Iurratio – Juristische Nachwuchsförderung eV
Iurratio – Juristische Nachwuchsförderung eV
Iurratio – Juristische Nachwuchsförderung eV
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ISSN 1867-660X<br />
Die Zeitschrift für stud. iur. und junge Juristen<br />
Titelthema<br />
Brennpunkte des öffentlichen Wirtschaftsrechts<br />
Rechtsanwältin Dr. Mona Schnaittacher<br />
Klimaschutzrecht <strong>–</strong> ein Rechtsgebiet im Entstehen<br />
James Kröger<br />
Lehre & Referendariat<br />
Aktuelles und Grundsätzliches zum Betriebsübergang<br />
Gregor Thüsing und Jan Thieken<br />
Jugendstrafrecht für junge Rechtsbrecher<br />
Christoph Nix<br />
Praxis & Karriere<br />
Soft Skills im Rahmen der universitären Ausbildung<br />
Christian Steger<br />
Verdirbt die Praxis Wissenschaft?<br />
Lea Benning<br />
Wissenschaftlicher Beirat:<br />
Prof. Dr. Michael Kotulla<br />
Prof. Dr. Heribert Prantl<br />
Prof. Dr. Martin Schwab<br />
Ausgabe 2/2011 | www.IURRATIO.de<br />
Exklusiv-Partner dieser Ausgabe:<br />
Mit Karteikarten
<strong>Iurratio</strong> <strong>–</strong> <strong>Juristische</strong> <strong>Nachwuchsförderung</strong> e.V.<br />
Welche Ziele hat der Verein<br />
„<strong>Iurratio</strong> <strong>–</strong> juristische <strong>Nachwuchsförderung</strong> e.V.“?<br />
Ziel des Vereins „<strong>Iurratio</strong> <strong>–</strong> juristische <strong>Nachwuchsförderung</strong> e.V.“<br />
ist die Förderung des juristischen Nachwuchses, die Förderung der<br />
juristischen Ausbildung und der juris prudencia insgesamt. Außerdem<br />
soll die Kommunikation über Recht durch ideelle und materielle<br />
Unterstützung des bundesweiten juristischen Nachwuchsprojektes<br />
<strong>Iurratio</strong> sicher gestellt werden.<br />
Welche Vorteile bietet eine Mitgliedschaft?<br />
Mit einer Mitgliedschaft im Verein „<strong>Iurratio</strong> - <strong>Juristische</strong> <strong>Nachwuchsförderung</strong><br />
e.V.“ unterstützt jedes Mitglied nachhaltig das Projekt<br />
<strong>Iurratio</strong> und den oben beschriebenen Vereinszweck. Darüber hinaus<br />
sorgt der Verein insbesondere durch die Übernahme der Druck- und<br />
Versandkosten für die Verbreitung der Zeitung unter den Mitgliedern<br />
und den juristischen Bibliotheken in ganz Deutschland.<br />
Wie hoch ist der jährliche Mitgliedsbeitrag?<br />
Der jährliche Mitgliedsbeitrag beträgt für Fördermitglieder als natürliche<br />
Person 25,- Euro und als juristische Person 200,- Euro. Studierende<br />
zahlen bei Vorlage eines entsprechenden Nachweises nur<br />
10,- Euro, wissenschaftliche Mitarbeiter 12,- Euro per annum. Sowohl<br />
Satzung als auch Beitragsordnung können beim Vorstand oder der<br />
Geschäftsstelle unter verein@iurratio.de als PDF-Dokument angefordert<br />
werden.<br />
Titelthemen 2011<br />
<strong>Iurratio</strong> wird sich in den letzten beiden Ausgaben des Jahres mit<br />
einer interessanten Mischung aus hochaktuellen Themen und ebenso<br />
aktuellen „Dauerthemen“ des nationalen und internationalen Rechts<br />
auseinandersetzen.<br />
Geplant sind für<br />
die Ausgabe 3/2011 das Thema<br />
„Medizinrecht“<br />
und für die Ausgabe 4/2011 das Thema<br />
„Internationales Recht“.<br />
Haben Sie zu diesen Themen eine interessante Beitragsidee oder haben<br />
Sie Interesse einen Beitrag zu diesen Themen zu leisten, melden<br />
Sie sich gern unter:<br />
chefredaktion@iurratio.de.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
<strong>Iurratio</strong> Aktuell<br />
Wie kann ich Mitglied werden?<br />
Der Verein steht jedermann offen, breite Unterstützung erhoffen<br />
wir uns von Studierenden, Professoren, Juristen und weiteren Persönlichkeiten<br />
aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Auch juristische<br />
Personen, wie Kanzleien, können Mitglied werden. Das Anmeldeformular<br />
finden Sie unter www.iurratio.de unter dem Menüpunkt<br />
„Projekt“ und hier in der Kategorie „Der Verein“.<br />
<strong>Iurratio</strong>-Karteikarten<br />
Seit der Ausgabe 1/2011 finden Sie pro Ausgabe mindestens acht Kar-<br />
teikarten zu sog. Rechtsprechungs-Klassikern und zu neuer Rechtspre-<br />
chung in unserem Heft. Unter www.iurratio.de können Sie auch eine<br />
Langversion zu jeder Karteikarte mit noch mehr wertvollen Tipps und<br />
Anmerkungen abrufen. Gemeinsam mit unserer Übersicht zu ausbil-<br />
dungsrelevanten Entscheidungen der Obergerichte sind Sie künftig<br />
stets auf der Höhe der Zeit in Sachen Rechtsprechung.<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
beginnend mit dieser Ausgabe werden Sie kün� ig pro Ausgabe mindestens acht Karteikarten aus den drei Kerngebieten<br />
des Rechts � nden.<br />
Dabei werden Sie zwei unterschiedliche Karteikartentypen vor� nden: Mit den „Klassiker“-Karten wollen wir Ihnen<br />
Inhalte der typischen Klassiker, aber auch solcher Entscheidungen, die das Zeug zum „Klassiker“ haben, näher bringen.<br />
„Neue Rechtsprechung“ ist solche, die gängige Rechtsprechung ändert oder zu einem bislang noch nicht entschiedenen<br />
Problem Stellung nimmt.<br />
Alle Karteikarten sind so aufgebaut, dass Sie mit der Karte einen Einstieg in die � ematik bekommen, sie aber auch dazu<br />
nutzen können, Rechtsprechungsinhalte zu wiederholen. Mit den neuen <strong>Iurratio</strong>-Karteikarten sind sie immer „up to date“<br />
<strong>–</strong> egal ob im Studium, zum ersten oder zweiten Staatsexamen. Zudem erhalten Sie wertvolle methodische Hinweise, die<br />
Ihnen die Einordnung in die Fallbearbeitung erleichtern soll.<br />
Ab 02.05.2010 werden Sie unter www.iurratio.de auch Langversionen zu jeder Karteikarte � nden. Darin werden wir die<br />
jeweilige Entscheidung ausführlicher für Sie au� ereiten, interessante Literaturhinweise und noch genauere Hinweise zur<br />
methodischen Bedeutung der Entscheidung geben. Mit der oben rechts aufgedruckten Nummer können Sie über die<br />
Suchfunktion auf unserer Seite ganz leicht zur Langversion der Karteikarte � nden.<br />
Viel Spaß beim Lernen mit den Karten,<br />
Alexander Otto<br />
Chefredakteur<br />
Grundsatz der Tarifeinheit<br />
Zivilrecht ArbR 2001<br />
Neue Rechtsprechung<br />
Zivilrecht SachenR 1002<br />
Reichweite des Eigentums an einem Grundstück<br />
BGH, Urteil vom 17.12.2010, V ZR 44/10 (s. auch V ZR 45/10 und V ZR 46/10)<br />
Redaktion: Dr. Lena Rudkowski, Langversion unter www.iurratio.de<br />
Sachverhalt (verkürzt):<br />
K ist Eigentümerin von Schloss Sanssouci. B betreibt ein Internetportal, auf dem gewerbliche und freiberu� iche Fotogra-<br />
fen Fotos zum entgeltlichen Herunterladen einstellen können. Auf der Internetplattform des B sind ca. 1000 Fotos von<br />
Sanssouci verö� entlicht, die im Schloss selbst oder in dessen Park gefertigt worden sind. K verlangt, die gewerbliche<br />
Vermarktung der Fotos zu unterlassen, weil ein Eingri� in ihr Eigentumsrecht vorläge; dieses beschränke sich nicht auf<br />
den Schutz der Sachsubstanz und deren Verwertung.<br />
Einstieg:<br />
Die Entscheidung führt die Rechtsprechung des BGH (Urt. v. 20.09.1974, I ZR 99/73, „Schloss Tegel“; Urt. v. 9.3.1989, I<br />
ZR 54/87, „Friesenhaus“) zur Reichweite des Grundstückseigentums fort. Die Kernfrage ist, ob der Eigentümer hinnehmen<br />
muss, dass jemand Fotos der Anlagen seines Grundstücks von diesem aus anfertigt und gewerblich verwertet.<br />
Rechtsprechung:<br />
Ein Anspruch der K gegen B auf Unterlassen der Foto-Bereitstellung kann sich aus § 1004 I BGB ergeben. § 1004 I BGB<br />
setzt eine Eigentumsbeeinträchtigung voraus, die hier vorliegt. Das Eigentum (§ 903 BGB) umfasst, dass der Eigentümer<br />
einer Sache mit dieser nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen kann. Weil Eigentum sich<br />
auf eine körperliche Sache bezieht, setzt die Eigentumsbeeinträchtigung zumindest eine Auswirkung auf die tatsächliche<br />
Nutzungsmöglichkeit der Sache voraus. Da man mit der fotogra� erten Sache immer noch „nach Belieben verfahren“<br />
kann, ist Fotogra� eren grds. keine Eigentumsverletzung. Anders liegt dies, wenn die Gebäude/Anlagen eines Grund-<br />
Zivilrecht SchuldR BT 1001<br />
Verschär� e Ha� ung Minderjähriger <strong>–</strong> Der Flugreisefall<br />
BAG, Urteil vom 07.07.2010, Az.: 4 AzR 549/08; Anfragebeschlüsse vom 27.1.2010, 4 AZR 537/08 (A)<br />
BGH, Urteil vom 07.01.1971, Az.: VII ZR 9/70 = BGHZ 55, 128 = NJW 1971, 609<br />
und 4 AZR 549/08 (A); Beschlüsse vom 23.6.2010, 10 AS 3/10 und 10 AS 3/10.<br />
Redaktion: Kathrin Böckmann, Langversion unter www.iurratio.de<br />
Redaktion: Dr. Lena Rudkowski, , Langversion unter www.iurratio.de<br />
Sachverhalt (verkürzt):<br />
Sachverhalt (verkürzt):<br />
Der 17-jährige Bekl. � og von M nach H und von dort aus ohne Flugticket weiter nach NY. Dort wurde ihm die Einreise<br />
A, Arzt und Mitglied des Marburger Bundes, verlangt von seiner Arbeitgeberin K Zahlung eines Urlaubsaufschlags nach verweigert. Die klagende Fluggesellscha� ließ den Bekl. eine Zahlungsverp� ichtung unterschreiben, stellte ihm ein Flug-<br />
BAT, weil sie über ihren Arbeitgeberverband im Verhältnis zum Marburger Bund an den BAT gebunden ist.<br />
ticket aus und � og ihn noch am selben Tag zurück nach M. Die Mutter des Bekl. verweigerte als gesetzliche Vertreterin<br />
K wendet ein, dass A sich auf den BAT nicht berufen könne, da sie, K, auch gegenüber der Gewerkscha� Ver.di gebunden die Genehmigung des Rechtsgeschä� s. Die Fluggesellscha� verlangt von dem Bekl. die Zahlung des Flugpreises für die<br />
sei, und zwar an den auch für Ärzte geltenden TVöD. Dieser verdränge als speziellere Regelung den BAT.<br />
Strecke H - NY sowie die Zahlung des Flugpreises für die Strecke NY - M. Zu Recht?<br />
Rechtsprechungsänderung:<br />
Einstieg:<br />
Die Rechtsprechung ging bislang vom „Grundsatz der Tarifeinheit“ aus: Es könne in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Zentrales Problem dieses Klassikers ist der Wegfall der Bereicherung nach § 818 III BGB. Daneben hatte der BGH die<br />
Anwendung � nden (Motto: „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag!“). Bestehende Tarifpluralitäten müssten nach dem „Grundsatz Leistungs- von der Eingri� skondiktion abzugrenzen und zu entscheiden, ob der Beklagte überhaupt im Sinne von § 812<br />
der Spezialität aufgelöst werden. Es sei nur der Tarifvertrag anwendbar, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich Abs. 1 BGB „etwas erlangt“ hat. Zudem hatte sich der BGH mit den Rechtsfolgen der Bösgläubigkeit im Bereicherungs-<br />
und persönlich am nächsten steht, der den Eigenarten und Erfordernissen des Betriebs am besten Rechnung trägt. recht auseinanderzusetzen.<br />
Das BAG hat diesen Grundsatz nunmehr aufgegeben. Das hat nicht nur Bedeutung für die Frage nach dem auf den Methodische Bedeutung:<br />
Arbeitsvertrag anzuwendenden Tarifvertrag und damit für die Ansprüche des Arbeitnehmers, sondern auch für das Dieser Fall eignet sich zur Wiederholung der kompletten zivilrechtlichen Anspruchsreihenfolge: vor den bereicherungs-<br />
Arbeitskampfrecht (siehe Langversion).<br />
rechtlichen Ansprüchen sind zunächst vertragliche sowie deliktische Ansprüche anzuprüfen. Besonders gut lassen sich<br />
an diesem Fall aber auch Au� au und Struktur des Bereicherungsrechts lernen und verstehen. Daneben werden die<br />
systematischen Zusammenhänge zwischen dem Allgemeinen Teil des BGB, dem Deliktsrecht und dem Bereicherungsrecht<br />
deutlich.<br />
Klassiker<br />
Öffentliches Recht VerfR 4001<br />
Öffentliches Recht VerwR 4002<br />
Neue Rechtsprechung<br />
Neue Rechtsprechung<br />
Die Sicherungsverwahrung<br />
Enttarnung durch Presseverö� entlichung<br />
EGMR Urteile vom 13.01.2011, Az.: 6587/04 und 17.12.2009, Az.: 19359/04<br />
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.08.2010, Az. 1 S 2266/09<br />
Redaktion: Vivien Eckho� , Langversion unter www.iurratio.de<br />
Redaktion: Alexander Otto, Langversion unter www.iurratio.de<br />
Sachverhalt (verkürzt):<br />
Sachverhalt (verkürzt):<br />
In dieser Entscheidung vom 13.01.2011 ging es um die Frage, ob Deutschland in drei Fällen der Anordnung der nach- Krä� e eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) der Polizei waren im Einsatz, um einen bereits in Untersuchungsha�<br />
träglichen Sicherungsverwahrung � nanzielle Entschädigung zu leisten hat. Bei den 1993, 1992 und 1985 zu längeren be� ndlichen Tatverdächtigen zu einem Arzttermin in der Innenstadt der Stadt S-H zu verbringen. Dazu fuhren die<br />
Ha� strafen verurteilten Stra� ätern wurde die zusätzliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bis 2010 mehr- Beamten mit zivilen Dienstfahrzeugen in den unmittelbaren Nahbereich der Praxis und brachten den Inha� ierten hinfach<br />
aufgrund von Sachverständigengutachten verlängert. Regel war es bis 1998, dass die Sicherungsverwahrung ein, während zwei Beamte vor dem Gebäude blieben. Einsatzleiter E postierte sich im Eingangsbereich. Alle Beamten<br />
10 Jahre nicht überschreiten darf. Aufgrund der Neuregelung in § 67 d III StGB ent� el 1998 diese zeitliche Begrenzung. waren zivil gekleidet, aber bewa� net, E sogar mit einer Maschinenpistole. Die Situation bemerkten zwei Journalisten, die<br />
Einstieg:<br />
um Auskun� über die Geschehnisse ersuchten und diese auch erhielten. Einer der beiden versuchte dann Bilder von<br />
Zentrale Bedeutung haben diese Entscheidungen zum einen wegen der unterschiedlichen Rechtsprechungspraxis der Einsatz, Dienstfahrzeugen und Beamten aufzunehmen, wurde dann aber von E aufgefordert, das Fotogra� eren zu unter-<br />
Gerichte. Zum anderen ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Grundrechte aus der EMRK, insb. die Art. 5 lassen. E begründete dies damit, dass die Beamten aus Gründen des Identitätsschutzes und um mögliche Sanktionen der<br />
und 7 herauszuarbeiten.<br />
Gegenseite aus dem Bereich der organisierten Kriminalität auszuschließen, nicht abgelichtet werden sollten. Die Journa-<br />
Rechtsprechung:<br />
listen bestanden auf ihrem Rechercherecht, worau� in der Einsatzleiter eine Beschlagnahme von Kamera und Filmma-<br />
Der EGMR hat bereits 2009 in dem Verfahren der Individualbeschwerde M gegen Deutschland festgestellt: Die Entscheiterial androhte.<br />
dungen der deutschen Gerichte, die Stra� äter auch über die Dauer von zehn Jahren hinaus in der Sicherungsverwahrung Einstieg:<br />
zu belassen, verstoßen gegen Art. 5 und 7 EMRK und sind damit menschenrechtswidrig. Zu Art.5 I EMRK (nachlesen!): Die Entscheidung ist geeignet, um sich mit der Polizeifestigkeit der Pressefreiheit, v.a. aber mit den Vorschri� en des<br />
Voraussetzung einer Freiheitsentziehenden Maßnahme ist, dass für diese eine gesetzliche Grundlage vorliegt (zum Zeit- Kunsturhebergesetzes und der Frage auseinanderzusetzen, wann ein Mensch eine Person der Zeitgeschichte ist und<br />
punkt der Verurteilung: § 67 d I StGB). Weiterhin muss ein Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Täters welche Auswirkungen dies hat.<br />
und der Fortdauer seiner Freiheitsentziehung vorhanden sein. Da er ohne die gesetzliche Änderung 1998 nach 10 Jahren<br />
klassiker<br />
Strafrecht StrR AT 6002<br />
Strafrecht StrR AT 6001<br />
Neue Rechtsprechung<br />
Neue Rechtsprechung<br />
Eissporthalle Bad Reichenhall<br />
Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch<br />
BGH, Urteil vom 12.01.2010, Az.: 1 StR 272/09<br />
BGH, Urteil vom 25.06.2010, Az.: 2 StR 454/09<br />
Redaktion: Christine Dutzmann, Langversion unter www.iurratio.de<br />
Redaktion: Alexander Otto, Langversion unter www.iurratio.de<br />
Sachverhalt (verkürzt):<br />
Sachverhalt (verkürzt):<br />
Durch den Dach-Einsturz der Eissporthalle von Bad Reichenhall starben 15 Besucher, 6 weitere wurden schwer verletzt. Nachdem ihr Mann eine Hirnblutung erlitt, erörterte P mit ihren Kindern, ob und wie sie sich in einem solchen Fall die<br />
Zum Einsturz kam es aufgrund gravierender Mängel in der Dachkonstruktion. Ingenieur I erhielt von der Stadt den Behandlung wünscht. Dabei äußerte sie klar, dass sie im Falle einer Bewusstlosigkeit und der verlorenen Fähigkeit, ihren<br />
Au� rag, ein Gesamtgutachten über anstehende Sanierungsmaßnahmen zu erstellen. Von dem Au� rag umfasst war auch Willen zu äußern, weder künstlich ernährt noch beatmet werden möchte. Kurz darauf erlitt P eine Hirnblutung und � el<br />
die Dachkonstruktion der Eishalle. Ein Standsicherheitsgutachten war nicht in Au� rag gegeben oder gewollt, wohl aber ins Wachkoma, wurde künstlich ernährt. Obwohl keine Streitigkeiten zwischen Familie und Ärzten über den Willen der<br />
eine „handnahe Überprüfung“ der Holzträger. I untersuchte einen Träger wegen au� älliger Flecken näher, die restlichen P bestanden, wurde ein Behandlungsabbruch abgelehnt bzw. durch Wiederaufnahme der Behandlung verhindert. Auf<br />
Balken betrachtete er mit einem Teleobjektiv vom Boden aus. Bei handnaher Untersuchung hätte I o� ene Fugen in der Anraten ihres Rechtsanwaltes schnitten die Kinder der P darau� in den Schlauch der Ernährungssonde durch. P wurde<br />
Verleimung gefunden und ein Holzsachverständiger hätte darau� in die brüchigen Leimverbindungen aufgedeckt. I kam in eine Klinik eingeliefert und eine neue Ernährungssonde gelegt. Kurz darauf starb P eines natürlichen Todes.<br />
zu dem Schluss: „Die Tragkonstruktionen der gesamten Eissporthalle be� nden sich in einem allgemein als gut zu Einstieg:<br />
bezeichnenden Zustand.“ I hatte bereits bei einer Untersuchung der Schwimmhalle im Jahr 2001 starke Beschädigungen � ema des Urteils ist die Stra� arkeit des Behandlungsabbruchs durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer<br />
im Dach der Schwimmhalle reklamiert und diese im Jahr 2003 wiederholt. Die Stadt reagierte hierauf zunächst jedoch bereits begonnenen medizinischen Behandlung. Im Mittelpunkt der Entscheidung stehen die neuen Regelungen zur sog.<br />
nicht.<br />
Patientenverfügung. Die Entscheidung eignet sich zur Wiederholung der Rechtfertigungsgründe. In diesem Zusam-<br />
Einstieg:<br />
menhang sollten auch die Grundsätze der „Hilfe zum Sterben“ und „Hilfe im Sterben“ wiederholt werden.<br />
Die Entscheidung eignet sich zur Wiederholung der Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts. Ob seiner Rechtsprechungsänderung:<br />
Aktualität und der großen Medienresonanz ist fast sicher davon auszugehen, dass dieses BGH-Urteil schon bald Gegen- Wurde bislang das aktive Tun bei der „zulässigen“ Sterbehilfe ausgeschlossen und auf einem wenig nachvollziehbaren<br />
stand einiger Examensklausuren sein wird.<br />
Weg dem Unterlassen gleichgestellt, stellt der BGH nun klar, dass auch das aktive Tun bei der Sterbehilfe einer Einwilligung<br />
zugänglich ist, sofern es sich im Rahmen eines Behandlungsabbruchs bewegt.<br />
67
S. 70<br />
Inhalt / Impressum<br />
Titelthema: Energie im Fokus der<br />
Rechtswissenschaft<br />
Impressum Ausgabe 2/2011<br />
Herausgeber: Jens-Peter Thiemann (V.i.S.d.P.)<br />
herausgeber@iurratio.de<br />
S. 123<br />
Interview: Christoph Harras-Wolff<br />
Tipp zur Frauen-Fußball-WM<br />
Chefredaktion: Alexander Otto, Vivien Eckhoff (Stellvertreterin),<br />
Hanna Furlkröger (2. Stellvertreterin)<br />
chefredaktion@iurratio.de<br />
Redaktion:<br />
Ressort Zivilrecht (zivilrecht@iurratio.de) Christine Dutzmann, Ahmad Sayed<br />
Ressort Strafrecht (strafrecht@iurratio.de)<br />
Kiyomi von Frankenberg (Ltg., Standortleiterin Uni Freiburg),<br />
Konstantina Papathanasiou (Standortleiterin Universität Heidelberg)<br />
Ressort Öffentliches Recht (oerecht@iurratio.de) Georg Dietlein (Standortleiter Köln),<br />
Malte Hakemann<br />
Ressort Fallbearbeitungen (fallbearbeitung@iurratio.de) Hanna Furlkröger (Ltg.),<br />
Tamina Preuß, Larissa Bechthold<br />
Ressort LawLifeSytle (lawlifestyle@iurratio.de) Sandra Beuke (Ltg.)<br />
Ressort Praxis & Karriere (praxis@iurratio.de) Jan-Christoph Stephan (Ltg., Standortleiter<br />
Universität Konstanz), Dirk Veldhoff, Lars Stegemann, Felix Wrocklage<br />
Ressort Rechtsprechung (rechtsprechung@iurratio.de) Christine Dutzmann (Ltg.),<br />
Dirk Veldhoff (Ltg.), Alexander Otto (stv. Ltg.), Kathrin Böckmann, Maike Brinkert,<br />
Vivien Eckhoff, Prof. Dr. Lena Rudkowski<br />
Unsere Ansprechpartner an den Standorten erreichen Sie unter unistadtname@iurratio.de,<br />
also z.B. die Standortleiterin in Bremen unter unibremen@iurratio.de.<br />
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Michael Kotulla (Universität Bielefeld),<br />
Prof. Dr. Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung/Universität Bielefeld),<br />
Prof. Dr. Martin Schwab (Freie Universität Berlin)<br />
Beilagen: Dieser Ausgabe sind zwei Bögen à 4 Karteikarten beigeheftet. Sollten diese<br />
Karten fehlen, können Sie diese nach Erscheinen unter www.iurratio.de abrufen.<br />
Ausschluss: Namentlich gekennzeichnete Beiträge repräsentieren nicht unbedingt die<br />
Meinung der Redaktion.<br />
Lektorat: Annica Klemme, Susanne Bettendorf<br />
Layout & Satz: Susanne Günther, Düsseldorf<br />
info@susanneguenther.de<br />
<strong>Iurratio</strong>-Logo: Tobias Kunkel<br />
Geschäftsführer: Eckart Pradel, gf@iurratio.de<br />
Anzeigenabteilung: Sabrina Mokulys, Niels Grotjohann, Eva Mast, Kim-Aniko Naujok,<br />
Merissa Gabor, Valentina Leis, Björn Wittenstein, Lea Benning, Jenny Ryszka,<br />
Marlene Alker, Daniel Frey<br />
anzeigen@iurratio.de<br />
Auslandskorrespondenz: Inga Thiemann (Englisch, Niederländisch),<br />
Marlene Alker (Französisch)<br />
Vertrieb: Niels Grotjohann, Xinia Bitterlich, Vanessa Faber, Lars Buchtmann<br />
vertrieb@iurratio.de<br />
Postanschrift: <strong>Iurratio</strong>, Röckumstraße 63, 53121 Bonn<br />
Redaktionsanschrift: Postfach 1540, 26645 Westerstede<br />
S. 115<br />
Druck: Gutverlag, 48477 Hörstel, www.gutverlag.com<br />
Urheber- und Verlagsrechte: Alle in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich<br />
geschützt. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken und ähnlichen<br />
Einrichtungen. Kein Teil dieser Zeitschrift darf außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes<br />
ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert werden.<br />
Autorenhinweise: Ausführliche Autorenhinweise finden Sie auf unserer Homepage<br />
www.iurratio.de<br />
Titelthema<br />
„Energie im Fokus der Rechtswissenschaft“<br />
SCHNAITTACHER Aktuelle Brennpunkte des öffentlichen Wirtschaftsrechts 70<br />
KRöGER Klimaschutzrecht <strong>–</strong> Ein Rechtsgebiet im Entstehen 75<br />
THIEMANN Kommentar: Schneller Energiewandel - aber wie? 80<br />
Lehre & Referendariat<br />
Ausbildung<br />
THüSING / THIEKEN Aktuelles und Grundsätzliches zum Betriebsübergang 82<br />
NIx Jugendstrafrecht für junge Rechtsbrecher 87<br />
Schwerpunkte<br />
KoEHLER Probleme bei der Vernehmung von Kindern, 92<br />
die Opfer sexueller Gewalt geworden sind<br />
SELKER Das steuerstrafrechtliche Institut der Selbstanzeige im Wandel 97<br />
Fallbearbeitung<br />
ERNST Anfänger im Öffentlichen Recht: „Puma im Wohngebiet“ <strong>–</strong> 101<br />
Zur Abgrenzung der polizeilichen Gefahrbegriffe<br />
SCHEINFELD Fortgeschrittene im Strafrecht (Schwerpunkt): 104<br />
„Leben und sterben lassen“<br />
MAJER Examenskandidaten im Zivilrecht: „Bruno, der Problembär“ 109<br />
Lawlife Style 114 / 115<br />
- „Arbeitnehmer dürfen nicht getreten werden“<br />
Lustiges und Kurioses aus der Rechtsprechung<br />
- Jura vom „Hören-Sagen“<br />
Praxis & Karriere<br />
STEGER Soft Skills im Rahmen der Universitären Ausbildung 116<br />
ADoMAVICIUTE <strong>Juristische</strong>r Werdegang im Vergleich:<br />
Deutschland vs. Litauen oder schwieriger vs. schneller Start<br />
119<br />
BENNING Verdirbt die Praxis Wissenschaft? 120<br />
JEREMIAS Modernes Compliance <strong>–</strong> Herausforderung oder Bestrafung 122<br />
THIEMANN Ein gutes Compliance-Programm ist ein Baustein<br />
für ein erfolgreiches und langfristiges Agieren eines Unternehmens <strong>–</strong><br />
Ein Interview mit Christoph Harras-Wolff<br />
123<br />
Stellenmarkt 124<br />
Rechtsprechung 126
Dr. Dietmar Helms<br />
Praxisgruppenleiter, Banking & Finance<br />
Rundenbestzeit: 55,32 Sekunden<br />
Dr. Oliver Socher<br />
Partner, Syndicated Lending<br />
Rundenbestzeit: 56,83 Sekunden<br />
Sandra Wittinghofer<br />
Senior Associate, Bankaufsichtsrecht<br />
Rundenbestzeit: 57,48 Sekunden<br />
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Sandra Schmidt, Bethmannstraße 50-54, 60311 Frankfurt am Main, Telefon +49 (0) 69 2 99 08 384,<br />
E-Mail: sandra.schmidt@bakermckenzie.com, www.bakermckenzie.com<br />
Die Baker & McKenzie - Partnerschaft von Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und Solicitors ist eine im Partnerschaftsregister des Amtsgerichts Frankfurt/Main<br />
unter PR-Nr. 1602 eingetragene Partnerschaftsgesellschaft nach deutschem Recht mit Sitz in Frankfurt/Main. Sie ist assoziiert mit Baker & McKenzie International, einem Verein<br />
nach Schweizer Recht.
70<br />
Titelthema<br />
A. EINLEITUNG<br />
Aktuelle Brennpunkte des öffentlichen wirtschaftsrechts<br />
von Rechtsanwältin Dr. Mona Schnaittacher (Köln)<br />
Rechtsanwältin Dr. Mona Schnaittacher ist Senior Associate<br />
am Kölner Standort der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft.<br />
Ihre Beratungsschwerpunkte liegen in der gesellschaftsund<br />
steuerrechtlichen Beratung der öffentlichen Hand<br />
sowie in der haushaltsrechtlichen und preisrechtlichen Gestaltung<br />
bei Privatisierungsprojekten im öffentlichen Sektor.<br />
Die Ansichten über ein optimales Verhältnis von Wirtschaft und Staat un-<br />
terliegen dem ständigen Wandel. Mit verschiedensten Instrumenten ver-<br />
suchen staatliche und überstaatliche Normgeber mehr oder weniger intensiv<br />
auf wirtschaftliche Verläufe Einfluss zu nehmen. Nicht zuletzt aufgrund<br />
des wachsenden Einflusses des Gemeinschaftsrechts und des internationalen<br />
Wirtschaftsrechts handelt es sich bei dem so entstehenden öffentlichen Wirtschaftsrecht<br />
um ein sich ständig in Bewegung befindliches Rechtsgebiet.<br />
Dabei lassen sich verschiedene Trends beobachten. Führte die Öffnung des<br />
Marktes in vielen Bereichen zunächst zu einer umfänglichen Privatisierung,<br />
sind in jüngerer Zeit wieder vermehrt Rekommunalisierungstendenzen<br />
auszumachen.<br />
Entsprechend dieser teilweise gegenläufigen Dynamik steigt die Bedeutung<br />
des öffentlichen Wirtschaftsrechts in der Praxis. Deshalb sollen im Folgenden<br />
zwei aktuelle Entwicklungen beleuchtet werden, die in der anwaltlichen Praxis<br />
derzeit zu vielfältigen und hochaktuellen Problemkonstellationen führen.<br />
B. DIE NEUFASSUNG DES § 9 B STRoMSTG <strong>–</strong> GESETZESäNDERUNG<br />
IN BEZUG AUF DIE EINSCHRäNKUNG DER öKoSTEUERBEFREI-<br />
UNG NACH § 9 ABS. 3 STRoMSTG FüR CoNTRACTING- LöSUNGEN<br />
Zum 01.01.2011 trat mit dem Haushaltsbegleitgesetz 20111 eine Änderung<br />
des Stromsteuergesetzes in Kraft, welche zukünftig eine Steuerentlastung „für<br />
die Entnahme von Strom zur Erzeugung von Licht, Wärme, Kälte, Druckluft<br />
und mechanischer Energie nur gewährt, soweit die vorgenannten Erzeugnisse<br />
nachweislich durch ein Unternehmen des produzierenden Gewerbes<br />
oder ein Unternehmen der Land- und Forstwirtschaft genutzt worden sind“,<br />
§ 9 b Abs. 1 S. 2 Stromsteuergesetz. In der Folge entfällt damit die Steuervergünstigung<br />
für sog. Contracting-Lösungen in weiten Bereichen vollständig.<br />
I. BEGRIFF DES CoNTRACTING<br />
Unter Contracting versteht man verschiedene Dienstleistungen im Bereich<br />
des Energiesektors, bei denen (im Hauptanwendungsfall des sog. Energie-<br />
1 HBeglG v. 09.12.2011, BGBl. I 2010, 1885.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
liefer-Contracting) der Contractor eine bestehende Energieerzeugungsanlage<br />
übernimmt oder eine neue plant, finanziert und errichtet; der Contractingnehmer<br />
bezieht dann sog. Sekundär- oder Nutzenergie wie Licht, Wärme,<br />
Kälte, Druckluft und mechanischer Energie vom Contractor2 statt diese (weiterhin)<br />
selbst zu erzeugen.<br />
Eine Legaldefinition des Contracting existiert bislang nicht. Eine Orientierung<br />
kann aber an europäisch geprägten Begriffen erfolgen. Die europäische<br />
Richtlinie 2006/32/EG3 (EDL-Richtlinie) definiert den Begriff der Energiedienstleistung<br />
in Art. 3 e) als den „physikalische(n) Nutzeffekt, den Nutzwert<br />
oder die Vorteile als Ergebnis der Kombination von Energie mit energieeffizienter<br />
Technologie und/oder mit Maßnahmen, die die erforderlichen Betriebs-,<br />
Instandhaltungs- und Kontrollaktivitäten zur Erbringung der Dienstleistung<br />
beinhalten können; sie wird auf der Grundlage eines Vertrags erbracht<br />
und führt unter normalen Umständen erwiesenermaßen zu überprüfbaren<br />
und mess- oder schätzbaren Energieeffizienzverbesserungen und/ oder<br />
Primärenergieeinsparungen.“<br />
Darüber hinaus kann das Contracting auch als Finanzinstrument im Sinne<br />
dieser Richtlinie angesehen werden. Nach Art. 3 m (EDL-Richtlinien) sind<br />
Finanzinstrumente für Energieeinsparungen „alle Finanzierungsinstrumente<br />
wie Fonds, Subventionen, Steuernachlässe, Darlehen, Drittfinanzierungen,<br />
Energieleistungsverträge, Verträge über garantierte Energieeinsparungen,<br />
Energie-Outsourcing und andere ähnliche Verträge, die von öffentlichen<br />
oder privaten Stellen zur teilweisen bzw. vollen Deckung der anfänglichen<br />
Projektkosten für die Durchführung von Energieeffizienzmaßnahmen<br />
auf dem Markt bereitgestellt werden”.<br />
II. ANDERE ARTEN DES CoNTRACTING<br />
Neben dem Energieliefer-Contracting existieren noch andere Arten des Contracting,<br />
namentlich das Energiespar-Contracting, Betriebsführungs-Contracting<br />
und Finanzierungs-Contracting. Mengenmäßig spielen diese Formen<br />
des Contracting aber eine untergeordnete Rolle; auch fehlt hier häufig<br />
die typische Konstruktion, die zu der genannten steuerrechtlichen Konstellation<br />
führt.<br />
III. EURoPARECHTLICH ERWüNSCHT UND GESCHüTZT<br />
Contracting ist im Rahmen europäischer Gesetze geschützt und soll gefördert<br />
werden. Mit der Einordnung als Finanzinstrument geht gemäß Art. 9 Abs. 1<br />
EDL-Richtlinie eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten einher, „nicht eindeutig<br />
dem Steuerrecht zuzuordnende nationale Rechtsvorschriften“ aufzuheben<br />
oder zu ändern, „wenn diese die Nutzung von Finanzinstrumenten auf dem<br />
2 Vgl. Lippert, in: Danner/ Theobald, Energierecht, 66. EL, Kap. VIII a<br />
Rn. 10.<br />
3 Richtlinie 2006/32/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom<br />
5. April 2006 über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen und<br />
zur Aufhebung der Richtlinie 93/76/EWG des Rates.
Markt für Energiedienstleistungen und andere Energieeffizienzmaßnahmen<br />
unnötigerweise oder unverhältnismäßig behindern oder beschränken.”<br />
Die fehlende Kompetenz des Gemeinschaftsgesetzgebers auf dem Gebiet des<br />
Steuerrechts hat in diesem Fall aber zur Konsequenz, dass der nationale Ge-<br />
setzgeber das Contracting zwar formell gestatten, aber wirtschaftlich derart<br />
unattraktiv gestalten kann, dass die eigentlich begrüßten Energieeinsparef-<br />
fekte nicht realisiert werden können. Genau dies ist in Deutschland gesche-<br />
hen. Aus diesem Grund gab es vor Inkrafttreten der Änderungen des Strom-<br />
steuergesetzes in Deutschland heftige Diskussionen bezüglich des Wertes ei-<br />
ner solchen Neuregelung.<br />
IV. ZIELSETZUNG DER äNDERUNG: BESEITIGUNG VoN SCHEIN-<br />
CoNTRACTING<br />
Unternehmen des produzierenden Gewerbes werden vornehmlich steuerlich<br />
begünstigt, um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Bislang<br />
umfasste diese Regelung auch alle diejenigen, die aus Strom sekundäre Ener-<br />
gieformen (Licht, Wärme, Druckluft und mechanische Energie) produzierten,<br />
diese aber an Dritte weitergaben.<br />
Mit der Änderung in § 9 b Abs. 1 S. 2 Stromsteuergesetz wird diese Vergün-<br />
stigung nur noch gewährt, „soweit die vorgenannten Erzeugnisse nachweis-<br />
lich durch ein Unternehmen des produzierenden Gewerbes oder ein Unter-<br />
nehmen der Land- und Forstwirtschaft genutzt worden sind.“<br />
Die Einschränkung des alten § 9 Abs. 3 Stromsteuergesetz sollte vor allem<br />
unerwünschte Mitnahmeeffekte vermeiden und das sog. Schein-Contrac-<br />
ting beseitigen. Die Effekte der Gesetzesänderung entsprechen aber in weiten<br />
Teilen nicht der ursprünglichen Zielsetzung bzw. schießen weit über sie<br />
hinaus. Beim Schein-Contracting handelt es sich um Konstellationen, in denen<br />
eine Auslagerung der Energieversorgung nur auf dem Papier stattfindet.<br />
Neben den klassischen Energieversorgern beliefern dann aus rein steuerlichen<br />
Gründen auch „Marktfremde, wie z. B. Steuer- und Unternehmensberater,<br />
Rechtsanwälte und Ingenieure“ 4 den Abnehmer mit Nutzenergie. Rein<br />
tatsächlich betreibt dieser die Anlage aber weiterhin selbst. Die ungerechtfertigterweise<br />
entstehenden Steuervorteile summierten sich nach Angaben des<br />
Bundesrechnungshofes zuletzt auf rund 500 Mio. € pro Jahr. 5<br />
Im Ergebnis führt diese Einschränkung aber dazu, dass die Vergünstigung<br />
auch entfällt, sobald z. B. ein Krankenhaus, eine Schule oder Verwaltungseinrichtungen<br />
die Energie nutzen. Der öffentliche Sektor, der typischerweise gerade<br />
keine produzierenden Unternehmen betreibt, ist damit in besonderem<br />
Umfang von der Änderung betroffen.<br />
4 Bundesrechnungshof, Chancen zur Entlastung und Modernisierung des<br />
Bundeshaushalts. Vorschläge des Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit<br />
in der Verwaltung (BWV), Bonn 2009, S. 58. Abrufbar unter http://<br />
bundesrechnungshof.de.<br />
5 Bundesrechnungshof, Chancen zur Entlastung und Modernisierung des<br />
Bundeshaushalts. Vorschläge des Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit<br />
in der Verwaltung (BWV), Bonn 2009, S. 58. Abrufbar unter http://<br />
bundesrechnungshof.de.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
C. WEGENUTZUNGSVERTRäGE<br />
Titelthema<br />
Ein völlig anderes, aber nicht weniger aktuelles Problemfeld im öffentlichen<br />
Wirtschaftsrecht bilden die Wegenutzungsverträge - auch Konzessionsverträge<br />
genannt - für die Verlegung von Energieversorgungsleitungen. Zurzeit<br />
gibt es bundesweit geschätzte 20.000 Konzessionsverträge. 6 In den kommenden<br />
Jahren läuft eine große Zahl der stets befristeten Grundversorgungsverträge<br />
ab. Damit stellt sich verstärkt die Problematik der Neuvergabe solcher<br />
Erlaubnisse. Der Diskussionsbedarf ist entsprechend hoch, denn abschließende<br />
gesetzliche oder richterliche Vorgaben fehlen.<br />
I. WAS SIND WEGENUTZUNGSVERTRäGE?<br />
Gemeinden sind gemäß § 46 Abs. 1 S. 1 des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG)<br />
verpflichtet, “ihre öffentlichen Verkehrswege für die Verlegung und den<br />
Betrieb von Leitungen […] zur unmittelbaren Versorgung von Letztverbrauchern<br />
im Gemeindegebiet diskriminierungsfrei durch Vertrag zur Verfügung<br />
zu stellen.“ Der auf Grundlage dieser Regelung abgeschlossene Wegenutzungsvertrag<br />
gibt dem Unternehmen das Recht zur Betreibung des<br />
Leitungsnetzes.<br />
Durch die Entflechtung der vergangenen Jahre sind dabei Netzbetreiber und<br />
Energieversorger funktional voneinander getrennt. Nur den Betreiber eines<br />
allgemeinen Versorgungsnetzes trifft gemäß § 18 EnWG eine allgemeine Anschlusspflicht.<br />
Folglich trifft auch nicht automatisch jeden Energieversorger,<br />
sondern nur den Anbieter, der in einem Gebiet die meisten Kunden versorgt,<br />
eine Versorgungspflicht, § 36 EnWG. Durch Vergabe der entsprechenden<br />
Rechte an die Energieversorgungsunternehmen kommen die Kommunen ihrer<br />
Verpflichtung aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG zur Grundversorgung mit Energie<br />
im Rahmen der Daseinsvorsorge nach.<br />
Die Kommunen können den Abschluss eines einfachen Wegenutzungsvertrages<br />
gemäß § 46 Abs. 1 S. 2 EnWG nur ablehnen, „solange das Energieversorgungsunternehmen<br />
die Zahlung von Konzessions abgaben in Höhe<br />
der Höchstsätze […] verweigert und eine Einigung über die Höhe der<br />
Konzessions abgaben noch nicht erzielt ist.“ Die Höhe der Abgabe bestimmt<br />
sich dabei nach der Konzessionsabgabenverordnung. Die Kommunen erhal-<br />
ten so eine angemessene Vergütung für die Benutzung der gemeindlichen<br />
Flächen.<br />
Die „qualifizierten“ Wegenutzungsverträge, die der allgemeinen Versorgung<br />
dienen und nicht lediglich für die Versorgung einzelner (Groß-)Abnehmer<br />
abgeschlossen wurden, haben eine Laufzeit von max. 20 Jahren, § 46 Abs. 2<br />
S. 1 EnWG. Spätestens nach Ablauf dieser Zeit muss das Wegenutzungsrecht<br />
dann neu vergeben werden.<br />
Der Wandel in der Energiewirtschaft hat dabei zu einem vermehrten Wettbe-<br />
werb nicht nur „in Netzen“, sondern auch „um Netze“ geführt. Dabei ergeben<br />
sich im Detail aber einige Schwierigkeiten.<br />
6 Gemeinsamer Leitfaden von Bundeskartellamt und Bundesnetzagentur<br />
zur Vergabe von Strom- und Gaskonzessionen und zum Wechsel des Konzessionsnehmers,<br />
15. Dezember 2010, Rn. A 1.<br />
71
72<br />
Titelthema<br />
II. AUSGANGSLAGE BEI DER NEUVERGABE<br />
Auch in der Energieversorgung zeichnet sich ein Trend zur Rekommunalisie-<br />
rung 7 ab. Es erfolgt eine gehäufte Vergabe von Konzessionen an kommunale<br />
Unternehmen. Problematisch ist daran, dass die Gemeinde auf der Angebots-<br />
seite eine Monopolstellung innehat, die sie nicht missbrauchen darf. Sie muss<br />
also ein entsprechendes wettbewerbliches Vergabeverfahren durchführen.<br />
Die Vergabe von öffentlichen Aufträgen richtet sich im Allgemeinen nach<br />
den stark formalisierten Verfahren der §§ 97 ff. Gesetz gegen Wettbewerbs-<br />
beschränkungen (GWB). Dieses ist hier aber nicht anwendbar, da es sich bei<br />
der Konzessionsvergabe nicht um öffentliche Aufträge über Liefer-, Bau- oder<br />
Dienstleistungen im Sinne des § 99 der GWB handelt. 8<br />
Vielmehr hat eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung als transparentes Bie-<br />
terverfahren stattzufinden. Dies stellt die Kommunen in der Praxis häufig vor<br />
erhebliche Probleme sowohl vor/während als auch nach Abschluss des Bie-<br />
terverfahrens, von denen zwei im Folgenden näher beleuchtet werden sollen.<br />
III. STREITIGKEITEN BEI DER DURCHFüHRUNG EINES BIETER-<br />
VERFAHRENS<br />
1. AUSGANGSLAGE<br />
Das EnWG macht für das Verfahren zur Vergabe von Wegenutzungsrechten<br />
kaum Vorschriften. Lediglich einige Bekanntmachungspflichten sind in §<br />
46 Abs. 3 EnWG enthalten. Anhaltspunkte kann eine Mitteilung der euro-<br />
päischen Kommission 9 (Mitteilung) bieten, die für die Vergabe öffentlicher<br />
Aufträge gilt, die nicht unter die Vergaberichtlinien fallen. Auch dort gelten<br />
z. B. die Grundfreiheiten, etwa die Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 des Ver-<br />
trages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und die üb-<br />
rigen wettbewerbsrechtlichen Vorschriften des europäischen Primärrechts.<br />
Die Kommissionsmitteilung nennt folglich unter anderem die Verpflichtung<br />
zur Durchführung eines unparteiischen Verfahrens.<br />
Dazu muss die Absicht, Wegerechte neu zu vergeben, zunächst in einer dem<br />
zu erwartenden Interesse an der Ausschreibung Rechnung tragenden Form<br />
bekannt gemacht werden. Die Gemeinde muss den Vertragsablauf durch Ver-<br />
öffentlichung im Bundesanzeiger oder im elektronischen Bundesanzeiger be-<br />
kannt machen, § 46 Abs. 3 EnWG. Es hat ein transparentes und diskriminie-<br />
rungsfreies Verfahren zu erfolgen, zu dem auch die vorherige Definition und<br />
spätere Berück sichtigung objektiver Zuschlagskriterien gehört. Diese kön-<br />
nen etwa die Wirtschaftlichkeit des Angebots, aber auch die Versorgungs-<br />
sicherheit berücksichtigen. 10<br />
7 Gemeinsamer Leitfaden von Bundeskartellamt und Bundesnetzagentur<br />
zur Vergabe von Strom- und Gaskonzessionen und zum Wechsel des Konzessionsnehmers,<br />
15. Dezember 2010, Rn. A 3.<br />
8 Str., vgl. EuGH - WAZV Gotha, Urteil v. 10.09.09, Rs. C 206/08.<br />
9 „Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht,<br />
das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht<br />
oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen“, 2006/C 179/02.<br />
10 Vgl. Theobald, in: Danner/ Theobald, Energierecht, EnWG § 46 Wegenutzungsverträge,<br />
66. EL, Rn. 22 f.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Die Ausschreibung muss insgesamt derart erfolgen, dass im Nachhinein überprüft<br />
werden kann, ob ein faires Verfahren stattgefunden hat. 11 Dies muss<br />
auch die Möglichkeit für die Teilnehmer enthalten, effektiven Rechtsschutz<br />
zu erlangen. Aus diesem Grund ist auch eine Veröffentlichung der Neuabschlüsse<br />
und der wesentlichen Gründe für die Entscheidungen zur Vergabe<br />
erforderlich.<br />
2. STREIT UM DIE HERAUSGABE VoN NETZDATEN AN DIE<br />
GEMEINDE<br />
Um ein Angebot überhaupt abgeben oder bewerten zu können, benötigen die<br />
Gemeinde wie auch der Bewerber Informationen hinsichtlich des Netzes, die<br />
öffentlich nicht zugänglich sind. Hier muss ein Ausgleich gefunden werden<br />
für die durch den Informationsvorsprung entstehenden Vorteile des bisherigen<br />
Betreibers, ohne unzulässig in dessen Geschäftsgeheimnisse einzugreifen.<br />
Ein solcher Auskunftsanspruch steht zunächst nur der Gemeinde zu. Die<br />
Pflicht zur Informationsherausgabe ergibt sich in der Regel als ungeschriebene<br />
Nebenpflicht aus dem auslaufenden Konzessionsvertrag zumindest unter<br />
Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben, § 242 Bürgerliches<br />
Gesetzbuch. 12<br />
Eine Informationspflicht besteht insbesondere über Art, Länge, Besonderheiten<br />
und Altersstruktur der erfassten Netze, die Jahresarbeit (in kWh) und<br />
die versorgte Fläche. Nicht erhoben werden dürfen von der Gemeinde dagegen<br />
wirtschaftlich sensible Daten wie z. B. Kundendaten im Sinne des § 9<br />
Abs. 1 EnWG.<br />
Die Gemeinde selbst ist kartellrechtlich maßgeblicher Anbieter des Verteilernetzes.<br />
Sie ist deshalb verpflichtet, die netzrelevanten Daten potentiellen Bietern<br />
diskriminierungsfrei zur Verfügung zu stellen. Dies umfasst alle Daten,<br />
die potentielle Bieter benötigen, um effektiv an der Vergabe der Konzession<br />
teilzunehmen. Eine mangelhafte Information käme einer praktischen Verhinderung<br />
der Neuvergabe gleich. Entsprechend fordert auch die Kommission in<br />
ihrer Mitteilung, dass „keiner der Bieter mehr Zugang zu Informationen als<br />
andere hat“ und dass „jegliche ungerechtfertigte Bevorteilung einzelner Bieter<br />
ausgeschlossen“ ist.<br />
Die Bieter können jedoch zur Geheimhaltung der so erlangten Daten verpflichtet<br />
werden.<br />
IV. STREITIGKEITEN BEI DER ABWICKLUNG DER KoNZESSIoNSVERTRäGE<br />
ZWISCHEN ALT- UND NEUKoNZESSIoNäR<br />
Doch auch wenn ein ordnungsgemäßes Verfahren schließlich zur Auswahl<br />
eines neuen Netzbetreibers geführt hat, ergeben sich bei der Abwicklung häufig<br />
noch weitere Schwierigkeiten.<br />
11 EuGH - Telaustria, in: EuR 2001, 266, Rn. 62.<br />
12 Gemeinsamer Leitfaden von Bundeskartellamt und Bundesnetzagentur<br />
zur Vergabe von Strom- und Gaskonzessionen und zum Wechsel des Konzessionsnehmers,<br />
