<br />

vor:<br />

«Hat neben Haltern ein nur für Verschulden Haftpflichtiger<br />

für den Schaden einzustehen, so haftet dieser nur<br />

für seinen Anteil, den der Richter unter Würdigung aller<br />

Umstände bestimmt. Wenn ihn nur ein leichtes Verschulden<br />

trifft und die Umstände es rechtfertigen, kann<br />

ihn der Richter von der Haftpflicht befreien.»<br />

Hinter der Bestimmung stand die Überlegung, dass<br />

Strassenbenützer, die der Verschuldenshaftung unterstehen,<br />

in der Regel nur untergeordnet zum Schaden<br />

beitragen 51 . Angeführt wurden auch Gründe der Billigkeit,<br />

soziale Aspekte und der Umstand, dass diese<br />

Verkehrsteilnehmer oft nicht über genügend Versicherungsschutz<br />

verfügen.<br />

übernehmen als bei der Einzeltäterschaft. Allerdings wird nach wie<br />

vor die Regressaufteilung nicht strikte nach der sektoriellen Methode<br />

vollzogen, was für die Beteiligten aufgrund der Regresskaskade<br />

und Kompensationstheorie zur Folge haben kann, dass sie auch<br />

intern voll belas tet werden.<br />

49 Jedenfalls, wenn man dazu in Anlehnung an <strong>OR</strong> 143 <strong>II</strong> eine formale<br />

Abgrenzung genügen lässt, wonach echte Solidarität vorliegt, wenn<br />

eine gesetzliche Bestimmung ein solches Rechtsverhältnis ausdrücklich<br />

vorsieht; kritisch dazu gerade auch im Hinblick auf SVG 60<br />

GAUTSCHI, zit. Fn. 45, N 118 ff.<br />

50 Vgl. auch das entgegenstehende Urteil 6S.346/2005 E. 2.1, das sich<br />

mit SVG 60 I befasst und feststellt: «Die Solidarität reicht für jede<br />

der haftpflichtigen Parteien aber nur bis zu dem Ersatzbetrag, den<br />

sie zu leisten hätte wenn sie allein haftpflichtig wäre (…). Daraus<br />

folgt, dass ein verschuldenshaftpflichtiger Lenker, der zusammen mit<br />

einem kausalhaftpflichtigen Motorfahrzeughalter solidarisch haftet,<br />

auch im Aussenverhältnis gegenüber dem Geschädigten für dessen<br />

Schaden nur insoweit aufzukommen hat, als seine persönliche Haftung<br />

unabhängig von der Solidarität reicht. Den Lenker, der nicht zugleich<br />

Halter ist, trifft daher für Geschädigtenansprüche keine volle<br />

Haftung».<br />

51 Botsch. SVG, BBl 1955 <strong>II</strong> 47, dazu ROBERT GEISSELER, Haftpflicht und<br />

Versicherung im revidierten SVG, Diss. Freiburg 1980, 57 ff.<br />

HAVE/REAS 2/2010<br />

215<br />

52 GEISSELER, Fn. 51, 60 ff.<br />

53 Das MFG regelte in Art. 38 I die «Schadensverursachung durch mehrere<br />

Motorfahrzeuge» (so die Marginale) wie folgt: «Wird ein Schaden,<br />

wofür der aufzukommen hat, durch mehrere Motorfahrzeuge<br />

verursacht, so haften die beteiligten Halter dem Dritten gegenüber<br />

solidarisch.» Der zweite Absatz regelte das Innenverhältnis und sah<br />

eine Aufteilung nach der Grösse des Verschuldens oder nach gleichen<br />

Teilen vor.<br />

54 Dabei ist von gleichen Anteilen auszugehen, sofern die Umstände<br />

keine abweichende Quotierung nahe legen. In Deutschland hat v. Bar<br />

für die Fälle der Massenkollisionen eine Spezialregel vorgeschlagen:<br />

«Im Fall des Zusammenstosses von Fahrzeugen wird bis zum Beweis<br />

des Gegenteils vermutet, dass jeder der Lenker in gleichem Ausmass<br />

HAVE<br />

In der SVG-Revision von 1975 wurde der Absatz gestrichen.<br />

Schon früh regte sich gegen die Sonderregel<br />

Widerstand. Sie widerspreche dem Solidaritätsprinzip,<br />

das eine Anteilshaftung nicht zulasse. Den Todesstoss<br />

begünstigt hat zweifellos auch, dass die Bestimmung<br />

kaum praktische Bedeutung erlangt hat. In der damaligen<br />

Diskussion wurde zudem darauf hingewiesen,<br />

dass sich das gleiche Resultat auch über die Reduktionsgründe<br />

von <strong>OR</strong> 43 und 44 erreichen lasse 52 . Das<br />

allerdings würde voraussetzen, dass auch bei echter<br />

Solidarität eine individuelle Bemessung des Schadenersatzes<br />

möglich wäre, was nach der hier vertretenen<br />

Ansicht gerade nicht zutrifft.<br />

Es ist bedauerlich, dass der Gesetzgeber die (echte)<br />

Solidarität nicht auf die Beteiligung von mehreren Motorfahrzeugen<br />

beschränkt hat, wie dies noch im MFG<br />

der Fall war 53 . Eine analoge Regelung zu <strong>OR</strong> 50 drängt<br />

sich nämlich auch im SVG auf. Wie das schuldhafte<br />

Zusammenwirken würde auch die durch mehrere Motorfahrzeuge<br />

herbeigeführte besondere Gefahrenlage<br />

eine Zusammenfassung der Schädiger unter eine strikt<br />

verstandene Solidarität nahe legen. Auch bei Verkehrsunfällen<br />

sollten mit einer kollektiven Anknüpfung allfällige<br />

Anteilszweifel den Motorfahrzeughaltern und<br />

-lenkern überbunden werden. Dass bei Kausalzweifeln<br />

eine Beweislastumkehr eingreifen kann, wurde bereits<br />

aufgezeigt. Bei Verkehrsunfällen rechtfertigt sich aber<br />

ein noch weiter gehender Schritt, nämlich eine Lockerung<br />

des Kausalprinzips wie in den Fällen der Mittäterschaft.<br />

Für die Zurechnung genügt die Beteiligung<br />

am Verkehrsunfall, ein individueller Kausalnachweis<br />

ist nicht notwendig. Die Anknüpfung hat am Gesamtgeschehen<br />

zu erfolgen und nicht an den Einzelbeiträgen,<br />

für die oft nicht nachgewiesen werden kann, wieweit<br />

sie zum Schaden beigetragen haben.<br />

Mit dieser Lösung liessen sich dann namentlich auch<br />

die Fälle einer Massenkarambolage eleganter lösen,<br />

die hier Ausgangspunkt der Betrachtungen gebildet<br />

haben und auf die der Blick wieder zurückkehren soll.<br />

Die geschädigte Person kann sich aussuchen, wen sie<br />

belangen will und es wäre dann im Rahmen der internen<br />

Auseinandersetzung zu klären, wer in welchem<br />

Umfange für den Schaden einzustehen hat 54 . Die Lö-<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

125


HAVE<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

sung drängt sich umso mehr auf, als für die Haftung<br />

eine obligatorische Versicherung besteht und die Diskussion<br />

um die letztlich zu tragenden Anteile unter den<br />

involvierten Versicherern und damit auf gleicher Augenhöhe<br />

geführt werden kann. Für eine strikt verstandene<br />

Solidarität spricht nebst der gemeinsam geschaffenen<br />

konkreten Gefahr auch die spezifische Regelung<br />

der internen Aufteilung des Schadens und die Verjährungsbestimmung<br />

in SVG 83 <strong>II</strong>I, die die Härten der<br />

Subrogation mildert, indem nicht die angebrochene<br />

Verjährung weitergegeben, sondern eine neue Frist angesetzt<br />

wird 55 .<br />

E. Weitere Solidaritäts-Artikel<br />

Inwieweit die vorgetragene Lösung auch für die weiteren<br />

Haftungstatbestände gilt, die ebenfalls ausdrücklich<br />

Solidarität vorsehen und damit eine echte Solidarität<br />

anordnen, muss näher geprüft werden, was den<br />

Rahmen hier übersteigen würde. Von Solidarität ist u.a.<br />

in folgenden Bestimmungen die Rede:<br />

ElG 28 lit b. für zusammengesetzte Anlagen mit verschiedenen<br />

Inhabern: Auch hier drängt sich eine solidarische<br />

Haftung auf, ebenso wie beim Zusammentreffen<br />

von elektrischen Anlagen in ElG 30. Soweit<br />

nicht schon eine rechtliche Beziehung zwischen den<br />

Betriebsinhabern besteht, rechtfertigt die gesteigerte<br />

Gefahrenlage und das Unaufklärbarkeitsrisiko eine solidarische<br />

Haftung.<br />

LFG 66 für den Zusammenstoss von Flugzeugen:<br />

Fraglos, dass es die geschaffene Gefahrenlage erfordert,<br />

von einer umfassenden solidarischen Haftung<br />

auszugehen.<br />

In verschiedenen Bestimmungen ist vorgesehen, dass<br />

der Halter, Betreiber oder Inhaber neben dem nicht mit<br />

ihm identischen Eigentümer haftet. Auch hier ist von<br />

identischen Ansprüchen auszugehen.<br />

IV. Abkommen zur Regulierung von Schäden<br />

aus Massenkollisionen<br />

Die Versicherungsgesellschaften haben nach der Massenkarambolage<br />

im Jahre 2003 beschlossen, dass die<br />

Schäden an den jeweils betroffenen Fahrzeugen durch<br />

die Kaskoversicherer und die eigenen Haftpflichtversicherer<br />

reguliert werden. Auf gegenseitige Regresse<br />

wurde verzichtet. Auch für Personenschäden konnte<br />

direkt der Haftpflichtversicherer des eigenen Fahrzeugs<br />

belangt werden, der auch die Regresse erledigte.<br />

zur Verursachung des an den Fahrzeugen entstandenen Schadens<br />

beigetragen hat», Zitat nach GERDA MÜLLER, Fn 29.<br />

55 So auch OFTINGER/STARK, Fn. 11, § 25 N 688, die aber ebenfalls nicht<br />

konsequent zwischen den unterschiedlichen Rechtsfolgen bei<br />

echter und unechter Solidarität unterscheiden.<br />

Stephan Weber<br />

Aus der damaligen Ad-hoc-Lösung ist nun ein Abkommen<br />

hervorgegangen, das erstmals bei der Massenkarambolage<br />

im Jahre 2008 und noch vor seinem Inkrafttreten<br />

zur Anwendung gelangt ist und das im Forum<br />

dieses Hefts 56 näher vorgestellt wird. Das Abkommen<br />

sieht für die Regulierung der Schäden aus Massenkollisionen<br />

folgendes Prozedere vor:<br />

Für Sachschäden wird die Regulierung durch den<br />

eigenen Kasko-, Hausrat- oder Haftpflichtversicherer<br />

vorgeschlagen, wobei der letztere einen Selbstbehalt<br />

von CHF 1000 geltend machen kann. Bei den Personenschäden<br />

wird für den Direktschaden differenziert<br />

und der Anspruch für den Nicht-Halter als Lenker um<br />

20% gekürzt, für den Halter als Mitfahrer um 30% und<br />

für den Halter als Lenker um 40%. Für die übrigen<br />

Mitfahrer wird kein Abzug gemacht. Die Regressansprüche<br />

der Sozialversicherer werden generell um 50%<br />

gekürzt.<br />

Eine Würdigung dieser Quoten ist nicht ganz leicht.<br />

Hinter den Kürzungen steht nach Ziff. 3.2 lit. a die<br />

«Berücksichtigung von Beweisnotstand, Betriebsgefahr,<br />

Selbstverschulden». Dabei soll nach Ziff. 3.2.<br />

lit. b das Quotenvorrecht nicht zum Zuge kommen, d.h.<br />

die Direktansprüche werden stets um die genannten<br />

Quoten gekürzt. Unklar ist, ob weitere Kürzungen geltend<br />

gemacht werden können, etwa für die konstitutionelle<br />

Prädisposition.<br />

Bei einer Massenkarambolage ist in der Regel von<br />

einem Verschulden der Beteiligten auszugehen, zumindest<br />

– aber nicht nur 57 – für die nachfolgenden<br />

Fahrzeuge, die nicht mehr bremsen und sich ein Nichtbeherrschen<br />

des Fahrzeugs vorwerfen lassen müssen.<br />

Das Verschulden trifft den Halter und den Lenker. Der<br />

Halter muss sich zusätzlich die Betriebsgefahr anrechnen<br />

lassen, wobei hier auch noch SVG 61 zu beachten<br />

ist, der eine Verschuldensabwägung unter Haltern vorsieht.<br />

Nach hier vertretener Auffassung dürften die Beweisschwierigkeiten<br />

wegen der solidarischen Haftung nicht<br />

anspruchsmindernd wirken, jedenfalls nicht allzu stark<br />

gewichtet werden. Die Abzüge für Selbstverschulden<br />

und Betriebsgefahr sind mit Blick auf die heutige Praxis<br />

angemessen 58 , soweit kein Quotenvorrecht spielt.<br />

Dieses sollte unbedingt zugelassen werden. Dann<br />

würden sich auch die Kürzungen beim Sozialversicherungsregress<br />

rechtfertigen, die mit 50% doch recht<br />

56 Nachfolgend159 ff.<br />

57 Vgl. dazu den Beitrag von JÜRG NEF, Auffahrkollisionen im Strassenverkehr<br />

aus Sicht des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s, HAVE 2007, 122 ff.<br />

