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Untitled - European Borderlands

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Unternehmen Zukunft<br />

Zeit verging. Und wie! Kaum hatte tatendurstig, vorsatzreich, hoffnungsfroh<br />

ein Jahr begonnen, neigte es sich schon seinen matten, ernüchternden Ende zu. Der<br />

laufende Monat war erfüllt mit der Organisation des nächsten, die vergangene Woche<br />

mit der Planung der über-, über-, übernächsten. Arbeitstag um Arbeitstag stand im<br />

Dienst künftiger Arbeitstage. Voll übervoll, zum bersten voll schritt die Zeit voran. Nur<br />

an Wochenenden, Urlaubs- und Feier-, Jubel- und Gedenktagen gab es vereinzelt flüchtige<br />

Momente, in denen die Zeit sich selbst aus den Augen geriet. Sekundenlang riss das Gewebe<br />

der Termine und Fristen, gab durch das entstandene Loch den Blick frei auf einen schwindenden<br />

Abgrund. Dann war es, als sei den Dingen ihr gegenwärtiger Stand, der Welt, ihr heutiges Hier und<br />

akutes Jetzt abhanden gekommen, als wäre das Leben nie mehr als eine Illusion gewesen.<br />

Dabei war die Zeit mit nichts intensiver beschäftigt als mit sich selbst. Ständig hatte sie<br />

ihre eigene Dynamik im Visier, die Veränderungen, die sie nimmermüde hervorbrachte. Eine<br />

weltpolitische Konstellation jagte die andere, eine Regierung löste die nächste ab. Die eben<br />

herrschende Mode-, Kino- und Buchsaison schielte längst auf die kommende, die Ausstellungs-<br />

und Messelandschaft dieses auf diejenige des folgenden Jahres. Neue Steuern aufgrund neuer<br />

Zahlen wurden erhoben, um neue Zahlen für neue Steuern zu schaffen. Gesetzesreformen<br />

an Gesetzesreformen wurden durchgeführt, um die Reformen der Reformen der Reformen<br />

vorzubereiten.<br />

Und die Zeit hatte es nötig sich selbst zu beobachten. Alles ging so rasend schnell. Unablässig<br />

wurden Entdeckungen und Erfindungen gemacht, die Computer-, die Bio, die Nanotechnologie<br />

überschlugen sich vor lauter Fortschritt. Unaufhörlich gelangten frische, verbesserte, völlig<br />

neue Maschinen, Mittel, Methoden auf den Markt, verdrängten die vom vorletzten, vom<br />

letzten Jahr, von gestern, von heute früh. In der Revolutionierung des einen Geräts, Modus,<br />

Programms war die Revolutionierung dieser Revolutionierung schon eingeplant und<br />

vorbereitet. Funktionen und Kapazitäten wurden unentwegt erweitert, Kombinationen<br />

umgestellt, Synthesen neu definiert. Zu Recht fürchtete sich die Zeit vor ihrem<br />

eigenen Verhalten, arbeitete ihm entgegen. Jeden Tag, jede Stunde trat sie vor den<br />

Spiegel, kontrollierte ihr Aussehen, ihre brandaktuell jüngste Fassung. Sie schien hinter<br />

sich selbst herzuhetzen, den Menschen davonzulaufen.<br />

Doch die Zeit hatte sich immerzu im Griff. Wie viele Gegenwarten allerorten und rund um<br />

die Uhr! Nie wurde sie präzise, prompter gemessen, gemeldet, gebündelt, nie ausführlicher<br />

kommentiert. Gerade für ihre Gegenwärtigkeit wurde die Zeit nicht müde, ständig neue<br />

Messtechniken zu entwickeln, Apparate zur Nachrichten- und Meinungsbereitung auszubauen,<br />

aufzustocken, zu vervielfältigen. Weltweit galt es die Lage zu erfassen, im Viertelstunden-, im<br />

Minutentakt. Das allerneueste Ergebnis löschte unverzüglich das eben noch neue. Eine Katastrophe<br />

überblendete die gestrige, ein Anschlag löste den vorherigen ab. Zusammenschlüsse, feindliche<br />

Übernahmen, Verschlankungen von Personaldecken, Konkursmeldungen, Offenbarungsseide,<br />

Korruptionsskandale reichten einander den Stab im globalen Staffellauf der Unternehmen,<br />

Konzerne, Banken.<br />

Aber nicht nur die totale Aktualität des Weltgeschehens war gewährleistet, auch die der<br />

dazugehörigen Stimmungen. Mannigfache Meinungsbaro-, -thermo-, -hygrometer wurden<br />

konzipiert und konstruiert. Als Fieberkurven des Hic et nunc erfassten sie Schwankungen<br />

aller Art, gaben Auskunft über jede Tendenz: Wie würde am Wochenende gewählt? Wie viel<br />

vertrauen genießt die Politik in genau diesem Moment? Wie entwickelt sich die Zahl der<br />

Arbeitslosen, das Kaufverhalten, der Alkoholkonsum? Wächst oder schrumpft die Prozentzahl<br />

der Rauchverbotsgegner, der Todesstrafenbefürworter? Erhebungen, Umfragen, Statistiken<br />

wucherten. Die Gegenwart wurde zum Gegenstand einer Börse der Bewertungskriterien.<br />

Experten durchdrangen die ewig neue Unübersichtlichkeit, verfolgten die Wechselbeziehungen<br />

und gegenseitigen Beeinflussungen, begutachteten, prognostizierten, appellierten, warnten.<br />

Schlugen ihre Messungen in diese oder jene Richtung aus, forderten sie diese oder jene Reaktionen<br />

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N o r b e r t N i e m a n n - U n t e r n e h m e n Z u k u n f t

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