15. Dezember 2010, Rn. C 27.
1. STREIT UM DIE HERAUSGABE VoN NETZDATEN AN DEN<br />
NEUKoNZESSIoNäR<br />
Nachdem ein Bieter den Zuschlag als Neukonzessionär erhalten hat, hat auch<br />
er selbst Anspruch auf Erhalt bestimmter Informationen vom Altkonzessio-<br />
när. Dies ergibt sich aus einer selbstständigen Nebenpflicht zum gesetzlichen<br />
Schuldverhältnis des § 46 Abs. 2 EnWG 13 und umfasst insbesondere solche<br />
Faktoren, die eng mit der notwendig gewordenen Bestimmung bzw. Über-<br />
prüfung der Berechnungsgrundlagen einer angemessenen Vergütung für die<br />
Netzüberlassung zusammenhängen. Alle zur Ermittlung dieses Preises not-<br />
wendigen Faktoren müssen offengelegt werden.<br />
Umfasst werden nun z. B. auch detailliertere Angaben über den Anlagenbe-<br />
stand, Wartungszustand, Anschaffungskosten und -jahr, Restwerte bzw. kal-<br />
kulatorische Nutzungsdauer, Absatzmengen, Bilanzwerte etc. 14<br />
2. STREIT UM DEN PREIS FüR DIE üBERLASSUNG DER VERSoR-<br />
GUNGSANLAGEN<br />
Doch auch wenn alle diese Faktoren vollständig offengelegt sind, besteht wei-<br />
terhin Klärungsbedarf. § 46 Abs. 2 S. 2 EnWG regelt, dass der bisher Nut-<br />
zungsberechtigte verpflichtet ist, „seine für den Betrieb der Netze […] not-<br />
wendigen Verteilungsanlagen dem neuen Energieversorgungsunternehmen<br />
gegen Zahlung einer wirtschaftlich angemessenen Vergütung zu überlas-<br />
sen.“ Die Ermittlung dieser Vergütung bereitet in der Praxis jedoch regelmä-<br />
ßig Probleme und ist Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen sowie<br />
zahlreicher Beschwerden und Anfragen bei Bundesnetzagentur und Bundes-<br />
kartellamt.<br />
a) Berechnungsmethoden<br />
Als Anhaltspunkt für eine angemessene Vergütung kann im Allgemeinen der<br />
Verkehrs- bzw. Marktwert angesehen werden. Dabei kann grundsätzlich frei<br />
gewählt werden, ob bei der Ermittlung das Ertrags- oder Sachwertverfahren<br />
Anwendung findet. Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts-<br />
hofs auch für das Netzüberlassungsentgelt.<br />
aa) Sachzeitwert<br />
Unter dem Sachzeitwert ist der auf der Grundlage des Tagesneuwertes unter<br />
Berücksichtigung des Alters und Zustandes ermittelte Restwert eines Wirt-<br />
schaftsgutes im Sinne des Bruttorekonstruktionswertes zu verstehen. 15<br />
Die Sachzeitwertbestimmung kommt jedenfalls dann zur Anwendung, wenn<br />
dies ausdrücklich mit dem bisherigen Konzessionsnehmer vereinbart wur-<br />
de. 16 Der BGH hat die Vereinbarung des Sachzeitwert für grds. zulässig er-<br />
klärt. Dies gilt aber nur dann, wenn der Ansatz des Sachzeitwertes nicht pro-<br />
hibitiv wirkt, also nicht dazu führt, dass die Gemeinde faktisch an den alten<br />
Konzessionär gebunden bleibt.<br />
13 Gemeinsamer Leitfaden von Bundeskartellamt und Bundesnetzagentur<br />
zur Vergabe von Strom- und Gaskonzessionen und zum Wechsel des Konzessionsnehmers,<br />
15. Dezember 2010, Rn. C 56.<br />
14 Gemeinsamer Leitfaden von Bundeskartellamt und Bundesnetzagentur<br />
zur Vergabe von Strom- und Gaskonzessionen und zum Wechsel des Konzessionsnehmers,<br />
15. Dezember 2010, Rn. C 49.<br />
15 BGH, NVwZ-RR 2006, 808 (809), m.w.N.<br />
16 Vgl. BGH, Urteil v. 07.02.2006, Az. KZR 24/04.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Titelthema<br />
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bb) Ertragswert<br />
Damit deckelt der BGH die Höhe der Vergütung praktisch durch den Ertragswert.<br />
Diesen hat er in einem eher untechnischen Sinne definiert als den „äußersten<br />
Betrag, der aus der Sicht des Käufers unter Berücksichtigung der sonstigen<br />
Kosten der Stromversorgung einerseits und der zu erwartenden Erlöse<br />
aus dem Stromverkauf andererseits für den Erwerb des Netzes kaufmännisch<br />
und betriebswirtschaftlich vertretbar erscheint.“ 17<br />
Die Ertragswertbestimmung im technischen Sinne erfolgt durch eine Ermittlung<br />
der zukünftig zu erwartenden Nettoerlöse, die über die zu erwartende<br />
Lebensdauer des Betriebes abgezinst werden. Dabei werden im vorliegenden<br />
Fall die erzielbaren (Maximal-) Erlöse unter Berücksichtigung der Netzentgeltverordnungen<br />
ermittelt. Diese machen abschließende Vorgaben für die<br />
Ermittlung der Netzentgelte. Der auf diese Weise erzielte Wert der Netze kann<br />
sowohl höher als auch niedriger als der Sachzeitwert ausfallen.<br />
Es empfiehlt sich daher, möglichst umfangreiche vertragliche Regelungen zur<br />
Berechnung des Netzüberlassungswertes zu treffen.<br />
D. FAZIT<br />
Die genannten Problematiken haben gezeigt, in welchen Spannungsfeldern<br />
sich das öffentliche Wirtschaftsrecht derzeit bewegt. Dabei soll die Aufzählung<br />
der vorstehenden „Brennpunkte“ keinesfalls abschließend sein, sondern<br />
lediglich einen Einblick in die vielfältigen Facetten des öffentlichen Wirtschaftsrechts<br />
bieten. Hier ist der Gesetzgeber gefragt, der grundsätzliche Fragen<br />
klären und Fehlentwicklungen korrigieren muss. Aber auch die Rechtsprechungs-<br />
und Beratungspraxis kann ihren Teil zur Klärung dringlicher<br />
Fragen beitragen.<br />
17 BGH, BGHZ 143, 128 (142 ) = BGH NJW 2000, 577.<br />
73
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A. EINLEITUNG<br />
Klimaschutzrecht <strong>–</strong> ein Rechtsgebiet im entstehen<br />
von Wiss. Mit. James Kröger, LL.M. (Universität Bremen)<br />
Der Klimawandel wird allgemein als eine der größten Herausforderungen für<br />
die Menschheit angesehen. Die Gesellschaften der Erde sind gefordert, Lö-<br />
sungen zu entwickeln den Klimawandel zu stoppen oder zu begrenzen und<br />
dessen Folgen in einer gerechten sowie wirtschaftlich, sozial und ökologisch<br />
vertretbaren Weise zu bewältigen. Bei der Entwicklung dieser Lösungsansätze<br />
müssen andere gesellschaftliche Zielsetzungen berücksichtigt werden: Ener-<br />
gieversorgungssicherheit, ökologische Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit.<br />
Das Recht als gesellschaftliches Steuerungsinstrument ist dabei ein zentraler<br />
Ort für die Entwicklung dieser Lösungsansätze und der Ausgestaltung eines<br />
Interessenausgleichs. Juristen sind angehalten, die politischen Entscheidungs-<br />
träger zu begleiten, um ihnen rechtliche Gestaltungsräume für Klimaschutz-<br />
maßnahmen aufzuzeigen und zugleich auf die Einhaltung rechtsstaatlicher<br />
Grundsätze bei der Ausgestaltung von Klimaschutzmaßnahmen hinzuweisen.<br />
Junge Juristen dieser und nachfolgender Generationen haben die einzigar-<br />
tige Möglichkeit, diesen Entwicklungsprozess nicht nur zu verfolgen, sondern<br />
einen konstruktiven Beitrag zu leisten und fortzuführen. Das Entstehen eines<br />
neuen Rechtsgebiets „Klimaschutzrecht“ ist ein seltener Vorgang. Hinzu<br />
kommt die Einzigartigkeit dieses Entwicklungsprozesses: Die naturwissen-<br />
schaftliche Erkenntnis des Vorliegens eines anthropogenen Einflusses auf das<br />
Klima hat zu einer Mobilisierung von Politik und Recht auf internationaler<br />
Ebene geführt. Eine Regionalisierung des Klimaschutzrechts findet aktuell<br />
auf europäischer Ebene statt. Auf nationaler Ebene ist schließlich ein Klima-<br />
schutzrecht im Entstehen zu konstatieren. Der vorliegende Beitrag soll diesen<br />
Entwicklungsprozess nachvollziehend aufzeigen und hinterfragen, ob und<br />
inwiefern von einem neuen Rechtsgebiet gesprochen werden kann und wel-<br />
che Charakteristika ein solches unter Umständen aufweist. Diese Einführung<br />
in das Klimaschutzrecht soll junge Juristen ermutigen, sich für dieses Rechts-<br />
gebiet zu interessieren, denn kommende Interessen- und Zielkonflikte erfor-<br />
dern neue Lösungsansätze, zu denen das Recht aufgrund seiner Steuerungs-<br />
und Ausgleichsfunktion einen wichtigen Beitrag leisten kann.<br />
B. DER KLIMAWANDEL ALS NATURWISSENSCHAFTLICHE GEWISS-<br />
HEIT UND GESELLSCHAFTLICHE HERAUSFoRDERUNG<br />
Das mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Referenzgremium IPCC<br />
(International Panel on Climate Change) beschreibt den Klimawan-<br />
del als „unequivocal“, 1 was dahin gehend verstanden werden muss, dass es aus<br />
wissenschaftlicher Sicht keine Zweifel am Vorliegen einer Veränderung des<br />
globalen Klimasystems gibt. Die Zeichen sind vielfältig: Das vergangene Jahr-<br />
zehnt war das wärmste seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen. 2 Die<br />
globale Durchschnittstemperatur ist im Vergleich zu 1880 - dem Beginn der<br />
Industrialisierung - um 0,8°C gestiegen. 3 Verantwortlich für diese Erwär-<br />
mung ist die Zuführung von Treibhausgasen in die Atmosphäre wie Kohlenstoff-<br />
1 IPCC, Climate Change 2007, Synthesis Report, 2007, S. 30.<br />
2 WMO, Press Release No. 869, 2000-2009, The Warmest Decade (www.<br />
wmo.int/pages/mediacentre/press_releases/pr_869_en.html; 22.02.2011).<br />
3 WBGU, Kassensturz für den Weltklimavertrag <strong>–</strong> Der Budgetansatz, 2009, S. 9.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
James Kröger, LL.M. (London), Juriste Européen, Jahrgang<br />
1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungs-<br />
stelle für Europäisches Umweltrecht der Universität Bremen<br />
und promoviert auf dem Gebiet des Klimaschutzrechts. Er hat<br />
im Rahmen des Studienganges „Europäischer Jurist“ an der<br />
Humboldt-Universität zu Berlin, der Université Paris II Pan-<br />
théon-Assas und dem King‘s College London studiert. 2009<br />
absolvierte er in Berlin sein erstes Staatsexamen.<br />
Titelthema<br />
dioxid (CO 2 ), Methan oder Lachgas. Deren Konzentration in der Atmosphäre hat<br />
seit der vorindustriellen Zeit um bis zu 80 % zugenommen und im Fall von Koh-<br />
lenstoffdioxid zu einer Konzentration von 388 ppm im Jahr 2010 im Vergleich zu<br />
280 ppm im Jahr 1880 geführt. 4 Kohlenstoffdioxid wird insbesondere bei der Ver-<br />
brennung fossiler Brennstoffe freigesetzt. Zusätzlich tragen veränderte Land-<br />
nutzungen, Entwaldungen und Veränderungen in der Meeresumwelt zu einer<br />
Umwandlung von Kohlenstoffsenken in sog. Kohlenstoffquellen bei.<br />
Die Auswirkungen auf Natur und Gesellschaft sind so vielfältig wie bedroh-<br />
lich zugleich: 5 Der Meeresspiegel wird sich aufgrund einer wärmebedingten<br />
Ausdehnung von Wasser erhöhen. Zugleich stellt eine zunehmende CO 2 -be-<br />
dingte Versauerung der Meere eine Bedrohung für die Meeresumwelt dar. Ex-<br />
treme Wetterereignisse werden regelmäßiger auftreten. Eine Schwächung der<br />
Ökosysteme wird sich negativ auf die biologische Vielfalt auswirken. Nah-<br />
rungsmittel und Wasser werden in vielen Regionen ein immer knapperes Gut.<br />
Menschen werden vor dem Klimawandel fliehen und eine zunehmende Mi-<br />
gration auslösen. Das genaue Ausmaß dieser Folgen hängt entscheidend von<br />
der weiteren Entwicklung des Klimawandels ab. Die Szenarien für den weite-<br />
ren Temperaturanstieg liegen je nach zu Grunde gelegter Emissionsintensität<br />
zwischen 1,1°C bis 6,4°C bis 2100. 6 Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat<br />
sich aber darauf geeinigt, dass eine gefährliche anthropogene Störung des Kli-<br />
mawandels nur zu vermeiden ist, wenn die globale Klimaerwärmung auf 2°C<br />
im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter begrenzt wird. 7 Dies setzt eine<br />
ambitionierte, aber mögliche Reduktion der Kohlenstoffdioxidemissionen<br />
um 85% bis 2050 voraus. 8 Das naturwissenschaftlich begründete 2°C-Ziel<br />
wurde im Rahmen der Post-Kyoto-Verhandlungen in Kopenhagen und Can-<br />
cùn von der internationalen Staatengemeinschaft als politische Absichtserklä-<br />
rung angenommen. Die Überführung in geltendes Recht bleibt zu begleiten.<br />
In der Folge gilt es darzustellen, wie diese naturwissenschaftliche Gewissheit<br />
über den durch den Menschen verursachten Klimawandel auf den verschie-<br />
denen Rechtsebenen Eingang gefunden hat und dabei ein neues Rechtsgebiet<br />
entstehen lassen hat.<br />
4 CDIAC, Recent Greenhouse Gas Emissions (http://cdiac.ornl.gov/pns/<br />
current_ghg.html; 22.02.2011).<br />
5 Vgl. im Folgenden: WBGU (Fn. 3), S. 11 ff.<br />
6 IPCC, Climate Change 2007, The Physical Science Basis, 2007, S. 13.<br />
7 WBGU (Fn. 3) S. 13 f.; WBGU, Factsheet, Warum 2°C?, 2009.<br />
8 Oschmann/Rostankowski, Das Internationale Klimaschutzrecht nach<br />
Kopenhagen, ZUR 2010, S. 59 (60).<br />
75
76<br />
Titelthema<br />
C. INTERNATIoNALES KLIMASCHUTZRECHT<br />
Das internationale Klimaschutzrecht hat sich mit der 1992 auf dem Weltgip-<br />
fel von Rio angenommenen Klimarahmenkonvention der Vereinten Natio-<br />
nen (KRK) entwickelt. In der Folge haben das Kyoto-Protokoll zur KRK so-<br />
wie die Verhandlungen über ein weiteres Folgeabkommen das Klimaschutz-<br />
recht auf völkerrechtlicher Ebene konkretisiert.<br />
Mit 194 Vertragsstaaten stellt die KRK ein nahezu universell geltendes Über-<br />
einkommen dar, wobei eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Indus-<br />
triestaaten (Annex I-Staaten) und anderen Staaten vorgenommen wird. Er-<br />
stere werden in Art. 4 Abs. 2 verpflichtet Maßnahmen zur Abschwächung der<br />
Klimaänderungen zu ergreifen, „indem sie ihre anthropogenen Emissionen<br />
von Treibhausgasen begrenz[en] und ihre Treibhausgassenken und -speicher<br />
schütz[en] und erweiter[n]“. Insgesamt wird für die Annex I-Staaten das Ziel<br />
formuliert, „einzeln oder gemeinsam die anthropogenen Emissionen von<br />
Kohlendioxid und […] anderen Treibhausgasen auf das Niveau vor 1990 zu-<br />
rückzuführen“. Im Sinne einer globalen Gerechtigkeit soll der Klimaschutz<br />
gemäß Art. 3 Nr. 1 KRK den Grundsatz der „gemeinsamen, aber unterschied-<br />
lichen Verantwortlichkeiten“ und gemäß Nr. 2 die besonderen Bedürfnisse<br />
und Gegebenheit von Entwicklungsländern berücksichtigen. Weitere in der<br />
KRK verfolgte Grundsätze des internationalen Klimaschutzrechts sind zum<br />
einen das - im europäischen Umweltrecht gut verankerte - Vorsorgeprin-<br />
zip, demzufolge das Fehlen wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund für das<br />
Nichthandeln darstellen soll. Ein weiterer Grundsatz besteht darin, dass na-<br />
tionale Klimaschutzmaßnahmen nicht in einen versteckten Protektionismus<br />
übergehen und den internationalen Handel beschränken sollen (Nr. 5).<br />
Diese generell gehaltenen Grundsätze und Verpflichtungen haben in dem im<br />
Jahr 2005 in Kraft getretenen Kyoto-Protokoll (KP) eine entscheidende Kon-<br />
kretisierung dahin gehend erfahren, dass zum einen verbindliche Redukti-<br />
onsverpflichtungen für den Zeitraum 2008-2012 formuliert wurden und zu-<br />
gleich verschiedene flexible Mechanismen als Instrumente für eine effektive<br />
Emissionsreduzierung aufgezeigt werden. Art. 3 Abs. 1 KP verpflichtet die<br />
Annex I-Staaten, ihre gesamten anthropogenen Emissionen bis 2012 um 5 %<br />
unter das Niveau von 1990 zu senken. Dabei ergeben sich die einzelnen Re-<br />
duktionsziele der jeweiligen Staaten aus Anlage B, welche für die Europäische<br />
Union ein Reduktionsziel von 8 % formuliert. 9 Wie bereits in der KRK ange-<br />
legt, stellt auch das KP keine Reduktionsziele für Entwicklungsländer auf, wo-<br />
rin ein Ausdruck des Nachhaltigkeitsgebots gesehen wird, deren sozioökono-<br />
mische Entwicklung nicht zu behindern. 10<br />
Das Kyoto-Protokoll eröffnet auch die Möglichkeit flexible Reduktionsme-<br />
chanismen aufzugreifen: Mit Hinblick auf die Kooperation mit Entwick-<br />
lungsländern ist insbesondere der Mechanismus für umweltverträgliche Ent-<br />
wicklung (Clean Development Mechanism) im Sinne von Art. 12 KP von Be-<br />
deutung. Dieser ermöglicht Annex I-Staaten Projekte zur Unterstützung von<br />
9 Die Europäische Union hat die Möglichkeit des Art. 4 KP wahrgenommen<br />
als sog. „bubble“ gemeinsam die Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten<br />
zu erfüllen.<br />
10 Gärditz, Schwerpunktbereich <strong>–</strong> Einführung in das Klimaschutzrecht,<br />
JuS 2008, S. 324 (325).<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Nicht-Annex-I-Staaten für eine nachhaltige Entwicklung durchzuführen und<br />
die sich daraus ergebenden <strong>–</strong> zertifizierten <strong>–</strong> Emissionsreduktionen auf die ei-<br />
gene Emissionsreduktionsverpflichtungen anrechnen zu lassen. Die in Art. 6 KP<br />
vorgesehene sog. Joint Implementation ermöglicht Annex-I-Staaten unterei-<br />
nander aus bestimmten im jeweiligen anderen Annex I-Land durchgeführten<br />
Projekten gewonnene Emissionsreduktionseinheiten zu übertragen. Auch er-<br />
öffnet das KP in Art. 17 die nationale Reduktionsmaßnahmen ergänzende<br />
Möglichkeit für Annex-I-Staaten mit Emissionen untereinander zu handeln.<br />
Diese kurze Übersicht über die Kernelemente des internationalen Klima-<br />
schutzrechts verdeutlicht bereits die Kreativität, mit der das Umweltvölker-<br />
recht auf ein neuartiges, globales Problem wie den Klimawandel reagieren<br />
kann. Das System einer Rahmenkonvention mit konkretisierenden Protokol-<br />
len erscheint grundsätzlich als ein geeignetes Instrument, mit der Zeit Reduk-<br />
tionsverpflichtungen an den Entwicklungsstand von Gesellschaften und wis-<br />
senschaftlichen Erkenntnissen über den Klimawandel anzupassen. Die zähen<br />
Verhandlungen um ein rechtsverbindliches Folgeabkommen für die Zeit nach<br />
2012 in Kopenhagen und Cancùn zeigen aber zugleich auf, dass die Fortent-<br />
wicklung des internationalen Klimaschutzrechts stark abhängig ist von diplo-<br />
matischen Erwägungen und daher dessen Fortbestand unsicher macht. Als<br />
positiver Lichtblick kann in diesem Zusammenhang jedoch angeführt wer-<br />
den, dass in Cancùn das 2°C-Ziel als „internationaler Grenzwert“ verbind-<br />
lich anerkannt wurde.<br />
D. EURoPäISCHES KLIMASCHUTZRECHT<br />
Das europäische Klimaschutzrecht ist vordergründig Teil des europäischen<br />
Umweltrechts. Der europäische Umweltschutz zielt auch auf das Rechtsgut<br />
Klima ab. 11 Entsprechend listet Art. 191 AEUV die Bekämpfung des Klima-<br />
wandels als ein umweltpolitisches Ziel der Europäischen Union auf. Mit dem<br />
Vertrag von Lissabon ist das europäische Primärrecht um einen neuen Kom-<br />
petenztitel „Energie“ ergänzt worden. Dieser formuliert Ziele, die für den Kli-<br />
maschutz ebenso relevant sind: Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit<br />
der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt sollen Energieeffizienz, Ener-<br />
gieeinsparungen, die Entwicklung erneuerbarer Energien und die Interkonnektion<br />
der Energienetze gefördert werden. Vor diesem Hintergrund ist es<br />
richtig anzunehmen, dass der im Umweltschutz verankerte Klimaschutz<br />
durch diesen neuen Kompetenztitel flankiert wird. 12<br />
Die Europäische Union hat sich im Rahmen ihres Klima- und Energiepakets<br />
im Vorfeld der Verhandlungen in Kopenhagen verpflichtet, bis 2020 die<br />
Emission von Treibhausgasen um 20 % im Vergleich zu 1990 zu senken, die<br />
Energieeffizienz um 20 % zu steigern und 20 % der Energieversorgung durch<br />
erneuerbare Energien zu gewährleisten. Zugleich hat sie in Aussicht gestellt,<br />
die Emissionen um 30 % zu senken, sollten sich andere Staaten in einem<br />
internationalen Klimaabkommen entsprechend verpflichten. 13 Das Klima-<br />
11 Kahl, Energie und Klimaschutz <strong>–</strong> Kompetenzen und Handlungsfelder<br />
der EU, in: Schulze-Fielitz, Europäisches Klimaschutzrecht, S. 54; Gärditz<br />
(Fn. 10), S. 326.<br />
12 Erbguth/Schlacke, Umweltrecht, § 16 Klimaschutzrecht, 2010, Rn. 9;<br />
Schlacke, Klimaschutzrecht <strong>–</strong> ein Rechtsgebiet?, Die Verwaltung, Beiheft<br />
11, 2010, S.121 (133).<br />
13 Entscheidung Nr. 406/2009/EG des Europäischen Parlaments und des<br />
Rates v. 23.4.2009, ABlEG L 140/136.
und Energiepaket ist ein Bündel an Einzelrechtsakten. 14 Dabei lassen sich ins-<br />
besondere das Recht des Emissionshandels, das Recht der Förderung erneu-<br />
erbarer Energien, das Recht der Energieeffizienz sowie die rechtliche Hand-<br />
habung der Abscheidung und Speicherung von CO 2 als Schwerpunkte des<br />
europäischen Klimaschutzrechts identifizieren.<br />
Das Emissionshandelssystem der Europäischen Union hat seinen Ursprung<br />
in Richtlinie 2003/87/EG, welche ein sog. cap-and-trade-System des Handels<br />
mit Treibhausgasen errichtete. Dabei wird eine Obergrenze für die Emission<br />
der Treibhausgase als „cap“ festgelegt und zugleich Emissionseinheiten als<br />
Emissionsrechte handelbar gemacht („trade“). Ein Unternehmen, welches am<br />
Emissionshandelsystem teilnimmt 15 , muss entsprechende Emissionsrechte<br />
inne haben, um Treibhausgase emittieren zu dürfen. Sinn und Zweck die-<br />
ses System ist aus wirtschaftlicher Sicht eine Internalisierung der externen<br />
Kosten der Treibhausgasemissionen. Langfristig sollen damit die Unterneh-<br />
men gestärkt werden, welche auf kostengünstige Weise eine Reduktion ih-<br />
rer Treibhausgase erwirken können. 16 Während die Emissionsrechte in den<br />
ersten beiden Zuteilungsperioden (2005-2007 und 2008-2012) hauptsäch-<br />
lich kostenlos vergeben wurden, führt die neue Richtlinie 2009/29/EG für<br />
die dritte Zuteilungsperiode (2013-2020) als Grundsatz die Auktionierung<br />
von Emissionsrechten ein. 17 Auch werden in Zukunft nationale Allokations-<br />
pläne, in denen bisher auf nationaler Ebene die Emissionsrechte konkret ver-<br />
teilt wurden, aufgegeben. Vielmehr wird die Kommission in Zukunft zentral<br />
die Zuteilung der Emissionsrechte wahrnehmen.<br />
Die neue Erneuerbare-Energien-Richtlinie 2009/28/EG vereinigt verschie-<br />
dene Vorgängerrichtlinien und regelt nunmehr in einem Rechtsakt die För-<br />
derung erneuerbarer Energien in den Bereichen Strom und Biokraftstoffe so-<br />
wie im Wärme-/Kälte-Bereich. Sie setzt als Ziel einen Anteil von 20 % erneu-<br />
erbarer Energien an der Stromversorgung sowie im Wärme-/Kältebereich bis<br />
2020, wobei den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Zielwerte gesetzt<br />
werden. Der Anteil an Biokraftstoffen soll in den Mitgliedstaaten auf 10 % er-<br />
höht werden, wobei die Richtlinie diesbezüglich Nachhaltigkeitskriterien auf-<br />
stellt, um auf diese Weise eventuellen negativen ökologischen Auswirkungen<br />
vorzubeugen. 18 Darüber hinaus wird die für eine effektive Förderung erneu-<br />
erbarer Energien entscheidende Frage des Netzausbaus behandelt. Geleitet ist<br />
dieser Bereich des Klimaschutzrechts vom Prinzip des Vorrangs erneuerbarer<br />
Energien beim Netzzugang. 19<br />
Des Weiteren strebt die EU eine Steigerung der Energieeffizienz um 20 % bis<br />
2020 an. Zentraler Rechtsakt ist die Energieeffizienzrichtlinie 2006/32/EG,<br />
welche den Mitgliedstaaten auferlegt, im Rahmen von nationalen Energieef-<br />
fizienz-Aktionsplänen eine Energieeinsparung von 9 % zu erreichen. Ergän-<br />
zend regelt z.B. Richtlinie 2009/125/EG die umweltgerechte Gestaltung ener-<br />
14 Für eine genaue Auflistung vgl. Fn. 51 bei Erbguth/Schlacke (Fn. 12).<br />
15 Im Jahr 2010 nahmen in Deutschland 1665 Anlagen am Emissionshandel<br />
teil, insbesondere aus dem Bereich der energieintensiven Industrie; ab<br />
2012 wird auch der Flugverkehr in das Emissionshandelssystem integriert.<br />
16 Schlacke (Fn. 12), S. 133 f.<br />
17 Für die beihilferechtlichen Aspekte der Zuteilung von Emissionsrechten<br />
vgl. Pfromm, Emissionshandel und Beihilfenrecht, 2010.<br />
18 Vgl. Gärditz, Ökologische Binnenkonflikte im Klimaschutzrecht, DVBl.<br />
2010, S. 214 ff.; Franken, Nachhaltigkeitsstandards und ihre Vereinbarkeit<br />
mit WTO-Recht, ZUR, 2010, S. 66 ff.<br />
19 Vgl. Art. 16 Abs. 2 b) RL 2009/28/EG sowie Möstl, Der Vorrang erneuerbarer<br />
Energien, RdE 2003, S. 90 ff.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Titelthema<br />
gieintensiver Produkte mit Hinblick auf die Energieeffizienz und Richtlinie<br />
2009/33/EG zielt auf eine Förderung der Energieeffizienz im Straßenverkehr,<br />
indem z.B. im Rahmen eines öffentlichen Vergabeverfahrens beim Kauf von<br />
Straßenverkehrsfahrzeugen deren Energieverbrauch sowie deren CO 2 - und<br />
Schadstoffausstoß zu berücksichtigen sind.<br />
Richtlinie 2009/31/EG etabliert die Abscheidung und geologische Speiche-<br />
rung von CO 2 als ein weiteres Instrument europäischer Klimaschutzpolitik.<br />
Diese sog. CCS-Richtlinie (Carbon Capture and Storage) soll einen rechtli-<br />
chen Rahmen für diese umstrittene Technologie der Speicherung von CO 2<br />
im Boden sowie im Meeresgrund im Bereich des Festlandsockels sowie der<br />
Ausschließlichen Wirtschaftszone darstellen. 20 Dabei trifft sie Regelungen zur<br />
Genehmigungspflichtigkeit, Überwachungspflichten sowie über die Beherr-<br />
schung von Risiken im Zusammenhang mit dem Austreten von CO 2 (sog. Le-<br />
ckagen) und Haftungsfragen. Den Mitgliedstaaten obliegt die Auswahl geeig-<br />
neter Speicherstätten. Auch ist es ihnen möglich, im Wege eines opting-outs<br />
von der CO 2 -Speicherung abzusehen. 21 Erste Versuche der Umsetzung der<br />
CCS-Richtlinie in deutsches Recht sind bislang nicht zuletzt aufgrund starker<br />
lokaler Proteste in den von der Speicherung betroffenen Bundesländern ge-<br />
gen diese Technologie gescheitert. 22<br />
Insgesamt aber präsentiert sich das europäisches Klimaschutzrecht als ein<br />
komplexes Regelungssystem, welches ein umfangreiches Instrumentarium<br />
zur Bekämpfung des Klimawandels und dessen Folgen hervorgebracht hat 23<br />
und welches aufgrund der Verbindlichkeit der europäischen Vorgaben ent-<br />
scheidend die Fortentwicklung nationaler Klimaschutzregeln und damit ein-<br />
hergehend energierechtlicher Grundentscheidungen in den Mitgliedstaaten<br />
beeinflusst hat. Die Einführung des neuen Kompetenztitels „Energie“ birgt<br />
Potential, diesen Prozess auch in Zukunft voran zu treiben, doch macht dies<br />
zugleich eine klare Einordnung künftiger Klimaschutzmaßnahmen der EU<br />
als umwelt- oder energiepolitische Maßnahme notwendig. Die Entscheidung<br />
über die Einordnung einer Klimaschutzmaßnahme unter die umweltpoli-<br />
tische Kompetenz nach Art. 192 AEUV oder unter die Energie-Politik nach<br />
Art. 194 AEUV muss sich am verfolgten Zweck der Maßnahme orientieren. 24<br />
Insbesondere Fragen des europäischen Netzausbaus sowie des Energiemixes<br />
scheinen bislang von keiner der Kompetenzvorschriften erfasst zu sein. 25<br />
E. KLIMASCHUTZRECHT IN DEUTSCHLAND<br />
Die Bundesregierung hat bereits 2007 ein ehrgeiziges „Integriertes Energie-<br />
und Klimaprogramm“ 26 auf den Weg gebracht, welches vergleichbar mit dem<br />
20 Vgl. Much, Die Rechtsfragen der Ablagerung von CO2 in unterirdischen<br />
geologischen Formationen, 2009; Schlacke/Much, Rechtsprobleme<br />
der CO2-Sequestrierung, SZIER 2010, S. 287 ff.; Stoll/Lehmann, Die Speicherung<br />
im Meeresuntergrund <strong>–</strong> die völkerrechtliche Sicht, ZUR 2008,<br />
S. 281 ff.<br />
21 Schlacke (Fn. 12), S. 137.<br />
22 Vgl. hierzu Skrylnikow, CCS: Carbon Capture and Storage - Technologische<br />
Risiken und regulatorische Herausforderungen; NuR 2010, S. 543 ff.<br />
23 Kramer, Klimaschutzrecht der Europäischen Union, SZIER 2010, S. 311 (331).<br />
24 Frenz/Kane, Die neue europäische Energiepolitik, NuR 2010, S. 464<br />
(470).<br />
25 Vgl. WBGU, Welt im Wandel <strong>–</strong> Gesellschaftsvertrag für eine Große<br />
Transformation, Zusammenfassung, S. 12.<br />
26 Vgl. hierzu Bosecke, Das Integrierte Energie- und Klimaprogramm der<br />
Bundesregierung, EurUP 2008, S. 122 ff.<br />
77
78<br />
Titelthema<br />
Energie- und Klimapaket der Europäischen Union eine Vielzahl einzelner<br />
Rechtsakte zum Zwecke des Klimaschutzes beinhaltet. Auch hier lassen sich<br />
als Schwerpunkte das Recht des Emissionshandels, das Recht der Förderung<br />
erneuerbarer Energien sowie das Recht der Energieeffizienz identifizieren.<br />
Das Recht des Emissionshandels findet seine gesetzliche Grundlage im Treib-<br />
hausgas-Emissionshandelsgesetz (TEHG) 27 , was letztlich der Umsetzung der<br />
EU-Richtlinie 2003/87/EG dient. Entsprechend etabliert das TEHG das be-<br />
schriebene cap and trade-System auch für Deutschland. Ziel des Gesetzes ist<br />
es, dem Recht, CO 2 zu emittieren, einen Marktpreis zuzuordnen und Emis-<br />
sionsreduzierungen damit im Schwerpunkt auf jene Unternehmen zu lenken,<br />
wo dies am kostengünstigsten und wirtschaftlichsten verwirklicht werden<br />
kann. 28 Damit ist der Emissionshandel letztlich ein Mechanismus der Anreiz-<br />
regulierung. Ergänzt wird das TEHG durch das Zuteilungsgesetz 2012 (ZuG<br />
2012) 29 , welches die konkrete Zuteilung der Emissionsrechte für die aktuelle<br />
zweite Emissionshandelsperiode regelt. Des Weiteren stellt das Projekt-Me-<br />
chanismen-Gesetz 30 einen Bezug zum internationalen Klimaschutzrecht her,<br />
indem es die flexiblen Mechanismen des Kyoto-Protokolls in das deutsche<br />
Klimaschutzrecht integriert.<br />
Auf dem Gebiet des Rechts der Förderung erneuerbarer Energien differen-<br />
ziert das deutsche Klimaschutzrecht zwischen dem Einsatz erneuerbarer En-<br />
ergiequellen für die Stromerzeugung, für die Wärmeerzeugung sowie im Be-<br />
reich der Kraftstoffe. Das zentrale rechtliche Instrument für die Förderung<br />
des Einsatzes erneuerbarer Energien im Strombereich ist das Erneuerbare-<br />
Energien-Gesetz (EEG) 31 . Es begründet eine Abnahmepflicht zu einem ge-<br />
setzlich festgelegten Mindestpreis, welcher über dem Preis herkömmlich er-<br />
zeugten Stroms liegt, sowie eine Verteilungspflicht des aus erneuerbaren En-<br />
ergiequellen erzeugten Stroms für Netzbetreiber. Dieser Mechanismus gilt<br />
- nicht zuletzt aufgrund des Erfolgs des EEG - international als vorbildlich.<br />
Das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz (EEWärmeG) 32 zielt gemäß dessen<br />
§ 1 Abs. 2 auf eine Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien an der Wär-<br />
meerzeugung in Gebäuden auf 14 % bis 2020. 33 Um dieses Ziel zu erreichen,<br />
verpflichtet das EEWärmeG alle Eigentümer von Neubauten ihre Wärmeversorgung<br />
durch erneuerbare Energien sicherzustellen. Alternativ können<br />
klimaschützende Ersatzmaßnahmen, wie z.B. der Einsatz von Wärme aus<br />
Kraft-Wärme-Kopplung, ergriffen werden. Ein mit 500 Mio. Euro pro Jahr<br />
ausgestattetes Marktanreizprogramm soll ergänzend durch finanzielle Anreize,<br />
die Nutzung von Wärme aus erneuerbaren Energien insbesondere mit<br />
Hinblick auf Altbauten fördern. Schließlich bezweckt das EEWärmeG den<br />
Ausbau der Wärmenetze und sieht beispielsweise die Möglichkeit für Gemeinden<br />
einen Anschluss- und Benutzungszwang an ein Wärmenetz auch<br />
27 TEHG v. 8.7.2004, BGBl. I S. 1578, zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz<br />
v. 16.7.2009, BGBl. I S. 1954.<br />
28 Schlacke (Fn. 12), S. 140.<br />
29 ZuG v. 7.8.2007 für die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012, BGBl. I S. 1788.<br />
30 ProMechG v.22.9.2005, BGBl. I S. 2826, zuletzt geändert durch Art. 2<br />
des Gesetzes v. 25.10.2008, BGBl. I S. 2074.<br />
31 EEG v. 25.10.2008 BGBl. I S. 2074, zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes<br />
v. 29.7.2009, BGBl. I S. 2542.<br />
32 EEWärmeG v. 7.8.2008, BGBl. I S. 1658, zuletzt geändert durch Art. 3<br />
des Gesetzes vom 15.7.2009, BGBl. I S. 1804.<br />
33 Ausführlich zum EEWärmeG Wustlich, Das Erneuerbare-Energien-<br />
Wärmegesetz, NVwZ 2010, S. 1041 ff.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
zum Zwecke des Klimaschutzes zu begründen (§ 16).<br />
Im Hinblick auf den Einsatz erneuerbarer Energien im Kraftstoffbereich arbeitet<br />
das deutsche Klimaschutzrecht im Schwerpunkt mit Quoten ergänzt<br />
durch steuerliche Entlastungen. Entsprechend werden auf Grundlage des Biokraftstoffquotengesetzes34<br />
die Anteile erneuerbarer Energien am Kraftstoffverbrauch<br />
festgesetzt. Die gesetzliche Quote für den aktuellen Zeitraum von 2010<br />
bis 2014 beträgt 6,25 %. 35 Ab 2015 wird der Netto-Beitrag zur Treibhausgasverminderung<br />
als Grundlage dienen und damit die Quotenregelung ablösen. 36<br />
Der dritte Schwerpunkt des deutschen Klimaschutzrechts liegt in der Förderung<br />
der Energieeffizienz. Das Recht der Energieeffizienz in Deutschland<br />
stellt sich als Querschnittsmaterie dar. 37 Eine Vielzahl an gesetzlichen Regelungen<br />
bezwecken eine Steigerung der Energieeffizienz: Zweck des Kraft-<br />
Wärme-Kopplungsgesetzes38 ist es gemäß § 1, „einen Beitrag zur Erhöhung<br />
der Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung in der Bundesrepublik<br />
Deutschland auf 25 Prozent durch den befristeten Schutz, die Förderung<br />
der Modernisierung und des Neubaus von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen<br />
(KWK-Anlagen), die Unterstützung der Markteinführung der Brennstoffzelle<br />
sowie die Förderung des Neu- und Ausbaus von Wärmenetzen, in die Wärme<br />
aus KWK-Anlagen eingespeist wird, […] zu leisten.“ Auch das KWKG arbeitet<br />
mit einer Abnahme- und Vergütungspflicht von in Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen<br />
erzeugten Stroms für Netzbetreiber. Des Weiteren bezwecken<br />
das Energieeinsparungsgesetz39 und die Energieeinsparungsverordnung40 eine erhöhte Energieeffizienz in Gebäuden, z.B. durch die Schaffung von Anreizen<br />
durch erhöhte Transparenz über die energetische Situation eines Gebäudes<br />
beim Kauf (vgl. „Energiepass“ in § 16 EnEV). Gesteigerte Energieeffizienz<br />
durch verstärkte Transparenz und Information sind auch Regelungszwecke<br />
des Energieverbrauchskennzeichnungsgesetzes41 .<br />
F. CHARAKTERISTIKA EINES NEUEN RECHTSGEBIETS<br />
Die Frage, wann ein neues Rechtsgebiet entsteht oder entstanden ist, kann nur<br />
unbefriedigend abschließend beantwortet werden. Ein Antwortversuch kann<br />
darin bestehen, ein neues Rechtsgebiet dann anzunehmen, „wenn ein gemeinsames<br />
Ziel der Problemlösung durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Gesetze<br />
und Instrumente angestrebt wird, die ihrerseits in ihrer Reichweite aufeinander<br />
abgestimmt werden müssen, damit sie sich nicht konterkarieren.“ 42<br />
Bereits die hier vorgenommene Einführung offenbart die Vielfalt und Interdependenzen<br />
rechtlicher Instrumente zur Erreichung des einen gemeinsamen<br />
Ziels, der Bekämpfung des Klimawandels und dessen Folgen. In diesem<br />
Sinne muss hier jedenfalls von einem Rechtsgebiet statu nascendi, ein<br />
34 BioKraftQuG v. 18.12.2006, BGBl. I S. 3180.<br />
35 Vgl. Art. 1 Nr. 3 d) cc) BioKraftFÄndG v.15.7.2009, BGBl. I S. 1804; §<br />
37a Abs. 3 S. 3 BImSchG.<br />
36 Schlacke (Fn. 12), S. 145.<br />
37 Schlacke (Fn. 12), S. 146.<br />
38 KWKG v. 19.3.2002, BGBl. I S. 1092; zuletzt geändert durch Art- 1 Gesetz<br />
v. 25.10.2008, BGBl. I S. 2101.<br />
39 EnEG v. 1.9.2005, BGBl. I S. 2684; zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes<br />
v. 28.3.2009, BGBl. I S. 643.<br />
40 EnEV v. 24.7.2007, BGBl. I S. 1519; zuletzt geändert durch Art. 1 der<br />
Verordnung vom 29.4.2009, BGBl. I S. 954.<br />
41 EnVKG v. 30.1.2002, BGBl. I S. 570.<br />
42 Müller/Schulze-Fielitz, Auf dem Wege zu einem Klimaschutzrecht, in:<br />
Schulze-Fielitz/Müller (Hrsg.), Europäisches Klimaschutzrecht, 2009.
Rechtsgebiet im Entstehen begriffen, ausgegangen werden. 43 Dabei ist das<br />
Klimaschutzrecht Teilgebiet des Umweltrechts und kann definiert werden als<br />
„die Summe derjenigen Rechtsnormen, die das Klima vor anthropogenen Ein-<br />
wirkungen schützen sollen.“ 44 In diesem Verständnis erfasst das Klimaschutz-<br />
recht jedoch nicht die Anpassung an die Folgen des Klimawandels. 45 Die um-<br />
weltrechtliche Ausgestaltung von Anpassungsstrategien an den Klimawandel<br />
ist noch rudimentär und bedarf weiterer Forschung. 46 Als Schutzgüter des<br />
Klimaschutzrechts werden zum einen die Atmosphäre sowie zum anderen ein<br />
stabiles Klima als Grundvoraussetzung für Leben auf der Erde angesehen. 47<br />
Die bisherigen Ausführungen zum Klimaschutzrecht verdeutlichen bereits<br />
ein Charakteristikum dieses „Rechtsgebiets im Entstehen“: Das Klimaschutz-<br />
recht ist ein Rechtsgebiet, dass durch seine Stellung in einem Mehrebenen-<br />
system geprägt ist. 48 Die Entwicklungen auf völkerrechtlicher, europäischer<br />
und nationaler Ebene beeinflussen sich gegenseitig und machen das Klima-<br />
schutzrecht zu „einem kooperativ vernetzten Rechtsregime“. 49 Gleiches gilt<br />
für die Abhängigkeit der Fortentwicklung dieses Rechtssystems von natur-<br />
wissenschaftlichen Erkenntnissen. Juristen sind keine Naturwissenschaftler<br />
und sind daher darauf angewiesen, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen<br />
zu einem gewissen Maße Glauben zu schenken und diese unter Berücksichti-<br />
gung des Vorsorgeprinzips in das Recht zu integrieren. 50<br />
Trotz seines Rechtsgebietscharakters und der damit verbundenen Eigenstän-<br />
digkeit, ist das Klimaschutzrecht nicht zuletzt auch ein Querschnittsrechts-<br />
43 So auch Schlacke (Fn. 12), S. 152.<br />
44 Gärditz (Fn. 10), S. 324.<br />
45 Erbguth/Schlacke (Fn. 12), Rn. 2.<br />
46 Vgl. Köck, Klimawandel und Recht, ZUR 2007, S: 393; Reese, Deutsche<br />
Anpassungsstrategie an den Klimawandel, ZUR 2009, S. 133 f.<br />
47 Erbguth/Schlacke (Fn. 12), Rn 2.<br />
48 Vgl. hierzu auch Winter, Die institutionelle und instrumentelle Entstaatlichung<br />
im Klimaschutzregime: Gestalt, Problemlösungskapazität und<br />
Rechtsstaatlichkeit, in: Giegerich/Proelß, Bewahrung des ökologischen<br />
Gleichgewichts durch Völker- und Europarecht, 2010, S. 49 ff.<br />
49 Gärditz (Fn. 10), S. 325.<br />
50 Vgl. hierzu auch Schwarze, Driften Klimawissenschaft und Klimapolitik<br />
auseinander?, ZUR 2010, S. 57 ff.<br />
Titelthema<br />
gebiet, welches auch außerhalb des Umweltrechts in anderen Rechtsgebieten<br />
Ausdruck gefunden hat. 51 So enthalten beispielsweise sowohl das Bauleit- so-<br />
wie das Raumordnungsrecht zahlreiche Bezüge zum Klimaschutz. 52<br />
G. AUSBLICK<br />
Postgradualer europarechtlicher Studiengang (LL.M.)<br />
mit zwei Spezialisierungsrichtungen:<br />
•<br />
•<br />
WWW.ANDRASSYUNI.EU<br />
Offene Fragen, ungelöste Probleme und künftige Entwicklungen müssen wei-<br />
terhin rechtlich begleitet werden: Der bislang noch fragmentarische Cha-<br />
rakter des Klimaschutzrechts zwingt die Rechtswissenschaft nach einem<br />
„systemprägenden Kerngesetz“ 53 zu fragen und dessen Vorteile, Notwendig-<br />
keit und mögliche Ausgestaltung zu bewerten. Mögliche Zielkonflikte von<br />
Klimaschutz einerseits und anderen umweltrechtlichen Zielen, wie dem Na-<br />
turschutz sind zu lösen. 54 Der Beitrag der Landwirtschaft zum Klimaschutz<br />
ist nahezu nicht rechtlich erfasst und bedarf einer klimaschutzrechtlichen In-<br />
strumentierung. 55 Klimaschutzmaßnahmen können auch aus grundrecht-<br />
licher Sicht kritisch hinterfragt werden. 56 Auch das Verhältnis von möglicher-<br />
weise den globalen Handel beeinträchtigen Klimaschutzmaßnahmen und<br />
dem Recht der Welthandelsorganisation ist auf dem Prüfstand. Die Risiken,<br />
die mit Ingenieurmaßnahmen am Klima (sog. Climate Engineering, z.B. Meeresdüngung)<br />
verbunden sind, müssen rechtlich erfasst und gesteuert werden.<br />
Angesichts dieser und einer Vielzahl weiterer offener Fragen liefert das Klimaschutzrecht<br />
als Rechtsgebiet im Entstehen jungen Juristen viel Raum, diesen<br />
Entstehungsprozess in Zukunft gestaltend zu begleiten. Der Forschungsbedarf<br />
bleibt beachtlich.<br />
51 Gärditz (Fn. 10), S. 325.<br />
52 Vgl. u.a. § 1 Abs. 5 S. 2 BauGB oder § 2 Abs. 2 Nr. 6 S. 5 ROG.<br />
53 Schlacke (Fn. 12), S. 156.<br />
54 Vgl. Gärditz (Fn. 18), S. 214 ff.<br />
55 Vgl. Köck, Eine umweltgerechte Reform der europäischen Agrarpolitik<br />
ist dringend erforderlich!, ZUR 2011, S.1 (2).<br />
56 Vgl. z.B. zum Gleichheitssatz und Emissionshandel EuGH, Rs. C-127/07,<br />
Slg. 2007 C 117 <strong>–</strong> Arcelor sowie Frenz, Emissionshandel und Grundgesetz<br />
nach drei Entscheidungen des BVerfG, UPR, 2008, 8 ff.<br />
FAKULTÄT FÜR VERGLEICHENDE<br />
STAATS- UND RECHTSWISSENSCHAFTEN<br />
Internationales Unternehmensrecht: Schwerpunkt Ostmitteleuropa<br />
Internationale und Europäische Verwaltung<br />
Masterstudiengang<br />
Europäische und Internationale Verwaltung<br />
FIT FÜR<br />
EUROPA!