58 Persönlich stört mich allerdings der Umstand, dass der Halter stets<br />

mit der Betriebsgefahr belastet wird. Diese sollte nicht ihm, sondern<br />

dem Lenker angelastet werden (vgl. auch STEPHAN WEBER in HAVE<br />

2007, 111).<br />

126 2/2010 HAVE/REAS<br />

216


Kausalität und Solidarität<br />

hoch angesetzt sind. Nicht in Abzug gebracht werden<br />

dürfen die Beweisschwierigkeiten, denn mit dem<br />

Grundsatz der Solidarität werden die Geschädigten damit<br />

nicht belastet.<br />

Die Regulierung nach dem Abkommen setzt die Einwilligung<br />

der Betroffenen voraus. Ob sie sich darauf<br />

einlassen sollen, hängt wesentlich davon ab, wie allfällige<br />

weitere Reduktionsfaktoren und die Auswirkungen<br />

des Quotenvorrechts einzuschätzen sind. Eine<br />

genauere Prüfung der Auswirkungen der Abkommenslösung<br />

drängt sich wohl bei schwereren Personenschäden<br />

auf, wenn die Ansprüche von Halter und Lenker<br />

zur Debatte stehen. Das Abkommen vereinfacht zweifellos<br />

die Schadenabwicklung unter den beteiligten<br />

Versicherern und daran sind auch die Geschädigten interessiert.<br />

Eine strikt verstandene Solidarität, die vom<br />

individuellen Kausalitätsnachweis dispensiert, trägt<br />

ebenfalls zur Vereinfachung der Schadenabwicklung<br />

bei und hilft die Stellung der geschädigten Personen zu<br />

verbessern. Das Abkommen ist nicht zuletzt auch eine<br />

Reaktion auf die vielen Unsicherheiten rund um die<br />

Bestimmung der Ersatzansprüche gegenüber mehreren<br />

Schädigern, mithin eine Lösungsvorschläge für Fälle,<br />

die als nicht justiziabel eingeschätzt werden.<br />

HAVE/REAS 2/2010<br />

217<br />

V. Erkenntnisse<br />

HAVE<br />

Entscheidend für die Schadenszurechnung bei einer<br />

Mehrheit von Ersatzpflichtigen ist die Kausalität. In<br />

der Praxis wird den unterschiedlichen Kausalitätsformen<br />

zu wenig Beachtung geschenkt. Sie aber entscheiden<br />

ganz primär, ob ein Mitschädiger für den ganzen<br />

oder einen Teil des Schadens einzustehen hat. Differenziert<br />

werden muss namentlich zwischen additiven<br />

und komplementären Teilursachen, denn nur letztere<br />

führen zu einer vollumfänglichen Zurechnung der Verletzungsfolgen.<br />

Gelockert wird der Kausalitätsnachweis<br />

in den Fällen der echten Solidarität, namentlich<br />

bei einem gemeinsamen Verschulden oder bei einer<br />

Kollision zwischen mehreren Fahrzeugen. Hier muss<br />

die geschädigte Person die auf die Beteiligten entfallenden<br />

Kausalanteile nicht nachweisen. Auch in den<br />

übrigen Fällen ist die durch eine Schädigermehrheit<br />

entstandene Unklarheit über die Kausalanteile mit<br />

einer Beweislastumkehr den potenziell Haftpflichtigen<br />

anzulasten. Dagegen führen Kausalitätszweifel bei<br />

konkurrierendem Selbstverschulden und Zufall allenfalls<br />

zu einer anteilsmässigen Zurechnung nach Wahrscheinlichkeitsquoten.<br />

Die hier betonte Unterscheidung von echter und unechter<br />

Solidarität beeinflusst nicht nur den Zurechnungsentscheid,<br />

sie wirkt sich auch bei der Schadenersatzbemessung<br />

aus. Echte Solidarität schliesst eine<br />

individuelle Ersatzbemessung aus, unechte dagegen<br />

nicht.<br />

WISSENSCHAFT / THÉ<strong>OR</strong>IE JURIDIQUE<br />

127


Koordinationsrecht<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

BGE 80 <strong>II</strong> 247 = Pra 1955, Nr. 18<br />

41. Extrait de l'arrêt de la Ire Cour civile du 5 octobre 1954 dans la cause La Neuchâteloise, Compagnie<br />

suisse d'assurances, contre Gini et Durlemann.<br />

Regeste<br />

Art. 41 <strong>OR</strong>.<br />

Die Unterlassung genügender Instruktion und Überwachung seiner Arbeiter durch den Geschäftsherrn<br />

bildet den in Art. 55 <strong>OR</strong> vorgesehenen Haftungsgrund und zieht nicht eine Deliktshaftung gemäss<br />

Art. 41 <strong>OR</strong> nach sich (Erw. 4 a).<br />

Deliktshaftung des Geschäftsherrn, der seinen Arbeiter anweist, eine Arbeit in einer Art und Weise<br />

auszuführen, die eine Gefährdung Dritter bewirken kann (Erw. 4 b).<br />

Art. 51 <strong>OR</strong>.<br />

Diese Bestimmung räumt dem Geschädigten nicht die Befugnis ein, durch Abtretung seines Anspruches<br />

gegen einen Haftpflichtigen an einen der andern darüber zu entscheiden, welcher von ihnen<br />

letzten Endes den Schaden zu tragen habe.<br />

Art. 51 <strong>OR</strong> ist auch anwendbar bei Haftung Mehrerer für denselben Schaden aus gleichartigen<br />

Rechtsgründen. In solchem Falle entscheidet der Richter, ob unter den verschiedenen Haft.. pflichtigen<br />

ein Rückgriffsrecht besteht.<br />

Über das Rückgriffsrecht des Versicherers gegen den aus Vertragsverletzung für den Schaden Haftbaren<br />

(Erw. 5).<br />

18. Haftung aus unerlaubt er Handlung, <strong>OR</strong> 41. Rückgrill aus <strong>OR</strong> 51.Deliktshaftung des Geschäftsherrn<br />

aus <strong>OR</strong> 41 neben einer solchen aus <strong>OR</strong> 55? (E. 4). Rückgriffsverhältnisse bei Haftung mehrerer aus<br />

Vertrag: Rechtsnatur der Haftung des Dienstherrn aus <strong>OR</strong> 101. Unzulässigkeit der Abtretung der Forderung<br />

des Geschädigten gegen den Dienstherrn an den Versicherer. Anwendbarkeit von <strong>OR</strong> 51 auf<br />

die Haltung mehrerer aus Vertrag. Frage des Rückgriffs des Versicherers auf den Dienstherrn (E.5).<br />

P. beauftragte den Unternehmer G. mit dem Neuanstrich der Aussenseite eines Holzhauses. G. liess<br />

die Arbeit durch seinen Arbeiter D. ausführen. Dieser entfernte zunächst die alte Farbe, indem er sie<br />

mit einer Lötlampe wegbrannte. Das machte er auch an einer Türe, ohne diese zu öffnen und die<br />

Flügel auszuhängen. Dabei drang die Flamme der Lötlampe durch eine Ritze in der Türe in das Innere<br />

des Gebäudes ein und steckte dort aufgehäufte Holzwolle in Brand. Das Haus brannte nieder. Die<br />

Versicherungsgesellschaft N. zahlte an den Hauseigentümer P. 21‘000 Fr. Schadenersatz aus. P. trat<br />

alle seine Ansprüche gegen haftpflichtige Dritte an die Versicherung ab. Diese belangte den Unternehmer<br />

G. und den Arbeiter D. auf Ersatz der ausbezahlten Versicherungsleistungen. Das erstinstanzliche<br />

Gericht von Genf wies die Klage gegen beide Beklagte ab. Die obere Instanz schützte die Klage<br />

gegen den Arbeiter D.im Betrage von 5‘000 Fr. und wies diejenige gegen den Unternehmer G. ab. Das<br />

Bg setzt die Ersatzpflicht des D. auf 4000 Fr. herab und weist die Klage gegen G. ab, letzteres mit folgender<br />

Begründung:<br />

4. Die Klägerin behauptet, dass G. nicht nur aus Vertrag hafte, sondern dass er auch auf Grund von<br />

<strong>OR</strong> 41 für den Schaden einzustehen habe. Sie behauptet nämlich, er habe eine unerlaubte Handlung<br />

begangen, indem er es unterliess, seinem Arbeiter die erforderlichen Weisungen zu geben und ihn zu<br />

überwachen und indem er ihm befahl, die Farbe an den Türflügeln an Ort und Stelle, ohne sie auszuhängen,<br />

wegzubrennen; dieses Vorgehen sei aber geeignet gewesen, einen Brand hervorzurufen.<br />

218


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

a) In bezug auf den ersten Punkt hat das Bg entschieden, dass im ausservertraglichen Verhältnis die<br />

Unterlassung der gebotenen Instruktion und Überwachung der Arbeiter ausschliesslich den in <strong>OR</strong> 55<br />

vorgesehenen Haftungsgrund bilde (BGE 77 11 248 = Pr 40 Nr. 165). Eine Nachlässigkeit solcher Art<br />

zieht somit keine Deliktshaftung auf Grund von <strong>OR</strong> 41 nach sich. Übrigens hatte nach den Feststellungen<br />

des Sachrichters die D. übertragene Arbeit nichts Aussergewöhnliches an sich. Es handelte<br />

sich um eine alltägliche Massnahme nach einem durchaus gebräuchlichen Verfahren. G. durfte sich<br />

daher auf seinen Angestellten, der 'ein erfahrener Berufsmann war, verlassen. Bei dieser Sachlage<br />

sind nicht einmal die Voraussetzungen von <strong>OR</strong> 55 erfüllt. Umso weniger kann man in dieser Hinsicht<br />

G. eine unerlaubte Handlung im Sinne von <strong>OR</strong> 41 vorwerfen. b) Die VJ hat festgestellt, dass der Unternehmer<br />

seinem Arbeiter die Weisung gab, die Farbe an der Türe weg zu brennen, ohne die Türflügel<br />

zu öffnen oder sie auszuhängen. Diese Weisungen vermöchten eine Deliktshaftung des Beklagten<br />

zu begründen, wenn sie gegen ein allgemeines Gebot der Rechtsordnung (BGE 67 11 136 = Pr 30 Nr.<br />

96) oder gegen eine Sondervorschrift verstiessen. Um eine unerlaubte Handlung des G. annehmen zu<br />

können, müsste jedoch diesem ein Verschulden zur Last fallen. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt.<br />

Da lediglich die Farbe an der Aussenseite der Türe weggebrannt werden musste, durfte der Unternehmer<br />

die Weisung geben, die Arbeit an Ort und Stelle auszuführen, und es im Übrigen dem D. als<br />

erfahrenem Arbeiter überlassen, die erforderlichen Vorsichtsmassnahmen zu treffen. In diesem Vorgehen<br />

könnte nur dann ein Verschulden erblickt werden, wenn er vom Vorhandensein leicht brennbaren<br />

Materials im Innern des Hauses Kenntnis gehabt hätte. Die Klägerin behauptet indessen nicht,<br />

dass dies der Fall gewesen sei. Eine Deliktshaftung des Beklagten scheidet somit aus.<br />

5. Hingegen haftet G. auf Grund von <strong>OR</strong> 101 für den Schaden, den sein Arbeiter D. bei der Ausführung<br />

seiner Arbeit verursacht hat. Da es sich bei diesem Anspruch des P. nicht um einen solchen aus<br />

unerlaubter Handlung handelt, ist er nicht auf Grund von VVG 72 kraft Gesetzes auf die Klägerin<br />

übergegangen. Dagegen hat er Gegenstand einer Abtretung zu Gunsten der Versicherungsgesellschaft<br />

gebildet. Die VJ hat jedoch gleichwohl die Klage auch abgewiesen, soweit sie sich auf <strong>OR</strong> 101<br />

stützt. Sie führt aus, das Rückgriffsrecht des Versicherers gegen die für den Schaden haftbaren Dritten<br />

werde durch <strong>OR</strong> 51 geregelt, und die Wirkungen dieser Vorschrift könnten nicht durch eine<br />

Rechtshandlung des Geschädigten abgeändert werden; da nun der Versicherer für den Schaden aus<br />

Vertrag einzustehen habe, räume ihm <strong>OR</strong> 51 <strong>II</strong> kein Rückgriffsrecht ein gegenüber demjenigen, der<br />

für denselben Schaden lediglich kraft Gesetzes hafte, wie dies bei dem auf Grund von <strong>OR</strong> 101 belangten<br />

Dienstherrn der Fall sei; übrigens käme man zu keinem andern Ergebnis, ,wenn man diese letztere<br />

Haftung als eine solche aus Vertrag betrachten wollte; denn in diesem Falle, wäre aus Gründen der<br />

Billigkeit dem Versicherer der im Austausch gegen seine Leistungen Prämien bezogen hat, jeder<br />

Rückgriff auf einen Dritten, der wie G. ohne jedes eigene Verschulden lediglich eine leichte Fahrlässigkeit<br />

seiner Hilfsperson zu vertreten hat, zu versagen.<br />

Die Klägerin wendet sich gegen diese Begründung. Sie behauptet unter Berufung auf BGE 74 1I 81 =<br />

Pr 37 Nr.154 in erster Linie, dass <strong>OR</strong> 51 11 dem Geschädigten nicht verwehre, seinem Versicherer die<br />

Ansprüche abzutreten, die ihm gegen den aus Vertrag für den Schaden Haftbaren zustehen. Anderseits<br />

macht sie geltend, dass es sich bei der Haftung aus <strong>OR</strong> 101 um eine solche aus Vertrag handle<br />

und dass sie, weil auf einem Verschulden beruhend, derjenigen des Versicherers vorgehe, der ohne<br />

Verschulden für den Schaden hafte.<br />

Die Berufung der Klägerin auf BGE 74 <strong>II</strong> 81 = Pr 37 Nr. 154 geht jedoch fehl, da das Bg dort gar nicht<br />

<strong>OR</strong> 51 angewendet hat. Es hat vielmehr auf Grund italienischen Rechtes entschieden, dass<br />

die·Ansprüche des Geschädigten gegenüber dem aus Vertrag für den Schaden Haftbaren auf den<br />

Versicherer übergegangen seien. Entgegen der Ansicht der Klägerin hat somit das Bg seine frühere<br />

Rechtsprechung nicht aufgegeben, wonach der Geschädigte nicht befugt ist, in Abweichung von <strong>OR</strong><br />

51 zu entscheiden, welcher der verschiedenen Haftpflichtigen den Schaden letzten Endes tragen<br />

solle (BGE 45 <strong>II</strong> 645 = Pr 9 Nr.18). Die von P. an die Klägerin vorgenommene Abtretung ist somit unwirksam.<br />

Ein Rückgriffsrecht des Versicherers gegen G. liesse sich somit ausschliesslich auf <strong>OR</strong> 51 stützen. In<br />

dieser Beziehung hat die VJ zu Unrecht angenommen, dass es sich bei der Haftung nach <strong>OR</strong> 101 um<br />

eine solche «aus Gesetzesvorschrift» im Sinne von <strong>OR</strong> 51 <strong>II</strong> handle. Diese Ausdrucksweise bezeichnet<br />

219


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

lediglich die Fälle der Kausalhaft und bezieht sich nicht auch auf die Haftung des Dienstherrn gemäss<br />

<strong>OR</strong> 101. Wer Hilfspersonen beizieht, haftet für deren Verhalten wie für sein eigenes. Der Unternehmer<br />

insbesondere ist verpflichtet, das übernommene Werk mit Sorgfalt auszuführen (<strong>OR</strong> 364 und<br />

328). Beauftragt er damit seine· Angestellten, so muss die Ausführung gleichwohl mit derjenigen<br />

Diligenz erfolgen, die man von ihm erwarten durfte, und Mangel an Sorgfalt oder an technischen<br />

Kenntnissen der Angestellten ist von ihm zu verantworten, wie wenn er selber gehandelt hätte (BGE<br />

46 <strong>II</strong> 130, 70 <strong>II</strong> 221 = Pr 9 Nr. 94, 33 Nr. 179). Auch die Haftung G.s auf Grund von <strong>OR</strong> 101 ist daher,<br />

gleich wie diejenige der Versicherungsgesellschaft, eine vertragliche.<br />

Wörtlich ausgelegt scheint <strong>OR</strong> 51 den Fall nicht zu betreffen, wo mehrere Haftpflichtige für denselben<br />

