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Untitled - European Borderlands

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G á b o r S c h e i n - H e i m l i c h e W e l t e n<br />

einer Nebengasse auftauchte. Einen Augenblick später, den der Maler nicht mehr festgehalten hat,<br />

wird das schwarze Männlein, dem unter dem Zylinder das rote Haar wild über die abstehenden<br />

Ohren wächst, zum Gespött und Opfer des jungen Haudegen, er treibt seinen bösen Spaß mit<br />

ihm. Weil aber diese Szene sich Tag für Tag wiederholte, störte sie niemanden mehr, keiner achtete<br />

darauf, am wenigsten der nette, eitle Junge, der in einem hellen Torbogen einem schönen jungen<br />

Mädchen mächtig zu gefallen versuchte, eben auf seine Art, indem er ohne Unterlass von seinen<br />

abenteuerlichen Händeln erzählte, vor allem davon, wie er sich schon mehrfach duelliert hat,<br />

natürlich ohne seine Gegner wirklich verletzen zu wollen, alles geschah ja nur, um seine Ehre zu<br />

verteidigen. Das Mädchen ließ sich von diesem Gerede durchaus amüsieren, beirren aber ließ sich<br />

die Schönheit nicht. Ihr Gesicht hatte der Maler etwas blasser gefärbt als das des Jungen, um<br />

keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass dieses bescheidene und offene Gesicht für den Mann<br />

wieder zu einem unerreichbaren Geheimnis wird in dem Moment, da das Lächeln sich verliert.<br />

Die übrigen Schauspieler kümmerten sich wenig um diese Szenen. Sie zeigten ihre wunderbaren<br />

Theaterkostüme und genossen ihr reiches Leben in den Fenstern und auf den Balkonen, solch<br />

aufgeblasene Jungen konnten ihre Aufmerksamkeit nicht erreichen. Einige redeten mit ihren<br />

Partnern, andere plauderten zu dritt oder zu viert unter dem gemalten Himmel, junge Damen<br />

und Herren, auch reifere Frauen. Ein Fenster tauschte Neuigkeiten mit dem Nachbarfenster aus,<br />

ganz versunken in das verwirrend vielfältige Leben der kleinen Stadt, in das endlose Geflecht von<br />

geschäftlichen und familiären Beziehungen, ganz besonders aber in die Irrungen und Wirrungen<br />

der Liebe. Mit einem Wort: es wurde geredet und getratscht, federleicht wurde dem einen jede<br />

Liebenswürdigkeit entzogen, der andere fand sich mit gleicher Leichtigkeit in den Himmel gehoben,<br />

sie schossen sich gegenseitig Pfeile in die Herzen, es wurde süß gereizt und geflirtet, gewütet und<br />

durchaus auch geweint, keiner hielt das für schwach und kindisch. Nach einer gut gelungenen Szene<br />

applaudierte man sich glücklich, kein Fenster oder Balkon sparte mit Zeichen der Anerkennung,<br />

auch ich selbst sparte nicht damit, der ich ihr seltsames Spiel Abend für Abend vor dem Einschlafen<br />

beobachten konnte. Das war Theater, wahrhaftiges Theater, mein allabendliches Schauspiel. Hätte<br />

ich den Damen und Herren eines Abends befohlen, die Vorstellung zu unterbrechen und sich in ihre<br />

dunklen Zimmer zurückzuziehen, so hätte sie das unendlich traurig gemacht. Denn die Bewohner<br />

des Städtchens wurden nur für die Zeit dieses Spiels lebendig, sonst waren sie tot, nur wenn sie<br />

auf die Bühne traten, konnten sie vergessen, dass alles, was auch immer geschehen könnte, ihnen<br />

schon mehrfach geschehen war und ihr Spiel eben deshalb nicht mehr war als eine amüsante und<br />

hoffnungslose Maskerade. Der Maler wusste dies, denn er hatte ihnen schließlich diesen Platz<br />

geschaffen, dessen wirkliches Vorbild er offensichtlich irgendwo in Deutschland oder Holland<br />

gesehen hatte, er hatte sie in die Öffnung eines Fensters oder auf einen Balkon zusammengesperrt<br />

und ihnen nicht erlaubt, aus der Zeit herauszufallen, er hatte sie so leicht und unglücklich<br />

gemacht. Und weil er sie bedauerte, hatte er jemanden auf den Platz geschickt, den wirklich keiner<br />

mehr erwartet hätte. Das Bild zeigte genau den Moment, als in der Mitte des Platzes ein Postbote<br />

erscheint. Seine Tasche zerplatzt fast vor lauter Briefen, er schaut zu den Fenstern hinauf, doch<br />

was der Maler ihm ins Gesicht gezeichnet hat, was ihm anzusehen ist, das kann ich, der Betrachter<br />

des Bildes, nicht sehen, und so siehst auch du es nicht, lieber Leser, denn der Maler zeigt nur<br />

denen das Gesicht des Postboten, die in den Fenstern und auf den Balkonen stehen. Doch nur<br />

wenige davon nehmen ihn in diesem Moment wahr, denn in den Fenstern und auf den Balkonen<br />

wird überall geredet und getratscht, geflirtet und verspottet. Die aber, die ihn wahrnehmen, ein<br />

junges Mädchen, das wohl alle für ein gut gebautes und angenehmes Geschöpf halten, aber ohne<br />

besonderen Reiz, und ein schon nicht mehr ganz junger Mann, der für dieses Mädchen Gefühle<br />

empfindet, die er in sich selbst wahrscheinlich noch nicht wirklich geklärt hat, also die beiden<br />

schauen den Postboten mit einem heftigen Ausdruck im Gesicht an, der allerdings nicht klar zu<br />

erkennen gibt, ob sich nun das endgültige Verhängnis eingestellt hat oder im Gegenteil, ob sich<br />

eine lange schon herbeigesehnte Lösung für sie abzeichnet. Der endgültige Tod, ein Verschwinden<br />

oder ein bislang noch nicht gelebtes Leben? In Wahrheit ist auch das Auftauchen des Postboten<br />

ein Teil des Dramas, doch überrascht es die Schauspieler jeden Abend ganz unvorbereitet. Bald<br />

schon herrscht Aufregung auf dem ganzen Platz, die Paare und Gruppen lösen sich auf, alle reden<br />

gleichzeitig. Sie wollen wissen, was geschehen ist. Zu wem ist der Postbote gekommen? Wer hat<br />

ihn geschickt? Wie lautet die Nachricht? Manche verfallen in Hysterie, andere wieder überwältigt<br />

eine plötzliche Ruhe, überall hört man Geschrei, das Schauspiel findet mit einer wunderbaren<br />

Wendung sein Ende.<br />

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