80<br />
Titelthema<br />
Kommentar: Schneller energiewandel - aber wie?<br />
von Jens-Peter Thiemann (Bielefeld)<br />
Nach dem verheerenden Unglück von Fukushima war der Aufschrei groß.<br />
Der Atomausstieg sollte nach Möglichkeit von heute auf morgen erfolgen.<br />
Bundesweit fand sich eine deutliche Mehrheit für einen schnellen Atomaus-<br />
stieg, so verwundert es wenig, dass die Bundesregierung mit der Bundeskanz-<br />
lerin als Speerspitze eine 180°-Drehung von der Laufzeitverlängerung der<br />
Atomkraftwerke zum endgültigen Atomausstieg vollzog. Das von der aktu-<br />
ellen Bundesregierung erstmals erstellte deutsche Energiekonzept 1 ist damit<br />
Makulatur geworden. Soweit so gut - aus Sicht der Atomgegner ist die Per-<br />
spektive äußerst positiv. Aber welche Folgen hat diese Kehrtwende und ist<br />
Deutschland trotz der mehrheitlichen Forderung nach einem raschen Atom-<br />
ausstieg überhaupt bereit die Folgen der Energiewende zu tragen, diese mög-<br />
licherweise als langfristigen Standortvorteil 2 im internationalen Wettbewerb<br />
zu nutzen?<br />
Wie wird der Balanceakt gelingen, der ethischen Verantwortung gerecht<br />
zu werden, den Atomausstieg effizient und schnell zu erreichen und dabei<br />
gleichzeitig dem Klimawandel und etwaigen sozialen Nachteilen entgegen zu<br />
wirken und dennoch die Sicherheit der Energieversorgung zu gewährleisten?<br />
Nach dem Bericht der Ethikkommission zur Atomenergie 3 , macht die Atom-<br />
energie zwar 20 Gigawatt der gesamten Energieproduktion von 70 Gigawatt<br />
in Deutschland aus, allerdings ist die Atomenergie theoretisch bis spätestens<br />
2022 durch andere Energieträger ersetzbar. Es bleibt aber zu bezweifeln, dass<br />
es gelingen wird, die für die Errichtung und den Betrieb erforderlichen Ge-<br />
nehmigungen zeitnah bzw. überhaupt zu erreichen.<br />
Neben den rechtlichen Problemen in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit des<br />
Referendums, den geplanten Änderungen bei der Laufzeit der Atomkraft-<br />
werke bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Brennelementesteuer und den<br />
zu erwartenden Klagen basierend auf Art. 14 GG 4 , gibt es eine Vielzahl von<br />
Problemen, die auf die Bundesrepublik und deren Bürger zukommen.<br />
Es ist eine Illusion, dass die Energiewende ohne landschaftliche und finan-<br />
zielle Einschnitte möglich sein wird. Daher wird es interessant sein, zu be-<br />
obachten, ob und wie das Vorhaben 5 umgesetzt wird im Bauplanungsrecht<br />
Vorgaben für den Klimaschutz festzulegen, um die Ausweisung von Flächen<br />
für den Bau von Windkraftanlagen, dezentralen Kraftwerken oder Stromspei-<br />
chern zu erleichtern. Der Bau effizienter fossiler Energieträger sowie neuer re-<br />
generativer Energieträger ist unumgänglich 6 . Der Auf- und Ausbau regene-<br />
rativer Versorgungsstrukturen und effizienter fossiler Energieträger wird da-<br />
her von den Bürgern möglicherweise nicht nur höhere Strompreiszahlungen<br />
verlangen, sondern vielmehr auch die Bereitschaft Infrastrukturmaßnahmen<br />
1 http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/energiekonzept_bundesregierung.pdf.<br />
2 Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/atomausstieg-in-deutschland-<br />
die-notwendige-wende-1.1103393.<br />
3 Vgl Abschlussbereicht der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“.<br />
4 http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,765880,00.html<br />
5 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der klimagerechten Stadtentwicklung<br />
in den Gemeinden S. 3 ff.<br />
6 Vgl. Abschlussbereicht der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
wie den Ausbau von Netzen und von Speicherkraftwerken sowie den Bau von<br />
effizienten fossil betriebenen Kraftwerken mitzutragen.<br />
Es wird nicht zuletzt darauf ankommen, neben der gesetzlich festgeschrie-<br />
benen Öffentlichkeitsbeteiligung, die Bürger frühzeitig auf diese Folgen vor-<br />
zubereiten und in die Planungen einzubeziehen. Das Beispiel Stuttgart 21 hat<br />
mehr als deutlich gezeigt, dass infrastrukturelle Maßnahmen im 21. Jahr-<br />
hundert - trotz der in der Verfassung verankerten demokratischen Legitima-<br />
tion der politischen Entscheidungsträger - nicht mehr „von oben“ verordnet<br />
werden können. Vielmehr ist die Einbindung der Öffentlichkeit in konstruk-<br />
tiven und innovativen Formen, wie z.B. die Öffentlichkeitsbeteiligung bei der<br />
Suche und Wahl der Standorte atomarer Endlager in der Schweiz 7 , geboten.<br />
Andernfalls steht zu befürchten, dass frustrierte Anwohner und Umweltver-<br />
bände entsprechende Vorhaben durch langwierige Prozesse blockieren wer-<br />
den. Nicht zuletzt die Entscheidung des EuGH 8 könnte hier zu einem großen<br />
Problem werden. Hier könnten auch Ausgleichsmechanismen für betroffene<br />
Bürger eine höhere Akzeptanz hervorrufen.<br />
Ebenso würden die notwendigen Fortschritte beim Netzausbau - sowohl bei<br />
den Übertragungs- als auch bei den Verteilnetzen müssen zahlreiche zusätz-<br />
liche Leitungen gebaut werden 9 - wohl kaum realisierbar sein.<br />
Es bleibt auch die Kooperationsbereitschaft von Gemeinden abzuwarten,<br />
durch deren Gebiet die notwendigen Netzleitungen verlaufen sollen, wenn<br />
bestehende Gebiets- und Nutzungsplanungen überlagert werden. Offen bleibt<br />
zudem die Frage, ob die im Entwurf zum Netzausbaubeschleunigungsgesetz<br />
(NABEG) 10 vorgesehenen Ausgleichsregelungen hier die gewünschte Abhilfe<br />
schaffen können, hier wird es wohl auf die tatsächliche Ausgestaltung ankommen.<br />
Allein mit der im Netzausbaubeschleunigungsgesetz geplanten „Informtions-<br />
Offensive“ der Bundesregierung gemeinsam mit Netzbetreibern und Um-<br />
weltverbänden, zur Förderung der Kommunikation und Transparenz des<br />
Netzausbaus wird die Energiewende aufgrund der bereits angedeuteten ver-<br />
schiedenen subjektiven Interessen der Bürger und Gemeinden nur schwer<br />
zu realisieren sein. Einige aktuellere Entscheidungen - in denen Bewohner<br />
eine optische Beeinträchtigung durch Windkraftanlagen eingeklagt haben 11 -<br />
zeigen, dass auch die Akzeptanz von Windkraftanlagen gestärkt werden muss,<br />
denn der weitere Ausbau der Windkraft ist nicht nur erforderlich, sondern<br />
sollte besondere Aufmerksamkeit erfahren. 12<br />
Diskutieren Sie mit anderen und uns über dieses Thema! Besuchen Sie uns<br />
dazu einfach unter www.facebook.de/iurratio!<br />
7 http://www.sueddeutsche.de/politik/debatte-um-das-endlager-gesuchtgruft-fuer-strahlende-altlasten-1.1104005.<br />
8 EuGH Urteil v. 12.05.2011, Rechtssache C-115/09.<br />
9 Abschlussbericht der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ S. 36 ff.<br />
10 Eckpunktepapier für ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz (“NABEG”)<br />
11 OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. vom 10.03.2011 <strong>–</strong> 8 A 11215/10, OVG<br />
Nordrhein-Westfalen, Beschl. vom 24.06.2010 <strong>–</strong> 8 A 2764/09.<br />
12 Abschlussbericht der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ S. 31 f.
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82<br />
Ausbildung<br />
Aktuelles und Grundsätzliches zum Betriebsübergang<br />
von Prof. Dr. Gregor Thüsing LL.M. (Harvard) und Wiss. Mit. Jan Thieken (beide Universität Bonn)<br />
Gregor Thüsing (li.), Jahrgang 1971, hat Rechtswissenschaften an der Universität Köln und der Harvard Law School studiert.<br />
Er war Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht an der Bucerius Law School, seit 2004 ist er<br />
Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn. Er ist Autor zahlreicher Publikationen<br />
und u.a. Mitglied der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages.<br />
Jan Thieken (re.), Jahrgang 1984, studierte Rechtswissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn<br />
mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Sozialrecht. Derzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Thüsing<br />
tätig und promoviert zum Europa- und Arbeitsrecht.<br />
A. ZIELE UND ENTWICKLUNG<br />
Den Regelungen zum Betriebsübergang liegt der gleiche Gedanke wie dem<br />
§ 566 BGB im deutschen Mietrecht zugrunde: Die bloße Änderung des Be-<br />
triebsinhabers soll für den Arbeitnehmer keine Konsequenzen haben. Ohne<br />
entsprechende Regelungen würde der Kündigungsschutz massiv einge-<br />
schränkt. Denn der Veräußerer, der dann keinen Betrieb hat und keine Ar-<br />
beitnehmer mehr beschäftigt, könnte betriebsbedingt kündigen, vom Erwer-<br />
ber, zu dem der Arbeitnehmer keine vertraglichen Beziehungen hat, könnte<br />
keine Einstellung verlangt werden. 1 Auf kollektiver Ebene werden durch die<br />
gesetzlichen Regelungen darüber hinaus die Kontinuität des Betriebsrats und<br />
die Aufrechterhaltung der kollektivrechtlichen Arbeitsbedingungen gewähr-<br />
leistet. Daneben sollen die Haftungsrisiken zwischen dem bisherigen Arbeit-<br />
geber und dem neuen Arbeitgeber angemessen verteilt werden. 2 Der Richtli-<br />
nie 2001/23/EG geht es damit ausweislich des 3. Erwägungsgrundes vorwiegend<br />
um den Arbeitnehmerschutz, was auch daran deutlich wird, dass aus Arbeit-<br />
nehmersicht günstigere Regelungen nach Art. 8 beibehalten werden dürfen.<br />
Die deutsche Regelung zum Betriebsübergang in § 613 a BGB wurde nicht<br />
erst aufgrund europäischer Vorgaben geschaffen, sondern ging auf eine nationale<br />
Debatte über die Rechtsfolgen eines Betriebsinhaberwechsels zurück.<br />
Parallel zu den deutschen Diskussionen war auf europäischer Ebene eine Zunahme<br />
von Fusionen und Zusammenschlüssen beobachtet worden. Um den<br />
daraus entstehenden Risiken für Arbeitnehmer zu begegnen wurde die Richtlinie<br />
77/187/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten<br />
über die Wahrung von Ansprüchen beim Übergang von Unternehmen,<br />
Betrieben und Betriebsteilen am 14. 12. 1977 verabschiedet. Revidiert wurde<br />
die Richtlinie durch die Richtlinie 98/50/EG zur Änderung der Betriebsübergangsrichtlinie<br />
vom 29. 6. 1998. Die ursprüngliche Richtlinie 77/187/EWG<br />
und die Änderungsrichtlinie 98/50/EG wurden mit kleineren Änderungen<br />
als Richtlinie 2001/23/EG am 12. 3. 2001 neu verkündet. Nach wie vor wird<br />
die Entwicklung des Betriebsübergangsrechts maßgeblich durch den EuGH<br />
betrieben, der noch genauso wie in den ersten Jahren über wichtige Auslegungsfragen<br />
entscheidet. 3<br />
1 ErfK/Preis, § 613 a BGB Rn. 3; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613 a BGB Rn. 8.<br />
2 ErfK/Preis, § 613 a BGB Rn. 2; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613 a BGB Rn. 6 f.<br />
3 Siehe zuletzt EuGH C-466/07, Slg. 2009, I-803 - Klarenberg; EuGH<br />
C-151/09, NZA 2010, 1014 - UGT-FSP; EuGH C-242/09, NJW 2011, 439 -<br />
Albron Catering; EuGH C-463/09, NZA 2011, 148 <strong>–</strong> CLECE.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
B. VoRLIEGEN EINES BETRIEBSüBERGANGS<br />
Einzige Voraussetzung der Richtlinie und des § 613 a BGB ist das Vorliegen<br />
eines Betriebsübergangs. In Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG wird er<br />
definiert als der rechtsgeschäftliche, identitätswahrende Übergang eines<br />
Betriebs oder Betriebsteils, Unternehmens oder Unternehmensteils. Diese<br />
Definition bedarf der Erläuterung. In der Praxis bildet es oftmals einen Streit-<br />
punkt. 4<br />
I. BETRIEBS- UND UNTERNEHMENSBEGRIFF<br />
Während in der ursprünglichen Richtlinie 77/187/EWG der Anwendungsbereich<br />
auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen beschränkt<br />
war, wurde er durch die Änderungsrichtlinie 98/50/EG auf Unternehmensteile<br />
erweitert. Der EuGH trennt zwischen diesen Begriffen jedoch<br />
nicht, sondern fasst sie alle in der Definition zusammen, nach der es sich um<br />
eine wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung<br />
von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit<br />
handelt. 5<br />
Die Definition des EuGH geht über den Betriebsbegriff im Betriebsverfassungsrecht<br />
hinaus, nach dem es sich um eine Organisationseinheit handelt,<br />
innerhalb der ein Arbeitgeber mit seinen Arbeitnehmern unter Einsatz von<br />
sächlichen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke<br />
verfolgt. Denn neben sächlichen und immateriellen Mitteln werden vom<br />
EuGH auch die personellen Betriebsmittel berücksichtigt, die bei betriebsmittelarmen<br />
Tätigkeiten entscheidend sind. 6<br />
Es muss sich um eine organisatorisch selbstständige Einheit handeln, die innerhalb<br />
des betrieblichen Gesamtzwecks zumindest einen Teilzweck erfüllt.<br />
Der Zweck muss sich nicht vom Zweck des Gesamtbetriebs unterscheiden,<br />
allerdings ist eine eigene Teilidentität erforderlich. Eine untergeordnete Hilfsfunktion<br />
ist nach der Rechtsprechung des EuGH in Watson Rask ausreichend.<br />
Die wirtschaftliche Tätigkeit muss nach dem EuGH in Rygaard auf Dauer<br />
angelegt sein und nicht auf die Ausführung eines bestimmten Vorhabens beschränkt<br />
sein. Wirtschaftlich ist die Einheit nach Art. 1 Abs. 1 lit. c) nicht nur<br />
4 S. zuletzt BAG NZA 2011, 197.<br />
5 St. Rspr. seit EuGH Rs. 24/85, Slg. 1986, 1119 <strong>–</strong> Spijkers.<br />
6 Vgl. EuGH C-463/09, NZA 2011, 148 <strong>–</strong> CLECE.
dann, wenn sie auf Gewinnerzielung ausgerichtet ist. 7 Die Wirtschaftlichkeit<br />
ist nur ausgeschlossen, wenn es sich um ausschließlich hoheitliche Befugnisse<br />
handelt.<br />
II. IDENTITäTSWAHRUNG<br />
Zentral ist die Frage der Identitätswahrung. Bei der Beurteilung müssen nach<br />
dem EuGH sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen<br />
berücksichtigt werden. Namentlich nennt der EuGH sieben Kriterien,<br />
nämlich:<br />
- die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebs,<br />
- den Übergang materieller Aktiva,<br />
- den Übergang immaterieller Aktiva,<br />
- die Übernahme der Hauptbelegschaft,<br />
- den Übergang der Kundschaft,<br />
- den Grad der Ähnlichkeit der Tätigkeit und<br />
- die Dauer einer Unterbrechung der Tätigkeit.<br />
Diese Kriterien dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind nur<br />
Teilaspekte einer Gesamtbewertung. 8 Bei der Identitätswahrung handelt es<br />
sich somit um einen typologischen Begriff: Keines dieser Kriterien ist ein not-<br />
wendiges, und keines ein hinreichendes Merkmal eines Betriebsübergangs.<br />
Entscheidend ist, ob ein funktionsfähiger Organisationszusammenhang<br />
84<br />
Ausbildung<br />
Teile der Belegschaft übernommen werden. So könne bei der Bewachung von<br />
Atomanlagen bereits die Übernahme von 22 der 36 Arbeitnehmer, unter ih-<br />
nen die vier Schichtführer und das weitere Führungspersonal, ausreichend<br />
sein, da sie bei dieser qualifizierten Tätigkeit das wesentliche know-how re-<br />
präsentierten. 20<br />
So einleuchtend es erscheinen mag, dass auch bei betriebsmittelarmen Tätig-<br />
keiten ein gewisser Schutz gewährleistet sein muss und die Übernahme von<br />
Personal daher zur Identitätswahrung beiträgt, birgt diese Rechtsprechung<br />
doch auch ein rechtspolitisches Problem. Will ein Arbeitgeber, der eine<br />
Tätigkeit fortführt, die Folgen eines Betriebsübergangs vermeiden, wird er<br />
sich darum bemühen, einen nur geringen Teil der bisherigen Belegschaft zu<br />
übernehmen. Im Ergebnis kann sich der Schutz durch den weiten Betriebsübergangsbegriff<br />
daher gegen das Personal des bisherigen Auftragnehmers<br />
wenden. 21<br />
Eng verbunden mit dem Übergang der Belegschaft ist die Frage, wie sich der<br />
Übergang bzw. Austausch der Führungskräfte auf das Vorliegen eines Betriebsübergangs<br />
auswirkt. Nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rs.<br />
UGT-FSP behält eine wirtschaftliche Einheit ihre Selbständigkeit auch dann,<br />
wenn die Befugnisse der Personen, die das Direktionsrecht des Arbeitgebers<br />
ausüben, nach dem Übergang über vergleichbare Befugnisse verfügen. Unterliegt<br />
die wirtschaftliche Einheit fortan hingegen dem Direktionsrecht übergeordneter<br />
Hierarchiestufen, verliert sie ihre Selbständigkeit und es fehlt an<br />
einem Betriebsübergang. 22 Nicht geklärt ist, ob ein Austausch der Führungskräfte<br />
den Betriebsübergang verhindert, wenn die neuen Stelleninhaber über<br />
dieselben Befugnisse verfügen.<br />
5. üBERGANG DER KUNDSCHAFT<br />
Der Übergang der Kundschaft trägt ebenfalls zur Identitätswahrung bei. Klassisch<br />
geht die Kundschaft über, wenn die Kundenkartei oder eine Vertriebsberechtigung23<br />
übernommen wird.<br />
6. GRAD DER äHNLICHKEIT DER TäTIGKEIT<br />
Die Ähnlichkeit der Tätigkeit allein reicht für die Identitätswahrung nicht aus.<br />
Sonst stellte jede Funktionsnachfolge einen Betriebsübergang dar. In der Regel<br />
besteht ein Gleichlauf zwischen dem Übergang der Kundschaft und der<br />
Ähnlichkeit der Tätigkeit, da bei gleichem Betriebszweck meist auch die<br />
Kundschaft erhalten bleibt. Ausreichend ist nach dem EuGH in Redmond<br />
Stichting bereits, wenn nur ein Teil der Tätigkeiten auf einen anderen Betrieb<br />
übertragen wird. Dort war eine Einrichtung für Süchtige mit Hilfeleistungs-,<br />
Begegnungs- und Erholungsfunktionen geschlossen und von einer neu gegründeten<br />
Stiftung als Einrichtung nur zur Hilfeleistung fortgeführt worden.<br />
Die Richtlinie regele auch den Übergang von Betrieben und Betriebsteilen,<br />
die bei abgeschlossenen Tätigkeiten besonderer Art vorlägen. 24 Einen geänderten<br />
Betriebszweck nahm das BAG dagegen in einem Fall an, in dem ein<br />
20 BAG NZA 1999, 483.<br />
21 S. auch Thüsing, BB 2002, 464.<br />
22 EuGH C-151/09, NZA 2010, 1014 - UGT-FSP.<br />
23 Siehe EuGH verb. Rs. C-171/94 und C-172/94, Slg. 1996 I, 1253 <strong>–</strong> Merckx.<br />
24 EuGH Rs. C-29/91, Slg. 1992 I, 3189 <strong>–</strong> Redmond Stichting.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Frauenhaus zur bloßen Unterbringung in eine Einrichtung für Frauen mit<br />
einem umfassenden Präventions- und Weiterbildungskonzept umgewandelt<br />
wurde. 25<br />
7. DAUER EINER UNTERBRECHUNG DER TäTIGKEIT<br />
Letztes Kriterium ist nach dem EuGH schließlich die Dauer einer Tätigkeitsunterbrechung.<br />
Dadurch wird die Betriebsfortführung von der Betriebsstilllegung,<br />
also dem endgültigen Beschluss, den Betrieb auf unbestimmte, nicht<br />
unerhebliche Zeit einzustellen, abgegrenzt. Eine pauschale Dauer kann dabei<br />
nicht festgelegt werden, weil es auf die jeweilige Tätigkeit ankommt, ob der<br />
neue Betriebsinhaber von dem bisherigen Betrieb noch profitiert oder ob dieser<br />
bereits zerschlagen ist. Nach dem EuGH führt bei Saisonbetrieben die reguläre<br />
Schließung und Fortführung zur nächsten Saison für sich allein noch<br />
nicht zum Identitätsverlust der wirtschaftlichen Einheit. 26 Bei Einzelhandelsgeschäften<br />
ist entscheidend, ob die Kundenbindung trotz der Unterbrechung<br />
erhalten bleibt. Dies scheidet nach der Rechtsprechung des BAG bei einem für<br />
neun Monate geschlossenen Modefachgeschäft27 oder einem für sechs<br />
Monate nicht bewirteten Restaurantbetrieb in einer Großstadt aus. 28 In beiden<br />
Fällen ist demnach zu erwarten, dass die Kunden sich wegen ihres zwischenzeitlichen<br />
Bedarfs und der bestehenden Ausweichmöglichkeiten<br />
anderweitig versorgen.<br />
III. üBERGANG AUF NEUEN BETRIEBSINHABER<br />
Der Übergang auf einen neuen Betriebsinhaber setzt einen Wechsel des<br />
Rechtsträgers voraus. Der Betriebsinhaber ist jeweils diejenige Person, die<br />
nunmehr für den Betrieb als Inhaber „verantwortlich“ ist. 29 Verantwortlich ist<br />
die Person, die den Betrieb im eigenen Namen führt. Auf die Eigentumssituation<br />
kommt es nicht an, auch bei einer Neuverpachtung kann ein Betriebsübergang<br />
vorliegen. 30 Dabei ist es nicht erforderlich, dass der neue Inhaber den<br />
Betrieb auf eigene Rechnung führt. Es ist unschädlich, wenn der Gewinn an<br />
einen anderen abgeführt wird31 oder wenn nach außen gegenüber den Arbeitnehmern<br />
und Kunden weiterhin der bisherige Betriebsinhaber auftritt. 32 Eine<br />
Sicherungsübereignung allein bewirkt noch keinen Betriebsübergang, denn<br />
sie ändert in der Regel nichts an der Nutzungsberechtigung des bisherigen<br />
Eigentümers. 33 Bei einer Gesellschaft reicht es nicht aus, wenn nur die Gesellschafter<br />
oder die Rechtsform gewechselt werden. 34 Einem Betriebsübergang<br />
steht schließlich nicht entgegen, dass der Erwerber eine juristische<br />
Person des öffentlichen Rechts ist (z.B. Gemeinde), sofern der Veräußerer ein<br />
Privatunternehmen ist. 35<br />
25 BAG NZA 2006, 1096.<br />
26 EuGH Rs. 287/86, Slg. 1987, 5467 <strong>–</strong> Ny Mølle Kro.<br />
27 BAG NZA 1997, 1050.<br />
28 BAG NZA 1998, 31.<br />
29 EuGH verb. Rs. C-173/96 und C-247/96, Slg. 1998 I, 8237 Rn. 23 <strong>–</strong> Hidalgo u. a.<br />
30 EuGH Rs. 287/86, Slg. 1987, 5467 <strong>–</strong> Ny Mølle Kro.<br />
31 BAG NZA 1985, 393.<br />
32 BAG NZA 1999, 310.<br />
33 BAG NZA 2003, 1338.<br />
34 BAG NZA 2003, 1338.<br />
35 Vgl. EuGH C-151/09, NZA 2010, 1014 - UGT-FSP; EuGH C-463/09,<br />
NZA 2011, 148 <strong>–</strong> CLECE.
IV. RECHTSGESCHäFT<br />
Der EuGH legt den Begriff des Rechtsgeschäfts sehr weit aus. Ausgenommen<br />
wird allein die Übertragung durch Gesamtrechtsnachfolge, also durch Erb-<br />
rechtsnachfolge oder durch gesellschaftsrechtliche Umwandlungen. Unmit-<br />
telbare rechtsgeschäftliche Beziehungen sind nicht erforderlich. So wurde ein<br />
Betriebsübergang bei der Neuverpachtung einer Diskothek angenommen,<br />
obwohl zwischen altem und neuem Pächter keine vertraglichen Beziehungen<br />
bestanden. 36 Gleiches galt für die Kündigung eines Mietvertrags über ein Bu-<br />
chenfurnierwerk, das der Eigentümer zunächst wieder in Besitz nahm, kurz<br />
danach aber wieder verkaufte 37 und die Neubeauftragung eines Unterneh-<br />
mens durch eine Einrichtung des öffentlichen Dienstes mit dem Betrieb des<br />
öffentlichen Verkehrs, der zuvor von einem anderen Unternehmen betrieben<br />
worden war. 38<br />
Der EuGH bejahte einen rechtsgeschäftlichen Übergang auch, wenn sie auf<br />
einer einseitigen staatlichen Entscheidung beruht. So stellte es in der Ent-<br />
scheidung Redmond Stichting einen Betriebsübergang dar, wenn Subventi-<br />
onen an eine Stiftung eingestellt und dafür an eine andere Stiftung gleicher<br />
Zielsetzung gewährt würden. 39 In Collino bewertete der EuGH die staatliche<br />
Entscheidung, einer privatrechtlichen Gesellschaft eine Verwaltungskonzessi-<br />
on für Tätigkeiten zu erteilen, die bisher eine in die Verwaltung eingeglie-<br />
derte Einrichtung wahrgenommen hatte. 40 Zweifelhaft erscheint zunächst,<br />
inwiefern diese Auslegung noch mit dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 lit. a) der<br />
Richtlinie in Übereinstimmung zu bringen ist, der eine „vertragliche“ Über-<br />
tragung voraussetzt. Der Wortlaut ist allerdings kein starkes Argument. Denn<br />
etwa in der englischen Fassung ist von einem „legal transfer“ die Rede, der<br />
auch außervertragliche Fälle erfassen würde. 41 Der EuGH geht deshalb vom<br />
Schutzzweck der Richtlinie aus. Aus Sicht der zu schützenden Arbeitnehmer<br />
macht es keinen Unterschied, aus welchem Grund der Betriebsinhaber wech-<br />
selt. Damit befindet sich die weite Auslegung des EuGH in Übereinstimmung<br />
mit der Richtlinie. 42<br />
Eine andere Auslegung legt allerdings das BAG zugrunde. So entschied es in<br />
einem Urteil vom 28. 9. 2006, dass Übergänge kraft Gesetzes ausgenommen<br />
sind. Dort ging es um die drei Berliner Opernhäuser, die durch das Gesetz<br />
über die „Stiftung Oper in Berlin“ mit sämtlichen Betriebsmitteln auf die Stif-<br />
tung übertragen worden sind. Der Übergang der Arbeitsverhältnisse war in<br />
dem Gesetz ebenfalls gesondert geregelt. 43<br />
C. RECHTSFoLGEN EINES BETRIEBSüBERGANGS<br />
Ein Betriebsübergang zeitigt Rechtsfolgen auf mehreren Ebenen. Für den Ar-<br />
beitnehmerschutz am wichtigsten sind die individualrechtlichen Auswir-<br />
kungen. In der Richtlinie sind aber auch Folgen für die Arbeitnehmervertre-<br />
36 EuGH Rs. 324/86, Slg. 1988, 739 <strong>–</strong> Daddy’s Dance Hall.<br />
37 EuGH Rs. 101/87, Slg. 1988, 3057 <strong>–</strong> Bork International.<br />
38 EuGH Rs. C-172/99, Slg. 2001 I, 745 <strong>–</strong> Liikenne.<br />
39 EuGH Rs. C-29/91, Slg. 1992 I, 3189 <strong>–</strong> Redmond Stichting.<br />
40 EuGH Rs. C-343/98, Slg. 2000 I, 6659 <strong>–</strong> Collino.<br />
41 EuGH Rs. 135/83, Slg. 1985, 469 <strong>–</strong> Abels.<br />
42 H/S/W/Wank, § 18 Rn. 83; Fuchs/Marhold, S. 251 ff.; kritisch Schmidt,<br />
Kap. III Rn. 248; vgl. § 5 Rn. 1.<br />
43 BAG AP Nr. 26 zu § 419 BGB Funktionsnachfolge.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Ausbildung<br />
tung festgelegt. Daneben sind die Änderungen für Betriebsvereinbarungen<br />
und Tarifverträge darzustellen. Schließlich gibt es Sonderbestimmungen für<br />
die Haftung zwischen Veräußerer und Erwerber sowie für den Fall der Insol-<br />
venz oder des Konkurses des Veräußerers. Die Rechtsprechung des EuGH ist<br />
hier so zahlreich nicht, dafür umso zahlreicher die Judikatur des BAG.<br />
I. INDIVIDUALRECHTLICHE EBENE<br />
1. EINTRITT IN DIE RECHTE UND PFLICHTEN<br />
Nach Art. 3 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie bzw. § 613 a Abs. 1 S. 1 BGB gehen die<br />
Rechte und Pflichten aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis auf den Er-<br />
werber über. Dem Begriff des Arbeitsverhältnisses wird nach der ausdrück-<br />
lichen Bestimmung des Art. 2 Abs. 1 lit. d) der Richtlinie der nationale Ar-<br />
beitnehmerbegriff zugrunde gelegt. Ziel der Richtlinie ist keine vollständige<br />
Angleichung, sondern nur eine teilweise Harmonisierung. Einer Umgehung<br />
der Richtlinie durch eine enge Definition des Arbeitnehmers wird durch<br />
Art. 2 Abs. 2 vorgebeugt. Demnach dürfen Teilzeitarbeitnehmer, befristet be-<br />
schäftigte Arbeitnehmer und Leiharbeitnehmer nicht ausgenommen werden.<br />
Im deutschen Recht führt die Maßgeblichkeit des deutschen Arbeitnehmer-<br />
begriffs insbesondere dazu, dass Organmitglieder und freie Mitarbeiter durch<br />
§ 613 a BGB nicht geschützt werden.<br />
2. KüNDIGUNGSVERBoT<br />
Die Kündigung wegen des Betriebsübergangs ist sowohl dem Veräußerer als<br />
auch dem Erwerber 44 nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie bzw. § 613 a Abs. 4 BGB<br />
verboten. Zulässig bleibt es dagegen, den Arbeitnehmer aus wirtschaftlichen,<br />
technischen oder organisatorischen Gründen zu kündigen, auch wenn diese<br />
durch den Betriebsübergang bedingt sind. Es wird nach objektiven Umständen<br />
beurteilt, ob der Betriebsübergang die überwiegende Ursache für die<br />
Kündigung war. Ein Verstoß liegt in der Regel vor, wenn die Kündigung ungefähr<br />
zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs wirksam wird und die Arbeitnehmer<br />
vom Erwerber wieder eingestellt werden. 45 Eine Sanierung vor der<br />
Veräußerung wird dadurch aber nach der Rechtsprechung des BAG nicht<br />
ausgeschlossen. 46 Der EuGH hat dies insoweit bestätigt, als er es für “offensichtlich”<br />
i.S.d. Art. 104 § 3 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung (dieser ermöglicht<br />
eine Entscheidung im Beschlussverfahren) hielt, dass ein bereits ausgeschiedener<br />
Arbeitnehmer nicht dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/23/<br />
EG unterfällt. 47 Ein dreiseitiger Aufhebungsvertrag ist nicht wegen einer Umgehung<br />
des § 613 a Abs. 4 BGB nach § 134 BGB nichtig, wenn er auf ein endgültiges<br />
Ausscheiden aus dem Betrieb gerichtet ist, da der Arbeitnehmer dies<br />
sowieso durch einen Widerspruch nach § 613 a Abs. 6 BGB herbeiführen<br />
kann. 48 Soll der Arbeitnehmer dagegen zum Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags<br />
mit dem Erwerber veranlasst werden, liegt eine Umgehung des<br />
§ 613 a Abs. 4 BGB vor. 49<br />
44 EuGH Rs. C-319/94, Slg. 1998 I, 1061 Rn. 34 <strong>–</strong> Dassy.<br />
45 EuGH Rs. 101/87, Slg. 1988, 3057 Rn. 18 <strong>–</strong> Bork International;<br />
Rs. C-319/94, Slg. 1998 I, 1061 Rn. 39 <strong>–</strong> Dassy.<br />
46 BAG NZA 2003, 1027; ErfK/Preis, § 613 a BGB Rn. 167 ff.<br />
47 EuGH C-386/09, juris <strong>–</strong> Briot.<br />
48 BAG NZA 1996, 207.<br />
49 BAG NZA 1988, 198.<br />
85
86<br />
Ausbildung<br />
3. WIDERSPRUCHSRECHT UND UNTERRICHTUNG DES ARBEIT-<br />
NEHMERS<br />
Das Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers ist im deutschen Recht seit dem<br />
1. 4. 2002 in § 613 a Abs. 6 BGB normiert. Bereits 1974 hatte das BAG aber<br />
anerkannt, dass der Arbeitnehmer dem Übergang des Arbeitsverhältnisses<br />
widersprechen kann und dadurch rückwirkend beim bisherigen Arbeitgeber<br />
verbleibt. 50 In der Richtlinie findet sich keine entsprechende Vorgabe, Art. 3<br />
Abs. 1 der Richtlinie sieht einen Übergang vor, ohne dass es auf die Zustim-<br />
mung des Arbeitnehmers ankäme. Das BAG hatte sich bei der Entwicklung<br />
des Widerspruchsrechts auf die in Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit<br />
des Arbeitnehmers gestützt und aus der Höchstpersönlichkeit der Arbeitsleistung<br />
gemäß § 613 BGB auf einen insgesamt höchstpersönlichen Charakter<br />
des Arbeitsverhältnisses geschlossen.<br />
Der Widerspruch ist für den Arbeitnehmer mit Risiken verbunden. Er verbleibt<br />
dadurch beim Veräußerer, der ihm aber betriebsbedingt kündigen<br />
kann, wenn er ihn nicht weiterbeschäftigen kann. Im Ergebnis ist ein Widerspruch<br />
aus Sicht des Arbeitnehmers daher in der Regel nur sinnvoll, wenn<br />
lediglich ein Teilbetrieb übertragen wurde und im Restbetrieb eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit<br />
besteht. Als Gestaltungsrecht kann der einmal erklärte<br />
Widerspruch nicht mehr einseitig widerrufen oder zurückgenommen<br />
werden. Lediglich eine dreiseitige Aufhebungsvereinbarung zwischen Arbeitnehmer,<br />
neuem und bisherigem Inhaber kann dann noch abgeschlossen<br />
werden. 51<br />
Nach deutschem Recht kann der Arbeitnehmer den Widerspruch innerhalb<br />
eines Monats ab der Unterrichtung nach § 613 a Abs. 5 BGB erklären. Die<br />
Unterrichtung ist als echte Rechtspflicht und nicht nur als bloße Obliegenheit<br />
ausgestaltet. 52 Sie ist nämlich im erst 2001 eingefügten Art. 7 Abs. 6 der Richtlinie<br />
für bestimmte Fälle vorgesehen und muss daher nach Art. 9 der Richtlinie<br />
als Rechtspflicht umgesetzt werden. Freilich ist der deutsche Gesetzgeber<br />
über die Vorgaben der Richtlinie hinausgegangen. Art. 7 Abs. 6 sieht die Unterrichtung<br />
der Arbeitnehmer nur für den Fall vor, dass es im Betrieb keine<br />
Arbeitnehmervertreter gibt. Die weitergehende deutsche Vorschrift ist aber<br />
wegen des Günstigkeitsprinzips des Art. 8 der Richtlinie zulässig.<br />
Ziel der Unterrichtungspflicht ist es, dem Arbeitnehmer eine Entscheidungsgrundlage<br />
für ein frühzeitiges Erwägen von anderen Optionen, im deutschen<br />
Recht vor allem für die Ausübung des Widerspruchsrechts, zu bieten. 53 Daher<br />
ist er über den Zeitpunkt des Übergangs, den Grund des Übergangs, seine<br />
rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen und die hinsichtlich der<br />
Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen zu informieren. Widerspricht<br />
der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses nach<br />
einer nicht genügenden Unterrichtung, hat er einen Schadensersatzanspruch,<br />
der allerdings nicht auf Naturalrestitution in Form von Weiterbeschäftigung<br />
beim Erwerber gerichtet ist, sondern auf einen Geldbetrag in Anlehnung an<br />
§ 10 KSchG. Könnte der Arbeitnehmer seine Weiterbeschäftigung erzwingen,<br />
50 BAG NJW 1975, 1378; NZA 1994, 360.<br />
51 BAG NZA 2004, 481.<br />
52 ErfK/Preis, § 613 a BGB Rn. 90; anders noch vor der Aufnahme des<br />
§ 613 a Abs. 5 BGB, siehe BAG NZA 1994, 360.<br />
53 BT-Drs. 14/7760, S. 19.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
stellte dies einen Kontrahierungszwang dar, der nicht einmal im Antidiskriminierungsrecht<br />
vorgesehen ist. 54 Bei arglistiger Täuschung kann der Arbeitnehmer<br />
aber seinen Widerspruch nach § 123 Abs. 1 BGB anfechten. 55 Wird<br />
der Arbeitnehmer über den Betriebsübergang nicht informiert, beginnt die<br />
Widerspruchsfrist des § 613 a Abs. 6 S. 1 BGB nicht zu laufen. Der Vorschlag,<br />
eine Höchstfrist festzusetzen, wurde im Gesetzgebungsverfahren abgelehnt. 56<br />
Eine analoge Anwendung anderer Höchstfristen (§ 5 Abs. 3 S. 2 KSchG, § 355<br />
Abs. 3 BGB) scheidet daher aus, einzige Grenze ist die Verwirkung, die die<br />
Kenntnis des Betriebsübergangs und des Widerspruchsrechts voraussetzt. 57<br />
II. KoLLEKTIVRECHTLICHE EBENE<br />
Bei der Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen versuchen<br />
die Richtlinie und § 613 a BGB einen Ausgleich zwischen dem<br />
Bestandsinteresse des Arbeitnehmers und dem Ablöseinteresse des neuen Arbeitgebers<br />
zu treffen. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie sieht vor, dass der Erwerber<br />
die kollektivrechtlich vereinbarten Arbeitsbedingungen mindestens ein Jahr<br />
aufrechterhalten muss. Geschützt sind nach dem EuGH ebenso wie in Art. 3<br />
Abs. 1 nur die zur Zeit des Übergangs beschäftigten Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber<br />
muss die kollektivrechtlich vereinbarten Arbeitsbedingungen daher<br />
nicht auf nach dem Übergang eingestellte Arbeitnehmer erstrecken. 58<br />
Im deutschen Recht gibt es zwei Mechanismen, die zu einer Weitergeltung<br />
führen. Vorrangig ist eine fortbestehende normative Wirkung, die sich aus<br />
allgemeinen Regeln ergibt. Subsidiär werden kollektivrechtliche Regelungen<br />
nach § 613 a Abs. 1 S. 2 bis 4 BGB in den Arbeitsvertrag transformiert, gelten<br />
also nicht mehr normativ weiter.<br />
Europarechtlich nicht zwingend geboten, in Art. 3 Abs. 1 S. 2 der Richtlinie<br />
aber ausdrücklich erlaubt, ist die in § 613 a Abs. 2 und 3 BGB vorgesehene<br />
gesamtschuldnerische Weiterhaftung des Veräußerers für auf den Erwerber<br />
übergegangene Verpflichtungen, soweit diese vor dem Übergang entstanden<br />
sind und innerhalb eines Jahres fällig werden. Dieser Haftung liegt der<br />
Gedanke zugrunde, dass der Veräußerer einen Erlös für den Betrieb erhalten<br />
hat, der auch durch die Belegschaft erwirtschaftet wurde. Der Arbeitnehmer<br />
erhält dadurch einen zusätzlichen Schuldner.<br />
54 Vgl. § 15 Abs. 6 AGG.<br />
55 APS/Steffan, § 613 a BGB Rn. 217.<br />
56 BR-Drs. 831/1/01, S. 2 (drei Monate); BT-Drs. 14/8128, S. 4 (sechs Monate).<br />
57 HWK/Willemsen, § 613 a BGB Rn. 357.<br />
58 EuGH Rs. 287/86, Slg. 1987, 5467 Rn. 26 <strong>–</strong> Ny Mølle Kro; EuGH<br />
Rs. 101/87, Slg. 1988, 3057 Rn. 17 <strong>–</strong> Bork International.
Jugendstrafrecht für junge Rechtsbrecher<br />
von Intendant Prof. Dr. jur. Christoph Nix (Konstanz/Universität Bremen)<br />
„...tatsächlich hat mich in meinem Leben nur wenig mit größerer Leiden-<br />
schaft erfüllt, wie die strafrechtliche Seite unserer Welt. Wenn wir diese<br />
strafrechtliche Seite unserer Welt und das heißt unserer Gesellschaft verfolgen,<br />
erleben wir, wie gesagt wird, jeden Tag unsere Wunder.“<br />
(Thomas Bernhard, Der Untergeher)<br />
A. EINLEITUNG 1<br />
Wie die meisten von uns, habe ich als Jugendlicher Straftaten begangen. Ich<br />
erinnere mich noch sehr genau an meinen Wunsch, unbedingt Moped fahren<br />
zu wollen. In Freistunden oder wenn ich den Unterricht schwänzte boten<br />
sich die besten Gelegenheiten. Ich war 15 Jahre alt und ging auf ein kleinstädtisches<br />
Gymnasium. Ich hatte einen Schulfreund, der fuhr eine „Kreidler<br />
Florett“ und die borgte er mir aus. Manchmal fragte ich ihn vorher, ein anderes<br />
Mal auch nicht.<br />
An einem sonnigen Vormittag fuhr ich mit einem Klassenkameraden Kurt die<br />
Landstraße entlang. Plötzlich überholte uns ein Polizeifahrzeug. Kurz darauf<br />
hielt es an und zwei Beamte winkten mit einer Kelle. Ich bremste und die beiden<br />
wollten meinen Führerschein sehen. Ich behauptete, ihn zu Hause liegen<br />
gelassen zu haben. Aber allzu lange hielt ich meine Notlüge nicht durch. Ich<br />
beichtete, ich legte ein Geständnis ab. Erleichterung auf allen Seiten. Nichts<br />
wünscht sich die Strafverfolgungsbehörde mehr, als geständige Beschuldigte,<br />
Angeschuldigte, Angeklagte Sie gelten als reumütig und resozialisierbar. 2<br />
B. GELTUNGSBEREICH DES JGG oDER WIE WIRD MAN KRIMI-<br />
NELL?<br />
Mittlerweile gehört es zum Standardwissen, dass Jugendstrafrecht an den<br />
Hochschulen spannend, Kriminalität in jungen Jahren durchaus normal und<br />
ubiquitär sein soll.<br />
Rössner beschreibt diesen Prozess etwas sachlicher:<br />
„In einem komplexen Entwicklungsprozess des Normlernens, der zweiten<br />
sozialen Geburt wird gemeinschaftsbezogenes Wissen und Handlungskompetenz<br />
erst erworben. Das Jugendstrafrecht ist ein Meilenstein dieser<br />
Entwicklung in den ersten beiden Lebensjahrzehnten. Mit dem Eintritt<br />
ins 14. Lebensjahr (§ 1 JGG; § 19 StGB) gelten für den öffentlichen Raum<br />
die Strafvorschriften der Erwachsenen mit den entsprechenden Verboten<br />
uneingeschränkt.“ 3<br />
Es ist eine normative Entscheidung, dass man bei uns mit dem 14. Lebensjahr<br />
strafmündig wird. Das JGG von 1923 (§ 1JGG 1923) hatte die Strafbarkeit<br />
vom 12. auf das 14. Lebensjahr angehoben, im Nationalsozialismus war<br />
1 Ausführlicher Christoph Nix/Winfried Möller Einführung in das Jugendstrafrecht,<br />
München 2011.<br />
2 Vgl. Walter, Jugendkriminalität, Rn. 206. Häufig kommt es zu falschen<br />
Geständnissen, damit man die unangenehme Situation der Erstvernehmung<br />
los wird. Zur weiteren Lektüre: Nix, Verbotene Vernehmungsmethoden<br />
bei Kindern und Jugendlichen, MSchrKrim 1993, S. 181.<br />
3 Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, S.2.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Ausbildung<br />
Christoph Nix studierte Jura an der Universität Gießen. Das Re-<br />
ferendariat machte er in Frankfurt am Main. 1988 wurde er an<br />
der Universität Bremen zum Dr. jur. promoviert, 1990 zum Pro-<br />
fessor ernannt, in Hannover berufen. Er war Strafverteidiger in<br />
Gießen, ab 1988 lehrte er in Hannover Strafrecht. Lehre an der<br />
HU Berlin, an der Universität der Künste und in Kassel. Im<br />
Januar 2011 wurde Christoph Nix an der Universität Bremen<br />
zum Professor für Jugendstrafrecht und Bühnenrecht ernannt.<br />
sie wieder gesenkt worden (RJGG 1943) und in Ost und West haben wir zum<br />
einen mit dem JGG 1953 und in der DDR bereits seit 1951 eine Strafmündigkeit<br />
ab 14 Jahren gehabt.<br />
Mit unserer Erfindung von Kindheit und Jugend, die ja erst eine Idee der Neuzeit<br />
zur bürgerlichen Gesellschaft hin beschrieb, haben wir ein Stufenmodell<br />
anerkannt. 4<br />
Das Kind hatte 14 Jahre Zeit um sich gesellschaftliche Regeln, soziales Wissen<br />
und Handeln anzueignen. Das Jugendstrafrecht räumt den Jugendlichen<br />
(14-17 Jahre) und den Heranwachsenden (18-20 Jahre) eine Übergangsfrist<br />
(§ 1 Abs. 2 JGG) bei dieser Entwicklung ein.<br />
Vor über dreißig Jahren schrieb der Kriminologe Stephan Quensel in der Zeitschrift<br />
„Kritische Justiz“ einen Aufsatz mit der Überschrift „Wie wird man<br />
kriminell“ 5 .<br />
Diese Frage, die in den meisten Lehrbüchern zum Jugendstrafrecht ausgeklammert<br />
wird, beschäftigt uns alle, gesellschaftspolitisch führt sie zu unterschiedlichen<br />
Ergebnissen: wer so denkt, dass der junge Mensch über alle oder<br />
viele Möglichkeiten der Selbstentscheidung auch in irrationalen Situationen<br />
und erbärmlichen Verhältnissen verfügt, der reagiert, wenn der andere sie<br />
übertritt mit stärkerer Repression.<br />
Quensel aber verbindet mit seinem Aufsatz verschiedene Erkenntnismethoden<br />
und Theorien und führt sie in einem Zeit- und Eskalationsmodell<br />
zueinander.<br />
Man spürt bei ihm den Einfluss, aber auch die alte Liebe zur Psychoanalyse<br />
Sigmund Freuds. So beschreibt er den scheinbar unaufhaltsamen Prozess der<br />
Kriminalisierung eines Jugendlichen sowohl aus der Perspektive der Individualpsychologie<br />
(z.B. deviantes Verhalten als Problemlösungsmuster) vermittelt<br />
uns eine Übersicht über verschiedene Erklärungsansätze von Jugendkriminalität<br />
und macht zugleich deutlich, dass Gesellschaft in ihrer jeweiligen<br />
Verfassung Produzent von Kriminalität ist. 6<br />
Unter Jugendkriminalität wird das jenige Verhalten von Jugendlichen und<br />
Heranwachsenden verstanden, das nach den allgemeinen Vorschriften mit<br />
4 Vgl. Aries, Geschichte, S.92 ff.<br />
5 KJ 1970, S. 377.<br />
6 Vgl. Christie, Kriminalität, S. 79 ff.<br />
87
88<br />
Ausbildung<br />
Strafe bedroht ist (vgl. § 1 Abs. 1 JGG, d.h. das als eine tatbestandsmäßige<br />
und rechtswidrige, nicht notwendig auch schuldhafte Straftat anzusehen ist).<br />
Meier setzt dem Begriff der Jugendkriminalität mit dem der Jugenddelin-<br />
quenz gleich 7 , während andere Autoren wie P.-A. Albrecht die Delinquenz<br />
bewusst vom Begriff der Kriminalität abgrenzen, und darunter dasjenige Ver-<br />
halten bezeichnen, das von den Strafverfolgungsbehörden gerade nicht re-<br />
gistriert wird.<br />
Wie dem auch sei, es lohnt sich, auch wenn das Studium fortgeschritten ist, ab<br />
und zu in die Niederungen abzutauchen, den alten Fragen nachzugehen, wie<br />
wir wurden, was wir sind.<br />
C. HELLFELD <strong>–</strong> DUNKELFELD<br />
Jugendstrafrecht ist auch ein wenig Empirie. Recherchieren und schnüffeln in<br />
der Polizeilichen Kriminalstatistik zum Beispiel und schon befinden wir uns<br />
im Hellfeld, der registrierten Kriminalität.<br />
Für das Berichtsjahr 2010 wird noch einmal deutlich wie gering letztlich der<br />
Anteil der Kriminalität von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden an<br />
der Gesamtzahl der Tatverdächtigen ist.<br />
Heranwachsende<br />
b.u. 21J<br />
10,4%<br />
Jungerwachsene<br />
b.u. 25J<br />
11,9%<br />
Jugendliche<br />
b.u. 18J<br />
11,4%<br />
Polizeilich registrierte Tatverdächtige.<br />
PKS 2009<br />
Vollerwachsene<br />
25J u.ä.<br />
61,9%<br />
Betrachtet man die Basiswerte der Kinderkriminalität und ihre absoluten<br />
Zahlen, so wird deutlich, dass selbst unerhebliche quantitative Steigerungen<br />
sich sofort in prozentualen Erhöhungen niederschlagen. Zugleich zeigt sich<br />
noch einmal, dass der Anteil der sogenannten Jungerwachsenen relativ hoch<br />
ist, dann aber alsbald ab dem 26. Lebensjahr abfällt. Man könnte das auch als<br />
ein Indiz dafür werten, dass der Prozess der Erwachsenenwerdens in einer<br />
älter werdenden Gesellschaft Verzögerungen erlebt, nach außen aber durch<br />
scheinbare Selbstständigkeit kompensiert werden.<br />
Spannender ist das Dunkelfeld, also das Reich der wirklichen Kriminalität,<br />
dieses können wir natürlich nie ganz erforschen, allenfalls mit Befragungen<br />
stellen wir fest, dass im Dunklen mehr Sexualdelikte ruhen, die nie angezeigt<br />
wurden und viel mehr Wirtschaftskriminalität, die nie ruchbar wurde.<br />
7 Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, S. 48.<br />
Kinder<br />
b.u. 14J<br />
4,4%<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
D. JUGENDSTRAFRECHT- ERZIEHUNGSSTRAFRECHT?<br />
Wer Zeitungsberichte über Strafverhandlungen gegen Jugendliche bzw. He-<br />
ranwachsende liest oder gar selbst an solchen Verhandlungen <strong>–</strong> soweit öffent-<br />
lich <strong>–</strong> teilnimmt, stößt immer wieder auf einen Begriff: Erziehung. Aus Grün-<br />
den der Erziehung werde von der „eigentlich“ angezeigten Jugendstrafe noch<br />
einmal Abstand genommen, es wird eine Woche Jugendarrest verhängt, weil<br />
unter dem Gesichtspunkt der Erziehung ein „Schuss vor den Bug“ vonnö-<br />
ten sei, aus erzieherischen Gründen wird die Verhängung von Jugendstrafe<br />
gefordert, deren Vollstreckung allerdings zur Bewährung ausgesetzt werden<br />
könne. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. „Erziehung“ erscheint danach als<br />
Füllhorn, aus dem sich nach Bedarf im Einzelfall ebenso Strafschärfendes wie<br />
Strafmilderndes ausschütten lässt.<br />
Ob Jugendstrafrecht denn Erziehungsstrafrecht ist oder sein soll, gehört zu<br />
den Grundfragen dieses Rechtsgebiets. Sie ist umstritten 8 und wird es blei-<br />
ben 9 , auch nachdem der Gesetzgeber mit dem berühmten Federstrich zwar<br />
nicht ganze Bibliotheken zu diesem Thema hat überflüssig werden lassen,<br />
aber doch durch Einfügung eines neuen Absatzes 1 in § 2 JGG 10 „zum er-<br />
sten Mal in der Geschichte des Jugendgerichtsgesetzes“ 11 ein Ziel des Jugend-<br />
strafrechts formuliert: „Die Anwendung des Jugendstrafrechts“, heißt es dort,<br />
„soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsen-<br />
den entgegenwirken“.<br />
Damit ist zunächst einmal klar gestellt, dass die Legalbewährung, wenn auch<br />
nicht einziges („vor allem“), so doch zumindest vorrangiges Ziel der Anwen-<br />
dung von Jugendstrafrecht ist. Die Formulierung lässt es zu, daneben auch andere<br />
Sanktionszwecke, insbesondere Belange des Schuldausgleichs etwa bei<br />
der Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld, zu berücksichtigen.<br />
Um dieses Ziel zu erreichen, heißt es weiter in Satz 2:<br />
„sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts<br />
auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.“<br />
E. DIE HERANWACHSENDEN IM JUGENDSTRAFRECHT - § 105<br />
JGG EINE SPANNENDE RECHTSNoRM<br />
Ob, wie es in der Praxis üblicherweise heißt, Jugend- oder Erwachsenen(straf)<br />
recht anzuwenden ist, richtet sich nach § 105 JGG.<br />
§ 105 Abs. 1 JGG enthält zwei gleichrangige Alternativen. Da nur eine der<br />
in den Nummern 1 und 2 genannten Voraussetzungen gegeben sein muss<br />
(„oder“), ist bei der praktischen Anwendung der Vorschrift entgegen der gesetzlichen<br />
Reihenfolge mit der Prüfung von Nr. 2 zu beginnen. Ob eine Jugendverfehlung<br />
vorliegt, ist unter Einbeziehung der dazu ergangenen Rechtsprechung<br />
leichter zu prüfen und zu entscheiden als das Vorliegen der Voraussetzungen<br />