Schaden aus gleichartigen Rechtsgründen einzustehen haben. Die ratio legis drängt jedoch eine<br />

andere Lösung auf. <strong>OR</strong> 51 geht von dem Grundsatz. aus, dass der Geschädigte sich nicht soll bereichern<br />

können dank dem Umstand, dass er von mehreren Haftpflichtigen Schadenersatz verlangen<br />

kann. Diese Möglichkeit besteht nun aber nicht nur, falls diese mehreren Haftpflichtigen für den<br />

Schaden aus verschiedenen Rechtsgründen haften, sondern auch, wenn sie dafür aus gleichartigen<br />

Rechtsgründen einzustehen haben. Hieraus ist somit zu schliessen, dass dieser letztere Fall auch<br />

durch <strong>OR</strong> 51 geregelt ist (vgl. BGE 77 <strong>II</strong> 248 = Pr 40 Nr. 165). <strong>OR</strong> 51 <strong>II</strong> hingegen, der im allgemeinen<br />

die Reihenfolge der Ersatzpflicht ordnet, ist nicht anwendbar, soweit nicht verschieden geartete Haftungsgründe<br />

in Frage stehen. In diesem Falle lässt sich der Entscheid einzig auf <strong>OR</strong> 51 I und 50 <strong>II</strong> stützen,<br />

wonach der Richter frei darüber befinden darf, ob dem einen Haftpflichtigen gegenüber dem<br />

andern ein Rückgriffsrecht zusteht (BGE 77 <strong>II</strong> 248 = Pr 40 Nr. 165). Der Beklagte beruft sich auf verschiedene<br />

Entscheide des Bg, aus denen sich ergeben soll, dass der Versicherer nur auf denjenigen<br />

Rückgriff nehmen könne, den ein persönliches Verschulden treffe; diese Voraussetzung sei aber nicht<br />

erfüllt, wenn der vom Versicherer Belangte lediglich auf Grund von <strong>OR</strong> 101 hafte. Dieser Ansicht kann<br />

jedoch nicht zugestimmt werden. <strong>OR</strong> 101 rechnet dem Dienstherrn das Verschulden seiner Hilfsperson<br />

an, wie wenn es sein eigenes wäre. Es geht daher auch im Falle von <strong>OR</strong> 51 nicht an, einen Unterschied<br />

zu machen zwischen dem Verschulden, für das der Dritthaftpflichtige auf Grund von <strong>OR</strong> 97<br />

einzustehen hat und demjenigen, das ihn nach <strong>OR</strong> 101 trifft. In der Mehrzahl der vom Beklagten erwähnten<br />

Fälle handelte es sich zudem um den Rückgriff von Versicherern auf Dritte, deren Haftung<br />

eine rein kausale war. Einzig BGE 55 <strong>II</strong> 118 = Pr 18 Nr. 72 betrifft einen Fall, wo die beiden konkurrierenden<br />

Haftungen vertraglicher Natur waren. Der Beklagte behauptet, dieser Entscheid habe den<br />

Grundsatz aufgestellt, dass der Versicherer keinen Rückgriff auf den aus Vertrag haftenden Dritten<br />

habe. Diese Behauptung ist irrig. Wie das Bg später hat durchblicken lassen (BGE 77 IJ 249 = Pr 40 Nr.<br />

165), ist dem genannten Entscheid nicht grundsätzliche Bedeutung beizumessen, sondern es wurde<br />

dort dem Versicherer das Rückgriffsrecht lediglich in Anbetracht der konkreten Umstände und auf<br />

Grund des dem Richter vom Gesetz eingeräumten freien Ermessens verweigert. Für die Entscheidung<br />

über den Rückgriff des Versicherers auf den vertraglich haftenden Dritten ist in Betracht zu ziehen,<br />

dass die Einräumung eines derartigen Anspruchs einen Einbruch in die Regelung von VVG 72 darstellt.<br />

Diese Vorschrift schliesst nämlich jeden Übergang vertraglicher Ansprüche des Geschädigten<br />

auf den Versicherer deswegen aus, weil die Versicherungsgesellschaften bei ihren Prämienberechnungen<br />

die Rückgriffsmöglichkeit auf allfällige Dritthaftpflichtige nicht in Rechnung stellen. Mit dem<br />

späteren Erlass von <strong>OR</strong> 51 hat der Gesetzgeber aber nicht die Stellung der Versicherer zu verbessern<br />

bezweckt; er hat gegenteils in Abweichung von VVG 72 angeordnet, dass die Haftung des Versicherers<br />

in der Regel derjenigen eines für den Schaden ohne eigenes Verschulden, lediglich auf Grund<br />

eines Quasidelikts Haftbaren vorgehe. Alsdann hat er aber nicht auf der andern Seite die Absicht<br />

haben können, dem Versicherer gegenüber dem aus Vertrag haftenden Dritten weiterreichende<br />

Rechte einzuräumen, als sie sich aus VVG 72 ergeben. Diese Bestimmung schloss allerdings nur die<br />

gesetzliche Subrogation des Versicherers in die Ansprüche des Geschädigten gegen den für den<br />

Schaden aus Vertrag Haftbaren aus; dagegen gestattete sie die Abtretung eines solchen Anspruchs,<br />

wovon die Versicherungsgesellschaften reichlich Gebrauch machten. Die nunmehr in <strong>OR</strong> 51 getroffene<br />

Ordnung entzieht das Rückgriffsrecht der Verfügungsbefugnis des Geschädigten. Angesichts der<br />

Tendenz, von der sich der Gesetzgeber bei Erlass dieser Bestimmung leiten liess, kann daher nicht im<br />

Endergebnis als gesetzliche Regelung ein Rückgriffsrecht angenommen werden, das VVG 72 selbst<br />

dem Versicherer nicht gewährte. Zwar kann mit Rücksicht darauf, dass früher eine Abtretung zulässig<br />

220


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

war, auf Grund vorstehender Erwägung nicht jeder Anspruch des Versicherers gegen einen wegen<br />

Nichterfüllung vertraglicher Verpflichtungen haftbaren Dritten ausgeschlossen werden. Aber sie gebietet<br />

doch eine gewisse Zurückhaltung in der Zulassung solchen Rückgriffs. Auf jeden Fall drängt es<br />

sich auf, ihn zu verweigern, wo der Dritte lediglich für ein leichtes vertragliches Verschulden einzustehen<br />

hat, sei es sein eigenes oder dasjenige seiner Angestellten. Zu Gunsten dieser Lösung kann<br />

übrigens eine Überlegung angeführt werden, von der sich schon BGE 55 <strong>II</strong> 122 = Pr 18 Nr. 72 hat leiten<br />

lassen (vgl. auch YUNG, Le recours de l‘assureur contre le tiers responsable du dommage en vertu<br />

d'un contrat, im Recueil de travaux publiés par la Faculté de droit de l’Université de Genève 1952, S.<br />

252, Ziff. 12 lit. a): Nach VVG 14 IV haftet der Versicherer voll, selbst wenn das Unfallereignis auf ein<br />

leichtes Verschulden des Versicherungsnehmers oder des Anspruchsberechtigten zurückzuführen ist.<br />

Der Versicherer trägt somit bei der Festsetzung der Prämie der auf dieser Vorschrift beruhenden<br />

Erhöhung des Risikos Rechnung. Kann aber die Versicherungsgesellschaft ihre Leistung bei bloss<br />

leichtem Verschulden des Geschädigten nicht herabsetzen, so ist nicht einzusehen, aus welchem<br />

Grunde etwas anderes gelten sollte, wenn dieser gleiche Geschädigte einen Dritten mit der Besorgung<br />

seiner Angelegenheiten beauftragt hat, dem nun seinerseits ein leichtes vertragliches Verschulden<br />

zur Last fällt. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb der Versicherer nicht letzten Endes für den<br />

Schaden aufkommen soll, den er decken müsste, wenn der Versicherte selbst die Nachlässigkeit begangen<br />

hätte, deren sich sein Vertragsgegner bei der Ausführung seiner vertraglichen Obliegenheiten<br />

schuldig gemacht hat. Da das Verschulden seines Angestellten, für das G. einzustehen hat, nur ein<br />

leichtes ist, hat somit die Versicherungsgesellschaft gegen ihn kein Rückgriffsrecht. (1. Ziv. abt., 5.<br />

Oktober 1954, La Neuchâteloise c. Gini et Durlemann.)<br />

BGE 137 <strong>II</strong>I 352<br />

Zusammenfassung<br />

Anfangs Dezember 2001 besuchte B. ein Café in Zürich, stolperte an der Garderobe und fiel eine Kellertreppe<br />

hinunter, wobei er sich an den Beinen schwer verletzte. Seine Krankenversicherung (KV) -<br />

Grund- und Zusatzversicherung - erbrachte Leistungen von rund CHF 30‘000.--, bzw. 94‘000.--. Indessen<br />

die KV ihre Regressforderung von CHF 30‘000.—aus der Grundversicherung gegen den Miteigentümer<br />

A. der Liegenschaft, die das Café beherbergte, gestützt auf die Werkeigentümerhaftung (Art.<br />

58 <strong>OR</strong>; ohne zusätzliches Verschulden des Werkeigentümers) im Verlaufe des Verfahrens durchsetzen<br />

konnte, blieb die Regressforderung aus der Zusatzversicherung gemäss VVG umstritten. Die Vorinstanz<br />

hiess die Klage gut und liess den Regress des Versicherers gestützt auf Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> und<br />

Art. 72 VVG auf den ohne Verschulden, einzig kausal haftenden Werkeigentümer entgegen der Bundesgerichtspraxis<br />

zu. A. führt Beschwerde vor Bundesgericht, das eingangs in Sachen geltend gemachtem<br />

Verjährungseintritt ausführt: Wenn ein Forderungsübergang durch Subrogation stattfindet,<br />

hat dies auf den Beginn und den Lauf der Verjährungsfrist keinen Einfluss, da der Anspruch des Geschädigten<br />

so auf die Versicherung übergeht, wie er dem Geschädigten gegenüber dem Schädiger<br />

zugestanden hätte. In casu fehlt es an tatsächlichen Feststellungen, aus denen geschlossen werden<br />

könnte, der Geschädigte habe vor 6. März 2006 Kenntnis des Schadens im Sinne von Art. 60 gehabt.<br />

Es bleibt daher beim seitens der Vorinstanz festgestellten frühesten Beginn der Verjährungsfrist vom<br />

7. März 2006, die durch das Vermittlungsbegehren vom 27. März 2007 unterbrochen worden ist. Unbestritten<br />

unterbricht die Stellung eines Vermittlungsbegehrens nach dem Prozessrecht des Kantons<br />

Graubünden die Verjährungsfrist im Sinne von Art. 135 Ziff. 2 <strong>OR</strong>. Ist die Gläubigerbezeichnung unrichtig<br />

(nicht die eigentliche Gläubigerin, nämlich die KV Holding oder deren Töchter, sondern der mit<br />

dieser in einem Gemeinschaftsverhältnis stehende Verein stellte das Vermittlungsbegehren), kann<br />

indessen der Schuldner zweifelsfrei erkennen, welche Forderung gegen ihn geltend gemacht wird,<br />

wird damit die Verjährung unterbrochen. Daran ändert sich nichts, wenn der Verein anschliessend<br />

den Leitschein verfallen liess und die Holding, handelnd durch die Töchter innert der Verjährungsfrist<br />

ein neues Vermittlungsbegehren stellte (E. 3). Nach Lehre und Rechtsprechung ist der Versicherer, der<br />

221


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

den Ersatz des Schadens aus Vertrag übernommen hat, ein aus Vertrag Haft- bzw. Ersatzpflichtiger im<br />

Sinne von Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> und steht somit auf der zweiten Stufe der Regressordnung. Er kann gegenüber<br />

demjenigen, der für den Schaden ohne Verschulden aufgrund einer Gesetzesnorm kausal<br />

haftet, keinen Rückgriff nehmen. Trotz namhafter Kritik in der Lehre rechtfertigt sich heute eine Praxisänderung<br />

unter den heutigen Umständen nicht, nachdem über Jahrzehnte dem Willen des historischen<br />

Gesetzgebers nachgelebt worden ist und sich die Versicherungspraxis darauf eingestellt hat.<br />

Zudem ist die Frage heute Gegenstand einer umfassenden Gesetzesrevision. Auch aus dem Umstand,<br />

dass dem Arbeitgeber mit BGE 126 <strong>II</strong>I 521 ff. für seine Lohnfortzahlung ein Regressrecht eingeräumt<br />

worden ist, lässt sich nichts für die KVG-Zusatzversicherung ableiten und die von der Vorinstanz vorgeschlagene<br />

Praxisänderung ist abzulehnen (E. 4).<br />

52. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen X. Versicherung AG und X.<br />

Kranken-Versicherung AG (Beschwerde in Zivilsachen)<br />

4A_576/2010 vom 7. Juni 2011<br />

Regeste<br />

Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> und Art. 72 VVG; Regressrecht des Schadensversicherers gegenüber einem kausal<br />

Haftpflichtigen.<br />

Der Versicherer, der den Ersatz des Schadens aus Vertrag übernommen hat, ist ein aus Vertrag Haft-<br />

bzw. Ersatzpflichtiger und kann gegenüber demjenigen, der für den Schaden ohne Verschulden aufgrund<br />

einer Gesetzesvorschrift (kausal) haftet, keinen Rückgriff nehmen bzw. muss sich selber einem<br />

allfälligen Rückgriff durch den kausal Haftenden, der Entschädigung geleistet hat, stellen. Ablehnung<br />

einer Praxisänderung im heutigen Zeitpunkt (E. 4).<br />

Aus den Erwägungen:<br />

4. Was die strittigen VVG-Ansprüche anbelangt, herrscht Einigkeit darüber, dass die Schadensdeckung<br />

seitens der Beschwerdegegnerin 1 gegenüber dem Geschädigten aufgrund einer (freiwilligen)<br />

Zusatzversicherung zur obligatorischen Krankenversicherung erfolgte, die eine dem VVG (SR<br />

221.229.1) unterstellte Schadenversicherung ist, und dass das Bestehen eines Regressanspruchs der<br />

Beschwerdegegnerin 1 (Schadensversicherer) gegenüber dem Beschwerdeführer (Werkeigentümer)<br />

durch die Art. 72 VVG und Art. 51 <strong>OR</strong> bestimmt wird (vgl. dazu ROLAND BREHM, Berner Kommentar,<br />

3. Aufl. 2006, N. 68 zu Art. 51 <strong>OR</strong>). Ebenso wenig wird vorliegend in Frage gestellt, dass von der Regressordnung<br />

nach Art. 51 <strong>OR</strong> wegen ihrer zwingenden Natur nicht abgewichen werden kann, weshalb<br />

jede Abtretung von Ansprüchen des Geschädigten an einen Haftpflichtigen unwirksam ist (BGE<br />

132 <strong>II</strong>I 321 E. 2.3.2.2 S. 327, BGE 132 <strong>II</strong>I 626 E. 5.1 S. 639; BGE 115 <strong>II</strong> 24 E. 2b S. 27). Strittig ist aber,<br />

ob der Beschwerdegegnerin 1 hinsichtlich der VVG-Ansprüche gestützt auf Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> und Art.<br />

