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Untitled - European Borderlands

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Webers Protokoll<br />

Siebtes Kapitel. Rom.<br />

Es ist der 5. Dezember 1954. Der Papst liegt einige Stockwerke über ihnen – wie es scheint –<br />

im Sterben, anders gesagt: Der Gesundheitszustand Seiner Heiligkeit ist für die diplomatischen<br />

Beobachter im Vatikan nicht anders als ausgesprochen kritisch zu bewerten, was von offizieller<br />

vatikanischer Seite dementiert wird. Weber wird in wenigen Minuten dem Leiter der Abteilung für<br />

ordentliche kirchliche Angelegenheiten, Erzbischof Montini seinen Antrittsbesuch abstatten und,<br />

wie Weber hofft, zwischen den Sätzen etwas über den tatsächlichen päpstlichen Gesundheitszustand<br />

heraushören. Weber nämlich hat vor zu brillieren.<br />

Er gibt die Kamera zurück, darin der Film mit den Fotos, die er so amateurhaft geschossen hat,<br />

dass niemand ihn als Fotografen wird erkennen können. Man hinterlässt erst Spuren, wenn man<br />

etwas beherrscht, ist Weber sich sicher.<br />

Er blickt an den sandfarbenen Mauern des Pallazzo hinauf, das Fenster des päpstlichen<br />

Schlafzimmers ist halb geöffnet, er sieht die helle Beleuchtung aus dem Inneren heraus scheinen.<br />

Weber stellt sich Pius vor, wie er, im Krankenbett, den Rücken durch unzählige feinbezogene<br />

Kissen gestützt, mit seinen mageren Fingern Reden verfasst, Briefe beantwortet, Akten bearbeitet,<br />

Bücher studiert, nicht davon wegzubekommen ist, Pius, der sich an die Bücher, die Briefe, die Akten<br />

klammert und alles, auch noch im Fieber, mit spitzer Perfektion bewältigt, sich mehr Wissen über<br />

den Zylindermotor anliest, als ein durchschnittlicher Ingenieur es besitzt, Zylinder, Kolben und<br />

Nockenwellen in seinem Kopf hin und herwälzt, nur um ein kurzes Gespräch mit dem Besitzer<br />

eines Automobilkonzerns zu führen, Pius, der verlangt, alles zu beherrschen.<br />

Weber beherrscht es, unauffällig zu sein. Ist er jemals auf den Gedanken gekommen, man<br />

könnte ihn einmal daran erkennen? Dass Pius mit seiner gleichförmigen Perfektion möglicherweise<br />

leichter verblasst?<br />

Die Fotos zumindest wird niemand mit ihm in Zusammenhang bringen, diese Minuten sind<br />

ausgelöscht aus seinem Leben, nicht protokolliert, nicht festgehalten, ist Weber sich sicher, diese<br />

Minuten sind somit nicht mehr zugänglich, sobald er den Platz verlassen hat und das Pärchen<br />

den nächsten Passanten bittet, ein Foto von ihnen vor dem Pantheon, vorm Collosseum, vorm<br />

Fontana di Trevi zu schießen.<br />

Obwohl er in wenigen Minuten erwartet wird, biegt er von seinem Weg ab, geht auf einen Stand<br />

mit Früchten zu, der vor den Bögen des Petersplatzes aufgestellt ist. Er beugt sich über die Auslage,<br />

einen Moment ist er sich nicht sicher, weshalb er die Orangen betrachtet, er nimmt eine Frucht<br />

in die Hand, der Verkäufer steht schon mit einer Papiertüte bereit, in die er, auf Weber einredend,<br />

eine Orange nach der anderen versenkt und er ruft: „Ah, l’ambasciatore tedesco! Piacere, signore,<br />

piacere!“ Weber überlegt, ob er klarstellen soll, dass er der Botschafter direkt nicht sei, nimmt<br />

dann aber schweigend die Tüte entgegen, zahlt.<br />

Das Mädchen sitzt vor ihm. Meine Güte, denkt Weber, wie alt mag sie sein, vierzehn, fünfzehn<br />

vielleicht? Ihre Hände, die sie auf der Tischplatte gefaltet hat, strömen einen Geruch nach Orangen aus.<br />

Ein Geruch nach Orangen. Endlich kann er sich erinnern. Denn er ist in Rom, er ist an der<br />

Botschaft des Heiligen Stuhls. Er ist endlich wieder Weber, denkt Weber.<br />

Die großen Augen des Mädchens, mit denen es ihn unerbittlich ansieht. Rücksichtslos. Impertinent.<br />

Das kann man doch mit fünfzehn noch nicht, ist Weber überzeugt, aber das Mädchen ändert nichts an<br />

seiner Haltung, an seinem Blick. Als wolle es ihn hypnotisieren, denkt Weber, aber das läßt er mit sich<br />

nicht machen. Er schlägt eine Akte auf, blättert darin herum, und fragt, ohne aufzusehen, ob er ihr sonst<br />

behilflich sein könne. Blättert in ihrem Pass, liest ihren Namen. Grispaldi, Carlotta.<br />

„Oder Charlotte“, unterbricht ihn das Mädchen, „Carlotta oder Charlotte, wie Sie möchten. Meine<br />

Mutter ist Deutsche.“<br />

73<br />

N o r a B o s s o n g - W e b e r s P r o t o k o l l

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