der Nr. 1, deren Feststellung regelmäßig eine umfassendere<br />
und eingriffsintensivere Prüfung erfordert. 12<br />
8 Vgl. etwa P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 65 ff. : „Das fragwürdige<br />
Leitprinzip ‚Erziehung’“; für eine Abschaffung des Erziehungsziels als<br />
Grundlage des Jugendstrafrechts H.-J. Albrecht, Gutachten, S. D 97 ff.).<br />
9 Vgl. dazu Ostendorf, Jugendstrafrecht, Rdnr. 50 f.<br />
10 Durch das 2. JGG-Änderungsgesetz vom 13.12.2007, BGBl. I, S. 2894, in<br />
Kraft getreten am 1. 1. 2008.<br />
11 BT-Drs. 16/6293, S. 9.<br />
12 Ebenso: Ostendorf, Jugendstrafrecht, Rdnr. 293.
I. DIE GESAMTWüRDIGUNG DER PERSöNLICHKEIT <strong>–</strong> § 105 ABS.<br />
1 NR. 1 JGG<br />
Nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG sind die Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts dann<br />
anzuwenden, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei<br />
Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er nach seiner<br />
sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand.<br />
Zerlegt man die verschachtelte Formulierung, so ergibt sich<br />
- dass eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters vorzunehmen ist,<br />
- dabei auch die Umweltbedingungen zu berücksichtigen sind,<br />
- die Würdigung ergeben muss, dass der Betroffene zum Zeitpunkt der Tat<br />
nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung noch einem Jugendlichen<br />
gleichstehen muss.<br />
Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut hat die vorzunehmende Prüfung auf<br />
den Zeitpunkt der Tat (§ 2 Abs. 2 JGG i. V. m. § 8 StGB) abzustellen. Dies ist<br />
auch dann zwingend, wenn zwischen Tat und Aburteilung ein längerer Zeitraum<br />
liegt, mag aber Probleme aufwerfen, da mit zunehmendem Abstand zur<br />
Tatzeit die ohnehin nicht einfache Beurteilung des Reifezustands mit größer<br />
werdenden Unsicherheiten belastet ist. In jedem Fall sind die der Würdigung<br />
zugrunde zu legenden Tatsachen sorgfältig zu ermitteln. Da es sich um täterpersönlichkeitsbezogene<br />
Tatsachen handelt, ist dies primär Aufgabe der Jugendgerichtshilfe<br />
(§ 107 i. V. m. § 38 Abs. 2 S. 2 JGG). Soweit es zur Beurteilung<br />
der Täterpersönlichkeit erforderlich ist, hat sie gegenüber dem Gericht,<br />
welches abschließend über die Frage des anzuwendenden Rechts zu entscheiden<br />
hat, die Einholung eines jugendpsychologischen Sachverständigengutachtens<br />
anzuregen. Zu Recht weist allerdings Ostendorf darauf hin, dass<br />
auch bei der Einschaltung eines Sachverständigen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />
zu beachten ist: Angesichts der mit einer Begutachtung verbundenen<br />
belastenden und stigmatisierenden Wirkungen ist stets darauf zu achten,<br />
dass die Erforschung der Persönlichkeit nicht außer Verhältnis zum erhobenen<br />
Tatvorwurf steht, und deshalb bei Bagatell- und mittelschwerer Kriminalität<br />
auf eine Begutachtung zu verzichten. 13Bleiben nach Ausschöpfung<br />
aller unter Berücksichtigung des Vorstehenden gebotenen und zulässigen Ermittlungsmöglichkeiten<br />
Zweifel, findet nach überwiegender Auffassung Jugendstrafrecht<br />
Anwendung. 14 Das wird entweder auf den Grundsatz „in dubio<br />
pro reo“ oder den Erziehungsgedanken gestützt. Gegen letztere Begründung<br />
wie gegen den Vorrang des Jugendstrafrechts ist Kritik erhoben worden.<br />
15 : Die Anwendung von Jugendrecht kann für den Heranwachsenden belastender<br />
sein als die des Erwachsenenrechts, die so verstandene Anwendung<br />
des in dubio-Satzes sich also als Pyrrhus-Sieg erweisen. Deshalb ist mit Eisenberg<br />
zu fordern, dass dieser Grundsatz mit der Maßgabe anzuwenden ist, die<br />
jeweils weniger einschneidende Rechtsfolge anzuordnen. 16<br />
In der Sache wirft § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG ähnliche Interpretations- und Anwendungsprobleme<br />
auf wie § 3 JGG.<br />
13 Ostendorf, Jugendstrafrecht, Rn. 293.<br />
14 BGH St 12, 116, 118 f.; Böhm/Feuerhelm, Jugendstrafrecht, S. 65 f.; weitere<br />
Nachweise bei Eisenberg, § 105 Rn.36.<br />
15 Im Grundsatz kritisch P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 110.<br />
16 Eisenberg § 105 Rn. 36.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Ausbildung<br />
II. DIE JUGENDVERFEHLUNG <strong>–</strong> § 105 ABS. 1 NR. 2 JGG<br />
In der Literatur werden delinquente Handlungen dann als jugendtypisch bezeichnet,<br />
wenn sie in den Modalitäten und Motivationen relativ häufig zu<br />
verzeichnen sind, so z.B. Kraftfahrzeugkriminalität, Körperverletzungen bei<br />
Raufereien, Gebrauch leichter Drogen. Der BGH stellt in seiner Rechtsprechung<br />
auf die äußeren Tatumstände und die Beweggründe des Täters ab. Sie<br />
müssen die „Jugendverfehlung als oberflächlich“ und den „Antriebskräften<br />
der Entwicklung entspringende Entgleisungen“ erkennen lassen17 ; auch wird<br />
vom „Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Hemmungsvermögen“<br />
gesprochen. 18 . Jede Straftat kann damit <strong>–</strong> unabhängig von der Schwere <strong>–</strong> unter<br />
den Begriff der Jugendverfehlung fallen, sie muss (lediglich) jugendtypischen<br />
Charakter aufweisen. 19<br />
Liegen eine der vorgenannten Voraussetzungen vor, so wendet der Richter<br />
die für Jugendliche geltenden, im Wesentlichen die Rechtsfolgen der Verfehlungen<br />
Jugendlicher regelnden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11<br />
und 13 bis 32 JGG entsprechend an. Es finden also keineswegs alle Vorschriften<br />
des JGG entsprechende Anwendung. § 3 JGG etwa ist auf Heranwachsende<br />
in keinem Fall anwendbar. Andererseits enthalten § 105 Abs. 2 und 3<br />
sowie die §§ 106 bis 112 JGG eine Reihe von weiteren Vorschriften über die<br />
Anwendung materiellrechtlicher oder verfahrensrechtlicher Bestimmungen<br />
auf Heranwachsende. Die §§ 106 bis 109 JGG enthalten Milderungen des Erwachsenenstrafrechts<br />
für den Fall der Anwendung auf Heranwachsende sowie<br />
Verfahrensvorschriften.<br />
F. RECHTSFoLGEN DER JUGENDSTRAFTAT<br />
Während das JGG hinsichtlich der Sanktionen im engeren Sinne ein vom Erwachsenenrecht<br />
(nahezu) losgelöstes Rechtsfolgensystem enthält, nimmt es<br />
hinsichtlich der Maßnahmen und Nebenfolgen mannigfache Anleihen aus<br />
dem allgemeinen Strafrecht.<br />
§ 5 JGG gibt einen Überblick über die Sanktionen des Jugendstrafrechts. Die<br />
Vorschrift nimmt eine Dreiteilung vor. Erziehungsmaßregel (§ 9), Zuchtmittel<br />
(§13) und Jugendstrafe (§§ 17,27) treten in Verfahren gegen Jugendliche und<br />
Heranwachsende an die Stelle der Straftatenfolgen des Erwachsenenrechts<br />
(Einzelheiten sogleich unter C.). Dies geschieht unabhängig davon, ob ein Jugendgericht<br />
oder ein für allgemeine Strafsachen zuständiges Gericht mit der<br />
Angelegenheit befasst ist (§ 104 Abs.1 Nr.1; §§ 112 S1 und 2, 105 Abs.1 i.V.m.<br />
§ 104 Abs.1 Nr.1).<br />
§ 7 JGG regelt, welche Maßregeln der Besserung und Sicherung gegenüber Jugendlichen<br />
und Heranwachsenden angeordnet werden können.<br />
§ 6 JGG normiert, welche Nebenfolgen nach dem Jugendstrafrecht angeordnet<br />
werden dürfen (Einzelheiten unter E.).<br />
Schließlich enthält § 8 JGG umfängliche Regelungen über die mögliche Verbindung<br />
der vielfältigen Rechtsfolgen nach dem JGG.<br />
Schauen wir uns zunächst einmal den Katalog der möglichen Rechtsfolgen<br />
der Jugendverfehlung an. Welche Rechtsfolgen das JGG bereit hält, ist in den<br />
§§ 5 bis 8 geregelt.<br />
17 BGH St 8, 91; StV 1987, S. 307.<br />
18 OLG Zweibrücken, StV 1989, S. 314.<br />
19 BGH StV 1983, 377.<br />
89
90<br />
Ausbildung<br />
Sanktionen<br />
- Erziehungsmaßregeln, § 9 JGG<br />
• Weisungen nach § 10 JGG<br />
• „unbenannte“ Weisungen<br />
• Erziehungsbeistandschaft § 12 JGG<br />
• Heimerziehung § 12 JGG<br />
- Zuchtmittel § 13 JGG<br />
• Verwarnung § 14 JGG<br />
• Auflagen § 15 JGG<br />
- Wiedergutmachung<br />
- Entschuldigung<br />
- Arbeitsleistung<br />
- Geldbetrag<br />
• Jugendarrest § 16 JGG<br />
- Freizeitarrest<br />
- Kurzarrest<br />
- Dauerarrest<br />
- Jugendstrafe § 17 JGG<br />
• (unbedingte) Verhängung der Jugendstrafe § 17 JGG wegen<br />
- Schädlicher Neigungen<br />
- Schwere der Schuld<br />
• Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung<br />
- Vorbewährung" § 57 JGG<br />
- "Urteils"bewährung § 21 JGG<br />
• Aussetzung der Verhängung § 27 JGG bei Jugendstrafe wegen<br />
schädlicher Neigungen<br />
Maßnahmen (§ 11 I Nr. 8 StGB)<br />
- Maßregeln der Besserung und Sicherung §§ 7 JGG, 61 ff StGB<br />
• Freiheitsentziehende Maßregeln:<br />
- Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus § 63 StGB<br />
- Unterbringung in einer Entziehungsanstalt § 64 StGB<br />
- Nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung<br />
gem. § 7 Abs. 2 JGG<br />
• Maßregeln ohne Freiheitsentzug:<br />
- Führungsaufsicht §§ 68-68g<br />
- Entziehung der Fahrerlaubnis §§ 69-69b<br />
- Andere Maßnahmen<br />
• Verfall §§ 6 JGG, 73-73e StGB<br />
• Einziehung §§ 6 JGG, 74, 75 StGB<br />
• Unbrauchbarmachung §§ 6 JGG, 74d StGB<br />
Nebenfolgen<br />
- Fahrverbot § 44 StGB<br />
G. DIE JUGENDSTRAFE<br />
I. ALLGEMEINES<br />
Die Jugendstrafe ist die einzige echte Kriminalstrafe des Jugendstrafrechts.<br />
Dieser „Freiheitsentzug in einer Jugendstrafanstalt“ (§ 17 Abs. 1 JGG) kann<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
zum einen verhängt werden, „wenn wegen der schädlichen Neigungen des<br />
Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder<br />
Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen“, zum anderen, „wenn wegen der<br />
Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist“ (§ 17 Abs. 2 JGG). Obwohl es sich<br />
um eine Kriminalstrafe handelt, soll der Erziehungsgedanke bei der Verhängung<br />
eine wesentliche (§ 18 Abs. 2 JGG) und beim Vollzug gar eine dominierende<br />
Rolle spielen (§ 91 JGG).<br />
Die Dauer der Jugendstrafe beträgt mindestens 6 Monate und (bei Jugendlichen)<br />
höchstens 5 Jahre; das Höchstmass beträgt jedoch 10 Jahre, wenn nach<br />
allgemeinem Strafrecht eine Höchststrafe von mehr als 10 Jahren Freiheitsstrafe<br />
angedroht ist (§ 18 Abs. 1). Bei Heranwachsenden beträgt das Höchstmass<br />
in jedem Fall 10 Jahre (§ 105 Abs. 3 JGG).<br />
Soweit erst einmal ein kursorischer Überblick. Beschäftigen wir uns zunächst<br />
einmal mit den<br />
II. VoRAUSSETZUNGEN DER JUGENDSTRAFE<br />
1. SCHäDLICHE NEIGUNGEN<br />
Die gängige Definition, die uns die Rechtsprechung anbietet lautet:<br />
„Schädliche Neigungen zeigt ein Jugendlicher oder Heranwachsender, bei dem<br />
erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel die Gefahr begründen, dass er ohne<br />
längere Gesamterziehung (§§ 91, 92 JGG) durch weitere Straftaten die Gemeinschaftsordnung<br />
stören wird“ 20Wie verstehen wir aber, wenn wir uns an<br />
den Wortlaut der Norm halten wollen den Begriff der Neigungen? Schöch21 scheint relativ unkritisch damit umzugehen. Einerseits weist er daraufhin,<br />
dass hier nicht nur Konflikt- oder Gelegenheitstaten gemeint sein dürften,<br />
andrerseits will er auch dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />
genüge tun und verlangt wie das LG Gera, dass beim Täter eine<br />
Rückfallgefahr für erhebliche Straftaten vorliegen muss . 22<br />
Aufhellung bringt und aber ein Blick in den Kommentar von Eisenberg, der<br />
auf die Historie des Begriffes der schädlichen Neigung eingeht.<br />
Bei der Frage der Bemessung der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer war<br />
bereits in § 12 Abs.1 S 1 des österreichischen Gesetzes über die Behandlung<br />
junger Rechtsbrecher v. 18.7.1927 die schädliche Neigung ein wesentliches<br />
Tatbestandmerkmal. Durch VO des Reichsjustizministers über die unbestimmt<br />
Verurteilten vom 10.9.194123 wurden die „schädlichen Neigungen“ in<br />
das deutsche Jugendstrafrecht eingeführt und im RJGG 43 beibehalten und<br />
als selbstständige Voraussetzung zur Verhängung von Jugendstrafe in das<br />
JGG (§ 4) eingefügt. 24<br />
Das Tatbestandsmerkmal begegnet daher unserer Skepsis („der Schädling“), es<br />
ist disponibel und mit den Kategorien einer modernen Sozialwissenschaft nicht<br />
in Einklang zu bringen. Im Jugendstrafprozess werden sie, vielleicht auf die Geschichte<br />
hinweisen können, aber sie müssen mit der Norm arbeiten, wenn der<br />
20 Vgl. BGH St 11,170; 16, 261; BGH St 1992,431; NStZ-RR 2002, 20.<br />
21 In: Meier/Rössner/Schöch, S. 216 ff.<br />
22 LG Gera, DVJJ-Journal 1998, S. 282.<br />
23 RGBL I 567.<br />
24 Vgl. Eisenberg § 17 Rn. 19 vgl. Eisenberg § 17 Rn. 19.
Jugendrichter und das Jugendamt sie nicht auf Dauer ausschließen soll.<br />
Nach h. M kommt es beim Vorliegen von schädlichen Neigungen nicht auf<br />
die Entstehungszusammenhänge an. 25 Dies ist aber rechtsstaatlich höchst<br />
zweifelhaft, denn die Jugendstrafe ist auch immanent betrachtet eine repres-<br />
sive Maßnahme, für deren Begründung es auf die Entstehungszusammen-<br />
hänge ankommen muss und § 46 StGB nicht suspendiert werden kann. Inte-<br />
ressant ist es bei Eisenberg nachzulesen, der ausführlich darstellt, dass die Ju-<br />
gendstrafe wegen schädlicher Neigungen eigentlich, sachlich einer Maßregel<br />
der Besserung und Sicherung gleich kommt.<br />
Tatsächlich wird Jugendstrafe derzeit aber überwiegend wegen „schädlicher<br />
Neigungen“ verhängt. 26<br />
Die Rspr. verlangt die Feststellung von Persönlichkeitsmängeln, die schon vor<br />
der Tat bestanden haben müssen. 27 Bei der Entscheidung müssen sie noch<br />
vorliegen, können sich aber aufgelöst haben, wenn <strong>–</strong> wie Schöch hervorhebt-<br />
z.B. sich der Täter von der Gruppe gelöst hat, in der die Straftaten begangen<br />
worden sind oder der Täter „geläutert erscheint“ 28 , sich z.B. mit Hilfe der Ju-<br />
gendgerichtshilfe einer systemischen oder psychoanalytischen Therapie un-<br />
terzieht und aufdeckt woher seine Wut und seine Aggressionen in der Kind-<br />
heit kommen.<br />
In der Regel sollen sich schädliche Neigungen nur bejahen lassen, wenn be-<br />
reits früherer Straftaten gegen den Jugendlichen eingeleitet worden sind.<br />
Eisenberg führt uns in der sozialen Arbeit auf das Problem der Definition, der<br />
Abgrenzung, der inhaltlichen Findung von anderen Kategorien bzw. Tatbe-<br />
standsmerkmalen oder „Einweisungsindikationen“. Schädliche Neigung soll<br />
enger sein, als Verwahrlosung oder die Erziehungsindikation für Maßnah-<br />
men nach §§ 12 JGG, 34 KJHG.<br />
In der Tat müssen die schädlichen Neigungen hervorgetreten sein, die Tat<br />
muss Ausfluss der schädlichen Neigung sein, dies soll nach BGH für jede ein-<br />
zelne Tat geprüft werden. Die Feststellung z.B. „kriminelle Abenteuerlust“ für<br />
einen Tatkomplex reicht nicht. 29<br />
2. SCHWERE DER SCHULD<br />
Die Voraussetzungen der „Schwere der Schuld“ sollen sich unter Einbezie-<br />
hung der Tatmotivation, in erster Line nach der jeweiligen Form der (Einzel-<br />
tat-) Schuld und dem Grad der Schuldfähigkeit bestimmen.<br />
Rspr. und Lit. akzeptieren hier, dass der sonst vorherrschende Grundgedanke<br />
der Erziehung in den Hintergrund tritt.<br />
Andrerseits will der BGH dies dadurch einschränken, dass er die Verhängung<br />
von Jugendstrafe allein wegen „Schwere der Schuld“ in der Regel nur dann<br />
zulassen will, wenn dies aus erzieherischen Gründen erforderlich ist. 30<br />
25 BGH St 11, 169, 170.<br />
26 Vgl. Meier S. 73 f: Lange S. 113: 69,3%, Matzke S. 183: 71,5%, Meier allerdings<br />
S. 73 f: 38,7%.<br />
27 BGH St 16, 26 f., BGH NStZ 1984, 413.<br />
28 BGH NStZ 1997, 481.<br />
29 Eisenberg § 17 Rn. 6 ff.<br />
30 BGH St 15, 224; 16, 261; BGH bei Holtz MDR 1982, 625.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Ausbildung<br />
Die Begründung für die Schwere der Schuld divergiert erheblich.<br />
Entgegen Schaffstein/Beulke (vgl. § 23, 3) ist sich die Literatur weitgehend ei-<br />
nig, dass generalspräventive Gründe, der Gesichtspunkt der Abschreckung<br />
anderer oder die Stärkung des Rechtsbewusstseins der Bevölkerung, weder<br />
bei der Verhängung, noch bei der Bemessung der Jugendstrafe eine Rolle<br />
spielen.<br />
Der 18 jährige Sven, seit Jahren in einer Skinheadgruppe, wird wegen gefähr-<br />
licher Körperverletzung nach einer Demo zu einer Jugendstrafe von 2 Jah-<br />
ren verurteilt. Zwar sei Sven seither strafrechtlich nicht Erscheinung getre-<br />
ten, aber die Stärkung des Rechtsbewusstseins, die besondere Verantwortung<br />
Deutschlands in Bezug auf rechtsradikale Strömungen und die Abschreckung<br />
potenzieller Täter, gebiete diese Strafe.<br />
Eine so begründete Entscheidung wäre unter dem Gesichtspunkt der §§ 17<br />
Abs. 2, 18 Abs. 2, 21 Abs. 1 JGG in der Revision aufzuheben.<br />
Die jüngerer Rspr. des BGH 31 stellt wieder verstärkt auf den Erziehungsge-<br />
danken ab, und will dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat keine selbstständige<br />
Bedeutung zumessen.<br />
Dennoch finden in die Begründungen immer wieder und auch durchaus von<br />
der Lit. verteidigte Aspekte einer positiven Generalprävention Einfluss in die<br />
Entscheidungen, sei es dass vom „allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl“ (Schaff-<br />
stein) oder vom „Vergeltungsbedürfnis der Allgemeinheit“ (Böhm) die Rede<br />
ist. Letztlich ist das Tatbestandsmerkmal oder der Strafgrund generalpräven-<br />
tiv besetzt. 32<br />
H. SCHLUSSBETRACHTUNG<br />
Die Bundesregierung hat mit dem 2. JGGÄndG vom Dezember 2007 den<br />
Erziehungsgedanken zu einer zentralen, programmatischen Vorschrift in § 2<br />
Abs.1 erhoben. Dieses in der Vergangenheit vieldiskutierte Prinzip, welches<br />
das gesamte JGG durchzieht 33 , bedarf einer kritischen Revision.<br />
Der Gedanke der Erziehung findet seinen Platz in der Jugendhilfe, hier sollen<br />
Defizite und Mangellagen ausgeglichen, kompensiert und gemildert werden <strong>–</strong><br />
mehr nicht. Mehr geht nicht.<br />
Im Strafrecht hat er nichts zu suchen. Das Strafrecht verfolgt den Zweck Wert<br />
und Normen der Gesellschaft zu bestätigen, Rechtsfrieden herzustellen oder<br />
zu erhalten <strong>–</strong> zu mehr ist es nicht in der Lage. Es erzieht nicht, schon gar nicht<br />
im Strafvollzug, es ist auch keine Prävention, es wirkt am besten, wenn es<br />
die soziologischen Determiniertheiten durchbricht, zu denen wir scheinbar<br />
gezwungen sind, wenn der Geprügelte nicht mehr prügeln muss, wenn die<br />
Missbrauchte nicht mehr missbrauchen muss, wenn der, dem was fehlt an innerer<br />
Liebe oder materiell nicht mehr stehlen muss.<br />
31 BGH StV 2009, 93 ff.<br />
32 Vgl. auch KG Berlin StV 2009, 91.<br />
33 Vgl. die §§ 9, 10 Abs.1, 12, 17 Abs.2, 18 Abs.2, 21 Abs.1, 24 Abs.1, 24<br />
Abs.1 und 3, 31 Abs.3; 35 Abs.2, 37, 38 abs.2, 45 Abs.2, 46, 47, 48 Abs.3; 51<br />
Abs.1, 52 a, 54 Abs.2, 69 Abs.2, 71 Abs. 1, 90 abs.1, 93 Abs.2 JGG.<br />
91
92<br />
Schwerpunkte<br />
A. EINLEITUNG<br />
Probleme bei der Vernehmung von Kindern,<br />
die Opfer sexueller Gewalt geworden sind<br />
von Thorge Koehler (Universität Bremen)<br />
Thorge Koehler, Jahrgang 1987, studiert Rechtswissenschaft<br />
an der Universität Bremen und belegte den Schwerpunkt<br />
Strafrecht und Kriminalpolitik in Europa. Nebenbei besuchte<br />
er über mehrere Semester Veranstaltungen der Rechts- und<br />
Polizeipsychologie und hospitiert derzeit im Rahmen eines<br />
einjährigen Mentoringprogramms bei der Bremer Polizei.<br />
„Wie ähnlich war der Unfall?“ <strong>–</strong> so lautet der Titel eines Aufsatzes, der sich<br />
mit der Grundproblematik von Zeugenaussagen beschäftigt. 1 Der Verfasser<br />
stellt hier ein Experiment mit Zeugen 2 vor, die einen Unfall beobachten und<br />
diesen später auf einem Video nicht einmal wiedererkennen. An diesem Bei-<br />
spiel wird bereits eines der generellen Probleme von Zeugenaussagen deut-<br />
lich: Obwohl sie in Strafprozessen einen hohen Bedeutungswert haben kön-<br />
nen ist ihre Zuverlässigkeit eher zweifelhaft.<br />
Berücksichtigt man diese nahezu unbestrittene Erkenntnis, so bedarf es kei-<br />
ner großen Vorstellungskraft um zu erkennen, dass dieses grundsätzliche Pro-<br />
blem insbesondere beim kindlichen Zeugen eine massive Verstärkung erfah-<br />
ren kann. Zum Umgang mit ihnen und ihrer Aussage gibt es unter Psycholo-<br />
gen und Juristen einen breitgefächerten und bisweilen kontroversen Diskurs.<br />
Dieser Aufsatz stellt unter Berücksichtigung des Diskursstandes einige Pra-<br />
xisansätze und -probleme dar, die im Rahmen von Interviews mit zwei Kri-<br />
minalbeamtinnen besprochen wurden und diesem Aufsatz zugrunde liegen.<br />
Letztlich erfolgt nach der umfassenden Betrachtung des Themenkomplexes<br />
der Vernehmung von Kindern eine kritische Auseinandersetzung mit den<br />
derzeit propagierten und praktizierten Lösungsansätzen.<br />
Die besondere Problemrelevanz ergibt sich hierbei aus der Tragweite der<br />
kindlichen Aussage für den Beschuldigten und die daraus möglicherweise resultierende<br />
Verurteilung und gesellschaftliche Ausgrenzung.<br />
B. BESoNDERHEITEN DES KINDLICHEN ZEUGEN<br />
Wie das einleitende Beispiel zeigt, können Zeugenaussagen grundsätzlich als<br />
fehleranfällig bezeichnet werden. Allerdings kommen bei Kindern altersspezifische<br />
Besonderheiten hinzu, die ihre Aussagefähigkeit beeinflussen.<br />
Im Folgenden wird versucht, die Schwierigkeiten bei der Vernehmung von<br />
Kindern in ein grobes, dreistufiges Raster zu gliedern, dass sich an verschiedenen<br />
Alters- und Reifestufen orientiert, wobei die jeweiligen Altersgrenzen<br />
nach individuellem Hintergrund fließend verlaufen. 3<br />
1 Wendler, in: ZFS 2003, 529 (529).<br />
2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die geschlechtsspezifische<br />
Schreibweise verzichtet.<br />
3 Die Darstellung orientiert sich stark an Arntzen/Michaelis, Psychologie<br />
der Kindervernehmung, S. 39 ff.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Es wird davon ausgegangen, dass die Aussagetüchtigkeit4 bei unter vierjährigen<br />
Kindern definitiv nicht gegeben ist5 , was entwicklungspsychologisch u.a.<br />
mit dem sehr geringen Erinnerungsvermögen begründet wird. 6<br />
I. AUSSAGETüCHTIGKEIT VoN VIER- BIS SECHSJäHRIGEN<br />
Insbesondere bei vier- bis sechsjährigen Zeugen gelten zahlreiche Besonderheiten.<br />
Gerade an der unteren Altersgrenze sind die Aussagen der Kinder<br />
nur selten brauchbar. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen, in denen sehr<br />
junge Kinder unter besonderen Umständen Aussagen machen, die sie sogar<br />
als Hauptzeugen und nicht lediglich als „Stützzeugen“ qualifizieren können. 7<br />
In dieser Gruppe ist von Vorteil, dass die Kinder sich noch nicht verstellen<br />
können und unmittelbar und vorbehaltlos das schildern, was sie erlebt haben.<br />
Hierbei können auch ihre Mimik und Gestik als klares Indiz gewertet werden,<br />
da sie diese noch nicht bewusst steuern können8 und es für Kleinkinder daher<br />
sehr schwer ist, unbemerkt falsche Angaben zu machen9 .<br />
Häufige Probleme ergeben sich bei der Aussage von Vier- bis Sechsjährigen in<br />
Bezug auf ihre Ausdrucksfähigkeit und die Möglichkeit, Geschehnisse detailliert<br />
zu verbalisieren. Hierbei liegt es nahe, dass Kindern das entsprechende<br />
Vokabular fehlt. 10 Die Deutung und Interpretation des von ihnen Beschriebenen<br />
muss aber mit Bedacht erfolgen, da sie häufig, wenn auch mit wenigen<br />
Worten, genau das aussagen, was sie meinen. 11<br />
Auch kann die unter Umständen sehr geringe Ausdrucksfähigkeit dazu führen,<br />
dass der Vernehmende zwar eine Vorstellung von dem Gemeinten bekommt,<br />
diese „Vermutung“ für das weitere Verfahren aber nicht ausreichend<br />
ist. So mag man bei den Worten „Papa, Kerze, Popo, aua...“ eine bestimmte<br />
Assoziation haben, reicht die Ausdrucksfähigkeit des betroffenen Kindes allerdings<br />
nicht über diesen Level hinaus und finden sich auch keine weiteren<br />
Beweise, wird hieraus für die Strafverfolgung kein hinreichender Beweiswert<br />
erwachsen.<br />
Durch die begrenzte Ausdrucksfähigkeit versuchen jüngere Kinder das Erlebte<br />
oft durch eine nonverbale Demonstration zu verdeutlichen, sodass eine<br />
genaue Protokollierung nicht nur des Gesprochenen, sondern auch der gemachten<br />
Gesten erforderlich wird. 12<br />
Der noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts häufig erhobene Einwand, gerade<br />
Kleinkinder könnten häufig das Erlebte nicht von ihrer Fantasie trennen,<br />
4 Vgl. Regber, Glaubhaftigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen,<br />
S. 21 f.<br />
5 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 39.<br />
6 Stern, Psychologie der frühen Kindheit, 9. Auflage, S. 204 ff.<br />
7 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 39.<br />
8 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 40.<br />
9 Schnitker, in: Kruse/Oehmichen, Kindesmisshandlung und sexueller<br />
Missbrauch, S. 99.<br />
10 Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische<br />
Psychologie, S. 70.<br />
11 Vgl. Köhnken/Lempp/Schütze, Forensische Psychiatrie und Psychologie<br />
des Kindes- und Jugendalters, 2. Auflage, S. 383 f.<br />
12 Schnitker, in: Kruse/Oehmichen , Kindesmisshandlung und sexueller<br />
Missbrauch, S. 100.
scheint heute weitestgehend entkräftet. 13 Vielmehr stellte sich heraus, dass ge-<br />
rade jüngere Kinder aufgrund ihres mangelnden Verständnisses für sexuel-<br />
les Verhalten eher dazu neigen, ungezwungen das wiederzugeben, was sie tat-<br />
sächlich erlebt haben. 14<br />
Letztlich tritt gerade bei Kleinkindern noch ein relativ schneller Erinnerungs-<br />
verlust ein, so dass sich ihre Aussagetüchtigkeit unter Umständen wöchent-<br />
lich verschlechtern kann und eine zeitnahe Vernehmung erforderlich ist. 15<br />
Abschließend ist anzumerken, dass laut einer Studie die Aussagezuverlässig-<br />
keit von Kleinkindern im Alter von vier Jahren bei 35 %, im Alter von Fünf<br />
bei 42 % und im Alter von Sechs bei 48 % liegt, sodass auch Kleinkinder ver-<br />
wertbare Aussagen machen können. 16<br />
II. AUSSAGETüCHTIGKEIT VoN SIEBEN- BIS ZEHNJäHRIGEN<br />
KINDERN<br />
Im Gegensatz zu der Altersgruppe der Kleinkinder nehmen Kinder im Al-<br />
ter zwischen sieben und zehn Jahren Sachverhalte differenzierter und zusam-<br />
menhängender wahr und können diese umfangreicher wiedergeben. 17 Sie<br />
entwickeln zunehmend ein selbstkritisches Element ihrer Persönlichkeit, so-<br />
dass sie den Grad ihrer Erinnerungssicherheit besser einschätzen können. 18<br />
Auch Grundschulkinder lassen noch spontane und unverstellte Reaktionen in<br />
ihre Erzählungen einfließen, wenn etwa ihr Vokabular nicht ausreicht. Diese<br />
Merkmale können es erleichtern, einen authentischen Bericht zu identifizie-<br />
ren. 19<br />
Eindeutige Vorteile zeigen sich bei Grundschulkindern in Bezug auf ihre Ge-<br />
dächtnisleistung und die Gesprächsführungsfähigkeit. 20<br />
Negativ könnte sich in der hier betrachteten Altersgruppe auswirken, dass die<br />
Kinder unter Umständen aus anderen Sphären (z.B. Fernsehprogramme, äl-<br />
tere Kinder, etc.) bereits erste Informationen über Sexualdelikte erlangt ha-<br />
ben können. 21<br />
Hinzu kommt, dass Grundschulkinder teilweise in der Lage sind, gewisse<br />
Sachverhalte zu verschweigen, wobei eine bewusste Falschaussage aufgrund<br />
des leicht zu durchschauenden Auftretens der Kinder eher zu entlarven ist. 22<br />
Zusammengefasst stellt die Gruppe der Sieben- bis Zehnjährigen jedoch die<br />
zum Zeugnis am besten geeignete Altersgruppe dar, da Kinder diesen Alters<br />
einerseits eine relativ gut ausgeprägte Sprachfähigkeit, eine realistische Ge-<br />
samteinstellung 23 sowie eine ausgeprägte Unvoreingenommenheit aufweisen<br />
und andererseits die negativen Einflüsse begrenzt sind und sich leicht iden-<br />
tifizieren lassen. 24<br />
13 Vgl. Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische<br />
Psychologie, S. 69 f.<br />
14 Regber, Glaubwürdigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 28.<br />
15 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />
3. Auflage, S. 58.<br />
16 Vgl. Arntzen/Kardas/Michaelis-Arntzen, in: Psychologie der Zeugenaussage,<br />
System der Glaubhaftigkeitsmerkmale, 4. Auflage, S. 206.<br />
17 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 50.<br />
18 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 51.<br />
19 Regber, Glaubwürdigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 30.<br />
20 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 52.<br />
21 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 53.<br />
22 Wegener, Einführung in die forensische Psychologie, S. 51.<br />
23 Vgl. Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische<br />
Psychologie, S. 71.<br />
24 So auch Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 54.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Schwerpunkte<br />
III. AUSSAGETüCHTIGKEIT VoN ELF- BIS DREIZEHJäHRIGEN<br />
KINDERN<br />
Bei der Aussagetüchtigkeit von Kindern im sogenannten vorpubertären Alter<br />
muss erstmals eine geschlechtsspezifische Unterteilung vorgenommen wer-<br />
den. Im Gegensatz zu den männlichen Zeugen ab elf Jahren, deren Verhal-<br />
ten und Eignung kaum Unterschiede zu denen der vorherigen Altersstufe<br />
aufweist, tritt bei den weiblichen Zeuginnen eine vergleichsweise große Ab-<br />
weichung auf. 25 Demgemäß bezieht sich ein Großteil der folgenden Ausfüh-<br />
rungen in erster Linie auf Mädchen dieser Altersstufe.<br />
Grundsätzlich besteht bei Kindern dieses Alters die Gefahr, dass sie entweder<br />
bereits eigene sexuelle Erfahrungen gemacht oder entsprechende Informati-<br />
onen aus den Medien oder ihrem persönlichen Umfeld aufgenommen haben.<br />
Problematisch hieran ist, dass eine Tat mit relativ authentischen Bildern be-<br />
schrieben werden kann, die so nicht stattgefunden hat. 26<br />
Zudem haben Kinder dieses Alters aufgrund des zunehmenden Wissens be-<br />
züglich ihrer Sexualität eher ein entsprechendes Verständnis, aus dem ein<br />
Schamempfinden und somit auch eine Hemmung zur Aussage erwachsen<br />
kann. 27<br />
Zeuginnen dieser Altersstufe lassen sich eher durch ihre Umwelt beeinflussen<br />
und können so Fakten zurückhalten oder falsche Tatsachen behaupten, wo-<br />
bei die Motive hierfür vielschichtig sind. In Betracht käme z.B. der beabsich-<br />
tige Schutz der eigenen Familie oder die Beschönigung der eigenen Rolle in<br />
einem Delikt. 28<br />
Positiv kann sich auf die vorpubertären Zeugen auswirken, dass sie ein grö-<br />
ßeres Verständnis für Zusammenhänge entwickelt haben sowie Gescheh-<br />
nisse bewusster wahrnehmen und größtenteils bereits ein gewisses Verant-<br />
wortungsbewusstsein entwickelt haben, dass die Gefahr einer absichtlichen<br />
Falschaussage wieder verringert. 29<br />
Abschließend kann festgehalten werden, dass zwar entwicklungspsycholo-<br />
gisch die besten Voraussetzungen für eine taugliche Aussage vorliegen, ande-<br />
rerseits aber durch diese weite Entwicklung auch eher Verfälschungen zu be-<br />
fürchten sind. 30<br />
IV. ZWISCHENFAZIT<br />
Die vorangehende Darstellung ist zwar relativ grob erfolgt, sollte aber in hin-<br />
reichender Weise deutlich gemacht haben, dass Kinder, egal welchen Alters,<br />
als Zeugen weder grundsätzlich geeignet noch ungeeignet sind. Vielmehr ist<br />
ein differenzierter Umgang mit dem jeweiligen Kind und seinem individuellen<br />
Hintergrund dringend erforderlich.<br />
25 Regber, Glaubwürdigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 32.<br />
26 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 57.<br />
27 Schnitker, in: Kruse/Oehmichen , Kindesmisshandlung und sexueller<br />
Missbrauch, S. 101.<br />
28 Differenzierter Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 58 f.<br />
29 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 62.<br />
30 Im Ergebnis so auch Regber, Glaubwürdigkeit und Suggestibilität kindlicher<br />
Zeugenaussagen, S. 33 f.<br />
93
94<br />
Schwerpunkte<br />
C. DIE EIGENTLICHE VERNEHMUNG<br />
Bei der Vernehmung eines Kindes müssen zahlreiche Faktoren berücksichtigt<br />
werden, damit eine wahrheitsgemäße, verwertbare Aussage gewonnen wer-<br />
den kann.<br />
Zum einen spielt das Vernehmungsumfeld eine wichtige Rolle, zum anderen<br />
muss gerade bei Kindern ein besonderes Augenmerk auf die Art und Weise<br />
der Vernehmung gelegt werden.<br />
I. VERNEHMUNGSUMFELD<br />
Bezüglich des räumlichen Vernehmungsumfeldes herrscht Einigkeit darüber,<br />
dass es möglichst „kindgerecht“ eingerichtet sein sollte. 31 Grundsätzlich kön-<br />
nen daher etwa große Räume, die u.U. bedrohlich wirken, die Aussagebereit-<br />
schaft eines Kindes hemmen. 32 Zu denken sei hier beispielsweise an große<br />
Gerichtssäle.<br />
Tatsächlich werden bei der polizeilichen Vernehmung spezielle Räume be-<br />
nutzt, die durch ungewöhnlich freundliche, farbenfrohe und spielzimmerar-<br />
tige Einrichtung eine weit „kindgerechtere“ Raumatmosphäre schaffen als in<br />
Behörden sonst üblich. Eine solch vertraut wirkende Atmosphäre kann das<br />
Kind beruhigen und sich somit positiv auf die Aussagebereitschaft auswir-<br />
ken. 33<br />
Neben diesen räumlichen spielen aber auch personenbezogene Faktoren eine<br />
Rolle. So ergab eine Untersuchung, dass 90% der Kinder in ihrer Aussagebe-<br />
reitschaft gehemmt sind, wenn ihre Eltern anwesend sind. 34 Daher wird in der<br />
Praxis versucht, Kinder immer in Abwesenheit ihrer Eltern zu vernehmen.<br />
Eine Ausnahme gilt bei besonders stark gehemmten Kleinkindern, wo es er-<br />
forderlich sein kann, die Eltern hinzuzuziehen, um ein gewisses Vertrauen<br />
und eine damit einhergehende Aussagebereitschaft zu schaffen. 35<br />
Ebenfalls vermieden werden sollte die Anwesenheit von weiteren Kindern<br />
gleicher Altersklasse bzw. grundsätzlich weiterer Personen im Vernehmungs-<br />
umfeld, da hierdurch eine starke Hemmung hervorgerufen werden kann. 36<br />
Letztlich zeigt sich in Bezug auf ein förderliches Vernehmungsumfeld, dass<br />
sich bereits vermeintliche Kleinigkeiten negativ auf das Aussageverhalten<br />
eines Kindes auswirken. Festzustellen ist, dass die geforderten Vorausset-<br />
zungen bei einer polizeilichen Vernehmung, im Gegensatz zu einer Gerichts-<br />
verhandlung, problemlos zu schaffen sind. 37 Demnach kann insbesondere bei<br />
Gerichtsverhandlungen die Gefahr bestehen, dass die Aussagebereitschaft<br />
eines Kindes umfeldbedingt stark eingeschränkt ist.<br />
II. DURCHFüHRUNG DER VERNEHMUNG<br />
In diesem Abschnitt sollen Besonderheiten bei der Durchführung der Ver-<br />
nehmung aufgezeigt werden. Hierbei wird ein Blick auf spezifische Merkmale<br />
31 So etwa Köhnken/Lempp/Schütze, Forensische Psychiatrie und Psychologie<br />
des Kindes- und Jugendalters, 2. Auflage, S. 356 f.<br />
32 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />
3. Auflage, S. 47 f.<br />
33 So auch Ell, in: ZfJ 1992, 142 (189).<br />
34 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />
3. Auflage, S. 50.<br />
35 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 12 f.<br />
36 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />
3. Auflage, S. 51.<br />
37 Vgl. Ell, in: ZfJ 1992, 142 (189).<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
der Belehrung geworfen sowie die konkrete Art und Weise der Vernehmung<br />
beleuchtet.<br />
1. DIE BELEHRUNG<br />
Auch Kinder müssen vor Beginn ihrer Vernehmung gem. §§ 52 III, 55 II StPO<br />
über ihr Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht belehrt werden. Die<br />
Aufnahmefähigkeit bzgl. der Belehrung kann gem. § 52 II StPO angenom-<br />
men werden, wenn der Minderjährige über die notwendige „Verstandesreife“<br />
verfügt.<br />
Dies soll der Fall sein, wenn das Kind erkennen kann, dass der Beschuldigte<br />
etwas Unrechtes getan hat, für das ihm Strafe droht und seine Aussage zu<br />
dieser Bestrafung beitragen kann. 38 Gerade bei Taten im engeren familiären<br />
Umfeld ist jedoch zu befürchten, dass die betroffenen Kinder den Zusam-<br />
menhang zwischen ihrer eigenen Aussage und den möglichen Konsequenzen<br />
noch nicht sehen und keine Abwägung durchführen können. 39 In besonde-<br />
ren Fällen kann daher gem. §§ 52 II StPO, 1629, 1909 BGB ein Ergänzungs-<br />
pfleger bestellt werden. 40<br />
Prinzipiell ist darauf zu achten, dass Kinder altersentsprechend verständlich<br />
belehrt werden 41 , wobei aber die Gefahr der Einschüchterung des Kindes be-<br />
dacht und durch geeignete sprachliche Konstrukte umgangen werden muss 42 .<br />
Die Belehrung stellt auch bei kindlichen Zeugen ein wesentliches Element für<br />
die spätere strafprozessuale Verwertbarkeit dar, sodass sie zwar „kindgerecht“,<br />
aber auch fehlerfrei und vollständig erfolgen muss.<br />
2. ART UND WEISE DER VERNEHMUNG<br />
Bei der Vernehmung müssen allerdings weitere kindspezifische Besonder-<br />
heiten beachtet werden. Auch hier gilt die grundsätzliche Aufteilung einer<br />
Vernehmung in den freien Bericht und die daran anschließenden Fragen. 43<br />
Befragungen von Kindern sollten angemessen eingeleitet werden und diese<br />
sollten das Gefühl bekommen, dass die Vernehmungsperson aufrichtig und<br />
ehrlich mit ihnen umgeht. 44 Selbstverständlich sollte hierbei eine einfache<br />
und verständliche Sprache gewählt werden. 45<br />
Ein besonderes Augenmerk muss allerdings auf die Suggestibilität kindlicher<br />
Zeugen gelegt werden.<br />
Sie sind aufgrund ihrer teils eingeschränkten Gedächtnisentwicklung und der<br />
mitunter nur gering ausgebildeten Skepsis und Standhaftigkeit besonders anfällig<br />
für suggestive Einflüsse46 , wobei dies für jüngere Kinder stärker gilt als<br />
für ältere. 47<br />
38 BGH NJW 1960, 1396 (1397); Senge, in: Karlsruher Kommentar zur<br />
StPO, § 52, Rn. 23.<br />
39 Allerdings kommen gerade Taten im familiären Umfeld (insb. Dunkelfeld)<br />
regelmäßig vor; vgl. Berliner/Elliott, in: The APSAC handbook on<br />
child maltreatment, S. 54; Kley, in: Kriminalistik 2007, 455 (457).<br />
40 Peschel-Gutzeit, in: Staudinger, BGB, § 1629, Rn. 89.<br />
41 Vgl. Deckers, in: NJW 1999, 1365 (1367).<br />
42 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />
3. Auflage, S. 48.<br />
43 Hierzu Steller/Volbert, Psychologie im Strafverfahren, S. 25 f.<br />
44 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 14.<br />
45 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />
3. Auflage, S. 48 f.<br />
46 Stern, Psychologie der frühen Kindheit, 9. Auflage, S. 414; Regber, Glaubhaftigkeit<br />
und Suggestibilität, S. 47.<br />
47 Vgl. Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische<br />
Psychologie, S. 70.