72 VVG ein Regressrecht gegen den als Werkeigentümer, d.h. kausal haftenden Beschwerdeführer<br />

zusteht.<br />

4.1 Nach der Regressordnung von Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> hat im Innenverhältnis von mehreren Ersatzpflichtigen<br />

in der Regel derjenige in erster Linie den Schaden zu tragen, der ihn durch unerlaubte<br />

Handlung verschuldet hat, und in letzter Linie derjenige, der ohne eigene Schuld und ohne vertragliche<br />

Verpflichtung nach Gesetzesvorschrift (kausal) haftet. Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung<br />

ist der Versicherer, der den Ersatz des Schadens aus Vertrag übernommen hat, ein aus Vertrag<br />

Haft- bzw. Ersatzpflichtiger im Sinne von Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> und steht somit auf der zweiten Stufe der<br />

Regressordnung. Er kann somit gegenüber demjenigen, der für den Schaden ohne Verschulden aufgrund<br />

einer Gesetzesvorschrift (kausal) haftet, keinen Rückgriff nehmen bzw. muss sich selber einem<br />

allfälligen Rückgriff durch den kausal Haftenden, der Entschädigung geleistet hat, stellen (BGE 120 <strong>II</strong><br />

191 E. 4c; BGE 107 <strong>II</strong> 489 E. 5a S. 495; BGE 80 <strong>II</strong> 247 E. 5 S. 254 ff.; vgl. auch BGE 118 <strong>II</strong> 502 E. 2b S.<br />

505 und E. 3; BGE 114 <strong>II</strong> 342 E. 3; BREHM, a.a.O., N. 60 f., 82b ff. zu Art. 51 <strong>OR</strong>; CHRISTOPH GRABER,<br />

in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag, 2001, N. 7/9 zu Art. 72 VVG;<br />

222


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

ANTON K. SCHNYDER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2007, N. 22 zu Art. 51<br />

<strong>OR</strong>; FRANZ WERRO, in: Commentaire romand, Code des obligations, Bd. I, 2003, N. 15 ff. zu Art. 51<br />

<strong>OR</strong>; STEPHAN MAZAN, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 2007, N. 24 f. zu Art. 51 <strong>OR</strong>;<br />

M<strong>OR</strong>ITZ W. KUHN, Privatversicherungsrecht, 3. Aufl. 2010, S. 312 ff.; PIERRE ENGEL, Traité des obligations<br />

en droit suisse, 2. Aufl. 1997, S. 569 f.; INGEB<strong>OR</strong>G SCHWENZER, Schweizerisches Obligationenrecht,<br />

Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2009, Rz. 88. 33; HEINZ REY, Ausservertragliches <strong>Haftpflichtrecht</strong>,<br />

4. Aufl. 2008, Rz. 1574; VITO ROBERTO, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, 2002, S. 158; YAEL STRUB,<br />

Der Regress des Schadensversicherers de lege lata - de lege ferenda, 2011, S. 67 f., 77).<br />

Der Rückgriff des Versicherers wird zudem spezialgesetzlich in der bereits in einem früheren Zeitpunkt<br />

erlassenen Bestimmung von Art. 72 VVG geregelt. Danach geht der Ersatzanspruch, der dem<br />

Anspruchsberechtigten gegenüber Dritten aus unerlaubter Handlung zusteht, insoweit auf den Versicherer<br />

über, als er Entschädigung geleistet hat. Nach der Rechtsprechung und herrschenden Lehre<br />

steht diese Bestimmung selbständig neben Art. 51 <strong>OR</strong> und ist kumulativ zu dieser anwendbar, wobei<br />

es allerdings, um sie mit dem später erlassenen Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> in Einklang zu bringen, nötig ist, die<br />

Worte "unerlaubte Handlung" in Art. 72 Abs. 1 VVG mit "schuldhaft" zu ergänzen. Dies führt dazu,<br />

dass der Versicherer gestützt auf diese Bestimmung nur auf einen ausservertraglich Haftpflichtigen<br />

Regress nehmen kann, den ein Verschulden trifft, nicht aber auf einen allein aus gesetzlicher Vorschrift,<br />

d.h. kausal Haftpflichtigen (vgl. dazu die vorstehend zitierte Rechtsprechung und Literatur).<br />

Die dargestellte herrschende Lehre und Rechtsprechung berücksichtigt insbesondere, dass Art. 51 <strong>OR</strong><br />

vom historischen Gesetzgeber gerade im Hinblick auf Versicherungsgesellschaften ins Gesetz aufgenommen<br />

wurde; es erschien diesem unbillig, dass die Versicherungen Schäden auf Ersatzpflichtige<br />

abwälzen können, die bloss aufgrund einer Gesetzesvorschrift und ohne eigenes Verschulden haften,<br />

während sie selbst die Schadensmöglichkeiten in ihre Prämien einkalkulieren und sich auf diese Weise<br />

bis zu einem gewissen Grade zum Voraus für künftige Schäden bezahlt machen können; der Gesetzgeber<br />

wollte daher den Versicherer den Schaden vor dem kausal, ohne Verschulden Haftenden<br />

tragen lassen (vgl. dazu BGE 80 <strong>II</strong> 247 E. 5 S. 255; 63 <strong>II</strong> 143 E. 7 S. 155; 47 <strong>II</strong> 408 E. 4 S. 415 f.; 45 <strong>II</strong> 638<br />

E. 4; BREHM, a.a.O., N. 82d zu Art. 51 <strong>OR</strong>; GRABER, a.a.O., N. 6 zu Art. 72 VVG; HONSELL, Schweizerisches<br />

<strong>Haftpflichtrecht</strong>, 4. Aufl. 2005, § 11 Rz. 42). Dass den Beschwerdeführer vorliegend ein Verschulden<br />

am Unfall des Geschädigten treffe und er daher ausser als Werkeigentümer auch als Verschuldenshaftpflichtiger<br />

herangezogen werden könnte, ist den vorinstanzlichen Feststellungen nicht<br />

zu entnehmen (vgl. dazu BGE 107 <strong>II</strong> 489 E. 5b S. 496; 77 <strong>II</strong> 243 E. 2 S. 248). Ebenso wenig sind besondere<br />

Umstände festgestellt, die ein Abweichen von der bloss "in der Regel" geltenden Regressordnung<br />

nach Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> rechtfertigen könnten (vgl. dazu BGE 76 <strong>II</strong> 387 E. 4 S. 392 f.; 47 <strong>II</strong> 408 E.<br />

4; 45 <strong>II</strong> 638 E. 4 S. 649; BREHM, a.a.O., N. 80 ff., 84 zu Art. 51 <strong>OR</strong>; STRUB, a.a.O., S. 82). Nach der<br />

Rechtsprechung und herrschenden Lehre kommt daher der Beschwerdegegnerin 1 gegenüber dem<br />

Beschwerdegegner kein Regressanspruch zu.<br />

4.2 Gegen die herrschende Auffassung ist allerdings in der Literatur Kritik erwachsen, die sich auf<br />

beachtliche Argumente zu stützen vermag. So führte ANDREAS VON TUHR bereits im Jahre 1922 aus,<br />

es sei Zweck der Versicherung, dem Versicherten einen Schaden zu ersetzen, und zwar auch dann,<br />

wenn ihm für diesen Schaden ein Dritter nach gesetzlicher Vorschrift hafte. Denn dem Versicherten<br />

solle die Mühe und das Risiko eines Prozesses gegen den Dritten erspart bleiben. Dagegen habe die<br />

Versicherung nicht den Zweck, den Dritten von der Haftung zu entlasten, die ihm das Gesetz auferlege;<br />

es sei nicht einzusehen, weshalb eine vom Gesetz als angemessen erachtete Haftung durch den<br />

Umstand ausgeschlossen sein solle, dass der Geschädigte einen Versicherungsvertrag abgeschlossen<br />

und Prämien bezahlt habe. Eine solche Entlastung des nur durch Gesetzesvorschrift Haftenden könnte<br />

diesen überdies dazu verleiten, Massregeln zu unterlassen, durch die eine Schädigung des Versicherten<br />

vermieden werden könnten (ANDREAS VON TUHR, Rückgriff des Versicherers nach Art. 51<br />

<strong>OR</strong> und Art. 72 VVG, SJZ 1922 S. 233 ff., 235).<br />

Dieser Kritik ist das Bundesgericht in einem einzelnen, vor längerer Zeit ergangen Urteil offenbar<br />

gefolgt, indem es ausführte, es sei nicht einzusehen, wieso ein Dritter, nach Gesetz Haftender davon<br />

profitieren dürfen sollte, dass der Geschädigte oder sein Arbeitgeber Versicherungsprämien bezahlt<br />

habe (BGE 63 <strong>II</strong> 143 E. 7 S. 156; dazu STRUB, a.a.O., S. 81 f.). Daran wurde aber in späteren Entschei-<br />

223


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

den unter Nachachtung des historisch-gesetzgeberischen Willens nicht festgehalten (vgl. BGE 76 <strong>II</strong><br />

387 E. 2 S. 390 f.; 77 <strong>II</strong> 243 E. 2 S. 247 f.; 80 <strong>II</strong> 247 E. 5 S. 255; 103 <strong>II</strong> 330 E. 4b/dd S. 337). Der vorstehend<br />

dargestellten Kritik VON TUHRS an der herrschenden Auffassung bzw. an der de lege lata bestehenden<br />

Rechtslage haben sich im Laufe der Zeit verschiedene Autoren angeschlossen. Es wird von<br />

ihnen namentlich als eine Fehlentscheidung des Gesetzgebers bezeichnet, dem Versicherer durch die<br />

Einreihung in die zweite Stufe der Regressordnung nach Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> den Rückgriff auf kausal<br />

Haftpflichtige zu nehmen. Der Versicherer werde zu Unrecht als Haftpflichtiger im Sinne von Art. 50 f.<br />

<strong>OR</strong> behandelt, obwohl er den Schaden in Erfüllung seiner primären Leistungspflicht aus dem Versicherungsvertrag<br />

decke und nicht (sekundären) Schadenersatz aus Nicht- oder Schlechterfüllung des<br />

Vertrages leiste. Dem Versicherer den Rückgriff auf Kausalhaftpflichtige zu verwehren, führe auch zu<br />

einer falschen Kostenverteilung, weil die Zahlung von Schäden die vertragliche Gegenleistung zum<br />

Einkassieren von Prämien sei, die nicht bezahlt würden, um Kausalhaftpflichtige zu entlasten, und<br />

die, da aufgrund von Statistiken berechnet, reduziert werden könnten, wenn dem Versicherer der<br />

Rückgriff auf kausal Haftpflichtige erlaubt würde. Ein Abweichen von der bestehenden Praxis bzw.<br />

eine Änderung de lege ferenda sei auch geboten, weil sich die Verhältnisse mit der Einführung zahlreicher<br />

Kausal- und Gefährdungshaftungstatbestände stark geändert hätten; die bestehende Praxis<br />

bzw. Rechtslage sei nicht mehr zeitgemäss und führe auch zu unverständlichen Unterschieden zur<br />

Regelung im Sozialversicherungsrecht, wo den Versicherern vom Gesetz (Art. 72 Abs. 1 ATSG [SR<br />

830.1]) ein integrales Regressrecht zuerkannt werde (vgl. OFTINGER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>,<br />

Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl. 1995, § 11 Rz. 31 ff., 65 ff.; HONSELL, a.a.O., § 11 Rz. 40 f.;<br />

derselbe, Der Regress des Versicherers im schweizerischen Recht, in: Mélanges en l'honneur du Professeur<br />

Bruno Schmidlin, 1998, S. 279 ff.; ALFRED KOLLER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner<br />

Teil, 3. Aufl. 2009, § 75 Rz. 186/191; HÜRZELER/TAMM/BIAGGI, Personenschadensrecht,<br />

2010, S. 262 f.; ALEXANDER MÜLLER, Besonderheiten beim Regress des Privatversicherers, in: Personen-Schaden-Forum<br />

2010, [nachfolgend: Besonderheiten] S. 49 ff.; ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Zusammenspiel<br />

zwischen Haftpflicht und beruflicher Vorsorge, in: Festschrift für Heinz Hausheer, 2002,<br />

S. 611 ff., 620 f.; vgl. auch die Wiedergabe der Kritik in BGE 132 <strong>II</strong>I 321 E. 2.3.2.3 S. 328 mit weiteren<br />

Literaturhinweisen sowie die Kritik an der bestehenden Rechtslage und die Anregung einer Gesetzesänderung<br />

bei STRUB, a.a.O., S. 77 ff., 81 ff., 86 f.; ferner: BREHM, a.a.O., N. 121 ff. zu Art. 51 <strong>OR</strong>). Die<br />

geltende Praxis betone das Verschuldensprinzip zu stark und berücksichtige nicht, dass sich eine Heranziehung<br />

des kausal Haftenden zur Schadensdeckung rechtfertige, weil er von einer Tätigkeit, einem<br />

Werk oder dem Betrieb einer Anlage profitiere (STRUB, a.a.O., S. 89 f.). Überdies führe die geltende,<br />

für die Versicherer ungünstige Regressordnung zu Präventivmassnahmen derselben in Form von Deckungsausschluss-<br />

und Subsidiaritätsklauseln in den AVB (ALEXANDER MÜLLER, Regress im Schadensausgleichsrecht<br />

unter besonderer Berücksichtigung des Privatversicherers, 2006 [nachfolgend: Regress],<br />

S. 99 f.; derselbe, Besonderheiten a.a.O., S. 50 f.; STRUB, a.a.O., S. 79).<br />

4.3 Die dargestellte Kritik fand bei jüngeren Gesetzgebungsarbeiten Berücksichtigung.<br />

So wurde im Rahmen der einst geplanten, vom Bundesrat aber aufgegebenen (vgl. die Medienmitteilung<br />

des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements vom 21. Januar 2009 in:<br />

http://www.bj.admin.ch/bj/de/home/themen/wirtschaft/rechtsetzung/abgeschlossene_rechtsetzun<br />

gsprojekte/haftpflicht.html) Gesamtrevision und Vereinheitlichung des <strong>Haftpflichtrecht</strong>s ein integrales<br />

Regressrecht des Versicherers ins Auge gefasst, das diesem einen Rückgriff auf einen Dritten unabhängig<br />

davon erlauben sollte, auf welcher Grundlage dieser ersatzpflichtig ist (vgl. dazu WERRO,<br />

a.a.O., N. 25 zu Art. 51 <strong>OR</strong>). Diese unbeschränkte Subrogation wurde allerdings wieder relativiert,<br />

indem das Rückgriffsrecht bzw. dessen Umfang von der Würdigung "aller Umstände" abhängig gemacht<br />

und damit dem richterlichen Ermessen unterstellt wurde (HAUSHEER/JAUN, Regress, ZBJV<br />

2000 S. 927 ff., 929; STRUB, a.a.O., S. 94 f.; RUMO-JUNGO, a.a.O., S. 624 f.).<br />

Ein integrales Regressrecht des Versicherers wird auch in der laufenden Revision des VVG vorgeschlagen.<br />

