Untitled - European Borderlands
Untitled - European Borderlands
Untitled - European Borderlands
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
die Zahl der Urlaubsgäste nach einigen Jahrzehnten wieder zurück. Denn auf den Schnee war<br />
plötzlich kein Verlass mehr, ebenso wenig auf die Sonne, die neuerdings anderswo billiger schien.<br />
So kam es, dass vielerorts Konkurs drohte. Und da man allgemein nicht mehr daran glaubte, dass es<br />
auf Dauer weitergehen konnte wie bisher, begann man über neue Verdienst- und Existenzformen<br />
nachzudenken.<br />
In einer kleinen am See gelegenen Ortschaft namens Vössen, das einem Bauerndorf immer noch<br />
sehr ähnlich sah, bestritten einst gerade zwei Familien noch ihren Lebensunterhalt ausschließlich<br />
mit der Landwirtschaft. Zu ihnen kamen ein Bankangestellter, ein Versicherungsfilialleiter<br />
und ein Vertreter für Landmaschinen als Nebenerwerbsbauern, denen ein Leben ohne Sähen,<br />
Mähen und Silieren, ohne ein paar Kühe, auch wenn damit nur Arbeit, keinerlei Gewinn<br />
verbunden war, schlicht nicht lebenswert erschien. Obwohl sich das Dorf nicht zuletzt wegen<br />
seines dickschädelig hagelbuchenen Bürgermeisters am wenigsten von allen Seeorten an die<br />
Erfordernisse des Fremdenverkehrs angepasst, sich daher noch am meisten Unabhängigkeit von<br />
den Konjunkturschwankungen der Tourismusbranche bewahrt hatte, geschah es, dass es durch eine<br />
Verkettung unglücklicher Umstände aus seinem so lange Zeit unangetasteten dörflichen Frieden<br />
gerissen wurde. Gleichsam über Nacht sah es sich allenthalben vor Engpässen finanzieller Natur. Da<br />
aber ein Großteil der Einwohner sowieso längst in den näher oder weiter gelegenen Kleinstädten,<br />
zunehmend auch in der recht weit entfernten Landeshauptstadt, flexibel und temporär sogar in<br />
ganz Deutschland, Europa, ja der großen weiten Welt seinen Lebensunterhalt verdiente, fragten<br />
sich einige, was eigentlich gegen die Ansiedlung neuer Geschäfte und Unternehmen am Ort spräche.<br />
Der Strukturwandel sei sowieso nicht zu stoppen, und dem Dorf würde aus der Finanznot geholfen.<br />
Außerdem würden auf diesem Weg nicht nur Arbeitsplätze entstehen und zusätzliche Steuergelder<br />
fließen. Auch für mehr Lebensqualität wäre endlich gesorgt. Attraktive Einkaufsmöglichkeiten,<br />
zumal Kleidungs-, Möbel-, Lebensmittel-, Fastfoodketten, Baumärkte gehörten andernorts<br />
schließlich längst zur Basisausstattung. Man wolle die ohnehin stets zu knappe Freizeit nicht<br />
länger mit endlosen Fahrten in die umliegenden Gewerbegebiete verplempern, die Geld in Form<br />
von Benzin kosteten und obendrein umweltschädlich waren.<br />
Es gab einen Gemeinderat, der träumte weniger davon, sich Konsumparadiese vor die eigene<br />
Haustür zu zaubern, sondern fürchtete vielmehr die Schuldenfalle. Auch hatte er Angst, die<br />
Zeichen der Zeit zu verschlafen, vor allem aber noch länger dem fortschrittsfeindlichen Jähzorn<br />
seines Oberhaupts ausgesetzt zu sein.<br />
Einstmals existierte eine Minderheit, und dieser erschein, wovon andere Minderheiten<br />
träumten, als Alptraum. Sie wollte verhindern, dass Vössen durch Wellblechmonstren,<br />
Parkplatzwüsten, Reklamegroßflächen und Markenlogos den gleichen scheußlichen Einheitslook<br />
verpasst bekäme wie die meisten anderen Ortschaften, wollte verhindern, dass kleine Läden im<br />
Ortskern kaputtgehen sowie Verkehrsaufkommen, Lärm, Gefährdung von Radfahrern , Rentnern,<br />
Kindern auf dem Schulweg zunehmen, der Identifikationsgrad mit dem Heimatort abnehmen<br />
würde. Darum machte die Minderheit von ihrem basisdemokratischen Recht Gebrauch und<br />
tat sich zu einer Bürgerinitiative gegen die Änderung des Bebauungsplans für die Flurstücke<br />
168/1 und 3 zusammen. Prominente Persönlichkeiten und Pensionisten, die sich teuer in die<br />
ländliche Idylle eingekauft hatten, um hier ihre Rückzugs- und Ruhephasen beziehungsweise<br />
den Lebensabend zu verbringen, fanden sich ebenso darunter wie unmittelbare Anlieger am<br />
vorgesehnen Discountergeländer, wie Eltern, Geschäftsleute, ökologisch denkende Lehrer, Bäcker,<br />
Steuerberater, Blumenhändler, Verwaltungsangestellter oder Tracht tragende Traditionalisten.<br />
Gemeinsam verfassten, vervielfältigen, verteilten sie Flugblätter, argumentierten, debattierten,<br />
agitierten. Sie veranstalteten Informationsabende, luden Experten zu Vorträgen ein, in denen die<br />
Raubtiermentalität der Konzerne und deren Ausbeutungen von Billiglohnländern angeprangert<br />
wurden. Sie scheiterten beim Versuch, den Gemeindesaal für ihre Veranstaltungen in Anspruch zu<br />
nehmen oder ihre Position im kommunalen Amtsblatt zu veröffentlichen, gaben aber dennoch nicht<br />
auf. Doch blieben sie weiterhin eine Minderheit der Befürworter des geplanten Marktes, kleiner<br />
jedoch als die Mehrheit all derjenigen war, die gleichgültig, desinteressiert, schicksalsergeben,<br />
schlau, naiv oder faul um ihren kleinen TV-Seelenfrieden bemüht die Schultern über die ganze, in<br />
ihren Augen viel zu hoch gehängte Angelegenheiten zuckten.<br />
157<br />
N o r b e r t N i e m a n n - U n t e r n e h m e n Z u k u n f t