Gerade durch den öffentlichen und medialen Diskurs über den sexuellen<br />
Missbrauch von Kindern fand innerhalb der Bevölkerung eine Sensibilisie-<br />
rung statt, die mitunter unangenehme Nebeneffekte haben kann. So sieht sich<br />
ein Kind, sobald der Verdacht einer Straftat aufkommt, zahlreichen äußeren<br />
- wenn auch innerfamiliären - Einflüssen ausgesetzt, da Personen im Nah-<br />
bereich gezielt versuchen, bestimmte Informationen über den möglichen se-<br />
xuellen Missbrauch zu erhalten. Hieraus resultierend kann es zu unsachge-<br />
mäßen Belastungsaussagen kommen. 48<br />
Suggestive Einflüsse spielen jedoch auch bei der eigentlichen Befragung<br />
durch die Ermittlungsperson eine wichtige Rolle.<br />
Grundsätzlich sollten Vernehmungen von Kindern bis dreizehn Jahren kei-<br />
nesfalls länger als 30 Minuten, bei jüngeren Kindern als 20 Minuten andau-<br />
ern 49 , da nach dieser Zeit die Empfänglichkeit für suggestive Einflüsse auch<br />
durch eigentlich nicht-suggestive Fragen stark zunimmt. 50<br />
Ein Mensch kann jedoch bereits durch sein äußeres Auftreten suggestiv auf<br />
Kinder wirken. Gerade ängstliche und unsichere Kinder können durch be-<br />
sonders autoritär wirkende Personen <strong>–</strong> wie z.B. Uniformierte oder Roben-<br />
träger <strong>–</strong> beeindruckt und für suggestive Einflüsse geöffnet werden, ohne das<br />
überhaupt irgendetwas gesagt wird. 51 Demnach sollte gerade hier versucht<br />
werden, durch ein angepasstes Auftreten diese erste, nonverbale Suggestibi-<br />
litätsanfälligkeit zu senken.<br />
Bei der eigentlichen Befragung gibt es Frageformen, die eine besonders sug-<br />
gestive Wirkung haben und die von Endres, Scholz und Summa übersichtlich<br />
dargestellt werden. 52<br />
Neben diesen offensichtlich beeinflussenden Fragetechniken gibt es aber auch<br />
weitere, teilweise unabsichtlich erfolgende Suggestionen. Als kleiner Einstieg<br />
sei hier auf das Modell Schulz von Thuns verwiesen, der von den vier Sei-<br />
ten einer Nachricht spricht. Demnach gibt es neben der Sachebene noch drei<br />
weitere Ebenen, auf denen beim gesprochenen Wort eine Botschaft übermit-<br />
telt wird. 53 Hierbei ist insbesondere der mutmaßlich vermittelte Appell in ei-<br />
ner Nachricht von Bedeutung. Kinder, die sich in einer Vernehmungssitua-<br />
tion befinden, fühlen sich häufig unwohl und versuchen, möglichst das aus-<br />
zusagen, was ihrer Meinung nach erwartet wird. 54 Eine solche Aussage kann<br />
z.B. durch zu viel Lob und Ermunterung seitens des Vernehmenden bewirkt<br />
werden, da das Kind glaubt, es mache alles richtig, wenn es nur immer wei-<br />
ter erzähle. 55<br />
Nahezu suggestionsfrei sind offene Fragen, bei denen das Kind zu einem be-<br />
stimmten Teil des Sachverhalts Ergänzungen vornehmen kann („W“-Fragen<br />
oder „Leerfragen“). 56 Sollte es hierbei Verständnisprobleme geben, sind al-<br />
lerdings auch gezielte Nachfragen eher unbedenklich, solange keine unter-<br />
schwelligen Erwartungen oder Vorgaben durchscheinen. 57<br />
48 Endres/Scholz/Summa, in: Fabian/Greuel/Stadler, Psychologie der Zeugenaussage,<br />
S. 189.<br />
49 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />
3. Auflage, S. 53.<br />
50 Arntzen/Michaelis, in: Psychologie der Kindervernehmung, S. 22.<br />
51 Arntzen/Michaelis, in: Psychologie der Kindervernehmung, S. 16.<br />
52 Endres/Scholz/Summa, in: in: Fabian/Greuel/Stadler, Psychologie der<br />
Zeugenaussage, S. 195.<br />
53 Vgl. Schulz von Thun/Ruppel/Stratmann, Miteinander Reden, 7. Auflage,<br />
S. 33 ff.<br />
54 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />
3. Auflage, S. 49.<br />
55 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 22.<br />
56 Vgl. Deckers, in: NJW 1999, 1365 (1367 f.).<br />
57 Kluck, FPR 1995, 90 (92).<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Schwerpunkte<br />
Wenn es auf Details ankommt, die ein Kind in freien Erzählungsformen nicht<br />
erwähnt, ist es möglich, mit Mehrfachwahlfragen zu arbeiten, bei deren Be-<br />
antwortung dem Kind eine Vielzahl an Alternativen geboten werden und es<br />
nicht lediglich A und B als Antwortmöglichkeit geben darf. 58<br />
III. ZWISCHENFAZIT<br />
Insgesamt sollte deutlich geworden sein, dass es bewusste und unbewusste<br />
Formen der Suggestion gibt und diese gerade bei Kindern neben dem Ver-<br />
nehmungsumfeld eine große Rolle spielen. Ein sensibler und vor allem ge-<br />
schulter Umgang scheint demnach im Bereich der Aussagegewinnung unver-<br />
zichtbar zu sein.<br />
D. SEKUNDäRVIKTIMISIERUNG UND PRAxISANSäTZE<br />
Nach wie vor umstritten ist, inwieweit die Vernehmung eines (kindlichen)<br />
Opferzeugens im Rahmen des Strafverfahrens zu einer Sekundärviktimisie-<br />
rung führt. Die StPO hält einige Maßnahmen vor, um den kindlichen Zeu-<br />
gen potentiell zu entlasten.<br />
I. PRoBLEM DER SEKUNDäRVIKTIMISIERUNG<br />
Unter Sekundärviktimisierung versteht man ein erneutes „Opferwerden“ und<br />
ein erneutes Aufkommen der tatbedingten, negativen Gefühle durch die Kon-<br />
frontation mit Tat und/oder Täter im Strafverfahren. 59<br />
Allerdings ist hierzu eine sehr differenzierte Betrachtungsweise erforder-<br />
lich, da sich ein Verfahren keinesfalls nur negativ auswirken muss. Einigkeit<br />
herrscht lediglich darüber, dass die erneute Begegnung mit dem Täter für das<br />
Kind häufig eine Belastung darstellt. 60<br />
Die Auseinandersetzung mit dem möglicherweise traumatisierenden Tatge-<br />
schehen, so sie denn in einer angemessenen Atmosphäre stattfindet, wird teil-<br />
weise sogar als förderlich für die Verarbeitung des Erlebten betrachtet. 61<br />
Letztlich ist die Gefahr der Sekundärviktimisierung durch eine zeitnahe Ver-<br />
nehmung im Gegensatz zu der früher vertretenen Auffassung 62 als eher ge-<br />
ring einzustufen.<br />
II. PRAxISANSäTZE ZUM SCHUTZ DES KINDES<br />
An diese Erkenntnisse anschließend gibt es einige Regelungen in der StPO,<br />
die für den Zeugen entlastend wirken sollen. So bietet § 247 S. 2 StPO z.B.<br />
die Möglichkeit, den Angeklagten für die Zeit der Vernehmung eines unter<br />
18-jährigen Zeugen von der Verhandlung auszuschließen, wenn ein erheblicher<br />
Nachteil für das Wohl des Betroffenen bei Anwesenheit des Angeklagten<br />
droht. Dieser Nachteil kann sich gerade bei jüngeren Zeugen, die Opfer<br />
sexueller Gewalt geworden sind und in bestimmten Abhängigkeiten zum Täter<br />
stehen, durch die Konfrontation realisieren. 63<br />
58 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 16.<br />
59 Kropp, in: JuS 2005, S. 686 (688); Schneider, Einführung in die Kriminologie,<br />
3. Auflage, S. 315 f.<br />
60 Vgl. Kipper, Schutz kindlicher Opferzeugen im Strafverfahren, S. 76.<br />
61 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 87.<br />
62 So etwa Hussels, in: ZRP 1995, S. 242 (243).<br />
63 Schaaber, in: STREIT 1993, 143 (150); Meyer-Goßner, StPO, § 247, Rn. 11.<br />
95
96<br />
Schwerpunkte<br />
Darüber hinaus besteht unter besonderen Voraussetzungen die Möglichkeit<br />
der audio-visuellen Vernehmung eines Kindes nach § 58a StPO, um den Mit-<br />
schnitt hiervon gem. § 255a StPO in die Hauptverhandlung einzuführen. Dies<br />
wird aber in der Praxis auf Grund der hohen Anforderungen und der organi-<br />
satorischen Probleme kaum genutzt, da trotz audio-visueller Vernehmung die<br />
erneute Befragung in der Hauptverhandlung regelmäßig eingefordert wird,<br />
sodass der „Schutzzweck“ zumeist entfällt.<br />
E. FAZIT<br />
Zunächst sollte deutlich geworden sein, dass es sich bei der Vernehmung<br />
von Kindern um ein hoch sensibles Thema handelt <strong>–</strong> zum einen spielt der<br />
Schutz des Kindes, dass u.U. Opfer einer grausamen Tat geworden ist, eine<br />
große Rolle, zum anderen stehen für den Beschuldigten eine erhebliche Haft-<br />
strafe als schärfster Eingriff staatlicher Gewalt sowie in jedem Falle eine gesellschaftliche<br />
Verunglimpfung in Rede.<br />
In diesem Spannungsfeld scheint es im Interesse beider Parteien dringend<br />
notwendig zu sein, einen Ausgleich dahingehend zu schaffen, dass durch eine<br />
geschulte und angemessene Gewinnung einer möglichst glaubhaften Aussage<br />
des Kindes die wahrheitsnahe Betrachtung des Sachverhalts ermöglicht wird,<br />
auch wenn „die absolut wahre Aussage“ nie gewonnen werden kann.<br />
Gerade im ersten Teil wurde versucht zu zeigen, dass das Dogma des aussageuntüchtigen<br />
Kindes veraltet ist. Nach den oben gemachten Ausführungen<br />
drängt sich gar der Verdacht auf, Kinder könnten aufgrund ihrer leichten<br />
Durchschaubarkeit und der häufig noch fehlenden inneren Motivation zur<br />
Lüge mitunter die „besseren“ Zeugen sein.<br />
Allerdings wurde auch auf die große Suggestibilität vor allem junger Kinder<br />
hingewiesen. Vor diesem Hintergrund wird erneut klar, wie wichtig es ist,<br />
eine unmittelbare, unverfälschte und möglichst tatnahe Aussage zu gewinnen<br />
und festzuhalten.<br />
Aus den Gesprächen mit den Kriminalbeamtinnen ergab sich, dass es im Bereich<br />
der Polizei in den letzten Jahren <strong>–</strong> vermutlich auch aufgrund des öffentlichen<br />
Diskurses - Fortschritte bei der Ausbildung gegeben hat. 64 Problematischer<br />
scheint der Fortbildungsstand in Bezug auf die geeignete Gewinnung<br />
einer Kindesaussage viel mehr bei den zuständigen Richtern zu sein. 65<br />
Betrachtet man die aktuell angewendeten Maßnahmen zur Entlastung des<br />
kindlichen Opfers im Ermittlungs- bzw. Hauptverfahren, so bleibt festzuhalten,<br />
dass die audio-visuelle Vernehmung in der derzeit durchgeführten Art<br />
und Weise ihren Zweck größtenteils verfehlt. Vielmehr scheint <strong>–</strong> wie so oft<br />
<strong>–</strong> als Reaktion auf die öffentliche Debatte eine teils wenig durchdachte Gesetzesänderung<br />
vorgenommen worden zu sein, die ihr Ziel praktisch nur in<br />
den seltensten Fällen erreicht.<br />
Eine unverzügliche Vernehmung ist insbesondere bei jüngeren Kindern<br />
erforderlich, um einem Erinnerungsverlust entgegenzuwirken und die suggestiven<br />
Einflüsse zu minimieren. Dies scheint unter Berücksichtigung der<br />
derzeitigen Verfahrenslängen66 kaum ohne eine vorgeschaltete Vernehmung<br />
realisierbar zu sein.<br />
64 So auch Scheumer, Videovernehmung kindlicher Zeugen, S. 130 ff.<br />
65 Vgl. Einschätzung Scheumer, Videovernehmung kindlicher Zeugen, S.<br />
134.<br />
66 Vgl. hierzu etwa Anm. von Bohnert, in: JZ, 2003, 1001 (1001 f.) zu:<br />
BVerfG JZ 2003, 999 (999 ff.).<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Das oben erwähnte Spannungsfeld könnte demnach nur dahingehend aufgelöst<br />
werden, dass unter Anerkennung der besonderen Belastung kindlicher<br />
Zeugen, der Gefahr ihrer Suggestibilität sowie eines Erinnerungsverlustes,<br />
eine spezielle Ausbildung auch der Richter im Bereich der Vernehmungspsychologie<br />
erfolgt.<br />
Zudem müssten die Verwaltungsabläufe gerade im Vorverfahren effizienter<br />
gestaltet werden, um eine frühe richterliche, ggf. audio-visuelle Vernehmung<br />
zu ermöglichen.<br />
Die Verwertung der so gewonnenen Aussage sollte dann auch im eigentlichen<br />
Hauptverfahren die Regel sein, um einen bestmöglichen Ausgleich zwischen<br />
den widerstreitenden Interessen zu gewährleisten.<br />
Der Ausschluss des Angeklagten im Hauptverfahren wäre entgegen dieser Variante<br />
weniger geeignet, da hier die bereits große Zeitspanne seit der ersten<br />
Vernehmung eine Rolle spielt und die Beschuldigtenrechte erst recht nicht effektiv<br />
wahrgenommen werden können.<br />
Somit scheint es für einen geeigneten Schutz des Kindeswohls einerseits und<br />
der bestmöglichen Gewährleistung der Beschuldigtenrechte andererseits keiner<br />
weiteren Gesetzesänderung zu bedürfen, sondern vielmehr einer konsequenten<br />
und vorbehaltlosen Ausbildung des beteiligten Personals, gerade auf<br />
tatrichterlicher Ebene.<br />
Letztlich könnte so dem Interesse des Kindes auf ein möglichst wenig belastendes<br />
Verfahren bereits Genüge getan werden. Andererseits würde eine Entlarvung<br />
einer Falschaussage durch den Richter im Vorverfahren dazu führen,<br />
dass durch die Nichteröffnung des Hauptverfahrens auch die gesellschaftliche<br />
Stigmatisierung des Beschuldigten weitestgehend unterbleibt. Schlussendlich<br />
ist festzuhalten, dass es zwar keine Auflösung des Spannungsverhältnisses dahingehend<br />
gibt, dass sich die widerstreitenden Interessen plötzlich ergänzen<br />
und in einer wechselseitigen „Symbiose“ voll und ganz voneinander profitieren.<br />
Es scheint aber auch die oftmalige Behauptung, Beschuldigtenrechte und<br />
Opferschutzbelange würden sich unversöhnlich gegenüberstehen, so nicht<br />
haltbar zu sein.<br />
Demzufolge bleibt zu hoffen, dass im Interesse aller Beteiligten in allen Bereichen<br />
der Praxis Bemühungen angestellt werden, die Vernehmung von Kindern<br />
so professionell und damit fehlerresistent wie möglich zu gestalten.<br />
Wir suchen Studierende, Referendare/-innen und wissenschaftliche<br />
Mitarbeiter/-innen, die Zeit und Lust haben sich im <strong>Iurratio</strong>-Projekt<br />
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<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Schwerpunkte<br />
das steuerstrafrechtliche Institut der Selbstanzeige im wandel<br />
von Rechtsreferendar Marc Selker (Oldenburg/Osnabrück)<br />
A. EINLEITUNG<br />
Die Selbstanzeige nach § 371 Abgabenordnung (AO) war schon immer Ge-<br />
genstand kritischer Diskussionen und ist es bis heute 1 . Erst im Mai letzten<br />
Jahres hat der Bundesgerichtshof mit einer Aufsehen erregenden Entschei-<br />
dung 2 den Tatbestand der Selbstanzeige stark modifiziert, indem er seinen<br />
Anwendungsbereich mittels einer restriktiven Auslegung stark eingeschränkt<br />
hat. Dies ist vor dem Hintergrund einer erheblich steigenden Anzahl von<br />
Selbstanzeigen zu sehen, welche -angefacht durch den Ankauf von Daten-<br />
CDs durch den Fiskus- zu einem erheblichen Diskurs in Politik und Öffent-<br />
lichkeit geführt haben. Seinen vorläufigen Höhepunkt erlebte diese Diskus-<br />
sion mit dem Fall „Zumwinkel“, bei dem der Öffentlichkeit vor Augen geführt<br />
wurde, dass der Staat gewillt ist mittels des Ankaufs von illegal beschafften<br />
Daten die Enttarnung von Steuersündern für die Strafverfolgung nutzbar zu<br />
machen. 3 Dieses rechtlich höchst zweifelhafte Vorgehen wird noch weiter ver-<br />
schärft durch die Tatsache, dass der Fiskus aufgrund einer hohen Staatsver-<br />
schuldung auf höhere Steuereinnahmen angewiesen ist. Um diese zu generie-<br />
ren, erscheint es rechtspolitisch „en vogue“ die Steuerstraftatbestände durch<br />
Rechtsprechung und Gesetzgebung - auch unter Verletzung rechtsstaatlicher<br />
Grundsätze- erheblich zu verschärfen. Zumindest nominell kann sich das Er-<br />
gebnis sehen lassen. So darf sich der Fiskus Schätzungen zur Folge auf Nach-<br />
zahlungen in Höhe von rund 1,6 Milliarden Euro freuen. 4<br />
Darüber hinaus stellt § 371 AO für den strafrechtlich interessierten Leser eine<br />
dogmatische Besonderheit dar, da die Selbstanzeige auch noch nach Vollendung<br />
der Tat zu einer Strafbefreiung führt. Es reicht sogar aus nach Beendigung<br />
der Tat die steuerrechtlich relevanten Angaben strafbefreiend nachzuholen.<br />
Dabei kennt das Strafrecht als äußerste zeitliche Grenze für eine Strafbefreiung<br />
grundsätzlich nur den Zeitraum vor der Vollendung einer Straftat.<br />
Dies wird mittels des Rücktritts vom Versuch gemäß § 24 StGB und der tätigen<br />
Reue5 gewährleistet. Somit stellt das Institut der Selbstanzeige eine dogmatische<br />
Ausnahme dar, die ihresgleichen im deutschen Strafrecht sucht.<br />
Zunächst wird im weiteren Verlauf der Darstellung auf die Grundlagen der<br />
Selbstanzeige eingegangen. Danach werden aktuelle Probleme und Entwicklungen<br />
der Thematik „Selbstanzeige“ aufgezeigt, wobei vor allem auf das<br />
BGH-Urteil vom 20.05.2010 und das jüngst erlassene Schwarzgeldbekämpfungsgesetz<br />
eingegangen wird.<br />
B. GRUNDLAGEN DER SELBSTANZEIGE NACH § 371 Ao<br />
I. SINN UND ZWECK VoN § 371 Ao<br />
Sinn und Zweck der Selbstanzeige ist es, dem Fiskus bisher verheimlichte<br />
1 FAZ vom 13.04.2011, S. 21.<br />
2 BGH- Urteil vom 20.05.2010, Az. 1. StR 577/09, wistra 2010, 304(304),<br />
DStR 2010, 1133(1133).<br />
3 Vgl. Bornheim, in: StbG Die Steuerberatung, 2011, 68(70); Römer, in:<br />
StraFO 2009,124(124).<br />
4 Der Spiegel vom 20.12.2010, S.72.<br />
5 Vgl. §§ 83a III, 87 III, 129 VI, 163 II S.1 StGB.<br />
Marc Selker, Jahrgang 1984, ist Rechtsreferendar im OLG <strong>–</strong><br />
Bezirk Oldenburg und absolviert nebenberuflich den<br />
Masterstudiengang „Wirtschaftsrecht & Restrukturierung“ an<br />
der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster. Er studierte<br />
Rechtswissenschaften an den Universitäten Hamburg und<br />
Osnabrück mit Studienaufenthalt an der London School of<br />
Economics. Dabei lag sein Studienschwerpunkt auf den Gebieten<br />
des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts.<br />
Steuerquellen zugänglich zu machen und somit dessen Fiskalvermögen zu<br />
mehren. 6 Ob daneben auch der Aspekt umfasst wird, dem „Steuersünder“ die<br />
Rückkehr zur Steuerehrlichkeit zu ermöglichen ist umstritten. 7 Der Streit ist<br />
zwar vorrangig dogmatischer Natur, wird aber als einer der Gründe für die<br />
Abschaffung der Teilselbstanzeige angeführt. 8<br />
II. VoRAUSSETZUNGEN DES § 371 I Ao<br />
1. ANWENDUNGSBEREICH<br />
Die Voraussetzungen von § 371 AO sind primär akzessorisch zu § 370 AO<br />
-dem Tatbestand der Steuerhinterziehung- zu verstehen. Dies bedeutet, dass<br />
§ 371 AO die Folgen der Steuerhinterziehung nach § 370 AO wieder egalisiert.<br />
Oder anders: Was der Täter durch die Verwirklichung von § 370 AO<br />
einmal in die Welt gesetzt hat, soll durch § 371 AO wieder aufgehoben werden,<br />
so als ob die Handlung der Steuerhinterziehung nie stattgefunden habe.<br />
Daneben sind auch die Hinterziehung von Einfuhr- und Ausfuhrabgaben(§<br />
370 VI AO), der schwere Fall der Steuerhinterziehung (§ 370 III AO), die versuchte<br />
Steuerhinterziehung und die Teilnahme an diesen Straftaten „selbstanzeigefähige<br />
Taten“ i.S. v. § 371 I AO. 9 Von diesen selbstanzeigefähigen Tatbeständen<br />
streng zu unterscheiden sind die anderen Arten der Selbstanzeige.<br />
Nach § 371 IV AO besteht einerseits die Möglichkeit der sog. „Fremdanzeige“:<br />
Danach wird ein Dritter -und nicht der Steuerstraftäter- unter den in § 371<br />
IV AO bezeichneten Voraussetzungen strafrechtlich nicht verfolgt, obwohl er<br />
die ihm nach § 153 AO obliegende Pflicht verletzt hat. Eine weitere Möglichkeit<br />
Selbstanzeige zu erstatten gibt § 378 III AO für den Fall der leichtfertigen<br />
Steuerverkürzung i.S.v. §§ 378 I, 370 I, IV-VII AO. 10<br />
2. AUFHEBUNGSHANDLUNGEN DES § 371 I, III Ao<br />
Um in den Genuss des persönlichen Strafaufhebungsgrundes der Selbstanzeige<br />
zu gelangen, muss der Täter kumulativ zwei (Aufhebungs-)Handlungen<br />
6 BGHSt 37,340, wistra 1991,223(223); Rolletschke, Steuerstrafrecht,<br />
3. Auflage, S.197, Rn.547; a. A. Tipke/ Lang, Steuerrecht, 20. Auflage § 23,<br />
Rn. 55.<br />
7 Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Auflage, § 23, Rn.55.<br />
8 Vgl. BGH 1 StR 599/09 Rn.9;Wulf, in wistra 2010, 286(289).<br />
9 Vgl. Rolletschke, Steuerstrafrecht, 3. Auflage, S.197, Rn.548.<br />
10 Vertiefend dazu: Rolletschke, Steuerstrafrecht, 3.Auflage, S.229, Rn.644ff.;<br />
S..231,649ff..<br />
97
98<br />
Schwerpunkte<br />
vornehmen: Zunächst muss er die unrichtigen oder unvollständigen Angaben<br />
berichtigen oder ergänzen bzw. die unterlassenen Angaben nachholen und<br />
sodann die hinterzogenen Steuern innerhalb einer vom Fiskus gesetzten Frist<br />
nachzahlen. 11 Dabei sind die Berichtigungserklärungen so zu gestalten, dass<br />
das betreffende Finanzamt ohne eigene größere Nachforschungen die ver-<br />
wirklichte Besteuerungsgrundlage aufklären kann (sog. „Materiallieferung“) 12<br />
3. DER ANZEIGEERSTATTER UND SEIN ADRESSAT<br />
Nicht jede beliebige Person kann ohne weiteres rechtswirksam eine Selbst-<br />
anzeige i. S. v. § 371 AO erstatten. Vielmehr bedarf der Anzeigeerstatter, der<br />
nicht schon Täter oder Teilnehmer der selbstanzeigefähigen Straftaten ist, ei-<br />
ner Bevollmächtigung durch die vorgenannten Personen. 13 Der Adressat der<br />
Selbstanzeige ist laut § 371 I AO „die Finanzbehörde“ i. S. v. § 6 II AO. Wäh-<br />
rend früher umstritten war, ob nur die zuständige Finanzbehörde 14 richtiger<br />
Adressat der Selbstanzeige sein kann, ist mittlerweile durch den Bundesfi-<br />
nanzhof entschieden, dass auch eine Anzeigeerstattung gegenüber einer un-<br />
zuständigen Finanzbehörde den Anforderungen des § 371 AO gerecht wird. 15<br />
Für diese Ansicht kann vor allem der oben erwähnte Gedanke der Selbst-<br />
anzeige -bisher dem Fiskus verheimlichten Steuerquellen offenzulegen- an-<br />
geführt werden. 16 Denn ob der Anzeigeerstatter gegenüber der zuständigen<br />
oder einer unzuständigen Finanzbehörde relevante Angaben macht ändert<br />
nichts an der faktischen Offenlegung der Steuerquelle gegenüber dem Fiskus.<br />
Bei der Vornahme der Selbstanzeige ist darüber hinaus auf das -in der Pra-<br />
xis nicht selten auftretende- Problem des (rechtzeitigen) Zugangs der Anzei-<br />
geerstattung zu achten. Hierbei gilt der Grundsatz des § 130 BGB, wonach<br />
der Erklärende glaubhaft darlegen muss, dass die Anzeige derart rechtzeitig<br />
in den Machtbereich der Finanzbehörde gelangt ist, dass diese unter norma-<br />
len Umständen die Möglichkeit zur Kenntnisnahme von der Anzeigeerklä-<br />
rung hat. Für die Praxis gilt daher, dass der Einwurf in den Briefkasten der Fi-<br />
nanzbehörde der sicherste Weg ist, den (rechtzeitigen) Zugang zu gewährlei-<br />
sten. Aus der Anwendung von § 130 BGB darf allerdings nicht geschlossen<br />
werden, dass es sich bei der Selbstanzeigeerklärung um eine Willenserklärung<br />
handelt. Vielmehr stellt sie eine Wissenserklärung dar, was den Nachteil mit<br />
sich bringt, dass eine Anfechtung der Anzeigeerklärung nach §§ 119ff. BGB<br />
nicht möglich ist, aber andererseits den Vorteil hat, dass die Selbstanzeigeer-<br />
klärung nicht formbedürftig ist. So ist auch eine mündliche bzw. fernmünd-<br />
liche Erklärung zulässig, sollte aber zu Beweiszwecken protokolliert werden. 17<br />
C. AUSWIRKUNGEN DES BGH URTEILS V. 20.05.2010, 1 STR 577/09 18<br />
Der Bundesgerichtshof hat mit seinem Urteil vom 20.05.2010 grundlegend<br />
11 Tipke/ Lang, Steuerrecht, 20. Auflage, § 23, Rn.57ff.; Joecks, in: Franzen/<br />
Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Auflage, § 371, Rn.96ff..<br />
12 BGH, NJW 1974, 2293; LG Stuttgart, wistra 1990, 72(72).<br />
13 BGH, wistra 1985, 74(74); Rolletschke, Steuerstrafrecht, 20. Auflage,<br />
S. 198, Rn.551.<br />
14 OLG Frankfurt, DStZ 1954,58; a. A. Joecks, in: Franzen/Gast/ Joecks,<br />
7. Auflage, § 371,Rn.93<br />
15 BFH, wistra 2008,316(316).<br />
16 BGHSt 37,340; Hüls/ Reichling, in: PStr 2008,142; Rolletschke, Steuerstrafrecht,<br />
20. Auflage, S.199, Rn.555.<br />
17 Joecks, in: Franzen/ Gast/ Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Auflage, § 371,<br />
Rn.65.<br />
18 Vgl. BGH, 1. StR 599/09, BB 2010, 2027(2027), wistra 2010,304(304).<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
den Tatbestand der Selbstanzeige verschärft. Wegen § 132 II GVG sind die In-<br />
stanzgerichte zwar nicht an die Entscheidung gebunden, nichtsdestotrotz darf<br />
dieses Urteil durchaus als Vorhut des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes ver-<br />
standen werden, welches am 17.03.2011 die zweite und dritte Beratung des<br />
Bundestages passiert hat. 19<br />
I. ABSCHAFFUNG DER TEILSELBSTANZEIGE<br />
Ursprünglich verstand der 5. Strafsenat des BGH die Formulierung „insoweit“<br />
in § 371 I AO so, dass schon bei unvollständigen Angaben eine Straffreiheit<br />
eintreten könne. 20 In solchen Fällen trat eine Straffreiheit aber nur entspre-<br />
chend der gemachten Teilangaben ein. Also bestimmte der Umfang der An-<br />
gaben auch den Umfang der Straffreiheit. Dabei wurde sogar angenommen,<br />
dass schon bei Angaben, welche bis zu 6% hinter den zutreffenden Beiträ-<br />
gen zurück blieben, Straffreiheit in vollem Umgang eintreten könne. 21 Folg-<br />
lich war schon durch eine sog. „Teilselbstanzeige“, also der unvollständigen<br />
Angabe von steuerlich relevanten Tatsachen, eine strafbefreiende Wirkung bis<br />
hin zur vollständigen Straffreiheit möglich.<br />
Seit dem 20.05. 2010 ist diese Möglichkeit -zumindest laut dem 1.Strafsenat-<br />
für den Steuerstraftäter nicht mehr gegeben. Der für Steuerstrafsachen zu-<br />
ständige Senat hat mit seiner Entscheidung eine Abkehr von der ursprüng-<br />
lichen Rechtsprechung vollzogen und hält die Teilselbstanzeige für nicht<br />
mehr ausreichend um Straffreiheit zu erlangen. 22 Die „Rückkehr zur Steuer-<br />
ehrlichkeit“ sei nicht vollzogen, wenn der Steuerstraftäter nur teilweise seine<br />
Angaben berichtige. 23 Dies werde auch schon durch die Nennung aller denk-<br />
baren Handlungsmodalitäten (berichtigen, ergänzen, nachholen) in § 371 I<br />
AO deutlich, wonach die vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit vom Ge-<br />
setzgeber gewollt sei. 24 Der Steuerstraftäter muss nunmehr „reinen Tisch“ ma-<br />
chen, wie es der Strafsenat selbst kaum plastischer formulieren konnte. 25<br />
Weiter meint der 1. Strafsenat, dass die Formulierung „insoweit“ in § 371 I<br />
AO entgegen der Auslegung des 5. Strafsenats 26 bedeute, dass der Steuerstraf-<br />
täter durch seine Nacherklärung keine Strafbefreiung für Nicht- Steuerstraftaten<br />
erlangen könne. 27 Demnach beziehe sich das „insoweit“ in § 371 I AO<br />
nicht auf den Umfang der gemachten Angaben, sondern allein auf den Umfang<br />
der Strafbefreiung. 28<br />
II. MoDIFIKATIoN DER SoG. „GESTUFTEN SELBSTANZEIGE“<br />
Oftmals erfolgt die Entscheidung eine Selbstanzeige zu erstatten unter dem<br />
Druck einer drohenden Tatentdeckung, welche einen Sperrgrund nach § 371<br />
II Nr.2 AO darstellt. Daraus folgt nicht selten, dass der Anzeigeerstatter im<br />
Zeitpunkt der Erklärung der Selbstanzeige nicht alle nachzuholenden Angaben<br />
machen kann, da die dazu notwendigen Unterlagen nicht vorhanden sind<br />
19 Vgl. BT- Drs. 17/5067.<br />
20 Vgl. BGH, 5 StR 392, 98 vom 13.10.1998, wistra 1999, 27(28).<br />
21 Vgl. OLG Frankfurt, NJW 1962, 974(974).<br />
22 Vgl. BGH, BB 2010, 2027(2027); wistra 2010, 304(304).<br />
23 Wulf, in: wistra 2010,286(289).<br />
24 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.9,11.<br />
25 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.8.<br />
26 Vgl. BGH 5 StR 392/98, wistra 1999,27(28).<br />
27 Vgl. BGH, wistra 1999,27(28).<br />
28 Vgl. BGH, wistra 1999,27(28).
zw. diese erst noch ermittelt werden müssen. Dieses Problem aus der Praxis<br />
hat dazu geführt, dass man eine Selbstanzeige „dem Grunde“ und „der Höhe“<br />
nach für zulässig gehalten hat. 29 Dabei wird auf einer ersten Stufe zunächst<br />
nur die Selbstanzeigeerklärung vorgenommen, um auf einer zweiten Stufe die<br />
noch nicht erklärten Besteuerungsgrundlagen nachzuholen. 30 Auch diesem<br />
Vorgehen, welches auf der ersten Stufe noch keine steuerlich relevanten Angaben<br />
beinhalten musste, hat der 1. Strafsenat eine Absage erteilt. Nunmehr<br />
muss der Steuerstraftäter bereits auf der ersten Stufe alle relevanten Angaben<br />
machen - notfalls durch Schätzungen. 31 Wie schon zur Teilselbstanzeige ausgeführt<br />
verlangt der 1. Strafsenat auch bei der „gestuften Selbstanzeige“, dass<br />
der Steuerstraftäter seine Angaben derart präzise gestaltet, dass die betreffende<br />
Finanzbehörde ohne langwierige Nachforschungen die Steuer richtig<br />
festsetzen kann. 32<br />
III. EINSCHRäNKUNG DER SPERRTATBESTäNDE DES § 371 II Ao<br />
Die Konzeption des Tatbestandes der Selbstanzeige sieht neben der Straffreiheit<br />
in Absatz 1 auch Fälle vor, bei denen die persönliche Strafaufhebung nach<br />
dem Willen des Gesetzgebers nicht mehr möglich sein soll. Diese sogenannten<br />
Sperrtatbestände, welche die Selbstanzeige nach Absatz 1 vollends ausschließen,<br />
sind als negativ Voraussetzungen von § 371 I AO in § 371 II AO<br />
geregelt. 33<br />
1. AUSLEGUNG DES MERKMALS „ZUR ERMITTLUNG“ I. S. V. § 371<br />
II NR. 1 A 2. ALT. Ao<br />
Der 1. Strafsenat hat mit seiner Entscheidung vom 20. Mai 2010 die Reichweite<br />
des Sperrgrundes in § 371 II Nr.1 a 2. Alt. AO erheblich ausgedehnt,<br />
indem er das Tatbestandsmerkmal „zur Ermittlung“ weit gefasst hat. Der 1.<br />
Strafsenat sagt deutlich, dass „zur Ermittlung“ nicht nur Taten erfasst welche<br />
vom Ermittlungswillen des erschienenen Amtsträgers umfasst sind. Vielmehr<br />
reiche es schon aus, wenn die Tat mit dem bisherigen Ermittlungsgegenstand<br />
„in sachlichem Zusammenhang“ steht. 34 Argumentativ stützt der 1.<br />
Strafsenat seine Auslegung auf einen Vergleich mit dem Sperrtatbestand in §<br />
371 II Nr.1 b AO: Dort wird von „der Tat“ als Gegenstand des Ermittlungsverfahrens<br />
gesprochen, wohingegen § 371 II Nr.1 a 2. Alt. AO von „einer Steuerstraftat“<br />
spricht. Daraus ergebe sich, dass der Sperrgrund des § 371 II Nr.1 a<br />
2. Alt. AO gerade auch Taten umfasse, die nicht bereits Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens<br />
seien. 35 Man kann diese Auslegung als juristisch kreativ<br />
ansehen, aber sie scheint eher als Kunstgriff denn als formaljuristisch korrekt.<br />
Man könnte die Formulierung „einer Steuerstraftat“ auch dahingehend verstehen,<br />
dass eine ganz bestimmte Steuerstraftat gemeint ist, die bereits Gegenstand<br />
eines Strafverfahrens ist. Das würde zu einer restriktiven Auslegung der<br />
Formulierung mit der Folge eines weiten Verständnisses des Sperrgrundes in<br />
29 Vgl. FG Niedersachsen, EFG 2004,468; Kohlmann, Steuerstrafrecht, 1.<br />
Auflage, § 371, Rn.54; Rolletschke, Steuerstrafrecht, 20. Auflage, S.206,<br />
Rn.573f..<br />
30 Rolletschke, Steuerstrafrecht, 20. Auflage, S.206, Rn.573f..<br />
31 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn. 35.<br />
32 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.35.<br />
33 vertiefend dazu: Joecks, Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Auflage,<br />
§ 371, Rn.129ff..<br />
34 BGH 1 StR 577/09, Rn.15.<br />
35 BGH 1 StR 577/09, Rn.16.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Schwerpunkte<br />
§ 371 II Nr.1 a 2. Alt. AO führen. Dies war aber offensichtlich von Karlsruhe36 nicht gewollt. Das Kriterium des „sachlichen Zusammenhangs“ wird in der<br />
Literatur jedoch als zu unbestimmt und unter Verstoß gegen den in Art. 103<br />
GG verbürgten Bestimmtheitsgrundsatz verstanden. 37 Denn welche Anforderungen<br />
der 1. Strafsenat an die Formulierung „sachlicher Zusammenhang“<br />
stellt, ist für den Rechtsanwender kaum vorhersehbar. Dass der Senat, als Argumentation<br />
für die Ausdehnung des Sperrtatbestandes, die gebotene restriktive<br />
Auslegung von § 371 I AO als Ausprägung des Umstandes anführt, dass<br />
die Selbstanzeige nun mal eine „Ausnahmevorschrift“ sei, 38 ersetzt nicht die<br />
Bestimmtheit der Begrifflichkeit.<br />
2. AUSLEGUNG DES MERKMALS „TATENTDECKUNG“ I. S. V. § 371<br />
II NR. 2 Ao<br />
Darüber hinaus vollführt der für Steuerstraftaten zuständige Senat eine weitere<br />
Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung. Unter deutlicher Absage an<br />
die alte Auffassung39 - die als Anknüpfungspunkt für eine „Tatentdeckung“<br />
den hinreichenden Tatverdacht i. S. v. §§ 170 I, 203 StPO vorsah- meint der<br />
1.Strafsenat nun, dass dem Begriff der „Tatentdeckung“ in § 371 II Nr.2 AO<br />
ein von den Verdachtsgraden der Strafprozessordnung unabhängiger Bedeutungsgehalt<br />
zukomme. 40 Begründet wird dies damit, dass ein hinreichender<br />
Tatverdacht gemäß §§ 170 I, 203 StPO auf einem ausermittelten Sachverhalt<br />
beruhe. Demgegenüber könne eine „Tatentdeckung“ i. S. v. § 371 II Nr.2 AO<br />
erst den Anfangspunkt von daran anschließenden Ermittlungen darstellen. 41<br />
Unabhängig von dem veränderten Anknüpfungspunkt hält der 1. Strafsenat<br />
aber weiterhin an der Definition der „Tatentdeckung“ fest. Danach muss zunächst<br />
auf Grundlage der vorliegenden Informationen die vorläufige Verdachtslage<br />
geprüft werden, um sodann - darauf aufbauend - zu prüfen, inwiefern<br />
der Sachverhalt rechtlich geeignet ist eine Verurteilung zu rechtfertigen. 42<br />
Dabei ist eine Steuerstraftat bzw. -ordnungswidrigkeit „entdeckt“, wenn der<br />
Abgleich mit der abgegebenen Steuererklärung ergibt, dass eine Steuerquelle<br />
nicht oder nicht vollständig angegeben worden ist. 43<br />
D. NEUERE ENTWICKLUNGEN <strong>–</strong> STARKE EINSCHRäNKUNGEN<br />
DURCH DAS SCHWARZGELDBEKäMPFUNGSGESETZ<br />
Die, nach dem mehrfachen Ankauf gestohlener Bankdaten, durch den Fiskus<br />
ausgelöste Welle an Selbstanzeigen und die zuvor besprochene Entscheidung<br />
des BGH vom 20.05.2010 haben in der politischen Landschaft Deutschlands<br />
zu einem Umdenken geführt. Die Vorschläge reichten von punktuellen<br />
Verschärfungen44 bis hin zur vollständigen Abschaffung der Selbstanzeige für<br />
vorsätzliche begangene Steuerstraftaten45 . Diese Überlegungen hat der Bundesrat<br />
aufgegriffen und erhebliche Verschärfungen der §§ 371, 378 AO vorgeschlagen,<br />
die jedoch nicht umgesetzt wurden. 46 Stattdessen hat der Gesetz-<br />
36 Vgl. § 123 GVG.<br />
37 Wulf, in wistra 2010, 286(287f.).<br />
38 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.17.<br />
39 Vgl. BGH , wistra 2000, 219(225); wistra 1988,308(308).<br />
40 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.23.<br />
41 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.25.<br />
42 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.25; wistra 2000,219(225).<br />
43 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.28.<br />
44 Vgl. BT- Drs. 17/1755.<br />
45 Vgl. BT- Drs. 17/1411.<br />
46 Vgl. BR- Drs. 318/10, 75ff.; im Überblick: Geuenich, in: BB 2010,2148ff..<br />
99
Titelthema<br />
Schwerpunkte<br />
geber mit dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz die vom 1. Strafsenat getrof-<br />
fenen Verschärfungen noch übertroffen. 47 Dabei orientiert sich der Gesetz-<br />
geber hinsichtlich der Vollständigkeit einer Selbstanzeige nicht nur an den<br />
steuerstrafrechtlich relevanten Taten, sondern an jede Steuerart („Gebot der<br />
Vollständigkeit“). 48 Straffreiheit tritt demnach nur dann ein, wenn sämtliche,<br />
steuerstrafrechtlich noch verfolgbaren Sachverhalte offenbart werden. 49<br />
Zudem kommt es zur Einführung von zwei neuen Sperrgründen: Zum einen<br />
sieht § 371 II Nr.1 a AO-E als neuen Sperrgrund die Bekanntgabe einer Prü-<br />
fungsanordnung vor und zum anderen will § 371 II Nr.3 AO-E bei einer Steu-<br />
erverkürzung um mehr als 50.000 € eine Selbstanzeige verbieten. Dennoch<br />
soll nach dem Willen des Gesetzgebers eine Hintertür für den Steuersünder<br />
offen gehalten werden. Denn bei einem Hinterziehungsbetrag von mehr als<br />
50.000 € kann die Zahlung eines „freiwilligen Zuschlages“ i. H. v. 5 % des<br />
verkürzten Steuerbetrages dennoch zur erhofften Straffreiheit führen. 50 Ne-<br />
ben diesen erheblichen Verschärfungen sieht der Gesetzesentwurf mit Art. 97<br />
§ 24 S.1, 2 EGAO zumindest eine Vertrauensschutzregelung für Teilselbstan-<br />
zeigen vor, sodass solche Anzeigen, die vor dem Datum des Änderungsge-<br />
setzes bei der Finanzbehörde angezeigt werden, weiter wirksam zur Strafauf-<br />
hebung führen. 51 Nach diesem Datum erstattete Selbstanzeigen fallen unter<br />
47 BT-Drs. 17/5067; siehe auch: Geuenich, in: NWB 2011, 1050(1051ff.).<br />
48 BT- Drs. 17/5067, S.24.<br />
49 Vogel, in: DATEV Magazin 2011, 47(48).<br />
50 BT-Drs. 17/5067, S.25.<br />
51 Geuenich, in: NWB 2011,1050(1057).<br />
das Vollständigkeitsgebot, sodass eine Teilselbstanzeige dann faktisch nicht<br />
mehr möglich ist. Diese Regelung ist gerecht aber überflüssig, da schon das<br />
Rückwirkungsverbot in Art. 103 II Grundgesetz garantiert, dass der Bürger<br />
vorhersehen können muss, welches Verhalten verboten ist und welche Strafe<br />
ihm droht. 52<br />
Die übrigen Speertatbestände in § 371 II Nr.1b, 2 AO werden beibehalten.<br />
Bezüglich der Auslegung der Reichweite dieser Sperrtatbestände ist das zu-<br />
vor besprochene BGH-Urteil maßgeblich. Die Sperrtatbestände der leichtfer-<br />
tigen Steuerverkürzung in § 378 III AO bleiben demnach auch unverändert.<br />
E. FAZIT<br />
Was haben wir gesehen? Es kann zusammenfassend gesagt werden, dass es<br />
die Möglichkeit der Selbstanzeige in der jetzigen Form so nicht mehr geben<br />
wird. Der Gesetzgeber ist -auch aufgrund einer wachsenden Staatsverschul-<br />
dung- gezwungen für steigende Steuereinnahmen zu sorgen. Dafür muss er<br />
den Bürger zu mehr Steuerehrlichkeit bewegen, um höhere Einnahmen zu<br />
generieren.<br />
Einen ersten Schritt hat er mit dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz getan,<br />
welches am 17.03.2011 die zweite und dritte Lesung des Bundestages passiert<br />
hat. Dieses Änderungsgesetz engt den Spielraum für die Vornahme einer<br />
Selbstanzeige erheblich ein und will offensichtlich den Druck auf den Steuerschuldner<br />
vergrößern, eine umfassende Steuererklärung abzugeben.<br />
Dass er dabei rechtsstaatliche Bedenken einfach übergeht, verwundert. Gerade<br />
die Unbestimmtheit einzelner Tatbestandsmerkmale und die widersprüchliche<br />
Auslegung derselben durch die Senate des Bundesgerichtshofes,<br />
zeigen spürbar die Unsicherheit der Rechtsprechung im Umgang mit<br />
der Thematik Selbstanzeige. Dies mag vor allem daran liegen, dass gerade<br />
das Steuerrecht und mit ihm die Selbstanzeige wie kein anderes Gebiet polarisiert<br />
und sich einem großen politischen Druck ausgesetzt sieht. Dabei stellen<br />
die verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Selbstanzeige keine<br />
Seltenheit dar, wie der für das Wirtschaftsstrafrecht maßgebliche Tatbestand<br />
der Untreue (§ 266 StGB) zeigt. Auch dort hat das Bundesverfassungsgericht(<br />
BVerfG ) aufgrund einer drohenden Unbestimmtheit i. S. v. Art. 103 Abs. 2<br />
GG eine restriktive Auslegung des § 266 StGB angemahnt und sich dabei insbesondere<br />
mit der Reichweite des Tatbestandsmerkmals des Vermögensnachteils<br />
auseinandergesetzt. 53 Hieran wird deutlich, wie schwer es dem Gesetzgeber<br />
fällt, (wirtschaftlich) ungewollte Verhaltensweisen durch hinreichend bestimmte<br />
Tatbestände strafrechtlich zu erfassen. Vermehrt wird deswegen das<br />
BVerfG als Korrektiv tätig.<br />
So wird auch in Zukunft das spannende Gebiet des Steuerstrafrechts für<br />
großen Diskussions- und Beratungsbedarf sorgen und es bleibt zu hoffen,<br />
dass sich dieses auch in der universitären Schwerpunktausbildung niederschlägt.<br />
Gerade die Verzahnung von Wirtschaftsrecht und Strafrecht, welche<br />
das Wirtschafts- und Steuerstrafrecht prägt, stellt den Rechtsanwender dabei<br />
vor interessante Fragestellungen.<br />
52 Vogel, in: DATEV Magazin 2011, 47(48).<br />
53 Vgl. BVerfG, NStZ 2010, 626(626);NJW 2009,2370(2371).
SACHVERHALT 1<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Fallbearbeitung<br />
Anfänger im Öffentlichen Recht: „Puma im wohngebiet“ <strong>–</strong><br />
Zur Abgrenzung der polizeilichen Gefahrbegriffe<br />
von Lukas Ernst, LL.M. (MERNI), Köln 1<br />
Rentner R sieht aus dem Fenster und erblickt auf dem Gehweg vor seinem<br />
Haus einen Puma. Der eilig angerufene Polizist P rückt mit dem SEK an und<br />
stellt fest, dass es sich bei dem Puma um ein lebensgroßes und täuschend echt<br />
aussehendes Stoffexemplar handelt.<br />
Das SEK rückt wieder ab, der R wird für die Einsatzkosten in Anspruch genommen.<br />
Diese zahlt der R, stellt sich jedoch bereits am nächsten Tag die<br />
Frage, ob die Inanspruchnahme nicht rechtswidrig war und möchte wissen,<br />
ob, und wenn ja auf welcher Grundlage, er sein Geld zurückbekommen kann.<br />
ABWANDLUNG 1<br />
Der vermeintliche Puma sitzt im verschlossenen Innenhof des Hauses des R.<br />
Wieder ruft dieser den P an, der ihn aber nicht ernst nimmt und meint, die<br />
Angelegenheiten des R auf dessen Grundstück gingen ihn nichts an. Besteht<br />
seitens des R ein Anspruch auf Einschreiten gegen die Polizei?<br />
ABWANDLUNG 2 (WIE ABWANDLUNG 1)<br />
R bewohnt ein Mietshaus. Die Polizei bricht während des Einsatzes das verschlossene<br />
Tor zum Innenhof auf. Der Innenhof wäre aber, wie dem P zuvor<br />
mitgeteilt worden war, auch problemlos und ohne weiteres durch den unverschlossenen<br />
Keller zu erreichen gewesen. Dem P ist schon vor dem Einsatz<br />
bewusst, dass sich der, wie dieser selbst angegeben hatte, altersbedingt kurzsichtige<br />
R bei seiner Beobachtung geirrt haben könnte.<br />
Hat Vermieter V einen Anspruch auf Ersatz der Kosten für die Reparatur des<br />
Hoftores? Ansprüche aus § 839 Abs. 1 BGB und Art. 34 GG sind nicht zu prüfen.<br />
LöSUNG<br />
A. AUSGANGSFALL<br />
Eine Kostentragungspflicht des R könnte nach §§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 1, 13<br />
Abs. 1 Nr. 1 des Gebührengesetzes NRW2 (GebG NRW) i.V.m. § 1 Abs. 1 Allgemeine<br />
Verwaltungsgebührenordnung NRW (AVerwGebO NRW) bestehen,<br />
wenn dieser für die Verwaltungshandlung Anlass gegeben hat.<br />
I. Eine gebührenpflichtige Amtshandlung in diesem Sinne stellt gemäß<br />
Nr. 18.6 des allgemeinen Gebührentarifs zur AVerwGebO NRW insbeson-<br />
1 Der Autor schuldet Frau stud. iur. Beate Förtsch und Herrn stud. iur.<br />
Benjamin Schmitz Dank für wertvolle Korrekturanmerkungen.<br />
2 Vgl. Vorschriften anderer Bundesländer: §§ 1, 2, 5 I LGebG BW; §§ 1 I, 2,<br />
12 I GebGBbg; §§ 2 I, 3 I, 9 I HmbGebG; Art. 1 I, Art. 2 KostG BY; §§ 1, 4 I,<br />
13 I BremGebBeitrG; §§ 1 I, 11 I HVwKostG; §§ 1 I, 2, 13 I VwKostG M-V;<br />
§§ 1 I, 3, 5 I NVwKostG; §§ 1 I, 12 I SaarlGebG; §§ 1, 2 I SächsVwKG; §§ 1<br />
I, 5 I VwKostG LSA; §§ 1 I, 13 I VwKostG SH; §§ 1 I, VI, 6 I ThürVwKostG;<br />
§§ 1 I, 13 I Rh-PflLGebG.<br />
Lukas Ernst, Jahrgang 1982, studierte an der Universität<br />
Bonn und ist seit 2008 ebendort wissenschaftlicher Mitar-<br />
beiter bei Prof. Dr. Christian Koenig LLM. am Zentrum für<br />
Europäische Integrationsforschung sowie seit 2010 Rechts-<br />
referendar am LG Köln. Tätigkeitsschwerpunkt sind das EU<br />
Wettbewerbsrecht sowie das Recht der Regulierung der<br />
Netzwirtschaften. Derzeit schließt er seine Promotion zu<br />
einem energiewirtschaftlichen Thema ab.<br />
dere das Tätigwerden der Polizei nach einer missbräuchlichen Alarmierung<br />
oder aufgrund einer vorgetäuschten Gefahrenlage dar. Diese Gebührenpflicht<br />
entsteht also dann nicht, wenn der Anruf des R durch das Vorliegen einer Gefahr<br />
gerechtfertigt gewesen wäre.<br />
1. Der Anruf des R wäre gerechtfertigt gewesen, wenn eine Gefahr für die öffentliche<br />
Sicherheit und Ordnung vorgelegen hätte (§ 14 Abs. 1 OBG NRW).<br />
Eine Gefahr besteht dann, wenn bei Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens<br />
in absehbarer Zeit die Schädigung eines polizeilich geschützten<br />
Rechtsguts hinreichend wahrscheinlich ist. 3 Die öffentliche Sicherheit und<br />
Ordnung umfasst unter anderem wichtige Individualrechtsgüter. 4<br />
a) Durch einen herumlaufenden Puma in einem Wohngebiet besteht ein<br />
nicht unerhebliches Schädigungspotential für Leib und Leben der Anwohner.<br />
Leib und Leben sind als wichtige Individualrechtsgüter Bestandteil der öffentlichen<br />
Sicherheit und Ordnung. 5 Damit würde in einem solchen Fall eine Gefahr<br />
für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bestehen.<br />
b) Allerdings war der vermeintliche Puma objektiv ungefährlich, da eine<br />
Schädigung von polizeilich geschützten Rechtsgütern durch ein Stofftier nicht<br />
drohte. Eine Gefahr bestand damit tatsächlich nicht. Fraglich ist, wie die bestehende<br />
Lage zu beurteilen ist.<br />
aa) In Betracht kommen könnte das Vorliegen eines Gefahrenverdachts. Dieser<br />
zeichnet sich dadurch aus, dass nach der Sachlage Anhaltspunkte für das<br />
Vorliegen einer Gefahr bestehen, der handelnden Person dabei aber bewusst<br />
ist, dass noch weitere Gefahrerforschungsmaßnahmen zur Ermittlung des<br />
Sachverhalts erforderlich sind. 6 Das Vorliegen einer tatsächlichen Gefahr ist<br />
dabei gerade ungewiss und Gegenstand der weiteren Sachverhaltsaufklärung.<br />
Dem R war hier schon keine Unsicherheit hinsichtlich des Vorliegens einer<br />
Gefahr bewusst. Vielmehr ging er davon aus, einen echten Puma gesehen zu<br />
haben. Insofern bestand kein Gefahrenverdacht.<br />
3 BVerwGE 45, 51 (57).<br />
4 VG Arnsberg, Beschl. v. 16.04.2009, Az. 3 L 192/09; VG Gelsenkirchen,<br />
Beschl. v. 12.08.2009, Az. 14 L 746/09.<br />
5 VG Minden, NJW 2006, 1450 (1451).<br />
6 VG Düsseldorf, NVwZ-RR 1999, 743 (744).<br />
101
102<br />
Fallbearbeitung<br />
bb) In diesem Fall könnte es sich um eine Putativgefahr gehandelt haben.<br />
Diese liegt dann vor, wenn die Ermittlungsperson eine Gefahr für gegeben<br />
hält, die tatsächlich nicht besteht und dabei pflichtwidrig nicht alle zur Verfü-<br />
gung stehenden Erkenntnisquellen ausschöpft. 7 Allerdings gilt der Begriff der<br />
Putativgefahr ausschließlich für die handelnden Behörden. Dem R als An-<br />
wohner wird in diesem Fall die weitere Erforschung des Sachverhalts nicht<br />
abverlangt werden können. Vielmehr durfte der R vernünftigerweise das wei-<br />
tere Vorgehen der Polizei überlassen. Insoweit kann aber auch nicht der Vor-<br />
wurf erhoben werden, der R habe pflichtwidrig nicht alle Erkenntnisquellen<br />
ausgeschöpft und damit vorwerfbar das Vorliegen einer Gefahr angenommen.<br />
Folglich bestand auch keine Putativgefahr.<br />
cc) Allerdings könnte es sich um eine Anscheinsgefahr gehandelt haben. Um<br />
eine solche handelt es sich dann, wenn objektiv keine Gefahr besteht, das Ge-<br />
schehen aber aus der Betrachtung ex-ante den vernünftigen Schluss zulässt,<br />
eine solche läge vor. 8 Die Unechtheit des Pumas konnte R bei seiner Beobach-<br />
tung aus dem Fenster nicht erkennen. Ihm stellte sich folglich eine Situation<br />
dar, die objektiv den Anschein einer Gefahr ergab. Damit ist das Vorliegen ei-<br />
ner Anscheinsgefahr zu bejahen. Fraglich ist, ob diese wie eine echte Gefahr<br />
zu behandeln ist. Dagegen spricht zunächst, dass objektiv keine Gefahr vorlag,<br />
was dazu führt, dass eine Gefahrenabwehrmaßnahme vorgenommen würde,<br />
obwohl die tatbestandlichen Voraussetzungen der Eingriffsnorm nicht vorlie-<br />
gen. Für eine Gleichstellung von Anscheinsgefahr und echter Gefahr spricht<br />
allerdings die Effektivität der Gefahrenabwehr. Eine Gefahrensituation zeich-<br />
net sich gerade dadurch aus, dass in Ansehung des drohenden Schadens zügig<br />
gehandelt werden muss. Oftmals würde eine detaillierte und somit zeitaufwendige<br />
Erforschung des Sachverhalts den Schutz der gefährdeten Rechtsgüter<br />
vereiteln. Nur unter diesem Gesichtspunkt macht auch die Eilzuständigkeit<br />
der Polizei gemäß § 1 Abs. 1 S. 3 PolG NRW Sinn. Diese wäre überflüssig,<br />
wenn die Gefahrenabwehr nicht im Einzelfall ein schnelles Einschreiten<br />
erfordern würde. Den Ordnungsbehörden stehen aber unter Umständen exante<br />
begrenzte Erkenntnisquellen zur Verfügung. Stellt sich nach Ausschöpfung<br />
aller zur Verfügung stehender Erkenntnisquellen eine Situation als gefährlich<br />
dar, so überzeugt es nicht, die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer<br />
Maßnahme von den Erkenntnismöglichkeiten ex post abhängig zu machen.<br />
Überzeugender ist es daher, die Anscheinsgefahr wie eine echte Gefahr zu behandeln,<br />
denn aus der ex-ante Position des Betrachters lag vernünftigerweise<br />
der Schluss nahe, von einer tatsächlichen Gefahr auszugehen. 9<br />
c) Damit lag eine Gefahr im Rechtssinne vor.<br />
d) Diesen Anschein einer Gefahr hat der R auch nicht pflichtwidrig verurs-<br />
acht, was dazu hätte führen können, dass er gleichwohl kostenpflichtig heran-<br />
gezogen werden kann. 10 Vielmehr hat er lediglich als unbeteiligter Dritter seine<br />
Wahrnehmung einer vermeintlichen Gefahrenquelle der Polizei weitergegeben.<br />
7 VG Würzburg, Urt. v. 15.07.2010, Az. W 5 K 10.233, Rn. 17; VG Münster,<br />
Urt. v. 11.12.2009, Az. 1 K 2338/08, Rn. 46; di Fabio, Risikoentscheidungen<br />
im Rechtsstaat, 1994, 75.<br />
8 OVG Münster, NJW 1980, 138 (139); Götz, Allgemeines Polizei- und<br />
Ordnungsrecht, 13. Auflage 2001, Rn. 161; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht,<br />
6. Auflage 2009, Rn. 80.<br />
9 H.M., instruktiv BGH, NJW 1952, 586; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht,<br />
6. Auflage 2009, Rn. 80; Schoch, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes<br />
Verwaltungsrecht, 13. Auflage 2005, Rn. 92.<br />
10 BGH, NVwZ 1992, 1119; OVG Hamburg, NVwZ 1986, 766.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
2. Folglich handelte es sich bei dem Anruf des R weder um eine missbräuch-<br />
liche Alarmierung noch um die Vortäuschung einer Gefahrenlage. Somit er-<br />
folgte die Inanspruchnahme des R zu Unrecht. Der R ist nicht nach §§ 1 Abs. 1<br />
Nr. 1, 2 Abs. 1, 13 Abs. 1 Nr. 1 GebG NRW i.V.m. § 1 Abs. 1 AVerwGebO<br />
NRW zur Kostentragung verpflichtet gewesen. Seine Zahlung erfolgte demnach<br />
ohne Rechtsgrund.<br />
II. Ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht gezahlten Einsatzkosten steht<br />
dem R gemäß § 21 Abs. 1 GebG NRW zu. Allerdings ist dieser geltend zu machen,<br />
solange die Kostenentscheidung noch nicht unanfechtbar geworden ist.<br />
B. ABWANDLUNG 1<br />
Ein Anspruch auf Einschreiten der Polizei könnte dem R aus § 14 Abs. 1 OBG<br />
NRW i.V.m. § 1 Abs. 1 S. 3 PolG NRW11 zustehen.<br />
I. Dazu müsste zunächst eine Gefahr i.S.d. § 14 Abs. 1 OBG NRW bestehen.<br />
Der Puma war zwar objektiv ungefährlich, allerdings ist vom Vorliegen einer<br />
Anscheinsgefahr auszugehen, die der echten Gefahr gleichgestellt ist (s.o.).<br />
II. Die Zuständigkeit der Polizei ergibt sich aus § 1 Abs. 1 S. 3 PolG NRW, da<br />
vom Vorliegen eines Eilfalles ausgegangen werden kann.<br />
III. Fraglich ist allerdings, ob diese Normen Anspruchsgrundlage sein können.<br />
1. Aus der Wortlautfassung des § 14 Abs. 1 OBG NRW („Die Ordnungsbehörden<br />
können“) ergibt sich, dass zu Gunsten der Ordnungsbehörden Ermessen<br />
besteht. 12 Die Vornahme einer Handlung der Behörde unterliegt damit<br />
der Opportunität; ein Anspruch auf Einschreiten besteht grundsätzlich nicht.<br />
2. Ein Anspruch auf Einschreiten würde aber dann bestehen, wenn eine Ermessensreduktion<br />
auf Null hinsichtlich des Entschließungsermessens vorliegen<br />
würde. 13 Sofern dies der Fall ist, wäre nur die Entscheidung zugunsten des<br />
Einschreitens ermessensfehlerfrei.<br />
a) Zunächst könnte sich hier eine Ermessensreduzierung auf Null aus dem<br />
Fehlen gewichtiger Gegengründe ergeben. Solche sind hier nicht ersichtlich.<br />
Demnach könnte sich bereits daraus ein Anspruch des R auf Einschreiten<br />
ergeben.<br />
b) Daneben könnte sich eine Ermessensreduzierung auf Null aus der drohenden<br />
Gefahr für überragend wichtige Rechtsgüter wie Leib und Leben ergeben.<br />
14 Zwar war der Puma ungefährlich, sodass eine Gefahr für Leib oder<br />
Leben nicht bestand. Allerdings erweckte die Situation den Eindruck, eine<br />
solche Gefahr würde tatsächlich bestehen. Stellt man auf Eingriffsebene die<br />
Anscheinsgefahr der echten Gefahr gleich, so ist es nur konsequent auch hier<br />