So sehen sowohl der Art. 63 Abs. 2 VE-VVG vom 31. Juli 2006 der Expertenkommission<br />

Totalrevision VVG als auch der Art. 76 Abs. 2 VE-VVG vom 21. Januar 2009 des Eidg. Finanzdepartements<br />

(EFD; Vernehmlassungsvorlage) ohne weitere Einschränkung vor, dass der Schadenversicherer<br />

für die von ihm gedeckten gleichartigen Schadensposten im Umfang und zum Zeitpunkt seiner Leis-<br />

224


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

tung in die Rechte der versicherten Person eintritt. Im Erläuternden Bericht der Expertenkommission<br />

zum Vorentwurf vom 31. Juli 2006 (S. 60) und im Erläuternden Bericht des EFD vom 24. Februar 2009<br />

zur Vernehmlassungsvorlage (S. 69 f.) wird dazu u.a. Folgendes ausgeführt:<br />

"Der Geschädigte wird in aller Regel darauf verzichten, den beschwerlichen Weg der Anspruchsdurchsetzung<br />

gegenüber einem Ersatzpflichtigen zu beschreiten, wenn er seinen Anspruch auch gegenüber<br />

einem Versicherungsunternehmen geltend machen kann. Artikel 76 Absatz 2 E-VVG übernimmt<br />

deshalb den Grundgedanken von Artikel 72 Absatz 1 VVG und führt diesen den praktischen<br />

Bedürfnissen entsprechend weiter, indem er im Rahmen der vom leistenden Versicherungsunternehmen<br />

gedeckten gleichartigen Kategorien von Schadensposten den Eintritt (Subrogation) in die<br />

Rechte des Versicherten statuiert. Damit soll im Gegensatz zum geltenden Recht (Art. 72 Abs. 1 VVG:<br />

Rückgriff grundsätzlich nur auf den aus unerlaubter Handlung [Verschulden] Haftpflichtigen) das Versicherungsunternehmen<br />

gegen sämtliche Ersatzpflichtige vorgehen können - unabhängig davon, ob<br />

diese aus unerlaubter Handlung, Vertragsverletzung oder aus einer Kausalhaftung zum Ersatz verpflichtet<br />

sind. Ähnlich wie dem Sozialversicherer (Art. 72 Abs. 1 ATSG) soll auch dem privaten Schadensversicherungsunternehmen<br />

ein umfassendes (integrales) Regressrecht gegen sämtliche Haftpflichtige<br />

eingeräumt werden. Es gibt keine Gründe, weshalb gewisse Haftungskategorien vom Regress<br />

ausgeschlossen werden sollten, vielmehr führt die Belastung der Risikogemeinschaft des Schadensverursachers<br />

auch zu einer sinnvollen Kostenverteilung. Zudem wird mit einer Ausweitung des<br />

Regressrechts die Regressabwicklung wesentlich vereinfacht. Artikel 76 Absatz 2 E-VVG geht den<br />

allgemeinen Bestimmungen von Artikel 50 f. <strong>OR</strong> vor und lässt, im Gegensatz zum dispositiven Artikel<br />

72 Absatz 1 VVG, aufgrund seiner zwingenden Ausgestaltung keinen Raum für Abreden, die den Versicherungsnehmer<br />

benachteiligen könnten (so ist beispielsweise die Zession zukünftiger Haftpflichtansprüche<br />

an das Versicherungsunternehmen nicht mehr zulässig)."<br />

Der vorgeschlagenen Regelung ist im Vernehmlassungsverfahren keine Opposition erwachsen (vgl.<br />

Bericht des EFD vom Oktober 2009 über die Vernehmlassungsergebnisse zur Revision des VVG, S.<br />

42).<br />

4.4 In einem vor einigen Jahren ergangenen Urteil (BGE 126 <strong>II</strong>I 521 E. 2b S. 522 f.) hatte das Bundesgericht<br />

darüber zu entscheiden, ob dem Arbeitgeber für die Lohnfortzahlungen an einen verunfallten<br />

Arbeitnehmer ein Regressrecht gegen den Unfallverursacher zustehe. Es bejahte dies, wobei es sich<br />

auf eine Argumentation stützte, die sich teilweise derjenigen annähert, welche zur Begründung der<br />

Kritik an der Praxis zum Regressrecht der Schadenversicherer angeführt wird (vgl. E. 4.2 vorne). Das<br />

Bundesgericht nahm mangels gesetzlicher Regelung bezüglich des Regressanspruchs des Arbeitgebers<br />

eine Gesetzeslücke an, die in analoger Anwendung von Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> zu schliessen sei. Eine<br />

unmittelbare Anwendung dieser Bestimmung falle, wie das Bundesgericht ausführte, ausser Betracht,<br />

da der Arbeitgeber nicht zum Kreis der gemäss Art. 51 <strong>OR</strong> Haftpflichtigen zähle, sondern mit<br />

der Lohnzahlung unabhängig vom schädigenden Ereignis seine gesetzliche oder vertragliche Leistungspflicht<br />

erfülle. Da der Arbeitgeber seinen Vertrag erfülle und nicht aus Schlechterfüllung für den<br />

entstandenen Schaden hafte, könne die in Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> vorgesehene Abstufung nach der Haftung<br />

aus unerlaubter Handlung, Vertrag oder Gesetz nicht auf die Lohnfortzahlung des Arbeitgebers<br />

übertragen werden. Der Regress stehe dem Arbeitgeber auch gegenüber einem kausal Haftenden zu,<br />

da sich die Lohnfortzahlungspflicht nicht zu dessen Gunsten auswirken solle. Der Arbeitgeber sei<br />

diesbezüglich den subrogierenden Sozial- und Schadensversicherern gleichzustellen, auch wenn diese<br />

ihre Rechtsstellung bereits im Unfallzeitpunkt erlangt hätten.<br />

In der Lehre wird dieses Urteil teilweise als Anzeichen eines "Gesinnungswandels" des Bundesgerichts<br />

verstanden, der "Hoffnungen" auf eine Praxisänderung im Sinne der Einräumung eines integralen<br />

Regresses zu Gunsten des Schadensversicherers aufkommen lasse; indem das Bundesgericht für<br />

die Auslegung auf die Subrogation des Sozial- und Schadensversicherers zurückgreife und diese Versicherer<br />

gleich behandle, gestehe es Letzterem implizit ein Regressrecht ein (so MÜLLER, Besonderheiten,<br />

a.a.O., S. 54; derselbe, Regress, a.a.O., S. 97 f.). Andere Autoren bezweifeln zwar, ob allein der<br />

Umstand, dass die Situation des Arbeitgebers vom Bundesgericht auch mit der des Schadensversicherers<br />

verglichen wird, für eine Praxisänderung spreche, und vermuten, es könnte sich dabei um ein<br />

redaktionelles Versehen handeln (HAUSHEER/JAUN, a.a.O., S. 929; so sinngemäss auch WOLFGANG<br />

225


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

P<strong>OR</strong>TMANN, Die Ersatzpflicht des Schädigers eines Arbeitnehmers für Lohnfortzahlungen und Nebenleistungen<br />

des Arbeitnehmers, ARV 2001 S. 110 ff., 113; vgl. auch KOLLER, a.a.O., § 75 Rz. 190). Es<br />

wird aber von ihnen, wie auch von weiteren Autoren, betont, dass die Argumentation des Bundesgerichts<br />

für den integralen Regress des Arbeitgebers, um Widersprüche zu vermeiden, auch bei der<br />

Beurteilung der Frage, ob dem Schadensversicherer ein integraler Regress einzuräumen sei, Geltung<br />

beanspruchen können müsse (ROLAND SCHAER, Modernes Versicherungsrecht, 2007, § 22 Rz. 7 ff.,<br />

85 ff.; HAUSHEER/JAUN, a.a.O., S. 929; RUMO-JUNGO, a.a.O., S. 621; STRUB, a.a.O., S. 91 f.).<br />

4.5 Die Vorinstanz berücksichtigte bei ihrem Entscheid, der Beschwerdegegnerin 1 ein Regressrecht<br />

auf den Beschwerdeführer zuzugestehen, im Wesentlichen die vorstehend erwähnte Kritik in der<br />

Lehre am Ausschluss eines Rückgriffsrechts des Schadensversicherers auf Kausalhaftpflichtige (E. 4.2<br />

vorne), die Gesetzgebungsarbeiten zur Revision des VVG (E. 4.3 vorne) und die Ausführungen des<br />

Bundesgerichts in BGE 126 <strong>II</strong>I 521 (E. 4.4 vorne) und in BGE 63 <strong>II</strong> 521 E. 7 (E. 4.2 vorne). Sie kam in<br />

ihren sorgfältig begründeten Erwägungen zum Schluss, die allgemeinen Rechtsanschauungen und die<br />

Rahmenbedingungen hätten sich seit Erlass der Bestimmung von Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> wesentlich geändert,<br />

indem sich ein fein abgestimmtes und ausgewogenes System von Privat- und Sozialversicherungen<br />

entwickelt habe und das Verschuldensprinzip durch die Einführung von immer mehr Kausalhaftungstatbeständen<br />

infolge der technischen Entwicklung in den Hintergrund getreten sei. Dementsprechend<br />

sei der Wille des historischen Gesetzgebers zu relativieren und eine von der herrschenden<br />

Lehre und Rechtsprechung abweichende Auslegung von Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> und Art. 72 VVG angebracht,<br />

der auch der Wortlaut und die systematische Stellung der Bestimmungen im Gesetz nicht<br />

entgegenstünden.<br />

4.6 Eine Änderung der Praxis lässt sich regelmässig nur begründen, wenn die neue Lösung besserer<br />

Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelter Rechtsanschauung<br />

entspricht; andernfalls ist die bisherige Praxis beizubehalten. Eine Praxisänderung muss sich deshalb<br />

auf ernsthafte sachliche Gründe stützen können, die - vor allem im Interesse der Rechtssicherheit -<br />

umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erachtete Rechtsanwendung<br />

gehandhabt worden ist (BGE 136 V 313 E. 5.3.1; BGE 136 <strong>II</strong>I 6 E. 3 mit Hinweisen).<br />

Unter den im heutigen Zeitpunkt gegebenen Umständen rechtfertigt sich vorliegend keine Praxisänderung.<br />

Dass dem Schadensversicherer kein Rückgriffsrecht gegen Kausalhaftpflichtige zusteht, entspricht<br />

der wohl nach wie vor herrschenden Lehre und der jahrzehntealten konstanten Praxis des<br />

Bundesgerichts. Das Bundesgericht ist von dieser trotz der bereits seit dem Jahre 1922 geübten Kritik,<br />

die im Laufe der Jahre auch dogmatisch weiter untermauert wurde, nur in einem isolierten, vor<br />

langer Zeit beurteilten Fall (BGE 63 <strong>II</strong> 143 E. 7; vorstehende E. 4.2) abgewichen. Unter diesen Umständen<br />

ist davon auszugehen, dass sich die Versicherungspraxis auf die entsprechende Rechtslage<br />

eingestellt hat, so dass eine Änderung der Rechtsprechung im heutigen Zeitpunkt aus Rechtssicherheitsgründen<br />

besonders gewichtige Gründe voraussetzt (vgl. dazu BREHM, a.a.O., N. 80c zu Art. 51<br />

<strong>OR</strong>).<br />

Mit der konstanten Rechtsprechung wird dem eindeutigen Willen des historischen Gesetzgebers<br />

nachgelebt, dass der Versicherer, der sich durch die Prämien für mögliche Schadensfälle bezahlt<br />

macht, den Schaden in der Regel vor einem ohne sein Verschulden Haftenden tragen soll. Auch wenn<br />

dieser klare gesetzgeberische Entscheid zu einer diskussionswürdigen Kostenverteilung für Schadensereignisse<br />

führen mag, ist es nicht ohne weiteres Sache der Rechtsprechung, diesen zu ändern, auch<br />

wenn seither einige Zeit verflossen ist. Dies umso weniger, wenn sich - wie im vorliegenden Fall - der<br />

Gesetzgeber selber im Rahmen einer umfassenden Gesetzesrevision der Frage angenommen hat. In<br />

diesem Fall rechtfertigt es sich nicht, der Revision vorzugreifen, auch wenn diese im fraglichen Punkt<br />

in die von der Vorinstanz eingeschlagene Richtung geht und sich vorliegend das Bestehen von geänderten<br />

Auffassungen und Verhältnissen im Gesetzgebungsverfahren erhärtet zu haben scheint (vgl.<br />

E. 4.3 vorne in fine). Vielmehr ist das Inkrafttreten der Revision abzuwarten, in deren Rahmen auch<br />

allenfalls erforderliche Abstimmungen mit anderen Vorschriften vorgenommen werden können.<br />

Die vorgesehene Revision zielt zudem auf eine Änderung des bisherigen Rechts ab, gehen doch auch<br />

die Expertenkommission und das EFD hinsichtlich der heutigen Rechtslage von der bestehenden Pra-<br />

226


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

xis aus (E. 4.3). Unter diesen Umständen kann die Revision weder bei der Auslegung des geltenden<br />

Rechts berücksichtigt werden noch die verlangte Praxisänderung rechtfertigen (vgl. in diesem Sinn<br />

auch BGE 136 <strong>II</strong>I 6 E. 6 in fine).<br />

Eine Praxisänderung lässt sich auch aufgrund des in den Erwägungen von BGE 126 <strong>II</strong>I 521 Ausgeführten<br />

nicht begründen. Zunächst ist es offensichtlich, dass das Bundesgericht mit der blossen Erwähnung<br />

der Schadensversicherer neben den subrogierenden Sozialversicherern nicht von der bestehenden<br />

Praxis zum Regressrecht der Schadensversicherer abweichen wollte; hierzu hätte es einer<br />

eingehenden Begründung bedurft. Nach der - wohl diskutablen, aber von der konstanten Praxis und<br />

herrschenden Lehre beachteten - Logik und Wertung des historischen Gesetzgebers drängt sich sodann<br />

eine Gleichbehandlung des Arbeitgebers, der dem verunfallten<br />

Arbeitnehmer den Lohn fortzahlt, mit dem Schadensversicherer nicht auf. So erbringt der Versicherer<br />

seine Leistung an den Geschädigten aufgrund einer vertraglichen Verpflichtung, für die er eine Gegenleistung<br />

in Form von Versicherungsprämien erhalten hat, während der Arbeitgeber im Krankheitsfall<br />

von Gesetzes wegen zur Lohnfortzahlung verpflichtet ist, ohne dass er dafür die Arbeitsleistung<br />

oder eine andere spezifische Gegenleistung erhält (so auch MÜLLER, Regress, a.a.O., S. 98). Zudem<br />

erbringt der Versicherer seine Leistung im Gegensatz zum Arbeitgeber nicht unabhängig von<br />

einem schädigenden Ereignis. Entsprechend wurde der Entscheid in der Lehre denn auch zu Recht<br />

nicht als klare Ankündigung einer Rechtsprechungsänderung verstanden (E. 4.4 vorne).<br />