11 Vgl. hinsichtlich Generalklauseln anderer Bundesländer: § 14 BPolG; §<br />
17 I ASOG; I 1 i.V.m. § 3 PolBW; Art. 11 BayPAG; § 13 I OBG i.V.m. § 10<br />
PolGBbG; § 3 HmbSOG; § 10 BremPolG; § 11 HSOG; § 13 SOG M-V; § 11<br />
NSOG; § 9 I 1 Rh-PflPOG; § 8 I SaarlPolG; § 3 I SächsPolG; § 13 i.V.m. § 1<br />
I SOG LSA; § 174 SHLVwG; § 5 I OBG i.V.m. 12 I ThürPAG; § 14 BGSG.<br />
12 OVG Münster, NJW 1997, 1180 (1181); OVG Münster, NVwZ-RR 2004, 689.<br />
13 OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2003, 484.<br />
14 OVG Lüneburg, Urt. v. 29.10.1993, Az. 6 L 3295/91, Rn. 31.
vom Vorliegen einer Gefahr auszugehen. Daneben erscheint es dem Bürger<br />
nicht zumutbar, auf einen Gefahrenverdacht hin eigene Gefahrerforschungs-<br />
maßnahmen zu ergreifen, wenn die zu erforschende Gefahr im Falle ihres tat-<br />
sächlichen Vorliegens von erheblichem Gewicht ist. Dies ist aber dann anzu-<br />
nehmen, wenn die Aufklärung der Echtheit des Pumas in Rede steht.<br />
c) Somit war das Entschließungsermessen des P auf Null reduziert.<br />
3. Folglich besteht hier ein Anspruch des R auf Einschreiten gegen die Polizei<br />
aus § 14 Abs. 1 OBG NRW i.V.m. § 1 Abs. 1 S. 3 PolG NRW.<br />
C. ABWANDLUNG 2<br />
I. Der V könnte einen Anspruch auf Ersatz der Reparaturkosten aus § 67 PolG<br />
NRW i.V.m. § 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW 15 haben.<br />
1. Dazu müsste er gemäß § 19 Abs. 1 OBG NRW 16 als Nichtstörer in An-<br />
spruch genommen worden sein. Das würde zunächst voraussetzen, dass eine<br />
erhebliche gegenwärtige Gefahr abzuwehren war (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 OBG<br />
NRW). Objektiv war der Puma ungefährlich, sodass eine tatsächliche Ge-<br />
fahr nicht vorgelegen hat. Allerdings könnte eine der tatsächlichen Gefahr<br />
gleichstehende Anscheinsgefahr vorgelegen haben. Hier war dem P aber be-<br />
wusst, dass der R sich getäuscht haben könnte, zumal dieser ihn auf seine<br />
Kurzsichtigkeit hingewiesen hatte. Insofern könnte davon ausgegangen wer-<br />
den, dass der P pflichtwidrig nicht alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft<br />
hat und, obwohl die ihm bekannten Tatsachen diese Annahme nicht ausrei-<br />
chend stützten, von einer Gefahrenlage ausgegangen ist, woraufhin er das Tor<br />
aufbrach. Sieht man den Schwerpunkt der Maßnahme also in dem Aufbre-<br />
chen des Tores zur Gefahrenabwehr, dann läge mithin eine Putativgefahr vor.<br />
Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlagen waren allerdings nicht<br />
erfüllt, da eine Putativgefahr der Gefahr nicht gleichsteht und folglich keine<br />
Gefahrenlage bestand. Die Maßnahme des P war mithin rechtswidrig. Somit<br />
lag kein polizeilicher Notstand vor, sodass der V nicht als Nichtstörer in An-<br />
spruch genommen worden ist.<br />
2. Ein Ersatzanspruch ergibt sich somit nicht aus § 67 PolG NRW i.V.m. § 39<br />
Abs. 1 lit. a OBG NRW.<br />
II. Der V könnte einen Anspruch auf Ersatz der Reparaturkosten aus § 67<br />
PolG NRW i.V.m. § 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW analog haben.<br />
1. Eine analoge Anwendung des § 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW würde erfor-<br />
dern, dass die Voraussetzungen der Analogie vorliegen. Es müsste demnach<br />
zunächst eine planwidrige Regelungslücke vorliegen.<br />
a) Eine planwidrige Regelungslücke könnte deswegen bestehen, weil die Ent-<br />
15 Vgl. hinsichtlich Entschädigungsansprüche anderer Bundesländer: § 55<br />
I PolG BW; Art. 70 I BayPAG; § 38 OBG i.V.m. § 70 PolGBbg; § 56 I Brem-<br />
PolG; § 10 HmbSOG; § 64 I HSOG; § 59 I ASOG; § 72 I SOG M-V; § 80 I<br />
NSOG; § 68 I Rh-PflPOG; § 68 I SaarlPolG; § 52 I SächsPolG; § 69 I SOG<br />
LSA; § 221 I SHLVwG; § 52 OBG i.V.m. § 68 I ThürPAG.<br />
16 Vgl. hinsichtlich Vorschriften anderer Bundesländer: § 16 ASOG; § 9<br />
PolG BW; Art. 10 BayPAG; § 18 OBG i.V.m. § 7 PolGBbg; § 7 BremPolG; §<br />
10 HmbSOG; § 9 HSOG; § 71 I SOG M-V; § 8 NSOG; § 7 Rh-PflPOG; § 6<br />
SaarlPolG; § 7 SächsPolG; § 10 SOG LSA; § 220 SHLVwG; § 13 OBG i.V.m.<br />
§ 10 ThürPAG.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Fallbearbeitung<br />
schädigung für die Erbringung eines Sonderopfers für den Fall geregelt ist,<br />
dass der Nichtstörer im Rahmen der Gefahrenabwehr herangezogen wird<br />
(§ 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW direkt). Allerdings sind auch Eingriffe zur Ge-<br />
fahrerforschung bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts zulässig. 17 Wird zu<br />
Lasten des Verdachtsstörers ein rechtmäßiger Gefahrerforschungseingriff<br />
vorgenommen, erfolgt nach den Worten des Gesetzes keine Entschädigung.<br />
Die Entschädigung des Verdachtsstörers nach einem rechtmäßigen Gefahrer-<br />
forschungseingriff ist nicht geregelt. Der V wäre hier als Verdachts-Nichtstö-<br />
rer anzusehen, da er zur Erforschung eines Sachverhalts in Anspruch genom-<br />
men wird, bei dessen Vorliegen er als Nichtstörer anzusehen wäre und he-<br />
rangezogen werden könnte. Ergibt die Gefahrerforschung, dass keine Gefahr<br />
vorlag, wäre eine Entschädigung nicht möglich. Dadurch würde es der Risiko-<br />
sphäre des Bürgers überantwortet, ob eine Gefahr vorliegt oder nicht, für die<br />
er jedenfalls nicht handlungs- oder zustandsverantwortlich wäre. Dies über-<br />
zeugt aber nicht, da die ratio der Entschädigung aus der Erbringung eines Son-<br />
deropfers folgt. Ob dieses für eine Gefahrenabwehr- oder eine Gefahrerfor-<br />
schungsmaßnahme erbracht wird, ist aus der Sichtweise des Gesetzeszwecks<br />
nicht von Belang. Damit könnte eine planwidrige Regelungslücke vorliegen.<br />
b) Diese Regelungslücke besteht aber nur dann, wenn es sich um einen recht-<br />
mäßigen Gefahrerforschungseingriff gehandelt hat. Für rechtswidrige Maß-<br />
nahmen ist eine Entschädigung in § 39 Abs. 1 lit. b OBG NRW geregelt. Da-<br />
mit ist entscheidend, ob es sich bei der Maßnahme des P um einen rechtmä-<br />
ßigen Gefahrerforschungseingriff gehandelt hat. Nimmt man an, der P habe<br />
zwar die Unsicherheit hinsichtlich des Sachverhalts gekannt, das Tor aber nur<br />
aufgebrochen, um diesem Gefahrenverdacht weiter nachzugehen, könnte ein<br />
Gefahrenverdacht vorgelegen haben.<br />
c) Fraglich ist also, ob die Maßnahme des P als Gefahrerforschungseingriff<br />
auf den Gefahrenverdacht hin rechtmäßig gewesen wäre. Das wäre schon<br />
dann zu verneinen, wenn die Inanspruchnahme des V durch das Aufbrechen<br />
des Hoftores jedenfalls unverhältnismäßig gewesen wäre. Die Verhältnismäßigkeit<br />
der Maßnahme würde ihre Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit<br />
voraussetzen.<br />
aa) Unzweifelhaft war das Aufbrechen des Tores geeignet, um den Innenhof<br />
zum Zwecke der Erforschung der vermeintlichen Gefahr zu betreten.<br />
bb) Allerdings hätte es auch erforderlich sein müssen, was voraussetzt, dass<br />
kein milderes ebenso geeignetes Mittel zur Verfügung stand. Dem P war allerdings<br />
ausdrücklich mitgeteilt worden, dass der Keller unverschlossen und<br />
ein Betreten des Innenhofs über diesen Weg unproblematisch möglich sei.<br />
Insofern war ein milderes Mittel verfügbar; dass dieses Mittel zur effektiven<br />
Gefahrerforschung nicht ebenso geeignet gewesen wäre, ist nicht ersichtlich.<br />
Die Inanspruchnahme des V war demnach nicht erforderlich und daher unverhältnismäßig.<br />
d) Damit war die Maßnahme des P rechtswidrig, sodass hier keine planwidrige<br />
Regelungslücke besteht.<br />
17 Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Auflage<br />
2009, Rn. 478.<br />
103
104<br />
Fallbearbeitung<br />
2. Der Anspruch des V auf Ersatz der Reparaturkosten ergibt sich nicht aus<br />
§ 67 PolG NRW i.V.m. § 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW analog.<br />
III. Ein Anspruch des V auf Ersatz der Reparaturkosten könnte sich aus § 67<br />
PolG NRW i.V.m. § 39 Abs. 1 lit. b OBG NRW ergeben.<br />
1. Bei der Handlung des P handelte es sich um eine rechtswidrige Maßnahme,<br />
da es für eine Maßnahme zur Gefahrenabwehr durch das Vorliegen einer Pu-<br />
tativgefahr an der Gefahr mangelte und ein etwaiger Gefahrerforschungsein-<br />
griff jedenfalls unverhältnismäßig war (s.o.).<br />
2. Dem V ist durch die Notwendigkeit, das Hoftor zu reparieren auch ein<br />
Schaden in Form eines unfreiwilligen Vermögensverlustes entstanden.<br />
3. Auf das Verschulden des P kommt es nicht an; bei § 39 Abs. 1 lit. b OBG<br />
NRW handelt es sich um eine verschuldensunabhängige Anspruchs-<br />
grundlage. 18<br />
18 BGH, NVwZ-RR 2009, 363 (364).<br />
SACHVERHALT 1<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
4. Der Anspruch des V auf Ersatz der Reparaturkosten dürfte auch nicht sub-<br />
sidiär gemäß § 39 Abs. 2 lit. a und b OBG NRW sein. Hier hat der V jedoch<br />
keinen anderweitigen Ersatz seines Schadens erlangt. Ebenso ist nicht ersicht-<br />
lich, wie die Maßnahme des P die Person oder das Vermögen des V geschützt<br />
haben könnte.<br />
5. Der V hat demnach einen Anspruch auf Ersatz der Kosten für die Repara-<br />
tur des Hoftores gemäß § 67 PolG NRW i.V.m. § 39 Abs. 1 lit. b OBG NRW.<br />
IV. Daneben könnte auch ein Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff be-<br />
stehen, der früher aus Art. 14 Abs. 3 GG hergeleitet wurde und mittlerweile<br />
dem verfassungsrechtlichen Gewohnheitsrecht, das in Form des allgemeinen<br />
Aufopferungsgedankens auf §§ 74, 75 EinlPrALR zurückgeht, 19 entnommen<br />
wird. Dies kann aber offenbleiben, da dieser Anspruch wegen seiner Funktion,<br />
etwaige Haftungslücken zu schließen, jedenfalls im Wege der Spezialität von<br />
den besonderen Entschädigungsansprüchen (s.o.) verdrängt würde.<br />
19 Axer, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand:<br />
01.04.2011, Art. 14, Rn. 134.<br />
Fortgeschrittene im Strafrecht (Schwerpunkt):<br />
„Leben und sterben lassen“<br />
von Dr. Jörg Scheinfeld (Ruhr-Universität Bochum)<br />
Jörg Scheinfeld absolvierte nach seinem Studium an der<br />
Universität Bochum seine Staatsexamina 2000 und 2004.<br />
Derzeit ist er ebendort Lehrkraft für besondere Aufgaben<br />
und habilitiert sich u.a. im Medizinstrafrecht. Er ist Autor<br />
des Buches „Der Kannibalen-Fall <strong>–</strong> verfassungsrechtliche<br />
Einwände gegen die Einstufung als Mord und gegen die<br />
Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe“ (2009) sowie Mit-<br />
autor des Kurzlehrbuchs „Strafprozessrecht“ (2011).<br />
C ist Chefarzt der Chirurgie und ein erfahrener Transplantationsmediziner.<br />
Er empfindet starkes Mitleid mit seinem Patienten P, der wegen sei-<br />
ner Niereninsuffizienz akut organbedürftig ist. Sollte P nicht in den näch-<br />
sten Wochen ein Spenderorgan erhalten, wird er sterben. Die Chancen<br />
für den Erhalt eines solchen Organs stehen für P wegen des allgemeinen<br />
Organmangels denkbar schlecht. Obwohl C den P erst seit einigen Monaten<br />
kennt und ihn auch erst in fünf intensiven Beratungsgesprächen näher ken-<br />
nen gelernt hat, entschließt er sich, ihm eine seiner Nieren zu spenden. Denn<br />
C findet P auf Anhieb sympathisch und beide gehen davon aus, dass sie nach<br />
der Organlebendspende befreundet „bleiben“ werden. So kommt es, dass<br />
Oberarzt O seinem Chef C die Niere zum Zwecke der Übertragung auf P ent-<br />
nimmt. Auf eine nähere Aufklärung über die Risiken des Lebendspenders<br />
1 Die Aufgabe wurde im WS 2010/2011 an der Ruhr-Universität Bochum<br />
<strong>–</strong> Vorlesung „Medizinstrafrecht“ im Schwerpunktbereich Strafrecht <strong>–</strong> als<br />
zweistündige Probeklausur gestellt.<br />
hatte C verzichtet. Weil O einen Scherz des C fehlinterpretiert hatte, ging<br />
er bei der Nierenentnahme irrig davon aus, dass der Multimillionär P eine<br />
Million Euro für die Niere an C bezahlt hat. In Wahrheit hatten sich P und<br />
C, wie gegenüber der Ethikkommission offen gelegt, lediglich darauf verstän-<br />
digt, dass P den operationsbedingten Verdienstausfall erstattet und dass er die<br />
Kosten für eine Berufsunfähigkeits- und eine Risikolebensversicherung des C<br />
trägt. Beide Versicherungsverträge sollen nicht nur spendebedingte, sondern<br />
jedwede Versicherungsfälle abdecken. Allen Beteiligten verheimlicht hatten<br />
C und P allerdings, dass C sich nach Drängen des P damit einverstanden er-<br />
klärt hatte, auf dessen Kosten einen vierwöchigen und 20.000-Euro-werten<br />
Erholungsurlaub auf Kuba zu verbringen.<br />
Von Kuba zurück geht es C blendend, und er nimmt seine Tätigkeit als<br />
Transplantationschirurg wieder auf. Sein erster Fall ist der des herzkranken,<br />
vier Monate alten Säuglings S, der ihn gleich in ein Dilemma stürzt. Sollte<br />
S nicht in den nächsten Tagen ein Spenderherz erhalten, wird er nach ärzt-<br />
lichem Ermessen recht sicher versterben. Für die Gruppe organbedürftiger<br />
Säuglinge ist der Organmangel besonders groß, weil naturgemäß nur sehr we-<br />
nige kindliche und damit passende Leichenspendeorgane zur Verfügung ste-<br />
hen. Deshalb ist nicht mehr damit zu rechnen, dass S noch rechtzeitig ein<br />
Leichenherz erhält. All das erfahren M und V, die für die nächste Woche<br />
die Geburt ihres anenzephalen Sohnes A erwarten. Die beiden wollen dem<br />
Schicksal ihres Sohnes einen Sinn geben, und sie wünschen, dass man A spä-<br />
ter das Herz entnehme, um es auf S zu übertragen. Nach der Entbindung des<br />
A bestätigt sich die pränatale Diagnose: A atmet zwar spontan, er ist aber ohne<br />
Groß- und Mittelhirn zur Welt gekommen. Weil er keinerlei Bewusstsein und<br />
Empfinden hat, würde er eigentlich <strong>–</strong> wie in diesen Fällen weltweit prakti-
ziert <strong>–</strong> unbehandelt sterben gelassen werden. C folgt dem Wunsch von M und<br />
V und entnimmt A das Herz, das ein anderes Chirurgenteam auf S überträgt<br />
und ihn damit rettet. Infolge der Entnahme tritt bei A <strong>–</strong> wie von C als sichere<br />
Folge vorhergesehen <strong>–</strong> kurz darauf der Ganzhirntod ein. C glaubt sich ange-<br />
sichts der Not des S zu seiner Tat berechtigt.<br />
Prüfen Sie gutachterlich die Strafbarkeit von C und O nach TPG und StGB!<br />
Etwa erforderliche Strafanträge sind gestellt. Bearbeitervermerk: Falls das<br />
für Ihre Lösung relevant werden sollte, gehen Sie davon aus, dass P keinen<br />
Organhandel treibt. <strong>–</strong> Mit Blick auf die Entnahme von A’s Herz ist nur § 212<br />
StGB zu prüfen.<br />
LöSUNG 2<br />
A. 1. HANDLUNGSABSCHNITT: DIE ENTNAHME VoN C’S NIERE<br />
I. STRAFBARKEIT DES C<br />
1. oRGANHANDEL DURCH DIE VEREINBARUNG DER LEISTUN-<br />
GEN DES P (§§ 18 I, 17 I TPG)<br />
a) Tatbestand<br />
C hat mit seiner Niere Handel getrieben, wenn er in Vorteilserwartung<br />
(eigennützig) auf die Übertragung der Niere hingewirkt hat. 3<br />
aa) Keinen Vorteil stellt der Nachteilsausgleich dar, also der Ausgleich der-<br />
jenigen finanziellen Einbußen, die der Lebendspender anlässlich der Spende<br />
hinnehmen muss. Folglich liegt im Ausgleich des Verdienstausfalles kein<br />
Vorteil.<br />
bb) Was die beiden Versicherungsverträge angeht, so liegt in der Absicherung<br />
von Risiken, die mit der Lebendspende nichts zu tun haben, streng genom-<br />
men ein geldwerter Vorteil. Indes wollte der Gesetzgeber ausdrücklich eine<br />
Berufsunfähigkeitsversicherung zulassen. 4 Theoretisch ließen sich solche<br />
Versicherungen zwar begrenzen auf die spendebedingten Risiken, doch wäre<br />
damit kein echter Nachteilsausgleich geschaffen. Im Versicherungsfall kann<br />
es unklar und nicht nachweisbar sein, dass der Schaden auf die Lebendspende<br />
zurückgeht. Zum Zeitpunkt der Lebendspende bliebe es daher bei strenger<br />
Begrenzung der Versicherungsverträge ungewiss, ob eine spendebedingte<br />
Berufsunfähigkeit vom Versicherer aufgefangen werden würde. Deshalb<br />
bleibt nichts anderes übrig, als die Gewährung eines Vorteils zu tolerieren<br />
und also „Eigennutz“ zu verneinen, wenn dieser Vorteil <strong>–</strong> wie bei den beiden<br />
Versicherungsverträgen <strong>–</strong> in einem untrennbaren Zusammenhang<br />
mit dem akzeptierten Nachteilsausgleich steht. Mit dem Vereinbaren der<br />
Versicherungsverträge hat C also nicht eigennützig gehandelt und keinen<br />
Handel getrieben.<br />
2 Zur Klausurmethode im Strafrecht allgemein: Klaas/Scheinfeld,<br />
Jura 2010, 542 ff.<br />
3 Rixen, in: Höfling, TPG, 2003, § 17 Rn. 17 ff.; König, in: Schroth/König/<br />
Gutmann/Oduncu, TPG, 2005, §§ 17, 18 Rn. 19, 24; Tag, in: Münchener<br />
Kommentar, StGB, Band 5, § 18 Rn. 16, 18.<br />
4 Gesetzentwurf, BT-Drucksache 13/4355, S. 20 rechte Spalte unten.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Fallbearbeitung<br />
cc) Nicht mehr als Nachteilsausgleich angesehen werden kann der Erholungsurlaub.<br />
Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass die „Erholung“ erst durch<br />
die Lebendspende nötig wurde. Denn C hätte sich auch zuhause erholen können.<br />
Der geldwerte Aufenthalt auf Kuba ist daher grundsätzlich ein Vorteil im<br />
Sinne der Eigennutzdefinition. 5<br />
Eine teleologische Betrachtung könnte indes zur Verneinung des Merkmals<br />
führen. Der Gesetzgeber wollte mit dem Organhandelsverbot in erster Linie<br />
den Spender und den Empfänger schützen, jenen vor Ausbeutung finanzieller<br />
Not, diesen vor Ausbeutung seiner gesundheitlichen Not. 6 Da C als Chefarzt<br />
aber nicht in finanzieller Not steckt und umgekehrt der vermögende P wegen<br />
der freiwilligen (und dem C aufgedrängten) Bezahlung des Erholungsurlaubs<br />
nicht als „ausgebeutet“ gelten darf, sind diese Schutzgüter nicht beeinträchtigt.<br />
Auch dürfte C nicht korrumpiert worden sein von der Aussicht auf<br />
den teuren Erholungsurlaub; die 20.000 Euro hätte er weitaus angenehmer<br />
als durch die Lebendspende verdienen können. <strong>–</strong> Vom Handelsverbot geschützt<br />
wird aber auch die Seriosität des Transplantationswesens. 7 Sie könnte<br />
Schaden nehmen, wenn die Bezahlung eines derartigen Erholungsurlaubs bekannt<br />
werden würde. Es könnte der Eindruck entstehen, dass sich begüterte<br />
Organempfänger eher einen Lebendspender geneigt machen können, weil sie<br />
immerhin attraktive Erholungsziele „als Gegenleistung“ zu bieten haben. Weil<br />
demnach der Schutzzweck der Seriosität des Transplantationswesens tangiert<br />
ist, muss die Vereinbarung in Sachen „Erholungsurlaub“ als Handeltreiben<br />
des C eingestuft werden. 8<br />
dd) C wusste, dass er eine Gegenleistung vereinbart, er handelte damit vorsätzlich<br />
im Sinn des § 15 StGB, der wie der gesamte Allgemeine Teil des<br />
Strafgesetzbuches über Art. 1 I EGStGB auch im Nebenstrafrecht gilt.<br />
b) Rechtswidrigkeit<br />
Eine Rechtfertigung des C nach § 34 StGB scheitert jedenfalls daran, dass er<br />
die für P bestehende Gefahr anders hätte abwenden können, nämlich durch<br />
unentgeltliche Organspende.<br />
c) Schuld<br />
Bei C als Transplantationsmediziner ist davon auszugehen, dass er das Unrecht<br />
seiner Tat erkannt hat (vgl. § 17 S. 1 StGB), zumal er die Vereinbarung des Erholungsurlaubs<br />
den an der OP Beteiligten verheimlicht hatte. <strong>–</strong> Da § 35 StGB<br />
(wie schon § 34 StGB) zumindest an der Möglichkeit unentgeltlicher Abwendung<br />
der für P bestehenden Gefahr scheitert, handelte C insgesamt schuldhaft.<br />
5 Der Gesetzgeber hat mit dem Begriff des Handeltreibens anknüpfen wollen<br />
an das Merkmal im Betäubungsmittelrecht. Und dort ist ein Umsatzfördern<br />
zur Erlangung einer Flugreise als Handeltreiben eingestuft worden.<br />
6 Gesetzentwurf, BT-Drucksache 13/4355, S. 16, 29.<br />
7 König (Fn. 3), Vor §§ 17, 18 Rn. 20.<br />
8 Bearbeiterhinweis: Die im Text genannten Aspekte zum Willen des Gesetzgebers<br />
sind in der begleitenden Vorlesung ausführlich behandelt worden.<br />
Deshalb sollten die Kandidaten wissen, dass der Nachteilsausgleich<br />
gestattet ist (Versicherungsverträge). <strong>–</strong> Die Bearbeiter dürfen das Handeltreiben<br />
insgesamt verneinen: Den Erholungsurlaub können sie als eine unter<br />
den reichen Beteiligten noch angemessene Dankesgabe einstufen, die<br />
die Seriosität des Transplantationswesens nicht antastet. Sie dürfen auch<br />
mit dem Bundessozialgericht das Anknüpfen des Gesetzgebers an das Betäubungsmittelstrafrecht<br />
für verfehlt erachten und eine eigenständige, allein<br />
dem TPG zu entnehmende und dann engere Auslegung des Handeltreibens<br />
bevorzugen (BSG, JZ 2004, 464, 465 f.).<br />
105
106<br />
Fallbearbeitung<br />
d) Strafzumessung<br />
Von Strafe kann abgesehen werden oder sie kann gemildert werden (§ 18 IV TPG).<br />
e) Ergebnis<br />
C hat schuldhaft einen Organhandel begangen (§ 18 I TPG).<br />
2. ANSTIFTUNG ZUM SICH-üBERTRAGEN-LASSEN DES GEHAN-<br />
DELTEN oRGANS (P) DURCH DAS VEREINBAREN DES ERHo-<br />
LUNGSURLAUBS (§ 18 I TPG)<br />
Dieses Delikt tritt gegebenenfalls hinter dem Handeltreiben zurück (mitbe-<br />
strafte Nachtat).<br />
3. ANSTIFTUNG DES o ZU DESSEN TATEN IM ZUSAMMENHANG<br />
MIT DER oRGANENTNAHME<br />
a) Eine Anstiftung zur Übertragung des gehandelten Organs (§ 18 I TPG)<br />
scheitert jedenfalls am Fehlen des Vorsatzes (§§ 26, 16 I 1 StGB). C wusste<br />
nicht, dass O von einem Organhandel ausging (die Vereinbarung des<br />
Erholungsurlaubs hatten sie verheimlicht), er stellte sich also keine vorsätz-<br />
liche Tat des O vor.<br />
b) Was O’s (möglichen) Verstoß gegen die Spenderkreisbegrenzung an-<br />
geht (§ 8 I 2 TPG), so ist C jedenfalls nach dem Gedanken der notwendigen<br />
Teilnahme straflos: Ein Verstoß gegen § 19 I Nr. 2 mit § 8 I 2 TPG setzt vo-<br />
raus, dass der Lebendspender mitwirkt. Da diese Mitwirkung nicht geson-<br />
dert unter Strafe gestellt ist, würde diese gewollte Privilegierung über die<br />
Anstifterstrafe umgangen.<br />
II. STRAFBARKEIT DES o<br />
1. oRGANENTNAHME UNTER VERLETZUNG DER AUFKLäRUNGS-<br />
PFLICHT DURCH DAS ENTFERNEN DER NIERE DES C (§ 19 I NR. 1<br />
MIT § 8 I 1 NR. 1B TPG)<br />
Da O die Niere des C entnommen hat, ohne dass dieser zuvor im Sinn des<br />
§ 8 II 1 u. 2 TPG aufgeklärt worden ist, handelte O nur dann tatbestands-<br />
los, wenn C wirksam auf eine Aufklärung verzichtet hat. Ein solch wirk-<br />
samer Verzicht ist zu bejahen: Zum einen bedurfte C als erfahrener<br />
Transplantationsmediziner der an sich erforderlichen Aufklärung nicht;<br />
er kannte bereits bestens alle Risiken. Zum andern ist trotz des scheinbar<br />
strikten Wortlauts des § 8 I (Organentnahme ist „nur zulässig, wenn... nach<br />
Absatz 2 Satz 1 und 2 aufgeklärt worden ist“) ein Aufklärungsverzicht gestat-<br />
tet. Dies erzwingt das Selbstbestimmungsrecht des Spenders; sonst würde<br />
man sich in Widersprüche verwickeln, da in der sonstigen Medizin ein<br />
Aufklärungsverzicht sogar bei viel schwerer wiegenden Eingriffen zulässig ist. 9<br />
<strong>–</strong> Dieses Delikt hat O daher nicht begangen.<br />
2. oRGANENTNAHME UNTER VERLETZUNG DER SPENDERKREIS-<br />
BEGRENZUNG DURCH DAS ENTFERNEN DER NIERE DES C<br />
(§ 19 I NR. 2 MIT § 8 I 2 TPG)<br />
9 Siehe BGH NJW 1973, 556, 558.<br />
a) Tatbestand<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
O hat die Niere des C entnommen. Dies tat er unter Verletzung der<br />
Spenderkreisbegrenzung, wenn C dem P nicht in besonderer persön-<br />
licher Verbundenheit offenkundig nahe stand (§ 8 I 2 TPG). Das „beson-<br />
dere“ der persönlichen Verbundenheit sieht der Gesetzgeber in einer gewach-<br />
senen Beziehungsgeschichte, die aus häufigen engen und sehr persönlichen<br />
Kontakten besteht (etwa eheähnliches Lebensverhältnis, enge Freundschaft). 10<br />
An einer solch „gewachsenen“ Beziehung fehlt es bei C und F. Die fünf<br />
Beratungsgespräche genügen dafür nicht. Demnach wäre die qualifizierte<br />
Nähebeziehung zu verneinen.<br />
Das BSG hat allerdings in seiner Entscheidung zur Überkreuzlebendspende<br />
den Standpunkt vertreten, es genüge (jedenfalls in der besonderen Situation<br />
der Überkreuzspende), wenn die Beteiligten erwarten, dass ihre Beziehung in<br />
der Zukunft als eine enge fortbesteht. 11<br />
So liegt es bei C und F, die davon ausgehen, dass sie Freunde „bleiben“. Indes<br />
ist der Ansatz abzulehnen. Mag er auch in der Sache und rechtspolitisch vorzugswürdig<br />
sein, so missachtet er doch den eindeutigen Gesetzgeberwillen.<br />
Und das steht dem Rechtsanwender nicht zu, weil sich die Gesetzbindung<br />
im Sinn der Art. 97 I u. 20 III GG auf den durch Auslegung ermittelbaren<br />
Gesetzesinhalt erstreckt. 12 Es fehlt folglich am nötigen Näheverhältnis zwischen<br />
C und P. <strong>–</strong> Weil O auch diesen Umstand kannte, handelte er vorsätzlich.<br />
b) Rechtswidrigkeit<br />
Zugunsten des O könnte § 34 StGB eingreifen.<br />
aa) Objektive Rechtfertigung<br />
(1) P befand sich in einer zugespitzten Gefahr für sein Leben, die zumindest<br />
als <strong>–</strong> dem § 34 StGB genügende <strong>–</strong> gegenwärtige Dauergefahr einzustufen ist.<br />
Weil kein anderes Organ zur Verfügung stand, konnte O die für P bestehende<br />
Gefahr auch nicht anders abwenden als durch die Übertragung von C’s Niere.<br />
(2) Das Überlebensinteresse des P müsste die Allgemeininteressen am<br />
Unterbleiben der Organübertragung wesentlich überwiegen. Für P fällt mit<br />
großem Gewicht sein Lebensgrundrecht in die Waagschale. Dennoch würden<br />
einem wesentlichen Überwiegen seines Überlebensinteresses die gesetzlichen<br />
Wertungen des TPG entgegenstehen, wenn sie <strong>–</strong> so wird argumentiert<br />
<strong>–</strong> die zulässigen Organübertragungen abschließend regelten. Das ist aber<br />
nicht der Fall. Der Gesetzgeber selbst hat für den Organhandel und dort mit<br />
10 Schroth, MedR 1999, 67 f.<br />
11 BSGE 92, 19 ff. = BSG, JZ 2004, 464, 468 Anmerkung: Bei einer „Überkreuzlebendspende“<br />
spendet von zwei (meist verheirateten) Paaren jeweils<br />
der Gesunde dem Organbedürftigen des anderen Paares ein Organ. Die<br />
Gründe dafür sind medizinischer Art: Die Spender können ihrem jeweiligen<br />
(Ehe-)Partner nicht spenden, weil die Gewebe nicht kompatibel sind. <strong>–</strong><br />
Nach Auffassung des BSG ist die im Zeitpunkt der Operation in § 8 I 2 TPG<br />
geforderte „besondere persönliche Verbundenheit“ weit auszulegen, es<br />
reiche aus, dass der im Vorfeld der Transplantation tätige Arzt eine hinreichend<br />
intensive, gefestigte und auf Dauer angelegte Beziehung eindeutig<br />
feststellen konnte.]<br />
12 Vgl. bei Gutmann, in: Schroth/König/Gutmann/Oduncu, TPG, 2005,<br />
§ 8 Rn. 36 ff. <strong>–</strong> Im Ergebnis halte ich aber eine teleologische Extension<br />
der Spenderkreisbestimmung für richtig. Dieses Ergebnis angemessen zu<br />
begründen, raubt in dieser Klausur zu viel Zeit für die übrigen Probleme.
Blick auf den Organempfänger ausdrücklich die Anwendung des § 34 StGB<br />
für möglich erklärt. 13 Vor diesem Hintergrund wäre es widersprüchlich bei<br />
Überschreitung des zulässigen Spenderkreises eine Rechtfertigung des Arztes<br />
strikt auszuschließen: § 34 StGB stellt nicht ab auf die persönliche Zwangslage<br />
des Handelnden (vgl. § 35 StGB), er schließt vielmehr objektiv das Unrecht aus,<br />
er erlaubt die Tat und gilt daher (im Organhandelsfall wie sonst auch) nicht nur<br />
für den Organempfänger, sondern für jeden, der die Gefahr nicht anders ab-<br />
wenden kann. Allerdings genügt nicht schon jeder „kleine Notstand“ für die<br />
Anwendung des § 34 StGB, denn sonst würden <strong>–</strong> wegen des stets bestehenden<br />
Organmangels <strong>–</strong> die Wertungen des TPG tatsächlich leerlaufen; hinreichend ist<br />
aber jedenfalls die bei P vorliegende zugespitzte Todesgefahr.<br />
Ist demnach § 34 StGB grundsätzlich anwendbar, fällt zugunsten des P weiter<br />
entscheidend ins Gewicht, dass die Spenderkreisbegrenzung ohnehin bedenk-<br />
lich weit in das Selbstbestimmungsrecht des Spendewilligen (Art. 2 I GG) und in<br />
die Rechte des Organempfängers eingreift (Art. 2 II 1GG): Die Norm verwehrt<br />
dem unschuldig in Not geratenen Organbedürftigen die Hilfe durch einen bereitstehenden<br />
Retter. <strong>–</strong> Da zudem an der Freiwilligkeit von C’s Spendeentschluss<br />
keinerlei Zweifel bestehen, ist auch ein wesentlicher Schutzzweck des § 8 I 2 TPG<br />
nicht berührt, also eines der Allgemeininteressen gar nicht „beeinträchtigt“.<br />
Soll die Tat des O rechtmäßig genannt werden können, muss auch die Verletzung<br />
des Organhandelsverbots in die Interessenabwägung eingestellt werden.<br />
Bei der hier geprüften objektiven Rechtfertigungslage interessiert nur<br />
die Vereinbarung des Erholungsurlaubs. Der Unwert dieser Vereinbarung ist<br />
denkbar gering. Deshalb bleibt es dabei, dass das Individualinteresse des P<br />
die Allgemeininteressen wesentlich überwiegt. Denn nach § 34 StGB zählt als<br />
Abwägungsgesichtspunkt insbesondere der Grad der den Rechtsgütern drohenden<br />
Gefahren. Insoweit ist der Gefahrengrad bei P’s Überlebensinteresse<br />
sehr hoch, wohingegen die Allgemeininteressen nur ganz abstrakt gefährdet<br />
werden <strong>–</strong> letztlich lässt sich eine Beeinträchtigung der Seriosität des<br />
Transplantationswesens nicht messen. In objektiver Hinsicht liegen daher die<br />
Voraussetzungen des § 34 S. 1 StGB vor.<br />
(3) Weil eine Verletzung der Würde eines Beteiligten fernliegt, scheitert die<br />
Rechtfertigung nicht an der Angemessenheitsklausel des § 34 S. 2 StGB. 14<br />
bb) Subjektive Rechtfertigung<br />
Fraglich ist, ob sich O’s Irrtum über die vereinbarte Leistung (eine Million<br />
Euro) so auswirkt, dass er sich subjektiv kein wesentliches Überwiegen von<br />
P’s Überlebensinteresse vorstellte. Doch dürfte sich an der Bewertung nichts<br />
ändern. Der vermögende P wäre auch bei dieser Sachlage noch nicht ausgebeutet<br />
worden (und ihn vor Ausbeutung zu schützen, würde bedeuten,<br />
ihn sogar zu Tode zu schützen); obwohl C bei dem Betrag von einer Million<br />
Euro sich vielleicht hätte korrumpieren lassen, bliebe seine Entscheidung<br />
doch nach rechtlichen Kriterien „frei“ und „eigenverantwortlich“. Allein<br />
die Seriosität des Transplantationswesens hätte mehr zu leiden, wenn O’s<br />
Annahme stimmte. Doch auch dieses (immer noch) abstrakte Interesse der<br />
Gesellschaft wird wesentlich überwogen vom Überlebensinteresse des P.<br />
Denn sonst ergäbe sich am Ende, dass P sein Leben opfern muss, um aus<br />
Gründen der Nutzenmaximierung der Seriosität des Transplantationswesens<br />
zu Diensten zu sein. <strong>–</strong> § 34 S. 2 StGB steht wiederum nicht entgegen.<br />
13 Gesetzentwurf, BT-Drucksache 13/4355, S. 31 linke Spalte.<br />
14 Siehe zu dieser Deutung des § 34 S. 2 StGB bei Roxin, AT I, 2006, § 16<br />
Rn. 91 ff.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Fallbearbeitung<br />
Bearbeiterhinweis: Für den Ausschluss des vollendeten Vorsatzdeliktes<br />
kommt es nur darauf an, ob die objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes<br />
vorliegen. In objektiver Hinsicht hat O nämlich so oder<br />
so keinen Unwert geschaffen, sondern sich erlaubt verhalten (vereinbart war<br />
ja nur der Erholungsurlaub und insoweit überwiegt das Überlebensinteresse<br />
des P wesentlich). Fehlt somit das objektive Unrecht, bleibt allenfalls eine<br />
Versuchsstrafbarkeit (§ 19 Abs. 4 TPG), nicht aber das komplette Unrecht des<br />
Vorsatzdeliktes. 15<br />
c) Ergebnis<br />
Nach allem ist O nach § 34 StGB (objektiv) gerechtfertigt.<br />
Bearbeiterhinweis: Vertretbar ist auch die Verneinung des § 34 StGB.<br />
Bearbeiter, die dabei Aspekte der Menschenwürde betonen, müssen erkennen,<br />
dass nicht der subjektiv-rechtliche Gehalt des Grundrechts betroffen ist, sondern<br />
nur der objektiv-rechtliche (das Menschenbild). <strong>–</strong> Die Bearbeiter dürfen<br />
§ 8 I 2 TPG für verfassungswidrig erklären und § 34 StGB dann im Wege verfassungskonformer<br />
Auslegung anwenden.<br />
3. oRGANüBERTRAGUNG TRoTZ ENTGELTLICHER LEBEND-<br />
SPENDE DURCH DAS ENTFERNEN DER NIERE DES C (§ 18 I MIT<br />
§ 17 II TPG)<br />
a) Tatbestand<br />
aa) O hat ein Organ von C auf P „übertragen“, und dieses Organ war Gegen-<br />
stand eines Organhandels (s.o. zum Erholungsurlaub).<br />
bb) Den entsprechenden Vorsatz hatte er nur, wenn er diesen Umstand bei<br />
der Organübertragung „kannte“ (e contrario aus § 16 I 1 StGB). Weil O sich<br />
irrig eine andere Vereinbarung zwischen C und P vorstellte (eine Million<br />
Euro statt Erholungsurlaub), ist hier fraglich, welcher Umstand zum gesetz-<br />
lichen Tatbestand gehört: der abstrakte, dass C überhaupt einen unerlaubten<br />
Vorteil erhalten sollte, oder der konkrete, dass er die Erholungsreise erhal-<br />
ten sollte. Vorzugswürdig ist die abstrakte Deutung. Für den Transplanteur<br />
macht es keinen Unterschied, ob er weiß, welches Entgelt vereinbart worden<br />
ist, solange er <strong>–</strong> wie O <strong>–</strong> von einem unerlaubten Entgelt ausgeht. Denn wenn<br />
die Schwelle der Unerlaubtheit überschritten ist, darf der Transplanteur das<br />
Organ (vorbehaltlich einer Notstandslage) nicht übertragen, einerlei wie weit<br />
die Grenze des Erlaubten überschritten worden ist. Folglich „kannte“ O den<br />
Umstand, dass das Organ des C gehandelt worden ist. 16<br />
b) Rechtswidrigkeit<br />
Auch für dieses Delikt greift die Rechtfertigung gemäß § 34 StGB.<br />
Bearbeiterhinweis: Wer die Rechtfertigung nur in objektiver Hinsicht an-<br />
nimmt und also bei Unterstellung der Millionenzahlung verneint, der muss<br />
das Versuchsunrecht bejahen (§ 18 I, III TPG). <strong>–</strong> Für O wegen seines Gehaltes<br />
Organhandel zu prüfen, ist entbehrlich (vgl. § 17 I Nr. 1 TPG).<br />
15 Herzberg, JA 1986, 191, 193 f.; Frisch, Lackner-FS 1987, S. 113, 138 ff.<br />
16 Allgemein zu diesen Vorsatzfragen Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung,<br />
1996.<br />
107
108<br />
Fallbearbeitung<br />
4. KöRPERVERLETZUNGSDELIKTE DURCH DAS ENTFERNEN<br />
DER NIERE<br />
Körperverletzungsdelikte des StGB scheiden aus, weil das TPG im Verhältnis<br />
zu ihnen eine abschließende Sonderregelung trifft. Der Gesetzgeber sah mit<br />
den Strafnormen des TPG diejenigen Handlungen erfasst, die auf dem Feld der<br />
Organtransplantation Strafe verdienen. Diese und andere Differenzierungen<br />
würden ausgehebelt, wendete man die allgemeinen Körperverletzungsdelikte an. 17<br />
B. 2. HANDLUNGSABSCHNITT: DIE ENTNAHME VoN A’S HERZ<br />
(§ 212 I STGB)<br />
I. TATBESTAND<br />
Bei A handelte es sich zum Zeitpunkt der Entnahme trotz der Anenzephalie<br />
um einen lebenden Menschen, denn der Hirnstamm funktionierte noch, so-<br />
dass nicht der Ganzhirntod eingetreten war. Mit der Entnahme des Herzens<br />
hat C zurechenbar und wissentlich A’s Tod verursacht.<br />
Hinweis: Bei Säuglingen mit Anenzephalie hat sich die Schädeldecke nicht ge-<br />
schlossen und es fehlen <strong>–</strong> in unterschiedlichem Umfang <strong>–</strong> Teile des Gehirns;<br />
Ganzhirntod ist nach der Definition der Bundesärztekammer ein Zustand der<br />
irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und<br />
des Hirnstamms bei einer durch kontrollierte Beatmung noch aufrechterhal-<br />
tenen Herz- und Kreislauffunktion, beim Teilhirntod hingegen sind nur ein-<br />
zelne Teile des Gehirns erloschen <strong>–</strong> Richtlinie des Wissenschaftlichen Beirates<br />
der Bundesärztekammer vom 24.07.2002; zu den normativen Fragen des gel-<br />
tenden Rechts lesenswert Merkel, Jura 1999, 113 ff.<br />
II. RECHTSWIDRIGKEIT<br />
1. EINWILLIGUNG DER SoRGEBERECHTIGTEN ELTERN<br />
Eine Rechtfertigung wegen der Zustimmung der Eltern scheidet aus, weil<br />
diese nicht (allein aus dem Sorgerecht) die Befugnis haben, ihr Kind zum<br />
Nutzen anderer töten zu lassen.<br />
2. NoTSTAND (§ 34 STGB)<br />
a) S befand sich in einer Gefahr für sein Leben, die wegen der Unwahr-<br />
scheinlichkeit einer noch rechtzeitigen Leichenspende nicht anders abwend-<br />
bar war.<br />
b) Für S streitet <strong>–</strong> als „geschütztes“ Interesse <strong>–</strong> mit großem Gewicht sein<br />
Überlebensinteresse. Fraglich ist, welche Interessen durch die Tat des C über-<br />
haupt „beeinträchtigt“ werden: A selbst ist gar nicht in der Lage, Interessen zu<br />
haben, ihm kann nichts angetan, er kann nicht verletzt werden. A’s Eltern waren<br />
einverstanden, ihre Pietätsinteressen sind nicht betroffen.<br />
Allein fruchtbar machen kann man als beeinträchtigtes Interesse einesder<br />
17 Niedermair, Körperverletzung mit Einwilligung und die Guten Sitten,<br />
1999, S. 222 ff.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Allgemeinheit. Die Gesellschaft will nicht, dass aktiv-vorsätzliche Tötungshandlungen<br />
stattfinden. Es handelt sich um ein Interesse am Tabu, damit die<br />
Norm des Tötungsverbots möglichst ungeschmälert dasteht und eine starke<br />
(symbolische) Wirkung entfalten kann. 18 Diese Sicht ist aber mit einem Makel<br />
behaftet. Denn wenn das Tötungsverbot seinem eigentlichen Sinn nach nur<br />
die Tötung von erlebensfähigen Menschen verbietet, wie soll es dann durch<br />
die Tötung eines erlebensunfähigen Menschen in Frage gestellt werden? Es<br />
kommt hinzu, dass wäre A ganzhirntot, ihm zweifellos (mit Zustimmung der<br />
Eltern) das Herz hätte entnommen werden dürfen. Da es wie gesagt für A<br />
keinen Unterschied macht, ob sein Ganzhirntod schon eingetreten ist, müsste<br />
S bei Nichtzulassung der Herzentnahme letztlich deswegen sterben, weil die<br />
Gesellschaft einen „unbewohnten“ Organismus schützt. Und da dieser Schutz<br />
nur zur Mehrung gesellschaftlichen Nutzens gewährt wird (ungeschmälertes<br />
Verbot der aktiven Tötung), müsste S bei Nichtanwendung des § 34 StGB<br />
letztlich nur deswegen sterben, weil es anderen (der Gesellschaft) Vorteil<br />
bringt. Eine solche utilitaristische Opferung fundamentaler Interessen (hier<br />
des Lebensinteresses) zugunsten anderer ist aber selbst weitgehend tabu. Das<br />
findet etwa seinen Ausdruck in dem Lehrsatz: (erlebensfähiges) Leben gegen<br />
(erlebensfähiges) Leben sei nicht abwägbar. 19<br />
In dieser Situation entscheiden muss daher wiederum der Grad der den<br />
Interessen und Rechtsgütern drohenden Gefahren: Bei S ist die Gefahr im<br />
starken Maße zugespitzt, wohingegen die Gefahren des Tabubruchs, der<br />
vielleicht (!) zu einer Normerosion führt, denkbar abstrakt sind. In dieser<br />
Situation überwiegt daher das Lebensinteresse des S wesentlich. 20<br />
c) Die Tat des C müsste auch ein angemessenes Mittel der Gefahr-abwendung<br />
sein (§ 34 S. 2 StGB). Das wäre nur zu verneinen, wenn mit der Tat A’s<br />
Menschenwürde verletzt wird. Bei üblichem Verständnis der Menschenwürde,<br />
wonach niemand zum „bloßen Objekt“ gemacht und also nicht zu<br />
Zwecken anderer instrumentalisiert werden darf, liegt die Annahme einer<br />
Menschenwürdeverletzung zunächst nicht fern. Denn A wird ja zum Zwecke<br />
der Rettung des S getötet und im gängigen Sinn des Ausdrucks „instrumentalisiert“.<br />
Bei dieser Sicht wird aber übersehen, dass die gängige Definition<br />
auf den erlebensfähigen Menschen zugeschnitten ist, dessen Interessen man<br />
mit der Instrumentalisierung durchkreuzt. Da A aber keine Interessen hat,<br />
können auch keine Interessen durchkreuzt werden. A steht in dieser Hinsicht<br />
vielmehr dem Ganzhirntoten gleich. Und weil es bei ihm erlaubt ist, Organe<br />
zu entnehmen (§ 4 TPG), kann auch in der Entnahme des Herzens des A<br />
keine Menschenwürdeverletzung liegen. 21<br />
d) Subjektiv handelte C in Kenntnis der rechtfertigenden Umstände.<br />
e) C ist folglich nicht strafbar wegen Totschlags, sondern nach § 34 StGB<br />
gerechtfertigt.<br />
18 Merkel, Schroeder-FS 2006, S. 297, 308 f.<br />
19 Erb, in: Münchener Kommentar, StGB, Band 1, 2003, § 34 Rn. 114.<br />
20 Bearbeiterhinweis: In der Vorlesung wurde den Studierenden nahegelegt,<br />
§ 34 StGB in solchem Fall zu verneinen. Die Begründung lautete, dass über<br />
einen derartigen Tabubruch nicht der Rechts-anwender unter Anwendung<br />
des vagen § 34 StGB, sondern der Gesetzgeber unter Schaffung einer speziellen<br />
Norm entscheiden müsse (Merkel, Früh-euthanasie, 2001, S. 621 ff., 629).<br />
21 Streng genommen müsste man fragen, wer denn instrumentalisiert wird.<br />
In A’s Körper ist ja niemand anzutreffen, den man instrumentalisieren könnte.<br />
Wen könnten wir überhaupt als A auch nur ansprechen?
SACHVERHALT 1<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Fallbearbeitung<br />
examenskandidaten im Zivilrecht: „Bruno, der Problembär“<br />
von Rechtsanwalt Christian Friedrich Majer (Tübingen)<br />
In den italienischen Alpen in der Region Trentino befindet sich der Naturpark<br />
Adamello-Brenta. In diesem Park, welcher sich über eine Fläche von ca. 620<br />
km2 ausdehnt, leben die letzten in den Alpen vorkommenden Braunbären.<br />
Diese werden überwacht, bei Verhaltensauffälligkeit eingefangen und in ein<br />
Tiergehege gebracht. Der jeweilige Aufenthaltsort der Bären ist aber nicht bekannt.<br />
Im Rahmen eines EU-Projektes wurden in den slowenischen Alpen<br />
durch Mitarbeiter der dortigen Behörden gefangene Braunbären den italienischen<br />
Behörden übergeben, die die Bären im Naturpark angesiedelt haben,<br />
um die Population aufzustocken. Von den in Slowenien gefangenen Braunbären<br />
stammt auch der Braunbär JJ1, genannt „Bruno“ ab. Dieser brach im<br />
Mai 2006 aus dem Naturpark aus. Das Gebiet, auf dem sich der Naturpark befindet,<br />
steht im Eigentum der Italienischen Republik.<br />
Auf seiner Wanderung kam Bruno in die Nähe eines Dorfes bei Garmisch-<br />
Partenkirchen in Bayern. Dort sprang er plötzlich aus dem Wald auf die<br />
Straße, sodass der heranfahrende 24-jährige Autofahrer F auf die Gegenfahrbahn<br />
auswich und mit dem entgegenkommenden Radfahrer R kollidierte. R<br />
wurde schwer verletzt. Der Pkw wurde beschädigt, ebenso das darin befindliche<br />
Notebook, welches der Ehefrau des F (E) gehörte. Der Pkw stand im Eigentum<br />
des Vaters V von F, auf den der Pkw auch zugelassen war, während F<br />
den Pkw zu seiner ständigen Verfügung hatte und allein nutzte sowie für die<br />
Kosten für Benzin und Reparaturen aufkam. V bezahlte Versicherung und<br />
Steuer.<br />
Nachdem Bruno in der Folgezeit einige Schafe getötet, in mehreren Hühnerställen<br />
und Bienenstöcken in Tirol (Österreich) und Bayern Schaden angerichtet<br />
hatte, in mehreren Ortschaften aufgetaucht war und alle Fangversuche<br />
umsonst waren, wurden von den zuständigen Behörden Abschussgenehmigungen<br />
erteilt. Am 26. Juni 2006 wurde Bruno schließlich in der Nähe der<br />
Rotwand in den bayerischen Alpen unter heftigem Protest der Öffentlichkeit<br />
vom Jäger (J) erschossen. Ein Schuss mit Betäubungsmunition wäre wegen<br />
der großen Distanz nicht Erfolg versprechend gewesen. Der Kadaver wurde<br />
von Mitarbeitern des Naturschutzministeriums des Freistaates Bayern mitgenommen<br />
und dem Präparator P übergeben, welcher den Bärenkadaver zum<br />
Zwecke der Ausstellung in einem Museum präparierte, indem er das Fell<br />
gerbte und den Körper weitgehend durch ein Modell aus Kunststoff ersetzte,<br />
über welches das Fell gezogen wurde.<br />
1 Referendarsexamensklausur aus dem Bürgerlichen Recht und Internationalen<br />
Privatrecht. Thematisiert wird leicht abgewandelt die Geschichte<br />
des Bären JJ1, besser bekannt als „Bruno“, welcher im Jahr 2006 von Italien<br />
nach Bayern eingewandert und letztendlich erschossen wurde. Miteinander<br />
verknüpft zu prüfen sind Vorschriften des Sachenrechts, des gesetzlichen<br />
Schuldrechts, des BGB AT sowie des Internationalen Privatrechts.<br />
Die Klausur wurde im Examensklausurenkurs der Universität Tübingen<br />
im Sommersemester 2008 zur Bearbeitung angeboten (Bearbeitungszeit: 5<br />
Std.); Durchschnittsnote; 4,89 Punkte, Durchfallquote: 33,4 %.<br />
Christian Friedrich Majer, Jahrgang 1978, studierte an der<br />
Universität Tübingen und der FU Berlin. Nach seinem zwei-<br />
ten Staatsexamen war er als wissenschaftlicher Angestellter<br />
am Lehrstuhl Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht,<br />
Internationales Privat- und Verfahrensrecht an der Universität<br />
Tübingen beschäftigt. Mittlerweile ist er Rechtsanwalt<br />
in der Kanzlei Majer Majer Yurdakul in Tübingen sowie Lehrbeauftragter<br />
an der Universität Konstanz.<br />
Aufgabe 1: Wer ist Eigentümer des ausgestopften Tieres?<br />
Aufgabe 2: Hat die Italienische Republik einen Anspruch auf Schadensersatz<br />
gegen J?<br />
Aufgabe 3: Haben R, E und F Ansprüche auf Schadensersatz?<br />
Bearbeitervermerk: Auf alle aufgeworfenen Fragen ist ggf. hilfsgutachterlich<br />
einzugehen. Jagdrechtliche Vorschriften und Vorschriften des öffentlichen<br />
Rechts sind nicht anzuwenden. Sofern keine abweichenden Angaben vorhanden<br />
sind, ist davon auszugehen, dass das italienische und das slowenische<br />
Recht dem deutschen entsprechen.<br />
LöSUNG<br />
AUFGABE 1<br />
A. EIGENTUM AM BäRENKADAVER<br />
Fraglich ist zunächst, wer Eigentümer des ausgestopften Tieres ist.<br />
I. ANWENDBARKEIT DEUTSCHEN RECHTS<br />
Gem. Art. 43 Abs.1 EGBGB ist der Lageort maßgeblich („lex rei sitae“). Der<br />
Bärenkadaver befindet sich in Deutschland. Möglicherweise bestimmen sich<br />
die Eigentumsverhältnisse bis zur „Einwanderung“ des Bruno jedoch nach<br />
slowenischem oder italienischem Recht. Abgeschlossene Eigentumserwerbstatbestände<br />
bestimmen sich nach der Rechtsordnung, in der die Sache zum<br />
Zeitpunkt des Abschlusses belegen war. 2 Danach gilt hier slowenisches bzw.<br />
italienisches Recht für die Eigentumserwerbstatbestände auf dem Gebiet Sloweniens<br />
bzw. Italiens und deutsches Recht für die Eigentumserwerbstatbestände<br />
auf deutschem Staatsgebiet. 3<br />
I. EIGENTUM<br />
Eigentumserwerb könnte gem. §§ 953, 90a S.3 BGB durch die Geburt von Bruno<br />
2 Wendehorst, in: MüKo-BGB 4. Aufl. (2006), Art. 43 EGBGB Rn. 134.<br />
3 Entsprechend dem Bearbeitervermerk erfolgt die weitere Falllösung<br />
nach deutschem Recht.<br />
109
110<br />
Fallbearbeitung<br />
eingetreten sein. Bei den Jungen eines Tieres handelt es sich um deren Erzeugnis. 4<br />
Bruno ist also Frucht nach § 99 Abs. 1 BGB, d.h. Erzeugnis seiner Mutter und<br />
steht gem. §§ 953, 90a S.3 BGB im Eigentum ihres Eigentümers. Voraussetzung ist<br />
daher, dass die Eltern von Bruno im Eigentum der Italienischen Republik standen.<br />
a) Ursprünglich waren die Tiere herrenlos.<br />
b) Durch das Einfangen der Tiere hat Slowenien gem. §§ 958 Abs.1, 90a S.3<br />
BGB Eigentum an ihnen erworben.<br />
c) Es könnte jedoch Eigentumsverlust gem. §§ 929 S.1, 90a S. 3 BGB eingetre-<br />
ten sein. Vorausgesetzt sind Einigung und Übergabe durch Eigentümer und<br />
Erwerber. Hier wurden die Tiere zum Zwecke der Ansiedlung an die italie-<br />
nischen Behörden übergeben, Slowenien hat also gem. §§ 929 S.1, 90a S. 3<br />
BGB durch Übereignung Eigentum an Italien verloren.<br />
d) Möglicherweise hat Italien gem. § 960 Abs.1 S. 1 BGB Eigentum an den<br />
Tieren verloren, wenn der Bär als wildes Tier dadurch herrenlos geworden ist,<br />
dass er sich in Freiheit befand.<br />
aa) Das setzt voraus, dass es sich bei einem Braunbären um ein wildes Tier<br />
handelt. Diese sind als Tiere zu definieren, welche einer Art angehören, die<br />
normalerweise frei von menschlicher Herrschaft lebt. 5 Bei einem Braunbär ist<br />
das unproblematisch zu bejahen.<br />
bb) Weiter ist erforderlich, dass die Braunbären sich in Freiheit befanden. Da-<br />
ran könnten hier deswegen Zweifel bestehen, da sie in einem bestimmten be-<br />
grenzten Gebiet lebten, nämlich im Naturpark Adamello-Brenta. Demgemäß<br />
bestimmt § 960 Abs. 1 S. 2 BGB, dass Tiere in Tiergärten nicht herrenlos sind;<br />
gemeint ist damit, dass sie sich nicht in Freiheit befinden. 6 Fraglich ist, ob<br />
der Naturpark als Tiergarten i. S. d. § 960 Abs. 1 S. 2 BGB bezeichnet werden<br />
kann. Wodurch ein Tiergarten sich auszeichnet ist umstritten. Nach überwie-<br />
gender Ansicht ist darauf abzustellen, ob es sich um ein eingehegtes Gelände<br />
handelt, welches nach Art und Größe einen gezielten Zugriff auf das Tier er-<br />
möglicht. 7 Danach ist der Naturpark wegen seiner Größe und mangels Ein-<br />
hegung kein Tiergarten i. S. d. § 960 Abs. 1 S. 2 BGB. Die Überwachung der<br />
Bären ändert daran nichts, da ein Zugriff auf das Tier nicht ohne Weiteres<br />
möglich ist.<br />
cc) Die Eltern des Bruno wurden also gem. § 960 Abs. 1 S. 1 BGB herren-<br />
los durch das Ansiedeln im Naturpark Adamello-Brenta. Daher hat die Italie-<br />
nische Republik nicht gem. §§ 953, 90a S. 3 BGB Eigentum an Bruno erworben.<br />
3. Möglicherweise hat J durch den Abschuss des Bären gem. § 958 Abs. 1 BGB<br />
durch Gesetz Eigentum erworben. Das setzt voraus, dass er tatsächlich Eigen-<br />
besitz am Bären erlangte. Ob ein Jäger durch Tötung des Wildes Besitz er-<br />
langt, ist umstritten. Das Schießen des Bären allein ist kein ausreichender Be-<br />
4 Jickeli/Stieper, in: BGB (2004), § 99 Rn. 7 Holch, in: MüKo-BGB 5. Aufl. (2006),<br />
§ 99 Rn. 2; Fritzsche, in: Bamberger/Roth BGB 2. Aufl. (2008) § 99 Rn. 4.<br />
5 Gursky, in: Staudinger BGB (1995), § 960 Rn. 1; Bassenge, in: Palandt-<br />
BGB, § 960 Rn. 1; Baur/Stürner Sachenrecht 18. Aufl. (2009), § 53 Rn. 68;<br />
Kindl, in: Bamberger/Roth BGB 2. Aufl. (2008), § 960 Rn. 1.<br />
6 Gursky, in: Staudinger BGB (1995), § 960 Rn. 7; Henssler, in: Soergel BGB<br />
13. Aufl. (2002), § 960 Rn. 2.<br />
7 Oechsler, in: MüKo-BGB 5. Aufl. (2006), § 960 Rn. 3; Gursky, in: BGB<br />
(1995), § 960 Rn. 6; Henssler, in: Soergel BGB 13. Aufl. (2002), § 960 Rn. 3;<br />
Wolff/Raiser, Sachenrecht, § 80 II 1.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
sitzerwerbstatbestand, hinzutreten müsste Eigenbesitz gem. § 872 BGB, etwa<br />
durch tatsächliche Gewalt über die Sache sowie eine Aneignungsberechti-<br />
gung im Jagdrevier, § 958 Abs. 2 BGB. So wird eine Besitzbegründung bei-<br />
spielsweise dann angenommen, wenn ein Tier sich in der Falle des Jägers be-<br />
findet und sich daraus nicht befreien kann. 8 Hier jedoch besteht keine Zuord-<br />
nung wie sie durch die Falle verkörpert wird. J hat also keinen Besitz und da-<br />
mit nicht gem. § 958 Abs.1 BGB Eigentum erworben.<br />
3. Möglicherweise hat der Freistaat Bayern Eigentum gem. § 958 Abs. 1 BGB<br />
an dem Tierkadaver erworben. Die Bergung des Tieres durch die Mitarbei-<br />
ter des Naturschutzministeriums stellt eine tatsächliche Inbesitznahme, mit-<br />
hin eine Aneignung dar; Eigentumserwerb gem. § 958 Abs. 1 BGB ist also zu<br />
bejahen.<br />
Zwischenergebnis: Der Freistaat Bayern ist Eigentümer des Bärenkadavers.<br />
4. P könnte durch das Präparieren des Bärenkadavers gem. § 950 Abs. 1 BGB<br />
Eigentum erworben haben.<br />
a) Das setzt zunächst voraus, dass es sich bei dem ausgestopften Tier um eine<br />
neue Sache handelt. In welchen Fällen eine Sache als neu anzusehen ist, ist<br />
gesetzlich nicht definiert. Die herrschende Meinung stellt dabei auf die Verkehrsanschauung<br />
ab. 9 Danach soll es insbesondere ein Indiz sein, ob die Sache<br />
einen neuen Namen erhält10 und ob die Sache einem neuen Verwendungszweck<br />
dient. 11 Danach ist hier das Vorliegen einer neuen Sache fraglich. Dafür<br />
spricht, dass die meisten Teile des Tierkadavers durch Kunststoff ersetzt wurden<br />
und so schon bereits von der ursprünglichen Sache nur noch ein geringer<br />
Teil in der neuen Sache vorhanden ist. Dagegen spricht, dass die Sache ihrer<br />
äußerlichen Gestalt nach weitgehend identisch ist und auch gerade identisch<br />
sein soll. Die Sache dient auch keinem neuen Verwendungszweck; sie soll lediglich<br />
eine dauerhafte Ausstellung der alten Sache ermöglichen. Auch erhält<br />
die Sache keinen neuen Namen. Die besseren Gründe sprechen also dafür,<br />
hier keine neue Sache anzunehmen (a. A. genauso gut vertretbar).<br />
Hilfsgutachten:<br />
b) Der Verarbeitungswert darf weiter nicht erheblich hinter dem Stoffwert zurückbleiben.<br />
Der Verarbeitungswert wird ermittelt, indem man die Differenz<br />
zwischen dem Wert der neuen Sache und dem Stoffwert bildet. 12 Da der Stoffwert<br />
des Kunststoffs und des Fells im Hinblick auf die Nutzbarkeit des Präparats<br />
als Ausstellungsstück deutlich geringer ist als der Wert der neuen Sache,<br />
ist der Verarbeitungswert hier relativ hoch; er bleibt jedenfalls nicht erheblich<br />
hinter dem Stoffwert zurück.<br />
8 Gursky, in: Staudinger BGB 1995, § 958 Rn. 5; RGSt 32, 164 (164f.) ; KG<br />
JW 1926, 2647 (2647); a. A. Bassenge, Palandt § 958 Rn. 3 f.<br />
9 BGHZ 20 159 (163) = NJW 1956 788 (789); OGH OGHZ 3, 348 (351) = NJW 1950<br />
542; OLG Köln NJW 1997, 2187 (2187); CR 1996, 600 (601); NJW 1991, 2570 (2570);<br />
KG NJW 1961, 1026 (1026); OLG Stuttgart NJW 1952 ,145 (145); Baur/Stürner § 53<br />
Rn. 18; Henssler, in: Soergel BGB, § 950 Rn. 7; Füller, in: MüKo-BGB, § 950 Rn. 7 f.<br />
10 Baur/Stürner, § 53 Rn. 18; Ebbing, in: Erman, § 950 Rn. 4; Henssler, in:<br />
Soergel BGB, § 950 Rn. 7; Wiegand, in: Staudinger BGB, § 950 Rn. 9.<br />
11 Füller, in: MüKo-BGB, § 950 Rn. 8; Ebbing, in: Erman BGB, § 950 Rn. 4.<br />
12 BGHZ 18, 226 (226f.); 56, 88 (89); Wiegand, in: Staudinger BGB § 950 Rn.<br />
11; Baur/Stürner, § 53 Rn. 19; Henssler, in: Soergel BGB, § 950 Rn. 9; Westermann,<br />
Sachenrecht, § 53 II 4.
c) Weiter ist hier fraglich, wer als Hersteller anzusehen ist (Bearbeitervermerk:<br />
Die umstrittene Frage, ob die Herstellereigenschaft durch eine Vereinbarung<br />
modifiziert werden kann, 13 ist hier nicht relevant, da eine solche Vereinbarung<br />
hier nicht getroffen wurde). Die Herstellereigenschaft ist objektiv nach wer-<br />
tenden Kriterien zu entwickeln. Danach ist Hersteller, wer unabhängig von der<br />
tatsächlichen Verarbeitungshandlung den Verarbeitungsvorgang steuert und<br />
das Produktions- und Absatzrisiko trägt. 14 Hier steuert P den Verarbeitungsvorgang<br />
eigenverantwortlich; das Produktions- und Absatzrisiko liegt jedoch beim<br />
Auftraggeber, da das Präparat in jedem Fall ausgestellt werden sollte. Das spricht<br />
eher dafür, den Freistaat Bayern als Hersteller anzusehen (a. A. vertretbar).<br />
III. ENDERGEBNIS<br />
Der Freistaat Bayern ist Eigentümer des Tieres.<br />
AUFGABE 2<br />
A. ANWENDBARKEIT DEUTSCHEN RECHTS<br />
Die Anwendbarkeit deutschen Rechts bestimmt sich hier nach der Rom-II-<br />
Verordnung, Art. 1 Abs. 1. Maßgeblich gem. Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO ist das<br />
Recht des Staates des Ortes, an dem der Schaden eingetreten ist bzw. gem. Art.<br />
11 III Rom-II-VO das Recht, in dem die Geschäftsführung erfolgte; Art. 11<br />
Abs. 1 und Abs. 2 sind nicht einschlägig, da weder an ein bestehendes Rechtsverhältnis<br />
angeknüpft noch beide Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt in<br />
einem Staat haben. Da der Schaden in Deutschland eingetreten ist bzw. die<br />
Geschäftsführung in Deutschland erfolgte, ist deutsches Recht gem. Art. 4<br />
Abs. 1 bzw. Art. 11 III Rom-II-Verordnung anwendbar.<br />
B. ANSPRUCH AUS §§ 687 ABS. 2, 677, 280 ABS. 1 BGB<br />
Ein Anspruch könnte sich hier aus Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) gemäß<br />
§§ 687 Abs. 2, 677, 280 Abs. 1 BGB ergeben. Das setzt allerdings voraus,<br />
dass es sich bei dem Abschuss des Bären um ein fremdes Geschäft handelt.<br />
Ein fremdes Geschäft ist ein Geschäft, das (zumindest auch) 15 im Interesse<br />
und Rechtskreis eines Anderen als des Geschäftsführers liegt. 16 Das könnte<br />
hier allein dann zu bejahen sein, wenn die Italienische Republik als Tierhalter<br />
i .S. d. § 833 BGB anzusehen wäre und sie durch den Abschuss vor weiterer<br />
Haftung bewahrt würde. Das ist zweifelhaft (s. u.); in diesem Fall wäre<br />
allerdings auch eine Pflichtverletzung zu verneinen, da der dann erfolgte Abschuss<br />
im Interesse der Republik Italien liegt. Ein Anspruch aus §§ 687 Abs. 2,<br />
677, 280 Abs. 1 BGB besteht somit nicht.<br />
C. ANSPRUCH AUS § 823 ABS. 1 BGB<br />
In Betracht komm hier ferner ein Anspruch der Italienischen Republik auf<br />
Schadensersatz aus § 823 Abs. 1 BGB.<br />
13 Dafür BGHZ 20, 159 (163 f.); kritisch dazu Medicus/Petersen, Bürgerliches<br />
Recht, Rn. 515 ff. und Wiegand, in: Staudinger, § 950 Rn. 34.<br />
14 Bassenge, Staudinger, § 950 Rn. 8; Kindl, in: Bamberger/Roth BGB, § 950<br />
Rn. 9; Ebbing, in: Erman, § 950 Rn. 7.<br />
15 BGHZ 110, 313; BGH NJW 2000, 72.<br />
16 Prütting/Weigend/Weinreich BGB (2010), § 677 Rn. 12 ff.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Fallbearbeitung<br />
I. Das setzt voraus, dass ein von § 823 Abs. 1 BGB geschütztes Rechtsgut verletzt<br />
wurde. Eigentum der Italienischen Republik am Bären bestand nicht (s.<br />
o.). Ein als Individualrechtsgut geschütztes Recht auf Naturgenuss existiert<br />
nicht. 17 Ein Rechtsgut i. S. d. § 823 Abs.1 BGB wurde also nicht verletzt.<br />
Hilfsgutachten:<br />
II. Unterstellt, ein Rechtsgut i. S. d. § 823 Abs.1 BGB wäre verletzt, ist zu prüfen,<br />
ob die Tötung des Bären gerechtfertigt war.<br />
1. Eine Rechtfertigung aufgrund der Abschussgenehmigung kommt nicht in<br />
Betracht, da diese nicht vom einwilligungsberechtigten Eigentümer erlassen<br />
wurde.<br />
2. Eine Rechtfertigung gem. § 227 BGB (Notwehr) kommt ebenfalls nicht in<br />
Betracht, da ein gegenwärtiger Angriff nicht vorlag.<br />
3. Möglicherweise ist J jedoch gemäß § 228 BGB (defensiver Notstand) gerechtfertigt.<br />
a) Das setzt zunächst eine Gefahr für ein beliebiges Rechtsgut voraus; anders<br />
als bei § 227 BGB ist eine gegenwärtige Gefahr nicht erforderlich. Ausreichend<br />
ist, dass eine Schädigung des bedrohten Gutes als sehr wahrscheinlich anzusehen<br />
ist. 18 Hier hat der Bär bereits mehrmals Schafe und weitere Tiere getötet;<br />
es ist sehr wahrscheinlich, dass er das wieder tun würde. Ob auch eine Gefahr<br />
für den Menschen vorlag, ist demgegenüber zweifelhaft: Einerseits hatte<br />
er noch keine Menschen angegriffen, andererseits war er bereits mehrmals<br />
in Ortschaften angetroffen worden. Letztlich kommt es aber darauf nicht an.<br />
b) Die Gefahr muss ferner von der Sache ausgehen, welche beschädigt wird;<br />
dabei kommen gem. § 90a S. 3 BGB auch Tiere als Gefahrenquelle in Betracht.<br />
19 Hier ging die Gefahr von dem getöteten Bären aus.<br />
c) Bei dem Abschuss des Bären müsste es sich um eine erforderliche und verhältnismäßige<br />
Notstandshandlung handeln.<br />
aa) Die Notstandshandlung muss zunächst objektiv erforderlich gewesen<br />
sein. Das ist zu verneinen, wenn ein milderes Mittel zur Abwendung der Gefahr<br />
bestand. Hier waren jedoch sämtliche Fangversuche umsonst, auch ein<br />
Schuss mit Betäubungsmunition wäre nicht Erfolg versprechend gewesen.<br />
Das Zuwarten, um einen Schuss mit Betäubungsmunition abzugeben oder einen<br />
weiteren Fangversuch zu unternehmen, hätte die Gefahr nicht beseitigt,<br />
es bestand die konkrete Möglichkeit weiterer Schäden durch Bruno.<br />
bb) Die Notstandshandlung müsste weiter verhältnismäßig gewesen sein. Dabei<br />
ist erforderlich, dass der durch die Notstandshandlung angerichtete Schaden<br />
nicht außer Verhältnis zu der dem bedrohten Rechtsgut drohenden Gefahr<br />
steht.<br />
17 VGH München Beschl. vom 18.3.2008 AZ 14 ZB 07.1609 (zu diesem Fall).<br />
18 Repgen, in: Staudinger, § 228 Rn. 13; Grothe, in: MüKo-BGB, § 228 Rn. 7;<br />
Fahse, in: Soergel, § 228, Rn 12.<br />
19 Wagner, in: Erman BGB, § 228 Rn. 4; Fahse, in: Soergel, § 228 Rn. 13;<br />
Grothe, in: MüKo, § 228 Rn. 17.<br />
111
112<br />
Fallbearbeitung<br />
Fraglich ist, wie die Interessen hier zu bestimmen sind. Sachgüter werden<br />
grundsätzlich nach ihrem materiellen Wert bemessen; das gilt gem. § 90a S.<br />
3 BGB auch für Tiere. Allerdings findet insbesondere bei Tieren auch ein be-<br />
rechtigtes Affektionsinteresse Berücksichtigung. 20 Problematisch ist jedoch,<br />
ob dieses wirklich besteht. Das Affektionsinteresse an einem Tier gründet<br />
sich auf einer besonderen Beziehung des Menschen gerade zum konkreten<br />
Tier, insbesondere aufgrund langjähriger emotionaler Bindung. Hier jedoch<br />
bestand eine solche gerade nicht. Die emotionale Zuwendung großer Teile<br />
der Öffentlichkeit zum Bären beruhte lediglich auf Presseberichterstattung,<br />
eine besondere Beziehung zum Bären war bei keiner der Personen gegeben.<br />
Ein berechtigtes Affektionsinteresse an Bruno bestand daher nicht. Die Wer-<br />
termittlung bestimmt sich also allein nach dem materiellen Wert. Ein wilder<br />
Braunbär weist jedoch keinen besonderen Marktwert auf, jedenfalls ist dieser<br />
durch die Tötung nicht nennenswert verringert worden. Demgegenüber be-<br />
steht ein gewisser materieller Wert hinsichtlich der bedrohten Schafe, Hüh-<br />
ner und Bienen. Deren Wert war in jedem Fall wesentlich höher als der Wert<br />
des Bären anzusehen.<br />
Die Notstandshandlung war also auch verhältnismäßig.<br />
d) Die Tötung des Bruno war gem. § 228 S. 1 BGB gerechtfertigt.<br />
III. Ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 Abs. 1 BGB besteht daher<br />
ebenfalls nicht.<br />
D. ERGEBNIS<br />
Die italienische Republik hat keinen Anspruch auf Ersatz des Schadens gegen J.<br />
AUFGABE 3<br />
A. ANWENDBARKEIT DEUTSCHEN RECHTS<br />
Die Anwendbarkeit deutschen Rechts bestimmt sich hier nach der Rom-II-<br />
Verordnung, Art. 1 Abs. 1 Rom-II-Verordnung. Maßgeblich gem. Art. 4 Abs. 1<br />
Rom-II-VO ist das Recht des Staates des Ortes, an dem der Schaden einge-<br />
treten ist. Da der Schaden in Deutschland eingetreten ist, ist deutsches Recht<br />
gem. Art. 4 Abs. 1 Rom-II-Verordnung anwendbar.<br />
B. ANSPRüCHE DES R GEGEN F<br />
I. ANSPRUCH AUS § 7 ABS. 1 STVG<br />
1. Eine Körperverletzung liegt hier bei R vor.<br />
2. Diese erfolgte auch unproblematisch bei Betrieb des Kfz.<br />
3. Fraglich ist, ob F auch als Halter anzusehen war. Halter ist, wer das Kfz für ei-<br />
gene Rechnung gebraucht, d. h. die Kosten bestreitet und die Nutzungen zieht. 21<br />
20 OLG Koblenz NJW-RR 1989, 541 (541); Repgen, in: Staudinger § 228 Rn.<br />
31; Wagner, in: Erman BGB, § 229 Rn. 7; Grothe, in: MüKo, § 228 Rn. 10.<br />
21 BGHZ 87, 133 (134); OLG Düsseldorf NZV 1991, 39 (39 f.); König, in: Hentschel/<br />
König/Dauer Straßenverkehrsrecht 40. Aufl. (2009), § 7 StVG Rn. 14; Burmann,<br />
in: Jagow/Burmann/Heß Straßenverkehrsrecht 20. Aufl. (2008), § 7 StVG Rn. 5.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Demgegenüber ist nicht entscheidend, wer Eigentümer des Fahrzeugs ist 22<br />
und auch nicht, wer die fixen Kosten als derjenige, auf den der Pkw zugel-<br />
assen wurde, trägt. 23 F hat die ständige Verfügungsgewalt über den Pkw und<br />
trug auch die ständigen Kosten; er ist damit auch als Halter anzusehen.<br />
4. Möglicherweise ist jedoch die Haftung gem. § 7 Abs. 2 StVG wegen höherer<br />
Gewalt ausgeschlossen. Höhere Gewalt i. S. d. § 7 Abs. 2 StVG wird allgemein<br />
in Übernahme der Definition aus § 1 Abs. 2 S. 1 HaftpflichtG definiert als ein<br />
betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Hand-<br />
lungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Ein-<br />
sicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mit-<br />
teln auch durch äußerste Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht<br />
werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit in Kauf zu nehmen ist. 24<br />
Beim plötzlichen Sprung eines Bären auf die Fahrbahn handelt es sich zwar<br />
um ein von außen einwirkendes, betriebsfremdes Ereignis, womit auch nicht<br />
gerechnet werden kann, jedoch besteht insoweit kein Unterschied zum plötz-<br />
lichen Auftauchen eines Hirsches oder sonstigen größeren Tieres, welches<br />
wegen seiner Häufigkeit nicht als außergewöhnlich bezeichnet werden kann. 25<br />
Höhere Gewalt i. S. d. § 7 Abs. 2 StVG liegt also nicht vor.<br />
III. R hat gegen F also einen Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG. Der Anspruch<br />
umfasst gem. § 11 S. 1 StVG Heilungskosten und Erwerbsausfall, sofern die-<br />
ser angefallen ist sowie gem. § 11 S. 2 StVG i. V. m. § 253 Abs.1 BGB auch<br />
„Schmerzensgeld“; der Anspruch ist allerdings begrenzt gem. § 12 Abs.1 Nr. 1<br />
StVG auf einen Betrag von 600.000 €.<br />
II. WEITERE ANSPRüCHE AUS DELIKT<br />
Ein Anspruch aus Fahrerhaftung gem. § 18 Abs. 1 S. 1 StVG besteht ebenso<br />
wenig wie ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB besteht, da hier weder Vorsatz<br />
noch Fahrlässigkeit bei F vorliegt.<br />
C. ANSPRüCHE DER E GEGEN F<br />
I. ANSPRUCH AUS § 280 ABS. 1 BGB<br />
Ein Anspruch auf Schadensersatz aus Vertrag aus § 280 Abs. 1 BGB besteht -<br />
unabhängig davon, ob hier ein Schuldverhältnis überhaupt vorliegt - mangels<br />
Verschuldens des F nicht.<br />
II. ANSPRUCH AUS § 823 ABS.1 BGB<br />
Ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB besteht ebenfalls mangels Vorsatzes oder<br />
Fahrlässigkeit nicht.<br />
22 OLG Karlsruhe NZV 1988, 191; OLG Köln VRS 85 (1994), 209; König, in:<br />
Hentschel/König/Dauer, § 7 StVG Rn. 14.; Burmann, in: Jagow/Burmann/<br />
Heß, § 7 StVG Rn. 5.<br />
23 OLG Karlsruhe NZV 1988, 191, (191 f.); König, in: Hentschel/König/<br />
Dauer, § 7 StVG Rn. 14.<br />
24 BGHZ 7, 338, (338 f.); 62, 351 (354); 109, 8 (14 f); Burmann, in: Jagow/Burmann/Heß,<br />
§ 7 StVG Rn. 18; König, in: Hentschel/König/Dauer, § 7 StVG Rn. 32.<br />
25 BGH NVZ 2008, 79 (80); König, in: Hentschel/König/Dauer, § 7 StVG Rn. 35.
III. ANSPRUCH AUS § 7 ABS. 1 STVG<br />
Fraglich ist, ob E gegen F einen Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG hat. Hier<br />
handelt es sich bei dem Notebook um eine Sache, welche im Kfz befördert<br />
wurde; die Vorschrift des § 7 Abs.1 StVG ist damit gemäß § 8 Nr. 3 StVG nicht<br />
anwendbar.<br />
D. ANSPRüCHE DER E GEGEN DIE ITALIENISCHE REPUBLIK<br />
In Betracht kommt lediglich ein Anspruch auf Haftung des Tierhalters aus<br />
§ 833 S. 1 BGB. Das setzt voraus, dass es sich bei der Italienischen Republik<br />
um den Halter des Bären handelte. Der Halterbegriff des § 833 BGB ist unab-<br />
hängig von der Eigentumslage; diese ist allenfalls ein Indiz. 26 Dass Bruno zur<br />
Zeit des Unfalls nicht mehr in der Einflusssphäre der Italienischen Republik<br />
stand, spielt ebenfalls keine Rolle; die Halterhaftung besteht auch bei entlau-<br />
fenen Tieren fort. 27 Maßgeblich ist vielmehr, ob die Italienische Republik über<br />
die Existenz des Tieres und seine Aktivitäten bestimmen konnte sowie für<br />
26 Sprau, in: Palandt, § 833 Rn. 10; Wagner, in: MüKo, § 833 Rn. 23; Krause,<br />
in: Soergel, § 833 Rdnr. 12.<br />
27 Larenz/Canaris 13. Aufl. Bd. II/2, § 84 II 1 b S. 615; Wagner, in: MüKo,<br />
§ 833 Rn. 25; Krause, in: Soergel, § 833 Rn. 13; Schiemann, in: Erman,<br />
§ 833; Rn. 8.<br />
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<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Fallbearbeitung<br />
die Gewährung von Unterhalt und Obdach verantwortlich war. 28 Nach die-<br />
sen Kriterien ist eine Haltereigenschaft hier zweifelhaft. Zwar bestand in ge-<br />
wissem Sinne eine Herrschaft der Italienischen Republik über das Tier, da es<br />
sich auf der Fläche des Naturparks aufhielt; zudem wurde es, wie alle anderen<br />
Braunbären, überwacht. Jedoch war ein Zugriff auf das Tier nicht ohne wei-<br />
teres möglich, ein Aufkommen für Unterkunft und Obdach lag hier ebenfalls<br />
nicht vor. Somit ist die Italienische Republik nicht als Halter des Bären scha-<br />
densersatzpflichtig gem. § 833 S. 1 BGB.<br />
E. ANSPRüCHE DES F GEGEN DIE ITALIENISCHE REPUBLIK<br />
Ein Anspruch des F aus § 833 S.1 BGB kommt aus diesem Grund ebenfalls<br />
nicht in Betracht.<br />
F. ENDERGEBNIS<br />
R hat gegen F einen Anspruch auf Schadensersatz aus § 7 Abs. 1 StVG.<br />
28 BGH VersR 1956, 574 (574); NJW 1977, 2158 (2158); Wagner, in: MüKo,<br />
§ 833 Rn. 23; Eberl-Borges, in: Staudinger BGB (2008), § 833 Rn. 74 f.<br />
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113
114<br />
„Arbeitnehmer<br />
dürfen nicht getreten<br />
werden“<br />
Lustiges und Kurioses aus der Rechtsprechung<br />
Zugegeben: Der berufliche Alltag eines Richters oder Anwalts ist nicht<br />
selten von eher routine- und standardmäßigen Fällen gesäumt. Da<br />
bilden auch die Gerichtsverhandlungen nur selten eine Ausnahme. Aber<br />
manchmal tun sie es eben doch! Da gibt es Tage, an denen sich ein Richter bei<br />
der Urteilsverkündung ein Lächeln nicht verkneifen kann, die gegnerischen<br />
Anwälte sich beim Verlassen des Sitzungssaales schmunzelnd die Hände<br />
reichen und der Vertreter der Presse am liebsten mit Smileys in seinem Arti-<br />
kel arbeiten würde, um dem geneigten Leser die Stimmung besser vermitteln<br />
zu können. Nachfolgend werden Antworten auf vermeintlich kuriose Fragen<br />
gegeben, die nicht selten im eigenen Leben von Bedeutung werden können.<br />
Vorsicht beim Luftgitarre-Spielen<br />
Verletzt jemand einen anderen dadurch, dass er beim „Luftgitarre“-Spielen<br />
das Gleichgewicht verliert, weil er sich dabei zu weit über einen Mitspieler<br />
gebeugt hat, und schließlich auf ihn gefallen ist, haftet er dem Verletz-<br />
ten aus § 823 BGB, denn er ist für das die Sturzgefahr begründende Verhalten<br />
verantwortlich. Der Geschädigte Spieler erlitt hierbei Rotationstraumata bei-<br />
der Kniegelenke. Das OLG Hamm befand, dass eine etwaige Einwilligung des<br />
Spielers in eine Gefährdung nicht in Betracht kommt, da das Luftgitarre-Spie-<br />
len keine Sportveranstaltung darstellt, auf welche diese Grundsätze Anwen-<br />
dung finden würden. OLG Hamm v. 15.09.2009, 9 U 230/08<br />
E-Mail mit obszönem Anhang kann<br />
Dienstunfall begründen<br />
Das Öffnen einer E-Mail und eines Dateianhangs durch einen Polizisten,<br />
die ihm im Dienst auf dienstlichen Computern von seinem Vorgesetzten<br />
geschickt worden war, kann ein plötzliches, auf äußerer Einwirkung be-<br />
ruhendes, in zeitlicher und örtlicher Hinsicht bestimmbares Ereignis, das in<br />
Ausübung des Dienstes eingetreten ist, darstellen. Eine dadurch entstandene<br />
psychische Erkrankung kann ein Körperschaden i.S.d. § 31 Absatz 1 BeamtVG<br />
sein. Unter dem Betreff „WG: Highlight zum Wochenende“ wurde dem<br />
Beamten in der Anlage eine Power-Point-Präsentation mit der Darstellung einer<br />
unbekleideten Frau an einem Sportwagen zugesandt, welche in der Abbildung<br />
des Unterleibes einer weiblichen Person mit eitrigen, blutigen Wunden<br />
etc. gegipfelt sei. Der Empfänger dieser E-Mail habe sich die Präsentation angesehen<br />
und sei erschrocken, als er das stark Ekel erregende Bild am Ende der<br />
Präsentation gesehen habe. Seit diesem Tage sei ihm dieses Bild nicht mehr<br />
aus dem Kopf gegangen und habe ihn sehr belastet, was sich auch sehr negativ<br />
auf sein Privatleben ausgewirkt habe. Hierdurch sei eine Zwangsstörung<br />
mit vorwiegend Zwangsgedanken, und damit ein Körperschaden, wesentlich<br />
verursacht worden. Vor dem Unfall habe er nie an einer psychiatrischen<br />
Erkrankung gelitten und sei deswegen auch noch nie in ärztlicher Behandlung<br />
gewesen. Das beklagte Land wurde daher verpflichtet, das Öffnen der<br />
E-Mail seines damaligen Vorgesetzten und insbesondere des Dateianhangs<br />
als Dienstunfall anzuerkennen. VG Düsseldorf v. 02.11.2010, 23 K 5235/07<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Der Stiel unterscheidet einen Lutscher vom Bonbon<br />
und ist damit keine Verpackung<br />
Ein Lutscherstiel ist originärer und wesensmäßiger Bestandteil des Produkts<br />
Lutscher bzw. Lolly und kann daher nicht Verpackungsbestandteil<br />
sein, da es sich bei dem Stiel nicht um eine bloße Handhabungshilfe<br />
handelt. Das OLG Köln hat daher festgestellt, dass ein Lizenzentgeltnehmer<br />
für Verpackungsmaterial nicht berechtigt ist, von dem Lollyhersteller nach<br />
Maßgabe des Zeichennutzungsvertrages für das Zeichen „Der Grüne Punkt“<br />
ein Lizenzentgelt gem. § 4 dieses Vertrages für „Lollystiele“ zu verlangen. Ein<br />
Lizenentgeld darf daher nur auf das Plastik um den essbaren Teil erhoben<br />
werden, nicht aber für den Stiel. Ein Lolly ist eben ein Lolly und ein Bonbon<br />
ein Bonbon. OLG Köln v. 03.05.2001, 1 U 6/01<br />
Eltern dürfen mitunter mittels „Fingerpistole“<br />
bei Singspiel „erschossen“ werden<br />
Der siebenjährige Kläger, vertreten durch seine Eltern, wollte vom Veranstalter<br />
eines Zeltlagers, an dem er mit seinem Vater teilgenommen<br />
hatte, Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 5.000 Euro einklagen. Hierzu<br />
Jura vom<br />
„Hören-Sagen“<br />
Der Sommer naht mit großen Schritten - für viele Studenten und Referendare<br />
geht er allerdings auch mit Klausuren und Hausarbeiten einher. Oftmals streiten<br />
sich sodann zwei Wesen auf ihren Schultern - Engel links, Teufel rechts -<br />
um die Antwort auf die Frage: Kann ich mir einen Tag am See oder im Freibad<br />
erlauben? Die Anbieter juristischer Lernmaterialien haben sich den Entwicklungen<br />
auf dem Büchermarkt angenommen und sich auf das Gebiet der<br />
stark im Kommen befindlichen Hörbücher gewagt. Diese Hörbücher stellen<br />
die perfekte Alternative oder Ergänzung für jeden dar, der seine Augen einmal<br />
schonen möchte oder schlichtweg in Situationen lernen möchte, in denen<br />
das Lesen unmöglich ist, wie z.B. beim Autofahren, Radfahren oder Joggen.<br />
Vorliegend werden die Hör-Materialien von Hemmer/Wüst und Niederle Media<br />
vorgestellt.<br />
Die Materialien von Hemmer/Wüst nennen sich Audio-Cards und wurden<br />
in Zusammenarbeit mit dem Verlag Ohrenmenschen produziert. Bisher werden<br />
die Bereiche BGB-AT, Schuldrecht, Sachenrecht, Deliktsrecht, Bereicherungsrecht<br />
und Staatsrecht angeboten; die Themengebiete Zivilprozessrecht,<br />
Strafrecht und weitere sind noch für diesen Herbst geplant. Die Audio-Cards<br />
können sowohl über den Shop des Verlages Ohrenmenschen, als<br />
auch den von Hemmer/Wüst bestellt werden; die praktische Option des On-
ehauptete er, ein Singspiel, bei dem sein Vater mitgewirkt hatte, habe bei ihm<br />
ein schweres Trauma ausgelöst. Im Rahmen dieses Singspiels wurde der Va-<br />
ter des Klägers von einem Mädchen mittels „Fingerpistole“ schauspielerisch<br />
erschossen. Der Kläger und seine Eltern vertraten die Ansicht, dass er da-<br />
durch ganz erhebliche psychische Beeinträchtigungen erlitten habe. Der Zelt-<br />
lagerveranstalter verteidigte sich damit, dass das Singspiel seit Jahrzehnten<br />
ohne gesundheitliche Beeinträchtigung für Teilnehmer oder Zuschauer auf-<br />
geführt werden konnte. Auch waren nach dem Singspiel weder am Kläger<br />
noch an seinem Vater eine nachteilige Veränderung festgestellt worden. Das<br />
LG Coburg hat die Klage auf Schmerzensgeld abgewiesen. Das OLG Bamberg<br />
machte deutlich, bei Kindern im Alter von sieben Jahren könne vorausgesetzt<br />
werden, dass sie zwischen Spiel und Realität unterscheiden können und<br />
daher nicht damit gerechnet werden könne, dass ein Kind eine posttraumatische<br />
Belastungsstörung durch einen solchen Vorfall erleide. Auch die Mitwirkung<br />
des Vaters am Singspiel spreche dafür, dass die behaupteten Auswirkungen<br />
nicht vorhersehbar waren. OLG Bamberg v. 05.01.2011, 5 U 159/1010<br />
Für alle Berufseinsteiger:<br />
Arbeitnehmer dürfen nicht getreten werden!<br />
Der Tritt ins Gesäß der unterstellten Mitarbeiterin gehört auch dann<br />
nicht zur „betrieblichen Tätigkeit“ eines Vorgesetzten, wenn er mit der<br />
Absicht der Leistungsförderung oder Disziplinierung geschieht. Daher sperrt<br />
§ 105 Abs. 1 SGB VII nicht Ansprüche auf Schadensersatz, insbesondere auf<br />
Schmerzensgeld. Für eine durch den Tritt verursachte Steißbeinfraktur, verbunden<br />
mit sechswöchiger Krankschreibung und fünftägiger stationärer<br />
Nachbehandlung, können DM 3.000,-- als Schmerzensgeld angemessen sein.<br />
Landesarbeitsgericht Düsseldorf v. 05.1998, 12 (18) Sa 196/98<br />
line-Downloads wird ebenfalls angeboten. Die Dateien sind alle im mp3-For-<br />
mat und im Frage-Antwort-Stil aufgebaut. Eine freundliche Männerstimme<br />
stellt die Fragen, danach ertönt ein kurzer Gong, der es einem ermöglicht,<br />
sich selbst Gedanken über die Antwort zu machen und schließlich beantwortet<br />
eine Frauenstimme die aufgeworfene Frage. Die Stimmen legen eine angenehme<br />
Betonung an den Tag, so dass man ihnen problemlos folgen kann. Alle<br />
Audio-Cards enthalten zusätzlich ein pdf-Dokument, welches den gesamten<br />
vorgetragenen Inhalt wortwörtlich enthält. Die Dateien sind in zwei Spalten<br />
aufgeteilt: Die linke Spalte enthält die Fragen, die rechte die Antworten, so<br />
dass man es ideal zum Selbsttest heranziehen kann, indem man die Spalte mit<br />
den Antworten mit einem Zettel abdecken und sich so selbst abfragen kann.<br />
Die Audio-Cards sind äußerst ausführlich und daher auch ausgezeichnet als<br />
einzige Lernquelle geeignet. So hat z.B. allein das Komplettpaket der Audio-<br />
Cards zum BGB-AT einen Umfang von über 400 Minuten! Die Cards zum<br />
BGB AT bestehen aus drei Teilen die man auch einzeln für je 19,95 € erwerben<br />
kann, das Komplettpaket kostet 44,80 €.<br />
Weitere interessante Berichte finden Sie auf unserer Homepage<br />
www.iurratio.de<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Augen auf bei der Tanzpartnerwahl<br />
Wer auf die Tanzpartnerin seiner Wahl zustürzt und mit dieser in<br />
großen Sätzen und Sprüngen auf die Tanzfläche rennt, muss, wenn<br />
er hierbei das Gleichgewicht verliert und dann rückwärts aus dem geöffneten<br />
Fenster fällt, wobei er seine Tanzpartnerin mit sich zieht, Schmerzensgeld für<br />
erlittene Verletzungen zahlen. Im vorliegenden Fall hielt das Hanseatische<br />
OLG Hamburg ein Schmerzensgeld in Höhe von 8.000 DM für angemessen,<br />
da die Auserwählte eine Gehirnerschütterung, Becken- und Thoraxprellung<br />
sowie eine Schenkelhalsfissur erlitt. Die Geschädigte war ca. acht Wochen arbeitsunfähig.<br />
Hanseatisches OLG Hamburg v. 05.10.1999, 6 U 262/98<br />
Abschließend noch ein wichtiger Hinweis zur anstehenden<br />
Frauen-Fußball-WM 2011<br />
Wenn der Fahrer eines Pkw bemerkt, dass sich ein Fahrzeuginsasse aus<br />
dem Fenster der hinteren Tür hinauslehnt und sich mit dem Körper<br />
durch die Fensteröffnung weiter herausarbeitet, trifft ihn die Verpflichtung,<br />
rechts ranzufahren und sofort anzuhalten.<br />
Fährt er aber mit einer Geschwindigkeit<br />
von 50 bis 60 km/h weiter und fällt der Fahrzeuginsasse<br />
aus dem Pkw heraus, so hat er unter<br />
Berücksichtigung des erheblichen Mitverschuldens<br />
des Fahrzeuginsassen wegen Selbstgefährdung<br />
zu 50% für die Folgen des Unfalls einzustehen.<br />
Also besser zur Fuß und mit Bierchen<br />
fahneschwenkend durch die Städte ziehen und<br />
den Weltmeistertitel feiern. Sicher ist sicher!<br />
OLG Karlsruhe v. 24.07.1998, 10 U 24/98<br />
Niederle Media bietet in seinem Sortiment vom BGB-AT über sämtliche<br />
Strafrechtsbereiche bis hin zu Nebengebieten wie Arbeitsrecht oder Handels-<br />
und Gesellschaftsrecht die gesamte Palette der juristischen Fachgebiete.<br />
Alle Hörbücher sind sowohl als Audio-CD als auch als mp3-Dateien<br />
erhältlich; letztere stehen auch online als Download inklusive pdf-Dateien<br />
im Originalwortlaut bereit. Die Dateien sind ebenfalls im Frage-Antwort-Stil<br />
aufgebaut; hier stellt eine Frauenstimme die Fragen, eine Männerstimme<br />
beantwortet diese dann direkt im Anschluss. Auch hier wird<br />
in einer angenehmen Tonlage vorgetragen, so dass man dem Vortrag sehr<br />
gut folgen kann. In den pdf-Dokumenten sind die Fragen und Antworten<br />
direkt untereinander in einem fortlaufenden Text aufgeführt. Die Dateien<br />
bieten einen kompakten Überblick über die verschiedenen Themenbereiche,<br />
sind aber nicht so ausführlich wie die von Hemmer/Wüst; so wird<br />
vergleichsweise das Basiswissen BGB-AT in 79 Minuten dargestellt. Dies<br />
macht sich aber natürlich preislich bemerkbar. Die Audio-CD ist für 7,90 €<br />
erhältlich, der mp3-Download bereits für 5,99 €. Zudem werden auch verschieden<br />
CDs mit Standardfällen, Streitfragen oder Definitionen angeboten.<br />
Als Wiederholung, Auffrischung oder Ergänzung sind auch diese Hörbücher<br />
sehr zu empfehlen. Hier ist der abschließende Wunsch tatsächlich<br />
einmal Programm: Viel Spaß beim Lernen!<br />
Weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten unter:<br />
http://www.hemmer-shop.de/ oder<br />
http://www.ohrenmenschen.de/Shop/Intro/Rechtswissenschaften.html<br />
http://www.niederle-media.de/13.html<br />
115
116<br />
Praxis & Karriere<br />
A. EINLEITUNG 1<br />
Soft Skills im Rahmen der universitären Ausbildung<br />
von Christian Steger (Universität Hamburg)<br />
„Wir suchen zur Verstärkung unseres Teams Berufseinsteiger (m/w), die dyna-<br />
misch, teamfähig, zuverlässig und verhandlungsstark sind “ <strong>–</strong> so könnte der<br />
Anfang einer typischen Stellenanzeige lauten. Auch Arbeitgeber für Nach-<br />
wuchsjuristen, wie zum Beispiel Kanzleien, suchen zunehmend Berufsein-<br />
steiger, die neben juristischen Kenntnissen und Qualifikationen weiche Fak-<br />
toren mitbringen.<br />
Grund genug für die juristischen Fakultäten, in der universitären Ausbildung<br />
neben Hard Skills, also juristischem Fachwissen, auch vermehrt Soft Skills<br />
zu vermitteln. Dieser Beitrag beleuchtet, welche weiche Faktoren zum Hand-<br />
werkszeug eines angehenden Juristen gehören und stellt die universitären Soft<br />
Skill-Angebote auf den Prüfstand.<br />
B. SoFT SKILLS<br />
Unter Soft Skills versteht man „Sozialkompetenzen“ oder „Schlüsselqualifi-<br />
kationen“. Vor allem das zweite Synonym lässt vermuten, dass ein Jurist ohne<br />
diese Qualifikationen nicht den Schlüssel zum beruflichen Erfolg hat. Auch<br />
wenn Universitäten, potenzielle Arbeitgeber und Studenten unter Soft Skills<br />
nicht immer das Gleiche verstehen, zählen alle Gruppen meist Begriffe wie<br />
Kommunikationsfähigkeit, Zeitmanagement, Methodik, Teamfähigkeit zu<br />
den weichen Faktoren.<br />
C. DAS UNIVERSITäRE SoFT SKILL-ANGEBoT<br />
Fest steht: Um sein fachliches Wissen erfolgreich in der Praxis anwenden zu<br />
können, muss der Nachwuchsjurist Soft Skills mitbringen. Fundiertes recht-<br />
liches Fachwissen alleine stellt keine Brücke zum Mandanten im Beratungs-<br />
gespräch her. Ein Schriftsatz überzeugt nur dann, wenn er entsprechend aufgebaut<br />
und ausgefeilt ist und in einem Verhandlungsgespräch kommt es auf<br />
Taktik und Gesprächsführung an.<br />
Bereits während des Studiums spielen Soft Skills eine wichtige Rolle. Oft hört<br />
man den Satz „Die mündliche Examensprüfung sollte nicht die erste Gelegenheit<br />
eines Vortrags sein.“ Rhetorische Fähigkeiten sind für die mündlichen<br />
Prüfungen im Rahmen der Ersten juristischen Prüfung unabdingbar. 2 Der<br />
Grund: Die Art und Souveränität, die der Student während des Vortrags an<br />
den Tag legt, beeinflussen die Prüfer <strong>–</strong> und letztlich auch die Note. Kann ein<br />
Kandidat achselzuckend eine Frage nicht beantworten oder lässt er souverän<br />
die Prüfer an seinen Gedanken teilhaben und gewinnt Zeit, um eine Antwort<br />
1 Christian Steger ist Student an der Universität Hamburg und Mentee des<br />
Career Mentorship Programme von Baker & McKenzie in Frankfurt am<br />
Main. Während seines Studiums nahm er am Willem C. Vis Moot Court<br />
teil und coachte im Folgejahr das Team der Universität Hamburg; zudem<br />
ist Christian Steger Vorsitzender des Vis Moot Court Alumni Universität<br />
Hamburg e.V.<br />
2 Malkus, JuS 2011, 296 f. (297).<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
zu finden? Im Rahmen des Vortrags als Teil der mündlichen Prüfung sind<br />
Soft Skills sogar objektives Bewertungskriterium. 3<br />
Auch die Gesetzgeber haben erkannt, wie wichtig es ist, Studenten früh an<br />
Soft Skills heranzuführen <strong>–</strong> und haben sie als Bestandteile der Ausbildung in<br />
die Prüfungsordnungen und Juristenausbildungsgesetze eingebunden. 4 Außerdem<br />
sind Leistungsnachweise über Soft Skills bereits häufig ein Kriterium,<br />
um zur Ersten <strong>Juristische</strong>n Prüfung zugelassen zu werden. Sollten Universitäten<br />
ihre Soft Skill-Angebote und Seminare noch vertiefender in den Curriculum<br />
einbinden? Oder ist es nicht gerade eine Soft Skill-Stärke des Studenten,<br />
sich eigenständig ein individuelles Programm zusammenzustellen?<br />
Bestenfalls ergänzen sich beide Optionen.<br />
An den Universitäten gibt es erfreulicherweise viele Soft Skill-Angebote, darunter<br />
Seminare zu Rhetorik, Verhandlungsmanagement, (Examens-)Coaching,<br />
Gesprächsführung, Streitschlichtung, Mediation, Vernehmungslehre<br />
und Kommunikationsfähigkeit. Daneben werden Fremdsprachenkurse mit<br />
fachlicher Verknüpfung und andere fächerübergreifende Seminare angeboten.<br />
Ein großer Teil des Soft Skill-Angebots bietet sich im studentischen<br />
Engagement - teilweise in Zusammenarbeit mit der Universität - zum Beispiel<br />
durch die Studienvertretung und Fachschaftsräte, studentische Organisationen<br />
wie ELSA5 , Model United Nations6 oder Moot Court-Projekte. Daneben<br />
stehen Pflicht-Praktika auf dem Curriculum, die ermöglichen, rechtliches<br />
Handwerkszeug zu erlernen und einen Berufszweig genauer kennen zu<br />
lernen sowie Soft Skills zu vertiefen.<br />
Somit bieten die Universitäten ein umfassendes Angebot <strong>–</strong> und die unterschiedlichen<br />
Angebote bedienen unterschiedliche Ansprüche. Daher lohnt es<br />
sich als Student, die Angebote genauer unter die Lupe zu nehmen und individuell<br />
auszuwählen.<br />
D. SoFT SKILL-ANGEBoTE AUSSERHALB DER UNIVERSITäT<br />
Auch außerhalb der Universitäten öffnet sich ein breites Soft Skill-Angebot,<br />
beispielsweise im ehrenamtlichen Bereich, in politischen Jugendorganisationen<br />
oder im Rahmen von Stipendien-Netzwerken.<br />
Daneben bieten vor allem Kanzleien und Unternehmen Workshops und Seminare<br />
zum Thema Soft Skills an, die den Teilnehmern auch ermöglichen,<br />
hinter die Kulissen des potenziellen Arbeitgebers zu blicken.<br />
Nach meiner persönlichen Erfahrung sind Mentorenprogramme eine interessante<br />