4.7 Nach dem Gesagten ist die von der Vorinstanz vorgeschlagene Praxisänderung abzulehnen. Demzufolge<br />

gestand die Vorinstanz der Beschwerdegegnerin 1 zu Unrecht ein Regressrecht gegenüber<br />

dem Beschwerdeführer für die VVG-Ansprüche in der Höhe von Fr. 94'129.10 nebst Zins zu. Insoweit<br />

ist die Beschwerde gutzuheissen und die Klage der Beschwerdegegnerin 1 ist unter teilweiser Aufhebung<br />

des angefochtenen Entscheids abzuweisen.<br />

Bei dieser Sachlage stellt sich die Frage nicht mehr, ob der Beschwerdeführer als Miteigentümer an<br />

der Liegenschaft (...) gegenüber der auf ihn regressierenden Beschwerdegegnerin 1 solidarisch für<br />

den ganzen Schaden bzw. alle Miteigentumsanteile haftbar wäre oder nur für den auf seinen Miteigentumsanteil<br />

entfallenden Teil des Schadens.<br />

227


BGE 134 <strong>II</strong>I 636<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

98. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X.-Versicherung gegen Eidgenössische<br />

Invalidenversicherung (Beschwerde in Zivilsachen)<br />

4A_246/2008 vom 23. September 2008<br />

Regeste<br />

Art. 48 quater Abs. 3 Satz 2 aAHVG; Art. 73 Abs. 3 Satz 2 ATSG; Quotenvorrecht/Befriedigungsvorrecht.<br />

Der Haftpflichtige kann sich gegenüber dem Sozialversicherungsträger, der seinen Regressanspruch<br />

geltend macht, nicht auf das Befriedigungsvorrecht des Geschädigten berufen, wenn er dessen Direktanspruch<br />

die Verjährungseinrede entgegenhält (E. 1).<br />

A.<br />

A.a Die 1990 in Solothurn geborene A. leidet als Folge von Komplikationen bei ihrer Geburt an<br />

schweren zerebralen Schädigungen sowie an einer schweren tetraspastischen Bewegungsstörung.<br />

A.b Am 16. Oktober 1998 erhoben die Eltern von A. beim Amtsgericht von Solothurn-Lebern eine<br />

Teilklage auf Leistung einer Genugtuung gegen Dr. med. W., der Mutter und Kind während der Geburt<br />

betreut hatte.<br />

Das Obergericht des Kantons Solothurn bejahte eine für den Gesundheitsschaden von A. rechtserhebliche<br />

Sorgfaltspflichtverletzung des Arztes und sprach der Mutter mit Urteil vom 12. Dezember<br />

2006 eine Genugtuung von Fr. 50'000.- nebst Zins zu 5 % seit dem 29. Januar 1990 zu; die Klage des<br />

Vaters wies es infolge eingetretener Verjährung ab. Das Bundesgericht wies eine gegen dieses Urteil<br />

erhobene Berufung am 19. Mai 2003 ab.<br />

B.<br />

B.a Die Eidgenössische Invalidenversicherung (Beschwerdegegnerin), die bereits seit 1990 Leistungen<br />

für A. erbracht hatte, reichte in der Folge beim Richteramt Solothurn-Lebern Klage gegen Dr. W. ein.<br />

Die Beschwerdegegnerin beantragte, Dr. W. sei zu verpflichten, ihr unter Vorbehalt einer Mehrforderung<br />

Fr. 2'520'852.- zuzüglich Zins zu 5 %, ausmachend Fr. 392'902.- für die Zeit vom 29. Januar 1990<br />

bis zum 31. Juli 2005 und auf Fr. 2'520'852.- ab dem 1. August 2005 zu bezahlen.<br />

Dr. W. liess seiner Berufshaftpflichtversicherung, der X.-Versicherung (Beschwerdeführerin), den<br />

Streit verkünden. Die Beschwerdeführerin leistete der Streitverkündigung Folge.<br />

Am 27. April 2006 schlossen die Beschwerdegegnerin, Dr. W. und die Beschwerdeführerin eine Prozessvereinbarung<br />

ab. Danach sollte die Beschwerdeführerin anstelle von Dr. W. in den Prozess eintreten<br />

und sie anerkannte im Rahmen der Versicherungssumme von Fr. 3 Mio. sämtliche Anspruchsvoraussetzungen<br />

für die geltend gemachte Regressforderung. Schliesslich sollte das Prozessthema<br />

auf die Frage des Befriedigungsvorrechts der geschädigten Person beschränkt werden, das die Beschwerdeführerin<br />

der Forderung der Beschwerdegegnerin nach wie vor entgegenhielt.<br />

Mit Verfügung vom 8. Mai 2006 stellte der Amtsgerichtspräsident fest, dass die Beschwerdeführerin<br />

anstelle von Dr. W. als Beklagte in den Prozess eintritt, und beschränkte das Prozessthema auf die<br />

Frage des Deckungs- bzw. Befriedigungsvorrechts.<br />

Mit Urteil vom 7. Dezember 2006 hiess das Amtsgericht von Solothurn-Lebern die Klage der Beschwerdegegnerin<br />

gut und verpflichtete die Beschwerdeführerin zur Zahlung von Fr. 2'520'852.-<br />

nebst Zins zu 5 % seit dem 1. August 2005 und Fr. 392'902.- Verzugszins für die Zeit vom 29. Januar<br />

1990 bis 31. Juli 2005.<br />

B.b Auf Berufung der Beschwerdeführerin hin verpflichtete das Obergericht des Kantons Solothurn<br />

die Beschwerdeführerin mit Urteil vom 21. April 2008, der Beschwerdegegnerin den Betrag von Fr.<br />

2'520'852.- nebst Schadenszins von Fr. 43'959.60 zu bezahlen.<br />

228


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

C. Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 21. Mai 2008 beantragt die Beschwerdeführerin dem Bundesgericht,<br />

das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 21. April 2008 sei aufzuheben und<br />

die Klage sei unter Kosten- und Entschädigungsfolge in sämtlichen Instanzen zu Lasten der Beschwerdegegnerin<br />

abzuweisen.<br />

Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten wird.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

1. Die Beschwerdeführerin hat in der Vereinbarung vom 27. April 2006 sämtliche Anspruchsvoraussetzungen<br />

für die von der Beschwerdegegnerin geltend gemachte Regressforderung unwiderruflich<br />

anerkannt. Sie hält der Forderung der Beschwerdegegnerin lediglich das Befriedigungsvorrecht gemäss<br />

Art. 48 quater Abs. 3 Satz 2 AHVG in der am 29. Januar 1990 geltenden Fassung (aAHVG; AS 1978<br />

S. 401) entgegen (siehe nunmehr Art. 73 Abs. 3 Satz 2 ATSG [SR 830.1]) und wirft der Vorinstanz<br />

diesbezüglich eine unzutreffende Rechtsanwendung vor.<br />

1.1 Die Vorinstanz hielt zunächst fest, dass die Beschwerdeführerin anerkenne, dass der haftpflichtige<br />

Arzt grundsätzlich unbeschränkt hafte, weshalb das Verteilungsvorrecht (Art. 48 quater Abs. 1<br />

aAHVG) im zu beurteilenden Fall keine Rolle spiele. Ausgehend von der Feststellung, dass der haftpflichtrechtlich<br />

ausgewiesene Schaden die von der Beschwerdegegnerin erbrachten Leistungen zwar<br />

bei weitem übersteige, jedoch die Direktschadenersatzforderung der Geschädigten gegenüber dem<br />

haftpflichtigen Arzt verjährt sei und dieser bzw. die Beschwerdeführerin als Haftpflichtversicherer<br />

nichts bezahlt hätten, beurteilte die Vorinstanz die Frage, ob sich die Beschwerdeführerin in dieser<br />

Situation auf das Befriedigungsvorrecht (Art. 48 quater Abs. 3 aAHVG) der geschädigten Person berufen<br />

könne.<br />

Die Vorinstanz hielt unter anderem dafür, dass das Befriedigungsvorrecht eine Benachteiligung des<br />

Geschädigten verhindern solle und auf dem Gedanken beruhe, dass der Versicherer seinen Versicherten<br />

unter anderem Schutz gegen Zahlungsunfähigkeit des Haftpflichtigen zu bieten habe. Dieser<br />

Normzweck stehe nicht in Frage, wenn dem Geschädigten lediglich eine nicht gegen den Willen des<br />

Schuldners durchsetzbare, verjährte Forderung zustehe und der Haftpflichtige die Einrede der Verjährung<br />

tatsächlich erhebe. Die Vorinstanz erwog weiter, dass es beim Befriedigungsvorrecht des<br />

Geschädigten um die Reihenfolge unter mehreren Gläubigern gehe, die durchsetzbare Ansprüche auf<br />

dasselbe Haftungssubstrat erheben können. Die Frage der Rangfolge stelle sich jedoch gar nicht,<br />

wenn der Geschädigte keine erzwingbare Forderung mehr erheben könne. Insoweit verhalte es sich<br />

gleich wie bei privilegierten Forderungen im Konkursverfahren, die nicht angemeldet oder abgewiesen<br />

werden, womit die darauf entfallende Konkursdividende den nachfolgenden Gläubigern und<br />

nicht dem Schuldner zugute käme. Im Übrigen würde es zu einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten<br />

Privilegierung des insolventen und ungenügend versicherten Haftpflichtigen führen, wenn sich<br />

der Haftpflichtige und sein Versicherer in der vorliegenden Situation auf das Befriedigungsvorrecht<br />

berufen könnten, da sie diesfalls weder die verjährte Schadenersatzforderung des Geschädigten noch<br />

die Regressforderung der Sozialversicherung erfüllen müssten, wogegen ein solventer und ausreichend<br />

versicherter Haftpflichtiger die Regressforderung allemal zu begleichen hätte. Der Zweck des<br />

Befriedigungsvorrechts sei darin zu sehen, eine Benachteiligung des Geschädigten zu verhindern. Da<br />

die Geschädigte keinerlei Nachteil erleide, wenn die Beschwerdegegnerin ihre Regressforderung<br />

durchsetze, könne sich die Beschwerdeführerin nicht auf das Befriedigungsvorrecht berufen.<br />

1.2 Die Beschwerdeführerin bringt hiergegen vor, es sei von einem Befriedigungsvorrecht (Art.<br />

48 quater Abs. 3 aAHVG) ihrerseits auszugehen, da die bei ihr abgeschlossene Berufshaftpflichtversicherung<br />

lediglich eine Deckungssumme von Fr. 3 Mio. aufweise, während der Gesamtschaden der Geschädigten<br />

weit darüber liege. Soweit ein Geschädigter seinen Direktanspruch gegen den Haftpflichtigen<br />

nicht geltend mache bzw. aufgrund der erhobenen Verjährungseinrede nicht mehr geltend<br />

machen könne, werde die haftpflichtige Person begünstigt, da die mit einem Geschädigten konkurrierende<br />

Sozialversicherung von Anfang an nur in die ihr selbst zustehende Quote subrogieren könne.<br />

Aufgrund des klaren Gesetzeswortlauts, so die Beschwerdeführerin weiter, müsse sich die Sozialver-<br />

229


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

sicherung die Direktansprüche selbst dann abziehen lassen, wenn gar keine solchen gestellt worden<br />

seien.<br />

1.3<br />

1.3.1 Das Quotenvorrecht bedeutet, dass die Versicherung nicht zum Nachteil des Geschädigten Regress<br />

nehmen darf. Ersetzt sie nur einen Teil des Schadens, so kann der Geschädigte den nicht gedeckten<br />

Teil vom Haftpflichtigen einfordern, und der Versicherung steht ein Regressanspruch nur im<br />

Rahmen des danach noch verbleibenden Haftungsanspruchs zu (BGE 120 <strong>II</strong> 58 E. 3c S. 62; BGE 117 <strong>II</strong><br />

609 E. 11c S. 627, je mit Hinweisen). Das Privileg des Quotenvorrechts soll die geschädigte Person vor<br />

ungedecktem Schaden bewahren, jedoch nicht zu ihrer Bereicherung führen (BGE 131 <strong>II</strong>I 12 E. 7.1 S.<br />

16).<br />

Das in Art. 48 quater aAHVG vorgesehene Quotenvorrecht des Geschädigten (siehe nunmehr Art. 73<br />

ATSG) kann als Verteilungsvorrecht (Abs. 1) oder als Befriedigungs- bzw. Deckungsvorrecht (Abs. 3<br />

Satz 2) zum Tragen kommen (zur Unterscheidung ROLAND SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens<br />

von Schadenausgleichsystemen, Basel/Frankfurt a.M. 1984, Rz. 942). Während das Verteilungsvorrecht<br />

dann zum Zug kommt, wenn dem Geschädigten aus rechtlichen Gründen (insbesondere bei<br />

blosser Teilhaftung des Haftpflichtigen wegen Selbstverschuldens) nicht die volle Befriedigung zukommt,<br />

findet das Befriedigungsvorrecht Anwendung, wenn der Haftpflichtige aus tatsächlichen<br />

Gründen (Insolvenz bzw. mangelnde Versicherungsdeckung) nicht in der Lage ist, beide gegen ihn<br />

gerichteten Forderungen zu befriedigen (dazu PETER BECK, Zusammenwirken von Schadenausgleichsystemen,<br />

in: Münch/Geiser [Hrsg.], Schaden - Haftung - Versicherung, Basel 1999, Rz. 6.138 ff.).<br />

Bereits der Umstand, dass dem Quotenvorrecht nur im Rahmen der Leistungskoordination Bedeutung<br />

zukommt, lässt es als fragwürdig erscheinen, ein "fiktives Quotenvorrecht" auch für den Fall<br />

anzuerkennen, dass der Geschädigte seinen Schadenersatzanspruch infolge Verjährung gar nicht<br />

mehr durchsetzen kann. Es ist fraglich, ob in einer solchen Konstellation von einer Konkurrenz des<br />

Direktanspruchs des Geschädigten mit dem Subrogationsanspruch des Versicherers gesprochen werden<br />

kann, weshalb sich womöglich auch die Frage nach der Rangfolge dieser Ansprüche erübrigt. Wie<br />

es sich damit in Bezug auf das Verteilungsvorrecht nach Art. 48 quater Abs. 1 aAHVG (bzw. nunmehr Art.<br />

73 Abs. 1 ATSG) verhält, kann vorliegend offen bleiben, da der haftpflichtige Arzt unbestritten für den<br />

gesamten Schaden aufzukommen hat und ein Quotenvorrecht im Sinne des Verteilungsvorrechts<br />

ausser Betracht steht.<br />

1.3.2 Die Beschwerdeführerin hält dem Regressanspruch der Beschwerdegegnerin einzig das Befriedigungsvorrecht<br />

der Geschädigten (Art. 48 quater Abs. 3 Satz 2 aAHVG) entgegen. Danach sind, falls nur<br />

ein Teil des vom Haftpflichtigen geschuldeten Ersatzes eingebracht werden kann, daraus zuerst die<br />

Ansprüche des Versicherten und seiner Hinterlassenen zu befriedigen.<br />

Die Beschwerdeführerin beruft sich vergeblich auf das Befriedigungsvorrecht. Entgegen der Ansicht<br />

der Beschwerdeführerin wird die Subrogation bei ungenügendem Haftungssubstrat nicht etwa beschränkt;<br />

vielmehr tritt der Sozialversicherer im Umfang der von ihm erbrachten Leistungen vollständig<br />

in die Schadenersatzforderung der geschädigten Person ein. Macht der Geschädigte bei ungenügendem<br />

Vermögen des Haftpflichtigen seine Ersatzansprüche nicht geltend oder lässt er sie verjähren,<br />

so stellt sich die Frage einer Rangordnung zwischen Sozialversicherer und Geschädigtem hinsichtlich<br />

der Vermögenswerte des Haftpflichtigen gar nicht. Wie die Beschwerdegegnerin zutreffend<br />

vorbringt, ist eine Rangordnung nur dann nötig, wenn mehrere Gläubiger auf ungenügendes Haftungssubstrat<br />

greifen können. Kann der Geschädigte seinen Anspruch aufgrund des Eintritts der Verjährung<br />

nicht mehr durchsetzen oder macht er seinen Anspruch aus anderen Gründen nicht geltend,<br />

so bleibt für eine Rangordnung für den Zugriff auf das Haftungssubstrat kein Raum (im Ergebnis<br />

ebenso GHISLAINE FRÉSARD-FELLAY, Le recours subrogatoire de l'assurance-accidents sociale contre<br />

le tiers responsable ou son assureur, Diss. Freiburg 2007, Rz. 1121 ff.; FRANÇOIS KOLLY, Le droit<br />

préférentiel du lésé, en l'absence de prétention directe de celui-ci - application du droit préférentiel<br />

abstrait ou concret?, in: HAVE 2004 S. 305, die allerdings beide zu diesem Schluss kommen, ohne<br />

zwischen dem Befriedigungsvorrecht und dem - im vorliegenden Verfahren nicht in Frage stehenden<br />

230


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

- Quotenvorrecht im Sinne des Verteilungsvorrechts nach Art. 48 quater Abs. 1 aAHVG bzw. Art. 73 Abs.<br />

1 ATSG zu differenzieren).<br />

Wie die Vorinstanz zutreffend erwog, spricht der Wortlaut von Art. 48 quater Abs. 3 Satz 2 aAHVG dagegen,<br />

dass zum geschuldeten Ersatz, der nur teilweise "eingebracht" werden kann, auch Ersatzansprüche<br />

des Versicherten bzw. seiner Hinterlassenen gezählt werden, die verjährt sind, zumal der letzte<br />

Satzteil der Bestimmung voraussetzt, dass das verfügbare Haftungssubstrat zur Auszahlung gelangt<br />

und die Ansprüche tatsächlich erfüllt werden. Muss der Ersatzpflichtige demgegenüber nicht mehr<br />

leisten, weil er dem Geschädigten die Verjährungseinrede entgegenhält, so kann von einem nur teilweise<br />

"eingebrachten" Ersatz nicht die Rede sein und dem Haftpflichtigen ist es verwehrt, sich auf<br />

eine (fiktive) vorgängige Befriedigung des Versicherten zu berufen. Dass einem Schädiger gegenüber<br />

dem Geschädigten Ansprüche in auch nur annähernd gleicher Höhe zustehen und der Geschädigte<br />

daher die verjährten Schadenersatzansprüche zur Verrechnung bringen kann (Art. 120 Abs. 3 <strong>OR</strong>), ist<br />

zwar ein denkbarer, aber kein Ausnahmefall, mit dem ernsthaft zu rechnen ist. Der betreffende Einwand<br />

der Beschwerdeführerin verfängt daher nicht.<br />

Das Befriedigungsvorrecht des Geschädigten beruht auf dem Gedanken, dass der Versicherer seinen<br />

Versicherten unter anderem Schutz gegen Zahlungsunfähigkeit des Haftpflichtigen zu bieten hat (OF-<br />

TINGER/STARK, Schweizerisches <strong>Haftpflichtrecht</strong>, Bd. I: Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Zürich 1995, § 11<br />

Rz. 201; FRÉSARD-FELLAY, a.a.O., Rz. 1076; SCHAER, a.a.O., Rz. 794). Kann die Direktforderung gegenüber<br />

dem Haftpflichtigen nicht mehr durchgesetzt werden, da dieser ihr die Verjährungseinrede<br />

entgegenhält, so erübrigt sich ein Schutz des Geschädigten gegen Insolvenz und es steht der Durchsetzung<br />

des Regressanspruchs des Sozialversicherers nichts entgegen. Die Vorinstanz hat demnach<br />

kein Bundesrecht verletzt, wenn sie die Klage der Beschwerdegegnerin gutgeheissen hat.<br />

231


BGE 126 <strong>II</strong>I 521<br />

Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

91. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 26. September 2000 i.S. Freistaat Bayern gegen<br />

Alpina Versicherungs-AG (Berufung)<br />

Regeste<br />

Lohnfortzahlungspflicht; Regress des Arbeitgebers (Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong>). Ersatzanspruch des Arbeitgebers<br />

gegenüber dem Schädiger des Arbeitnehmers für geleistete Lohnfortzahlung (E. 2a und 2b).<br />

Umfang des Regressanspruchs (E. 2c).<br />

Eine bei der Alpina Versicherungs-AG (Beklagte) versicherte Autolenkerin verursachte einen Unfall,<br />

bei dem ein beim Freistaat Bayern (Kläger) angestellter Arbeitnehmer verletzt wurde. Während dessen<br />

Arbeitsunfähigkeit zahlte der Kläger weiterhin Lohn und richtete die Nebenleistungen aus. Die<br />

Beklagte anerkennt grundsätzlich ihre Haftpflicht und hat dem Kläger die Lohnzahlungen mit DM<br />

18'380.15 ersetzt. Dieser verlangt zusätzlich DM 11'800.- für sämtliche Leistungen, die er infolge der<br />

Lohnfortzahlungspflicht für den Arbeitnehmer erbracht hat. Das Bezirksgericht Zürich wies die Klage<br />

ab, während das Obergericht des Kantons Zürich sie teilweise guthiess. Gegen diesen Entscheid führen<br />

beide Parteien Berufung. Das Bundesgericht heisst die Berufung der Beklagten gut und weist die<br />

Klage ab, da der von der Beklagten ausbezahlte Betrag den Regressanspruch des Klägers übersteigt.<br />

Auszug aus den Erwägungen:<br />

2. a) Das besondere Problem des zu beurteilenden Falles liegt im Umstand, dass der in seinem absoluten<br />

Recht verletzte Arbeitnehmer keinen Vermögensschaden erleidet, da er seinen Erfüllungsanspruch<br />

aus Arbeitsvertrag behält. Dieser Anspruch auf Lohnzahlung wird auch dann nicht zu einem<br />

solchen auf Schadenersatz, wenn der Arbeitnehmer an der Erbringung seiner Leistung gehindert ist.<br />

Nachdem der am Vermögen geschädigte Arbeitgeber weder in einem absoluten Recht verletzt ist<br />

noch sich auf eine spezielle Norm berufen kann, die den Schutz seines Vermögens vor Beeinträchtigungen<br />

der eingetretenen Art bezweckt, gebricht es grundsätzlich am Erfordernis der Widerrechtlichkeit<br />

der Schädigung des Arbeitgebers (BGE 123 <strong>II</strong>I 306 E. 4a S. 312; BGE 122 <strong>II</strong>I 176 E. 7b S. 192;<br />

BGE 118 Ib 473 E. 2b S. 476). Sein Schaden erweist sich somit als Reflex- oder Drittschaden, der nach<br />

allgemeinen Prinzipien des Schadensrechts nicht zu ersetzen ist (BGE 104 <strong>II</strong> 95 E. 2a S. 98; BGE 102 <strong>II</strong><br />

85 E. 6c S. 90; vgl. auch BGE 109 <strong>II</strong> 4 E. 3 S. 7; BREHM, Berner Kommentar, 2. Aufl., Bern 1998, N. 20<br />

ff. zu Art. 41 <strong>OR</strong> mit Hinweisen).<br />

b) Während die Regressansprüche der Privat- und Sozialversicherer für Vorleistungen zufolge Drittschädigung<br />

ihrer Versicherten in speziellen gesetzlichen Subrogationsregeln gründen (Art. 72 VVG [SR<br />

221.229.1]; Art. 41 UVG [SR 832.20]; Art. 48ter ff. AHVG [SR 831.10]; Art. 52 IVG [SR 831.20]; Art. 79<br />

KVG [SR 832.10] und Art. 67 MVG [SR 833.1]), fehlen solche mit Bezug auf Lohnfortzahlungen bei<br />

Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers. Indessen ist allgemein anerkannt, dass der Arbeitgeber den<br />

haftpflichtigen Dritten belangen kann. Ihn anders zu behandeln als etwa den Versicherer, der nach<br />

Art. 324b <strong>OR</strong> an seiner Stelle den Lohn bezahlt, wäre weder einleuchtend noch billig und liefe entgegen<br />

dem Zweck sowohl der Lohnfortzahlungspflicht wie auch der haftpflichtrechtlichen Verantwortlichkeitsanschauung<br />

auf einen Schutz des Schädigers des Arbeitnehmers hinaus (BREHM, a.a.O., N.<br />

31 zu Art. 41 <strong>OR</strong> mit Hinweisen). Da sich im Gesetz keine Regelung bezüglich des Regressanspruchs<br />

des Arbeitgebers findet, liegt insoweit eine Gesetzeslücke vor. Diese ist in analoger Anwendung von<br />

Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> zu schliessen. Eine unmittelbare Anwendung dieser Bestimmung fällt ausser Betracht,<br />

da der Arbeitgeber nicht zum Kreis der gemäss Art. 51 <strong>OR</strong> Haftpflichtigen zählt, sondern mit<br />

der Lohnzahlung unabhängig vom schädigenden Ereignis seine gesetzliche oder vertragliche Leistungspflicht<br />

erfüllt (vgl. BREHM, a.a.O., N. 31 zu Art. 41 <strong>OR</strong>; ROBERTO, Schadensrecht, Basel 1997, S.<br />

41 je mit Hinweisen). Da der Arbeitgeber seinen Vertrag erfüllt und nicht aus Schlechterfüllung für<br />

den entstandenen Schaden haftet, kann die in Art. 51 Abs. 2 <strong>OR</strong> vorgesehene Abstufung nach der<br />

Haftung aus unerlaubter Handlung, Vertrag oder Gesetz nicht auf die Lohnfortzahlung des Arbeitge-<br />

232


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

bers übertragen werden. Der Regress steht dem Arbeitgeber auch gegenüber einem kausal Haftenden<br />

zu, da sich die Lohnfortzahlungspflicht nicht zu dessen Gunsten auswirken soll (PIERRE WIDMER,<br />

"Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, verpflichtet dessen Arbeitgeber zum Ersatz", in:<br />

SJZ 73/1977 S. 283, 287). Der Arbeitgeber ist diesbezüglich den subrogierenden Sozial- und Schadensversicherern<br />

gleichzustellen, auch wenn diese ihre Rechtsstellung bereits im Unfallzeitpunkt<br />

erlangt haben (SCHAER, "Hard cases make bad law" oder <strong>OR</strong> 51/2 und die regressierende Personalvorsorgeeinrichtung,<br />

in: recht 9/1991 S. 20 f.).<br />

c) Die Frage, in welchem Umfang der Haftpflichtige die vom Arbeitgeber erbrachten Leistungen zu<br />

ersetzen hat, ist aus dem mit dem Regressanspruch verfolgten Zweck zu beantworten. Soll der Anspruch<br />

nach dem oben Gesagten eingeräumt werden, damit der Schädiger nicht privilegiert wird (E.<br />

2b), soll der Schädiger aus dem Umstand, dass der Schadenersatzanspruch in der Form eines Regressanspruches<br />

des Arbeitgebers geltend gemacht wird, auch nicht benachteiligt werden. Abzustellen<br />

ist mithin auf den hypothetischen Schaden, den der Arbeitnehmer ohne die Zahlungen des Arbeitgebers<br />

erlitten hätte.<br />

233


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag vom 02.04.1908 (Versicherungsvertragsgesetz)<br />

= VVG<br />

Art. 72 Regressrecht des Versicherers<br />

1 Auf den Versicherer geht insoweit, als er Entschädigung geleistet hat, der Ersatzanspruch über, der<br />

dem Anspruchsberechtigten gegenüber Dritten aus unerlaubter Handlung zusteht.<br />

2 Der Anspruchsberechtigte ist für jede Handlung, durch die er dieses Recht des Versicherers verkürzt,<br />

verantwortlich.<br />

3 Die Bestimmung des ersten Absatzes findet keine Anwendung, wenn der Schaden durch eine Person<br />

leichtfahrlässig herbeigeführt worden ist, die mit dem Anspruchsberechtigten in häuslicher Gemeinschaft<br />

lebt oder für deren Handlungen der Anspruchsberechtigte einstehen muss.<br />

Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom<br />

6. Oktober 2000 = ATSG<br />

Rückgriff<br />

Art. 72 Grundsatz<br />

1 Gegenüber einem Dritten, der für den Versicherungsfall haftet, tritt der Versicherungsträger im<br />

Zeitpunkt des Ereignisses bis auf die Höhe der gesetzlichen Leistungen in die Ansprüche der versicherten<br />

Person und ihrer Hinterlassenen ein.<br />

2 Mehrere Haftpflichtige haften für Rückgriffsansprüche der Versicherungsträger solidarisch.<br />

3 Auf die übergegangenen Ansprüche bleiben die ihrer Natur entsprechenden Verjährungsfristen<br />

anwendbar. Für den Regressanspruch des Versicherungsträgers beginnen jedoch die relativen Fristen<br />

erst mit dessen Kenntnis seiner Leistungen und der Person des Ersatzpflichtigen zu laufen.<br />

4 Besteht ein direktes Forderungsrecht der geschädigten Person gegenüber dem Haftpflichtversicherer,<br />

so steht dieses auch dem in ihre Rechte eingetretenen Versicherungsträger zu. Einreden aus dem<br />

Versicherungsvertrag, die der geschädigten Person nicht entgegengehalten werden dürfen, können<br />

auch gegenüber dem Regressanspruch des Versicherungsträgers nicht vorgebracht werden.<br />

5 Der Bundesrat erlässt Vorschriften über die Ausübung des Rückgriffsrechtes. Insbesondere kann er<br />

anordnen, dass bei Regressnahme gegen einen Haftpflichtigen, der nicht haftpflichtversichert ist,<br />

mehrere am Rückgriff beteiligte Versicherer ihre Regressansprüche von einem einzigen Versicherer<br />

für alle geltend machen lassen. Der Bundesrat regelt die Vertretung nach aussen für den Fall, dass die<br />

betroffenen Versicherer sich darüber nicht einigen können.<br />

Art. 73 Umfang<br />

1 Die Ansprüche der versicherten Person und ihrer Hinterlassenen gehen nur so weit auf den Versicherungsträger<br />

über, als dessen Leistungen zusammen mit dem vom Dritten für den gleichen Zeitraum<br />

geschuldeten Ersatz den entsprechenden Schaden übersteigen.<br />

2 Hat jedoch der Versicherungsträger seine Leistungen im Sinne von Artikel 21 Absatz 1 oder 2 gekürzt,<br />

so gehen die Ansprüche der versicherten Person und ihrer Hinterlassenen so weit auf den Versicherungsträger<br />

über, als dessen ungekürzte Leistungen zusammen mit dem vom Dritten für den<br />

gleichen Zeitraum geschuldeten Ersatz den entsprechenden Schaden übersteigen würden. 1<br />

1 ATSG 73 <strong>II</strong> findet auch Anwendung bei Kürzungen nach Art. 37 I und <strong>II</strong>I und Art. 39 des Unfallversicherungs-<br />

gesetzes vom 20. März 1981 (UVG 42).<br />

234


Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

3 Die Ansprüche, die nicht auf den Versicherungsträger übergehen, bleiben der versicherten Person<br />

und ihren Hinterlassenen gewahrt. Kann nur ein Teil des vom Dritten geschuldeten Ersatzes eingebracht<br />

werden, so sind daraus zuerst die Ansprüche der versicherten Person und ihrer Hinterlassenen<br />

zu befriedigen.<br />

Art. 74 Gliederung der Ansprüche<br />

1 Die Ansprüche gehen für Leistungen gleicher Art auf den Versicherungsträger über.<br />

2 Leistungen gleicher Art sind namentlich:<br />

a. vom Versicherungsträger und von Dritten zu erbringende Vergütungen für Heilungs- und<br />

Eingliederungskosten;<br />

b. Taggeld und Ersatz für Arbeitsunfähigkeit;<br />

c. Invalidenrenten beziehungsweise an deren Stelle ausgerichtete Altersrenten und Ersatz für<br />

Erwerbsunfähigkeit;<br />

d. Leistungen für Hilflosigkeit und Vergütungen für Pflegekosten sowie andere aus der Hilflosigkeit<br />

erwachsende Kosten;<br />

e. Integritätsentschädigung und Genugtuung;<br />

f. Hinterlassenenrenten und Ersatz für Versorgerschaden;<br />

g. Bestattungs- und Todesfallkosten.<br />

Art. 75 Einschränkung des Rückgriffs<br />

1 Ein Rückgriffsrecht gegen den Ehegatten der versicherten Person, deren Verwandte in auf- und<br />

absteigender Linie oder mit ihr in gemeinsamem Haushalt lebende Personen steht dem Versicherungsträger<br />

nur zu, wenn sie den Versicherungsfall absichtlich oder grobfahrlässig herbeigeführt haben.<br />

2 Die gleiche Einschränkung gilt für den Rückgriffsanspruch aus einem Berufsunfall gegen den Arbeitgeber<br />

der versicherten Person, gegen dessen Familienangehörige und gegen dessen Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmer. 2<br />

3 Die Einschränkung des Rückgriffsrechts des Versicherungsträgers entfällt, wenn und soweit die Person,<br />

gegen welche Rückgriff genommen wird, obligatorisch haftpflichtversichert ist. 3<br />

Verschiedene Bestimmungen<br />

Art. 78 Verantwortlichkeit 4<br />

1 Für Schäden, die von Durchführungsorganen oder einzelnen Funktionären von Versicherungsträgern<br />

einer versicherten Person oder Dritten widerrechtlich zugefügt wurden, haften die öffentlichen<br />

Körperschaften, privaten Trägerorganisationen oder Versicherungsträger, die für diese Organe verantwortlich<br />

sind.<br />

2 Die zuständige Behörde entscheidet durch Verfügung über Ersatzforderungen.<br />

3 Die subsidiäre Haftung des Bundes für ausserhalb der ordentlichen Bundesverwaltung stehende<br />

Organisationen richtet sich nach Artikel 19 des Verantwortlichkeitsgesetzes vom 14. März 1958.<br />

2 Nicht anwendbar gemäss Art. 79 des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) vom 18. März 1994.<br />

3 Eingefügt durch die 5. IV-Revision vom 6. Oktober 2006. In Kraft seit 01.01.2008.<br />

4<br />

Das Alters- und Hinterlassenenversicherungsgesetz (AHVG) vom 20. Dezember 1946 enthält in Art. 52 eine<br />

eigene Regelung.<br />

Siehe noch zum Verfahren Art. 78a KVG und Art. 70 <strong>II</strong> AHVG sowie die Haftungsbestimmungen dieses Gesetzes<br />

in den Art. 52, 70 und 71a.<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

4 Für die Verfahren nach den Absätzen 1 und 3 gelten die Bestimmungen dieses Gesetzes. Ein Einspracheverfahren<br />

wird nicht durchgeführt. Die Artikel 3–9, 11, 12, 20 Absatz 1, 21 und 23 des Verantwortlichkeitsgesetzes<br />

vom 14. März 1958 sind sinngemäss anwendbar.<br />

5 Personen, die als Organe oder Funktionäre eines Versicherungsträgers, einer Revisions- oder Kontrollstelle<br />

handeln oder denen durch die Einzelgesetze bestimmte Aufgaben übertragen wurden,<br />

unterliegen der gleichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit wie Behördemitglieder und Beamte<br />

nach dem Strafgesetzbuch.<br />

Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge<br />

vom 25. Juni 1982 = BVG 5<br />

Art. 34b Subrogation<br />

Gegenüber einem Dritten, der für den Versicherungsfall haftet, tritt die Vorsorgeeinrichtung im Zeitpunkt<br />

des Ereignisses bis auf die Höhe der gesetzlichen Leistungen in die Ansprüche der versicherten<br />

Person, ihrer Hinterlassenen und weiterer Begünstigter nach Artikel 20a ein.<br />

Art. 52 Verantwortlichkeit<br />

1 Alle mit der Verwaltung, Geschäftsführung oder Kontrolle der Vorsorgeeinrichtung betrauten Personen<br />

sind für den Schaden verantwortlich, den sie ihr absichtlich oder fahrlässig zufügen.<br />

2 Der Anspruch auf Schadenersatz gegen die nach den vorstehenden Bestimmungen verantwortlichen<br />

Organe verjährt in fünf Jahren von dem Tage an, an dem der Geschädigte Kenntnis vom Schaden<br />

und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat, auf jeden Fall aber in zehn Jahren, vom Tag<br />

der schädigenden Handlungen an gerechnet.<br />

3 Wer als Organ einer Vorsorgeeinrichtung schadenersatzpflichtig wird, hat die übrigen regresspflichtigen<br />

Organe zu informieren. Die fünfjährige Verjährungsfrist für die Geltendmachung von Regressansprüchen<br />

nach diesem Absatz beginnt mit dem Zeitpunkt der Leistung von Schadenersatz.<br />

Art. 56a Rückgriff und Rückforderung<br />

1 Gegenüber Personen, die für die Zahlungsunfähigkeit der Vorsorgeeinrichtung oder des Versichertenkollektivs<br />

ein Verschulden trifft, kann der Sicherheitsfonds im Zeitpunkt der Sicherstellung im<br />

Umfang der sichergestellten Leistungen in die Ansprüche der Vorsorgeeinrichtung eintreten.<br />

2 Unrechtmässig bezogene Leistungen sind dem Sicherheitsfonds zurückzuerstatten.<br />

3 Der Rückforderungsanspruch nach Absatz 2 verjährt ein Jahr, nachdem der Sicherheitsfonds vom<br />

unrechtmässigen Bezug der Leistung Kenntnis erhalten hat, spätestens aber fünf Jahre nach der Auszahlung<br />

der Leistung. Wird der Rückforderungsanspruch aus einer strafbaren Handlung hergeleitet,<br />

für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist festsetzt, so ist diese Frist massgebend.<br />

Art. 73 Streitigkeiten und Verantwortlichkeitsansprüche<br />

1 Jeder Kanton bezeichnet ein Gericht, das als letzte kantonale Instanz über Streitigkeiten zwischen<br />

Vorsorgeeinrichtungen, Arbeitgebern und Anspruchsberechtigten entscheidet. Dieses Gericht entscheidet<br />

auch über:<br />

a. Streitigkeiten mit Einrichtungen, welche der Erhaltung der Vorsorge im Sinne der Artikel 4 Absatz<br />

1 und 26 Absatz 1 FZG dienen;<br />

b. Streitigkeiten mit Einrichtungen, welche sich aus der Anwendung von Artikel 82 Absatz 2 ergeben;<br />

c. Verantwortlichkeitsansprüche nach Artikel 52;<br />

5 Die berufliche Vorsorge wird nicht vom ATSG erfasst.<br />

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d. den Rückgriff nach Artikel 56a Absatz 1.<br />

2 Die Kantone sehen ein einfaches, rasches und in der Regel kostenloses Verfahren vor; der Richter<br />

stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest.<br />

3 Gerichtsstand ist der schweizerische Sitz oder Wohnsitz des Beklagten oder der Ort des Betriebes,<br />

bei dem der Versicherte angestellt wurde.<br />

Verordnung über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge<br />

vom 18. April 1984 = BVV 2<br />

Rückgriff<br />

Art. 27 Subrogation (Art. 34b BVG)<br />

1 Mehrere Haftpflichtige haften für Rückgriffsansprüche der Vorsorgeeinrichtung solidarisch.<br />

2 Auf die übergegangenen Ansprüche bleiben die ihrer Natur entsprechenden Verjährungsfristen<br />

anwendbar. Für den Regressanspruch der Vorsorgeeinrichtung beginnen jedoch die relativen Fristen<br />

erst mit deren Kenntnis ihrer Leistungen und der Person des Ersatzpflichtigen zu laufen.<br />

3 Besteht ein direktes Forderungsrecht der geschädigten Person gegenüber dem Haftpflichtversicherer,<br />

so steht dieses auch der in ihre Rechte eingetretenen Vorsorgeeinrichtung zu. Einreden aus dem<br />

Versicherungsvertrag, die der geschädigten Person nicht entgegengehalten werden dürfen, können<br />

auch gegenüber dem Regressanspruch der Vorsorgeeinrichtung nicht vorgebracht werden.<br />

Art. 27a Umfang (Art. 34b BVG)<br />

1 Die Ansprüche der versicherten Person, ihrer Hinterlassenen und weiterer Begünstigter nach Artikel<br />

20a BVG gehen nur so weit auf die Vorsorgeeinrichtung über, als deren Leistungen zusammen mit<br />

dem vom Dritten für den gleichen Zeitraum geschuldeten Ersatz den entsprechenden Schaden übersteigen.<br />

2 Hat die Vorsorgeeinrichtung ihre Leistungen gekürzt, weil der Versicherungsfall vorsätzlich oder bei<br />

vorsätzlicher Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt worden ist, so gehen die<br />

Ansprüche der versicherten Person, ihrer Hinterlassenen und weiterer Begünstigter nach Artikel 20a<br />

BVG so weit auf die Vorsorgeinrichtung über, als deren ungekürzte Leistungen zusammen mit dem<br />

vom Dritten für den gleichen Zeitraum geschuldeten Ersatz den entsprechenden Schaden übersteigen<br />

würden.<br />

3 Die Ansprüche, die nicht auf die Vorsorgeeinrichtung übergehen, bleiben der versicherten Person,<br />

ihren Hinterlassenen und weiteren Begünstigten nach Artikel 20a BVG gewahrt. Kann nur ein Teil des<br />

vom Dritten geschuldeten Ersatzes eingebracht werden, so sind daraus zuerst die Ansprüche der<br />

versicherten Person, ihrer Hinterlassenen und weiterer Begünstigter nach Artikel 20a BVG zu befriedigen.<br />

Art. 27b Gliederung der Ansprüche (Art. 34b BVG)<br />

1 Die Ansprüche gehen für Leistungen gleicher Art auf die Vorsorgeeinrichtung über.<br />

2 Leistungen gleicher Art sind namentlich:<br />

a. Invalidenrenten beziehungsweise an deren Stelle ausgerichtete Altersrenten sowie Kapitalabfindungen<br />

anstelle der Renten und Ersatz für Erwerbsunfähigkeit;<br />

b. Hinterlassenenrenten sowie Kapitalabfindungen anstelle der Renten und Ersatz für Versorgerschaden.<br />

Art. 27c Einschränkung des Rückgriffs (Art. 34b BVG)<br />

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Weber Beck – Stoffsammlung <strong>OR</strong> <strong>II</strong> (<strong>Haftpflichtrecht</strong>) FS 2012<br />

1 Ein Rückgriffsrecht gegen den Ehegatten oder die eingetragene Partnerin oder den eingetragenen<br />

Partner der versicherten Person, deren Verwandte in auf- und absteigender Linie oder mit ihr in gemeinsamem<br />

Haushalt lebende Personen steht der Vorsorgeeinrichtung nur zu, wenn sie den Versicherungsfall<br />

absichtlich oder grobfahrlässig herbeigeführt haben.<br />

2 Die gleiche Einschränkung gilt für den Rückgriffsanspruch aus einem Berufsunfall gegen den Arbeitgeber<br />

der versicherten Person, gegen dessen Familienangehörige und gegen dessen Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmer.<br />

3 Die Einschränkung des Rückgriffsrechts der Vorsorgeeinrichtung entfällt, wenn und soweit die Person,<br />

gegen welche Rückgriff genommen wird, obligatorisch haftpflichtversichert ist.<br />

Art. 27d Verträge (Art. 34b BVG)<br />

Die Vorsorgeeinrichtung, der das Rückgriffsrecht nach Artikel 34b BVG zusteht, kann mit Sozialversicherungen,<br />

denen das Rückgriffsrecht nach Artikeln 72–75 ATSG zusteht und mit anderen Beteiligten<br />

Vereinbarungen treffen, um die Erledigung der Regressfälle zu vereinfachen.<br />

Art. 27e Verhältnis zwischen Vorsorgeeinrichtung und rückgriffsberechtigten Sozialversicherungen<br />

(Art. 34b BVG)<br />

Ist die Vorsorgeeinrichtung nebst anderen Sozialversicherungen am Rückgriff gemäss Artikel 34b BVG<br />

bzw. Artikel 72 ff. ATSG beteiligt, besteht unter ihnen Gesamtgläubigerschaft. Die Versicherungen<br />

sind einander im Verhältnis der von ihnen zu erbringenden kongruenten Leistungen ausgleichspflichtig.<br />

Art. 27f Rückgriff auf einen nicht haftpflichtversicherten Haftpflichtigen (Art. 34b BVG)<br />

Gegenüber dem nicht haftpflichtversicherten Haftpflichtigen einigen sich mehrere am Rückgriff beteiligte<br />

Versicherungsträger auf eine einzige Vertretung. Kommt keine Einigung zustande, ist die Vertretung<br />

in folgender Reihenfolge vorzunehmen:<br />

a. durch die Unfallversicherung;<br />

b. durch die Militärversicherung;<br />

c. durch die Krankenversicherung;<br />

d. durch die AHV/IV.<br />

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