Option, wie beispielsweise das Career Mentorship Programme der<br />
3 So beispielsweise: § 20 Abs. 2 S. 1 HmbJAG.<br />
4 So beispielsweise: § 5a Abs. 3 DRiG; §§ 23 Abs. 2, 2 S. 1 JAPO Bayern.<br />
5 Weitere Informationen unter: http://www.elsa-germany.org.<br />
6 Weitere Informationen unter: http://www.model-un.de.
Kanzlei Baker & McKenzie. 7 Als Student steht einem ein erfahrener Anwalt<br />
als Mentor zur Seite, mit dem man fachliche und persönliche Fragen klären<br />
kann <strong>–</strong> zum Beispiel die Praxisrelevanz des angedachten Dissertationsthemas<br />
oder wie der Berufsalltag eines Anwalts aussieht. Daneben können die Teil-<br />
nehmer unter anderem an Soft Skill-Seminaren teilnehmen, beispielsweise<br />
rund um die Themen Legal Writing oder Selbstpräsentation, sowie an Fach-<br />
sprachkursen. Insgesamt bietet ein solches Programm gute Möglichkeiten,<br />
sich über einen längeren Zeitraum kennenzulernen und festzustellen, ob man<br />
zueinander passt.<br />
E. SoFT SKILLS <strong>–</strong> PFLICHT & KüR<br />
Einige Soft Skills entwickeln sich im Laufe des Erwachsenwerdens ganz von<br />
alleine: So nimmt man für gewöhnlich Sozialkompetenzen wie einen respektvollen<br />
und höflichen Umgang miteinander aus der Kinderstube mit.<br />
Wie sich Soft Skills im Erwachsenenleben ausprägen, lässt sich in Pflicht und<br />
Kür unterteilen. In nahezu jeder Stellenanzeige tauchen die Kriterien Teamfähigkeit<br />
und Zuverlässigkeit auf <strong>–</strong> sozusagen die Pflicht. Aspekte wie Verhandlungsgeschick,<br />
Argumentations- und Präsentationsstärke, Rhetorik, Didaktik,<br />
Streitschlichtung und Mediation stellen hingegen die Kür dar. Daher sollte<br />
man seine persönlichen Stärken und Schwächen kennen und sich überlegen,<br />
welche Soft Skills man besonders ausprägen möchte.<br />
F. AN SICH ARBEITEN UND SICH VERBESSERN <strong>–</strong> FEEDBACK<br />
UND CoACHING<br />
Dabei steht man zunächst vor der Aufgabe, sich selbst auswerten und beurteilen<br />
zu müssen. Das ist nicht für jeden einfach, aber enorm wichtig, um sich<br />
selbst zu entwickeln. Ebenso bedeutend ist es, sich Feedback geben zu lassen,<br />
beispielsweise nach einer Präsentation oder im Anschluss an ein Praktikum.<br />
Nur so kann man die Selbst- und Fremdwahrnehmung abgleichen und<br />
an sich arbeiten. Man erhält neue Ideen und kann das Publikum als Sparrings-Partner<br />
nutzen. Spricht man zu laut oder zu schnell? Schafft man es,<br />
schwächere Argumente durch Körpersprache und Haltung zu unterstützen?<br />
All diese Punkte lassen sich nur durch Feedback evaluieren und verbessern.<br />
Für das Publikum ist es oft schwierig, hilfreiches und konstruktives Feedback<br />
zu geben. Dem Vortragenden hilft ein „Ja, war ganz gut“ oder „War schlecht“<br />
als Rückmeldung wenig. Es geht vielmehr darum, Eindrücke, die Wirkung<br />
und Verbesserungsvorschläge in Worte zu fassen. Generell gilt: Feedback<br />
sollte man nur auf Wunsch des Vortragenden, immer aus der „Ich“-Perspektive,<br />
konkret und direkt mit dem Verbesserungsvorschlag verknüpft formulieren,<br />
zum Beispiel: „Für mich war Ihre Gestik in der Einleitung zu hektisch.<br />
Sie sollten versuchen, gerade zu Beginn des Vortrags die Gestik akzentuiert<br />
einzusetzen und harmonisch auf den Inhalt abzustimmen“.<br />
Neben Feedback hilft Coaching, die Selbstreflexion zu stärken und an sich<br />
zu arbeiten. Im Rahmen des Coachings, zum Beispiel des systemischen Coa-<br />
7 Weitere Informationen unter: http://www.bakermentorship.de, prämiert<br />
mit dem azur Award 2011 des JUVE-Karrieremagazins azur in der Kategorie<br />
„Referendariat und Praktikum“.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Praxis & Karriere<br />
chings, lassen sich Probleme jeglicher Art identifizieren, etwa übermäßiges<br />
Lampenfieber vor einem Vortrag oder Prüfungsangst. Zusammen mit dem<br />
Coach erarbeitet man anschließend eine Lösung. Coaching unterstützt, die<br />
eigenen Soft Skills auszubilden, es bietet aber aus meiner Sicht nicht für jeden<br />
den Schlüssel zum Erfolg. Für den einen oder anderen ist es effizienter, durch<br />
Selbstreflexion und Feedback an den eigenen Soft Skills zu arbeiten.<br />
G. EINZELSEMINARE oDER GESAMTPAKET<br />
Wenig effizient sind Einzelseminare, die sich nur theoretisch mit einem Soft<br />
Skill-Thema beschäftigen. Während eines Wochenendseminars zum Thema<br />
Rhetorik bekommt man zwar einen Einblick in dieses Thema <strong>–</strong> jedoch ohne<br />
den Transfer zur Vortrags- oder Verhandlungssituation. Daher sollten Seminare<br />
mit praktischen Elementen verknüpft und als Gesamtpaket gestaltet sein.<br />
Diese Idee schlägt sich im Angebot der Universitäten nieder, wird aber nicht<br />
konsequent verfolgt, da bereits ein Leistungsnachweis aus einem Rhetorik-<br />
Seminar den Gesamtbereich Soft Skills abdeckt. Es wäre zu wünschen, dass<br />
die Universitäten künftig an diesem Punkt ansetzen.<br />
Wer sich nicht nur für Soft Skill-Puzzleteile sondern für das komplette Puzzle<br />
interessiert, sollte sich nach einem Gesamtpaket umschauen. Eine Möglichkeit,<br />
die eigenen Soft Skills und die Persönlichkeit insgesamt zu entwickeln,<br />
bieten Moot Courts8 , vor allem die großen weltweiten Wettbewerbe<br />
wie der Willem C. Vis Moot Court on International Commercial Arbitration9 oder Philipp C. Jessup International Law Moot Court Competition10 sowie<br />
weitere Moot Courts. 11<br />
Ein Moot Court ist eine simulierte Gerichtsverhandlung. Die Teilnehmer<br />
schlüpfen in die Rolle der Parteivertreter, entwerfen Schriftsätze für die jeweilige<br />
Partei und treten in mündlichen Verhandlungen gegeneinander an. Unter<br />
Umständen gibt es einen kleinen Vorteil im anglo-amerikanischen Curriculum,<br />
denn dort sind Moot Courts großenteils Bestandteil der universitären<br />
Ausbildung. 12<br />
Der Reiz liegt nicht nur darin, in der Praxis rechtlich zu argumentieren und<br />
im Team zu agieren. Man bereitet sich auch auf verschiedene Charaktere als<br />
Gegner vor, lernt Elemente des Teammanagements, Strategie und bisweilen<br />
psychologische Aspekte. Bereits am Anfang eines Moot Court-Projekts sind<br />
persönliche Fähigkeiten gefragt, um Unterstützung und Sponsoren für die<br />
Teilnahme13 zu finden.<br />
Außerdem zeigt sich der Charakter des Soft Skill-Pakets14 in der Projektdauer<br />
von mehreren Monaten. Während der gesamten Zeit ist es notwendig,<br />
8 Die Teilnahme wird teilweise von den Universitäten oder einzelnen<br />
Lehrstühlen unterstützt bzw. gefördert.<br />
9 Weitere Informationen unter: http://www.cisg.law.pace.edu/vis.html.<br />
10 Weitere Informationen unter: http://www.ilsa.org/jessup/index.php.<br />
11 Darunter beispielweise der FDI Moot Court (http://www.fdimoot.org)<br />
oder ELSA Moot Courts (http://www.elsa-germany.org/aa/moot_court/de).<br />
12 So Beispielsweise: http://www.law.harvard.edu/academics/courses/2011-<br />
12/?id=9644.<br />
13 Beispielsweise für Reisekosten oder Buch- und Kopierkosten.<br />
14 Im Weiteren werden insbesondere persönliche Erfahrungen des Verfassers<br />
bezüglich des Willem C. Vis Moot Courts einbezogen.<br />
117
118<br />
Praxis & Karriere<br />
innerhalb des Teams offen zu kommunizieren, um möglichen Konflikte ent-<br />
gegen zu wirken. Zudem muss man die eigene und die Teamarbeit koordinie-<br />
ren und Zwischenziele setzen, um nicht kurz vor einer Frist von unerledigten<br />
Aufgaben überrascht zu werden.<br />
Ein weiterer großer Vorteil eines Moot Courts: Man lernt, Schriftsätze nicht<br />
im Gutachtenstil, sondern parteiorientiert zu verfassen und rechtliche Positi-<br />
onen zu argumentieren. Daneben gilt es, strategisch zu überlegen, welche Ar-<br />
gumente der Gegenseite man bereits antizipiert oder besser nicht anspricht.<br />
Während man sich auf die mündlichen Verhandlungen vorbereitet, sollte man<br />
an der eigenen Vortragsweise arbeiten und sich auf verschiedene Gegner und<br />
Richter einzustellen. Vor allem muss man daran feilen, Fragen präzise zu be-<br />
antworten und die eigene Antwort zu nutzen, der Struktur des Vortrags zu<br />
folgen. Zudem sollte man stets aufmerksam die Argumente der Gegenseite<br />
verfolgen, um mögliche Schwachstellen aufzudecken.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Kanzleien und Unternehmen unterstützen diesen Wettbewerb. Besonders im<br />
Rahmen von Probeverhandlungen oder Pre-Moot Courts 15 stellen Kanzleien<br />
und Unternehmen ihre Anwälte als Schiedsrichter zu Verfügung, um den stu-<br />
dentischen Teilnehmern praxisnahes Feedback zu geben. Daneben bietet sich<br />
die Chance, über den Beruf, Praktika oder Referendarsstationen zu sprechen. 16<br />
Während des Moot Courts lernt man Soft Skills im Rahmen der rechtlichen<br />
Arbeit. Man erhält prompt Feedback zu Erfolgen und Fehler und kann an sich<br />
arbeiten. Last not least bringt ein solches Projekt und die Zusammenarbeit<br />
mit Team und Coaches enorm viel Freude mit sich.<br />
Oft bietet sich im Anschluss an einen Moot Court die Möglichkeit, sich einem<br />
Alumni Netzwerk anzuschließen. Damit kann man in folgenden Jahren die eigenen<br />
Erfahrungen an jüngere Generationen weitergeben - und durch dieses<br />
Coaching wiederum die eigenen Soft Skills stärken.<br />
Nach meiner Erfahrung kann ich die Teilnahme an einem Moot Court,<br />
beispielsweise am Willem C. Vis Moot Court, jedem Studenten empfehlen.<br />
Es ist eine einzigartige Erfahrung, die kein Seminar ersetzen kann.<br />
H. FRüHE WEICHENSTELLUNG<br />
Bereits während des Studiums sollte man die eigenen Fähigkeiten nutzen,<br />
sich selbst und das Studium zu organisieren. Das ist vor allem in der<br />
Lernphase für die erste juristische Prüfung enorm wichtig. Dabei geht<br />
es um Lernpläne, die Koordination zwischen (Uni-)Repetitorium, Klausurenkurs,<br />
Vor- und Nachbereitung und Arbeitsgruppen. Man muss all<br />
dies koordinieren und sinnvoll planen <strong>–</strong> und unter Umständen einen Nebenjob<br />
oder ein zeitintensives Hobby integrieren. Kein Student sollte bei<br />
den Soft Skills auf Lücke setzen <strong>–</strong> die Konsequenzen zeigen sich bereits<br />
während des Studiums.<br />
Es wäre zu wünschen, dass Universitäten ihr Soft Skill-Angebot noch<br />
praxisorientierter gestalten und vermehrt praktische Elemente einbinden<br />
würden. Besonders Projekte wie Moot Courts sollten stärker in den<br />
Curriculum eingebunden werden.<br />
Die Universitäten bieten ein fundiertes Angebot, Soft Skills auszuprägen<br />
- jeder kann selbst entscheiden, an welchen seiner Soft Skills er arbeiten<br />
möchte. Einige weiche Faktoren sollte jeder angehende Jurist mitbringen,<br />
bei anderen bietet sich die Möglichkeit, individuelle Schwerpunkte<br />
zu setzen und darin Spezialist zu werden.<br />
15 Im Rahmen eines Pre-Moot Courts treten einige Teams in der<br />
Vorbereitung auf Finalrunden gegeneinander an; so beispielsweise<br />
ein PreMoot in Düsseldorf zum Willem C. Vis Moot http://www.premoot-rounds.de,<br />
auch Baker & McKenzie veranstaltet jährlich im<br />
Frankfurter Büro einen PreMoot Court.<br />
16 Nicht selten kann sich bei Interesse an solche Veranstaltungen ein<br />
Praktikum o.ä. anschließen.
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Praxis & Karriere<br />
<strong>Juristische</strong>r werdegang im Vergleich: deutschland vs. Litauen<br />
oder schwieriger vs. schneller Start<br />
von Giedre Adomaviciute (Bremen) 1<br />
Dieses 1 Jahr werde ich 26 und bin seit anderthalb Jahren in Deutschland um<br />
meinen LL.M. zu machen. In Litauen habe ich schon den Bachelor- und Ma-<br />
sterstudiengang in Jura abgeschlossen und in meinem Lebenslauf stehen be-<br />
reits drei Jahre Berufserfahrung in einer Anwaltskanzlei, zwei davon sind für<br />
die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erforderlich. Meinen Studienfreunden<br />
in Deutschland erzähle ich davon, dass ich in Litauen schon für Mandanten<br />
vor Gericht aufgetreten bin. Sie wundern sich darüber, in Litauen ist das je-<br />
doch selbstverständlich. So unterschiedlich sind die juristischen Systeme in<br />
unseren Ländern. Welches besser ist, muss jeder selbst beurteilen.<br />
Das Jurastudium bieten drei Universitäten in Litauen an. Zwei Universitäten<br />
bieten ein einstufiges Studium, nach dem man den vollwertigen Magisterab-<br />
schluss erwirbt. An der anderen Universität ist das Jurastudium zweistufig<br />
und besteht aus einem Bachelor- und einem Masterstudiengang.<br />
Das Studium ist in Litauen kostenpflichtig (ca. 1000 Euro pro Jahr). Die Studi-<br />
endauer beträgt 5 Jahre für das einstufige Studium und 5,5 Jahre für das zwei-<br />
stufige (4 Jahre Bachelor und 1,5 Master). Um berufstätig werden zu können<br />
ist das Masterstudium zwar nicht zwingend erforderlich, jedoch sind die Be-<br />
rufschancen ohne diesen Abschluss im Vergleich zu den Studenten, die beide<br />
Titel erworben haben, deutlich schlechter, weswegen sich die meisten Stu-<br />
denten für beide Studiengänge entscheiden.<br />
Anders als in Deutschland dürfen die litauischen Studenten ohne zeitliche Be-<br />
grenzung schon während des Studiums arbeiten. Um im engen Markt einen<br />
Vorteil zu erwerben, fangen viele Studenten schon während des Studiums in<br />
Kanzleien oder Unternehmen als Juristen an. Dafür sind insbesondere sehr<br />
gute Möglichkeiten und eine große Möglichkeit des Fernstudiums förderlich.<br />
Dieses ist unter den meisten Juristen, die sofort nach dem Bachelorabschluss<br />
in den Beruf einsteigen möchten, sehr angesagt.<br />
Die Universitäten in Litauen bieten zunächst ein allgemeines Studienpro-<br />
gramm an. Den Großteil der Vorlesungen bilden die Pflichtveranstaltungen,<br />
die in einem verbindlichen Studienplan festgelegt sind. Das Jurastudium be-<br />
ginnt mit Rechtstheorie, Rechtsgeschichte, Logik, Philosophie, Latein sowie<br />
mit dem allgemeinen Teil des Verfassungsrechts. Im zweiten und dritten Jahr<br />
umfasst der Studienplan alle weiteren nationalen Rechtsgebiete. Im letzten<br />
Jahr wird der Studienplan durch das internationale- und EU-Recht sowie an-<br />
dere spezielle Rechtsgebiete ergänzt. Man muss nach jedem Semester zwi-<br />
schen vier und fünf Prüfungen ablegen und mehrere Zusatzleistungen erbrin-<br />
gen. Gelingt es nicht eine Prüfung zu bestehen, so kann sie einmal kostenlos<br />
wiederholt werden. Gelingt auch der zweite Versuch nicht, ist die Wiederho-<br />
lung kostenpflichtig. Spätestens nach dem dritten erfolglosen Versuch wird<br />
der oder die Gescheiterte zwangsexmatrikuliert.<br />
1 Ass.iur. Giedre Adomaviciute, Jahrgang 1985, studiert „Europäisches<br />
und internationales Rech“ (LL.M.) an der Universität Bremen. 2010 hat sie<br />
die anwaltliche Praxis für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft in einer<br />
Kanzlei in Vilnius (Litauen) abgeschlossen.<br />
Das Studium besteht aus gemeinsamen Vorlesungen und „Seminaren“. Letzte<br />
sind den deutschen Arbeitsgemeinschaften ähnlich. Der Unterschied besteht<br />
darin, dass diese Seminare zu jeder Vorlesung in den einzelnen Rechtsge-<br />
bieten gehören und mit einer Anwesenheitspflicht verbunden sind. Außer-<br />
dem enthält jedes Seminar ein zwingendes Lernprogramm, das die Studenten<br />
schon vor dem Seminar bewältigen müssen. Der Lernstoff wird in jeder Semi-<br />
narveranstaltung abgefragt. Ist der Student nicht vorbereitet, so muss er diese<br />
Kurseinheit in der Sprechstunde des Dozenten nachholen. Die Teilnahme<br />
an den Seminaren und die aktive Beteiligung daran können bis zu 40 % der<br />
Klausurendnote ausmachen. Wer fleißig während des ganzen Semesters war<br />
braucht nicht nur weniger für die Klausuren lernen, sondern kann sich auch<br />
sicherer fühlen, was das Bestehen der Klausuren angeht.<br />
Zusätzlich müssen die Jurastudenten im dritten und vierten Jahr ein Prak-<br />
tikum (insgesamt 400 Stunden) an verschiedenen Stellen absolvieren. Da-<br />
nach folgen die Examina. Im Vergleich zu den deutschen Studenten haben es<br />
die litauischen Jurastudenten leichter, weil zum Abschluss des Bachelorstudi-<br />
ums nur zwei schriftliche Examensklausuren erforderlich sind. Ein Examen<br />
schreibt man in der Rechtstheorie, welche auch die Rechtsphilosophie um-<br />
fasst. Die zweite Examensklausur können die Studenten aus den Bereichen<br />
des Zivil-, des Öffentlichen- oder des Strafrechts wählen, die jeweils auch das<br />
dazugehörige Prozessrecht mit umfassen.<br />
Der universitäre Studienabschluss hat in Litauen ähnliche Bedeutung wie das<br />
erste Staatsexamen in Deutschland, weil man anschließend noch kein Volljurist<br />
ist. Man darf zwar als Jurist arbeiten, jedoch wird für die Tätigkeit des Anwalts,<br />
des Notars und des Staatsanwalts eine zusätzliche Qualifikation benötigt.<br />
Richter können inter alia nur die Juristen mit beiden Abschlüssen werden.<br />
Um Rechtsanwalt zu werden muss man in Litauen mindestens zwei Jahre anwaltliche<br />
Praxis in einer Kanzlei vorweisen. Danach folgen zwei staatliche<br />
Qualifikationsprüfungen aus allen Rechtsgebieten, die sowohl schriftlich als<br />
auch mündlich abzulegen sind und einen hohen Schwierigkeitsgrad aufweisen.<br />
Während der Praxiszeit ist man als selbstständiger Jurist tätig und wird<br />
dabei von einem Anwalt betreut. Schon im zweiten Jahr darf man vor dem<br />
Gericht mit begrenztem Streitwert, der für litauische Verhältnisse allerdings<br />
verhältnismäßig hoch ist, auftreten. Da der litauische Markt ziemlich eng<br />
und die Konkurrenz sehr stark ist, gehören zum Alltag des Berufsanfängers<br />
manchmal mehr als 12 Arbeitsstunden bei minimalem Anfangsgehalt. Des<br />
Weiteren dürfen Anwälte sowie Berufseinsteiger während der Praxiszeit keine<br />
anderen Tätigkeiten ausüben, d.h. es ist ihnen nicht gestattet anderswo als Juristen<br />
oder Geschäftsführer zu arbeiten. Dafür verfügen sie über die Vorteile<br />
eines Selbständigen <strong>–</strong> 15 % Einkommensteuer sowie 9 % für Sozialversicherung.<br />
Gleichzeitig gibt es aber auch Nachteile wie z.B. geringere Sozialgarantien<br />
und Altersversorgung.<br />
Die Notare sind in Litauen vom Staat bzw. vom Justizminister ernannte Personen<br />
mit einem juristischen Studienabschluss, die für die Sicherstellung,<br />
dass zwischen den bürgerlichen Rechtsverhältnissen keine illegalen Geschäfte<br />
119
120<br />
Praxis & Karriere<br />
und Dokumente entstehen, zuständig sind. Notar kann werden, wer sich auf<br />
eine öffentliche Ausschreibung bewirbt, mindestens ein Jahr als Notarasses-<br />
sor tätig war und eine Qualifikationsprüfung des Notariats bestanden hat. Die<br />
notarielle Beglaubigung ist in Litauen bei vielen Geschäften erforderlich, wo-<br />
bei die Notargebühren für litauische Verhältnisse ziemlich hoch sind. Deswe-<br />
gen ist diese juristische Tätigkeit besonders beliebt und wird oft über Genera-<br />
tionen in einer Familie ausgeführt.<br />
Um ein Amt als Richter an einem Amtsgericht antreten zu können werden<br />
mindestens fünf Jahre juristische Berufserfahrung und eine Qualifikations-<br />
prüfung zum Richteramt benötigt. Nach weiteren fünf Jahren Berufserfah-<br />
rung können Richter zum Landrichter ernannt werden. Die Richter am Ober-<br />
sten Gerichtshof müssen mindestens eine achtjährige Berufspraxis an einem<br />
Landgericht vorweisen können. Ausnahmsweise ist keine Berufserfahrung als<br />
Richter erforderlich, wenn ein Doktortitel und wenigstens eine zehnjährige<br />
Lehrtätigkeit nachgewiesen werden kann.<br />
Unter diesem Aspekt bildete eine Podiumsdiskussion den Abschluss der Tagung<br />
am 11. März 2011 zum Thema „Praktische Jurisprudenz - Clinical Legal<br />
Education und Anwaltsorientierung im Studium“ im Ravensberger Park<br />
in Bielefeld.<br />
Die Tagung fand in der Hechelei im Ravensberger Park der Stadt Bielefeld<br />
statt; dorthin hatten Studierende und Juristen der unterschiedlichsten Berufe<br />
ihren Weg gefunden. Vorsitzende des JPA, Juniorprofessoren. Ebenso vielfältig<br />
waren die Regionen aus denen die Teilnehmer stammten, dabei war der<br />
weiteste Weg zweifellos der aus Innsbruck in Österreich.<br />
Die Tagung, die sich mit der Vorstellung verschiedener Projekte zum Thema<br />
der praktischen Juristenausbildung befasste, wurde von der Universität<br />
Bielefeld angestoßen. Die Vertreter der Universität führten auchdurch das<br />
Programm.<br />
Nach einem Grußwort durch Prof. Dr. Susanne Hähnchen und Dekan<br />
Prof. Dr. Michael Kotulla, M.A. wurden die verschiedenen Möglichkeiten<br />
und Projekte vorgestellt, die eine praktische Juristenausbildung fördern und<br />
unterstützen.<br />
Unter der Moderation von Prof. Dr. Detlef Kleindiek begann die Reihe der<br />
Projekte mit Prof. Dr. Stephan Barton, der einen einführenden Vortrag unter<br />
dem Thema „Ist praktische Jurisprudenz möglich“ hielt. In diesem Vortrag<br />
wurden vor allem die Pro- und Contraargumente für eine größere Praxisbezogenheit<br />
in der Juristenausbildung erläutert. Gegen eine inhaltliche<br />
Neuausrichtung lässt sich besonders die Befürchtung einer „Verpraxung“<br />
der Rechtswissenschaft nennen <strong>–</strong> die erfolgreiche juristische Berufstätigkeit<br />
sei schließlich eine Kunst und keine Wissenschaft. Auch sei man gegen<br />
eine Studienreform, weil die deutsche Juristenausbildung im internationalen<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Berufserfahrung ist nur bei der Staatsanwaltschaft nicht erforderlich. Für die-<br />
ses Amt muss man nur eine Qualifikationsprüfung zur Zulassung zur Staats-<br />
anwaltschaft bestehen. Allerdings entscheiden sich die meisten Juristen für<br />
diese Prüfung erst, nachdem sie bereits seit längerer Zeit in der Staatsanwalt-<br />
schaft tätig waren.<br />
Wie bereits ausgeführt wurde, muss man sich in Litauen schon direkt nach<br />
dem Studienabschluss entscheiden, in welche juristische Richtung man ge-<br />
hen will. Die Entscheidung wird auch nicht etwa dadurch erleichtert, dass<br />
man in Litauen meistens schon mit 23 Jahren mit dem Studium fertig ist. Eine<br />
Änderung des gewählten Werdegangs ist zwar grundsätzlich möglich, kostet<br />
jedoch viel Zeit. Merkt man nach fünf Jahre im Richteramt, dass die Entschei-<br />
dung nicht richtig war, so muss man in jedem anderen Bereich von vorne<br />
anfangen.<br />
Verdirbt die Praxis wissenschaft?<br />
von Lea Benning (Bielefeld)<br />
Vergleich gut dastehe. Gegen dieses Argument und für eine Veränderung in<br />
der Praxisbezogenheit stehe die Ansicht, dass sich die Stellung der deutschen<br />
Juristenausbildung durch vermehrte Praxisbezogenheit nur verbessern lassen<br />
könne.<br />
Diese von Prof. Dr. Stephan Barton angesprochene vermehrte Praxisbezogenheit<br />
wurde durch verschiedene Projekte der anwesenden Vertreter der<br />
Universitäten in einer Vielzahl an Möglichkeiten dargestellt.<br />
Besonders hervorgestochen unter den Projekten hat jenes der Europa-Universität<br />
Viadrina Frankfurt (Oder), vorgestellt durch Prof. Dr. Dr. Uwe Scheffler<br />
und Wiss. Mitarb. Christin Toepler. In diesem Projekt geht es um eine<br />
Gestaltung von Moot-Courts mit und größtenteils von den Studenten selbst.<br />
Durch das Ausgestalten eigener Paragraphen als „Spielregeln“ und einer Ermittlungsakte,<br />
die dann durch die Leiter des Projektes mit Verfahrensfehlern<br />
gespickt wurden, sollen die Studierenden in besonderer Form Gesprächsführung,<br />
Rhetorik, Vernehmungslehre und Kommunikationsfähigkeit erproben.<br />
Um diesem Projekt des Moot-Courts noch eine besondere Authentizität zu<br />
vergeben, wurde die abschließende Verhandlung im Großen Schwurgerichtssaal<br />
das LG Frankfurt (Oder) unter der Leitung eines Vorsitzenden Richters<br />
gehalten. Der Moot-Court endete statt mit einem Urteil mit einer Würdigung<br />
der „Leistungen“.<br />
Der erste Teil der Tagung wurde durch zwei weitere Vorträge abgerundet:<br />
Zum einen von Prof. Dr. Joachim Zekoll, LL.M („Clinical Legal Education -<br />
amerikanische Erfahrungen für die deutsche Juristenausbildung“) und zum<br />
anderen von Dr. Judith Brockmann („Hochschuldidaktische Herausforderungen<br />
einer praxisorientierten Juristenausbildung“).<br />
Prof. Zekoll, der sehr lange in den USA Erfahrungen zur dortigen praxisbezo-
genen Juristenausbildung sammelte, schilderte dem Publikum, dass die amerikanischen<br />
Studierenden ihre Praxiserfahrungen besonders durch Mandatsarbeiten<br />
in Rechtsstreitigkeiten erhalten. Dazu gehöre sowohl das Gespräch<br />
mit Mandanten, das Abfassen von Schriftsätzen und Anträgen, sowie das Auftreten<br />
vor Gericht.<br />
Dr. Brockmann regte die Anwesenden vor allem zum Nachdenken an, da an<br />
die Hochschule besondere Anforderungen gestellt werden, wenn eine praxisbezogene<br />
Ausbildung Einzug halten soll. Prägend für ihren Vortag war besonders<br />
die Frage: „Wer was von wem wann mit wem wo wie womit und wozu<br />
lernen soll“.<br />
Am Nachmittag wurden weitere Projekte vorgestellt. Man begann mit dem<br />
Projekt von stud.jur. Johannes Oesterling und stud.jur. Viola Scharbius. Sie<br />
arbeiteten am Fall „Harry Wörz“ mit. In diesem Projekt konnten die Studierenden<br />
besonders den Umgang mit dem Verfahren, den Ermittlungsakten<br />
und den Beteiligten (Mandat, Richter, StA) erlernen und verbessern. Besonders<br />
die Einbindung und Anwendung von Inhalten des Schwerpunktbereichsstudiums<br />
bildete eine Motivation, ebenso wie die Orientierungshilfe für<br />
die Berufswahl.<br />
Im darauffolgenden Projekt „Anwaltsseminare“ vorgestellt durch Dr. Kathrin<br />
Brei und Prof. Dr. Fritz Jost ging es vor allem darum, die Führung eines Zivilprozesses<br />
als Anwältin/Anwalt den Studierenden näher zu bringen. Hervorgehoben<br />
wurden die Aspekte im Zivilprozessrecht und Zivilrecht.<br />
Das Projekt „Schadensregulierung“, das ebenfalls durch Prof. Dr. Fritz Jost<br />
und durch RA Dr. Rainer Heß vorgestellt wurde, setzt den Schwerpunkt auf<br />
die Einführung in die Abwicklung von Verkehrsunfällen unter der Einbeziehung<br />
der Versicherer. Hier werden besonders der Rechtsgebiete des Schadensrechts<br />
und des Versicherungsrechts abgedeckt.<br />
Das Projekt „Wohnraumietrecht“ wurde von RiAG Ulf Börstinghaus vorgestellt.<br />
Die besondere Zielsetzung des Projektes bestand darin zum Abschluss<br />
der Veranstaltung eine gerichtliche Entscheidung von den Studierenden vorbereiten<br />
und entwickeln zu lassen. Im Zentrum der Veranstaltung stand besonders<br />
das materielle Recht und damit das Gerichtsverfahren, das praxisgerecht<br />
und realitätsnah dargeboten wurde.<br />
Die Zielsetzung des Projektes der Universität Gießen „Refugee Law Clinic“,<br />
vorgestellt durch RiVG Dr. Dr. Paul Tiedemann und Wiss. Mit. Janina Gieseking,<br />
ist eine ganz andere, als bei den vorherigen Projekten. Durch ein Praktikum<br />
bei der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in<br />
Gießen, kommen die Studierenden mit dem Asylrecht in Kontakt. In der Praxisphase<br />
treten sie dann zusätzlichals Berater der Flüchtlinge auf. Dieses Projekt<br />
lässt die Teilnehmer unmittelbar an der Rechtswirklichkeit teilhaben und<br />
vermittelt durch die Konfrontation mit Asylsuchenden und hilfesuchenden<br />
Menschen soziale Kompetenz.<br />
Ein anderes, sozial geprägtes Projekt wurde von Wiss. Mit. Nora Markard<br />
der Humboldt Universität vorgestellt. Im Rahmen dieses Projektes beschäftigen<br />
sich die Studierenden mit Menschenhandel, „Terrorlisten“ und der Verantwortung<br />
deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Praxis & Karriere<br />
Kongo. Dabei arbeiten sie eng zusammen mit Amnesty International, DIMR<br />
oder Ban Ying.<br />
Ein weiterer wichtiger Punkt in der Juristenausbildung kristallisierte sich bei<br />
den letzten beiden Projekten heraus: Die juristische Beratungspraxis. Mit<br />
dieser Thematik beschäftigt sich zum einen das Projekt von RA Prof. Dr.<br />
Christine M. Graebsch „Rechtsberatung für Gefangene“, in dem die Studierenden<br />
neben der persönlichen Rechtsberatung von Gefangenen in den Bremer<br />
Haftanstalten, auch die Möglichkeit haben im Strafvollzugsarchiv an der<br />
Beantwortung von Gefangenenanfragen mitzuwirken. Zum anderen tut dies<br />
auch das Projekt, welches von Prof. Dr. Bernd Oppermann, LL.M vorgestellt<br />
wurde. Kern seines Projektes ist es, die juristischen Beratungsmethoden<br />
den Studierenden auch mit Hilfe von Rechtsanwälten beizubringen, um das<br />
Erlernte dann unter Aufsicht auf einen realen Fall anzuwenden. Dabei übersteigt<br />
der Gegenstandswert jedoch nie 750 €.<br />
Nach dieser Vielzahl von Projekten, die die unterschiedlichsten Bereiche der<br />
Möglichkeiten der Juristenausbildung ansprachen, wurde die Tagung mit einer<br />
Podiumsdiskussion unter der Leitung von Prof. Dr. Fritz Jost geschlossen.<br />
Das Fazit der Diskussion vor dem Hintergrund der Projekte war, dass viele<br />
der anwesenden Lehrenden die Angst der bereits angesprochenen Verpraxung<br />
stets im Hinterkopf haben. Ebenso stellt sich oft die Frage der Durchsetzbarkeit<br />
der komplexen Projekte bei der hohen Zahl der Studierenden.<br />
Der entscheidende Schlussimpuls kam allerdings aus dem Publikum von<br />
Prof. Dr. Susanne Hähnchen. Ihr fehlte auf der Bühne ein sehr wichtiger Teil<br />
dieser Projekte und der Diskussion: Der Student selbst.<br />
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Praxis & Karriere<br />
Modernes Compliance <strong>–</strong> Herausforderung oder Bestrafung<br />
von Fabian Jeremias (Bielefeld)<br />
Vielen Studenten und Referendaren der Rechtswissenschaften wird das<br />
Thema „Compliance“ in ihrem universitären Alltag nicht begegnet sein.<br />
Dabei ist dieses Thema sowohl mit Blick auf den Berufseinstieg als auch auf<br />
die Nachfrage nach Compliance-Juristen in Wirtschaftskanzleien und Unter-<br />
nehmen zunehmend bedeutsam. Galt es früher noch als „Bestrafung“ sich<br />
diesem Themengebiet zu widmen, bieten sich heute interessante und viel-<br />
schichtige „Herausforderungen“ für einen Compliance-Juristen.<br />
Über den Dächern Bielefelds - auf der „Alm“ (Schüco Arena in den Räum-<br />
lichkeiten von Mayflower Capital) - haben sich Stipendiaten der Konrad-<br />
Adenauer-Stiftung im Rahmen eines Workshops den verschiedenen Sichtwei-<br />
sen und Herausforderungen des Compliance gestellt. Inhaltlich aufbereitet<br />
und begleitet wurde der Workshop von der Kanzlei Glade Michel Wirtz aus<br />
Düsseldorf.<br />
Behaftet mit der Legende „Bielefeld gibt es nicht“ haben trotz alledem die<br />
Teilnehmer und Referenten den Weg in die Ostwestfälische Metropole<br />
gefunden. Pünktlich haben die Veranstalter den Workshop eingeläutet, die<br />
Stipendiaten organisatorisch eingewiesen und Marcus Jacob (Deutsche Apo-<br />
theker- und Ärztebank) das Wort für den ersten Aufschlag zum Begriff<br />
„Compliance“ und zur Implementiereung eines modernen Compliance Sys-<br />
tems im Unternehmen erteilt. Die aktive Teilnahme der Stipendiaten bestand<br />
im Nachgang des Vortrages darin, Compliancestrukturen für ein Pharmaun-<br />
ternehmen und für einen Automobilhersteller zu entwickeln. Unter den<br />
prüfenden Augen des nachfolgenden Referenten der Bielefelder Unternehmer-<br />
schaft, Christoph Harras-Wolff (geschäfts-<br />
führender Gesellschafter der Dr. Wolff<br />
GmbH & Co. KG Arzneimittel), wurden<br />
die Ergebnisse vorgestellt, gewürdigt und<br />
gekonnt in den folgenden Beitrag aufgenommen.<br />
„Aus der Sicht des Unternehmers<br />
dient Compliance der Haftungsminderung<br />
sowohl strafrechtlich als auch zivilrechtlich“<br />
so Harras-Wolff. Aber gerade auch um den<br />
Ruf der Pharmaunternehmen zu verbessern,<br />
unterwerfen sie sich bestimmten Verhaltenskodices.<br />
Denn eine so sensible Branche<br />
befindet sich im medialen, politischen<br />
und rechtlichen Spannungsfeld und bedarf<br />
daher klarer Regeln. Die anschließende lebhafte<br />
Diskussion gab der Staatsanwaltschaft,<br />
vertreten durch Staatsanwalt Jan Oelbermann,<br />
die Gelegenheit die Teilnehmer für<br />
die strafrechtlichen Aspekte zu sensibilisieren.<br />
Mit zahlreichen Beispielen aus der<br />
Ein Workshop von Stipendiaten<br />
der Konrad-Adenauer-Stiftung<br />
und der Kanzlei Glade Michel Wirtz<br />
aus Düsseldorf<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Praxis gelang es ihm, den Stipendiaten die Perspektive der Strafverfolgungsbehörde<br />
näher zu bringen. Während die Veranstalter die Vorbereitungen<br />
für die Abendveranstaltung in einem gemütlichen Wirtshaus in der Altstadt<br />
Bielefelds vornahmen, wurde Staatsanwalt Jan Oelbermann noch mit Fragen<br />
ins Kreuzverhör genommen.<br />
Am folgenden Tag mussten die Stipendiaten dann selbst ran. Dr. Jochen<br />
Markgraf (Deutsche Apotheker- und Ärztebank) und Rechtsanwalt Florian<br />
Lauscher (Glade Michel Wirtz) leiteten ihren Workshop mit einem Kurzvortrag<br />
ein, indem sie eine thematische Einführung in das Kartellrecht gaben<br />
und den zu bearbeitenden Fall zu kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen<br />
und internen Regressansprüchen vorstellten. In zwei Teams hatten<br />
die Stipendiaten unter dem Motto „Dafür wirst du büßen!“ Schadensersatzansprüche<br />
des kartellgeschädigten Kunden gegen den Kartellanten zu prüfen<br />
und zu würdigen. In einer fiktiven Verhandlungssituation kam es dann<br />
zwischen den Teams zum „showdown“. Mit allen rechtlichen Finessen und<br />
taktischem Geschick machten die einen Ansprüche geltend, während die anderen<br />
sie vernichteten. Kurzum: Man schenkte sich nichts.<br />
Nachdem die Beteiligten nach realitätsnahen Verhandlungen ein Verhandlungsergebnis<br />
erzielten, mit dem alle gut leben konnten, rundete Rechtsanwalt<br />
Dr. Peter Talaska (Streck Mack Schwedhelm) gekonnt den Workshop mit<br />
dem Vortrag zum Compliance im Strafverfahren ab. Einfangend erläuterte er<br />
wie es abläuft, wenn die Steuerfahndung ins Haus kommt und welche Maßnahmen<br />
schnellstmöglich ergriffen werden müssen.
ein gutes Compliance-Programm ist ein Baustein<br />
für ein erfolgreiches und langfristiges Agieren eines Unternehmens<br />
Ein Interview mit Christoph Harras-Wolff von Herausgeber Jens-Peter Thiemann (Bielefeld)<br />
Christoph Harras-Wolff ist Urenkel des Firmengründers Dr. August<br />
Wolff und seit April 2006 geschäftsführender Gesellschafter bei<br />
der Dr. August Wolff GmbH & Co. KG Arzneimittel. In Erlangen und<br />
München studierte er Jura, wo er das 1. juristische Staatsexamen<br />
ablegte. Nach der Referendarausbildung und dem 2. juristischen<br />
Staatsexamen arbeitete er von 2001 bis 2004 als wissenschaft-<br />
licher Mitarbeiter und Rechtsanwalt in der renommierten Kanzlei<br />
Dr. Kießel & Tomanke in München. Unternehmerische Erfahrungen<br />
sammelte er zwei Jahre lang bei der Firma Dr. August Oetker<br />
Nahrungsmittel KG in Bielefeld.<br />
Hier lagen seine Schwerpunkte<br />
im Controlling und beim<br />
internationalen Einkauf.<br />
ChRiStoph haRRaS-WoLff<br />
<strong>Iurratio</strong>: Was bedeutet Compliance aus Unternehmersicht für Sie?<br />
Harr as-wolff: Compliance dient der Vermeidung strafrechtlicher und<br />
zivilrechtlicher Haftung von Unternehmen, Geschäftsleitung und handeln-<br />
den Personen.<br />
Ein gutes Compliance-Programm bedeutet somit Schutz des Unternehmens<br />
und aller Mitarbeiter und ist somit Baustein für ein erfolgreiches, langfristiges<br />
Agieren eines Unternehmens am Markt.<br />
<strong>Iurratio</strong>: Welche Herausforderungen sehen Sie für Ihre Branche im<br />
Bereich Compliance? Sind diese Herausforderungen langfristig nur durch<br />
eigene Compliance-Abteilungen zu meistern?<br />
Harr as-wolff: Die pharmazeutische Industrie genießt in Politik und<br />
Bevölkerung einen inakzeptabel schlechten Ruf. Transparenz als Bestandteil<br />
von Compliance kann eine Brücke zur Verbesserung dieses Images sein. Die<br />
Einrichtung einer eigenen Compliance-Abteilung ist sicherlich wünschens-<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Praxis & Karriere<br />
wert, hängt aber selbstverständlich von der Größe eines Unternehmens ab.<br />
Auch externe Dienstleister wie Anwaltssozietäten oder Selbstverpflichtungs-<br />
verbände können maßgeblich bei der Einrichtung von Compliance-Struk-<br />
turen helfen.<br />
<strong>Iurratio</strong>: Sie sind persönlich haftender Geschäftsführer der Dr. August<br />
Wolff GmbH & Co. KG Arzneimittel. Daneben sind Sie Vorsitzender des<br />
Vereins Arzneimittel und Kooperation im Gesundheitswesen e. V. (AKG).<br />
Was hat Sie dazu bewogen, diese zusätzliche Aufgabe anzunehmen? Welche<br />
Rolle nehmen Vereine wie der AKG bei der Bewältigung der Herausforde-<br />
rungen im Bereich Compliance ein?<br />
Harr as-wolff: Ein Unternehmen agiert nicht im luftleeren Raum,<br />
sondern ist regelmäßig Teil einer Branche. Der Ruf unserer Branche, der<br />
pharmazeutischen Industrie ist nicht gut und ich möchte gerne, soweit mir<br />
das möglich ist, dazu beitragen, dass er sich wieder verbessert. Es sollen die<br />
Leistungen unserer Industrie wieder mehr gewürdigt werden, denn schließ-<br />
lich heilen oder lindern unsere Produkte Krankheiten und verhelfen so zu<br />
einem längeren Leben.<br />
Der AKG e.V. ist der mitgliederstärkste Selbstverpflichtungsverband der<br />
pharmazeutischen Industrie. Die Idee und Struktur von Healtcare-Compli-<br />
ance kann somit über eine breite Basis im Markt etabliert werden, aber er<br />
verleiht den Mitgliedsunternehmen auch eine Stimme Richtung Öffentlich-<br />
keit und Politik.<br />
<strong>Iurratio</strong>: Was hat Sie dazu bewogen als Referent zum Gelingen des durch<br />
den Stipendiaten Fabian Jeremias zum Thema „Modernes Compliance <strong>–</strong><br />
Herausforderung oder Bestrafung“ organisierten Workshop beizutragen und<br />
diesem darüber hinaus auch als Zuhörer beizuwohnen?<br />
Harr as-wolff: Es war für mich die Möglichkeit, das Bewusstsein für<br />
einen speziellen Bereich des Compliance, nämlich von Healthcare-Compli-<br />
ance zu schärfen. Dies ist mittlerweile für alle größeren Sozietäten, die sich<br />
mit Arzneimittelrecht beschäftigen, ein wichtiges Betätigungsfeld. Darüber<br />
finde ich es immer spannend zu hören, wie andere Compliance-Bereiche<br />
funktionieren und welche Schwierigkeiten es dort gibt.<br />
<strong>Iurratio</strong>: Was halten Sie grundsätzlich von der in diesem Workshop<br />
gelebten Workshopkultur des Austausches zwischen Unternehmen und<br />
Studierenden?<br />
Harr as-wolff: Theorie und Praxis <strong>–</strong> für beide Seiten eine Bereicherung.<br />
<strong>Iurratio</strong>: Können solche Workshops langfristig zu einer stärkeren<br />
Verzahnung der juristischen Ausbildung und Praxis beitragen?<br />
Harr as-wolff: Das ist denkbar und sicherlich auch wünschenswert.<br />
<strong>Iurratio</strong>: Vielen Dank für das Gespräch!<br />
123
124<br />
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Ausgabe 2 / 2011<br />
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126<br />
Rechtsprechung<br />
Gericht<br />
Art der<br />
Entscheidung<br />
BGH Beschluss 12.01.2011 GSSt 1/10<br />
BVerfG Beschluss 07.03.2011 1 BvR 388/05<br />
BGH Beschluss 15.03.2011 1 StR 75/11<br />
Ausbildungsrelevante entscheidungen<br />
Datum Aktenzeichen Themenstichworte Rechtsgebiet<br />
Sind Anklageschriften wegen einer hohen Zahl gleichartiger<br />
Tatvorwürfe oder Einzelakte sehr lang, müssen diese unter<br />
bestimmten Voraussetzungen nicht vollständig verlesen<br />
werden, wodurch Stunden lange oder Tage lange Anklageverlesungen<br />
nicht mehr erforderlich sind.<br />
Strafbarkeit wegen Nötigung durch Sitzblockade und das<br />
Grundrecht auf Versammlungsfreiheit<br />
Keine Strafrahmenverschiebung bei Aufklärungshilfe<br />
nach Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß<br />
§ 31 II BtMG i.V.m. 46b III StGB<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 2 / 2011<br />
Strafverfahrensrecht<br />
Strafrecht/<br />
Öffentliches Recht<br />
BGH Urteil 14.04.2011 4 StR 669/10 BGH u.a. zur Einvernehmlichkeit bei § 174c StGB Strafrecht<br />
BVerfG Urteil 04.05.2011<br />
2 BvR 2365/09,<br />
2 BvR 740/10,<br />
2 BvR 2333/08,<br />
2 BvR 571/10,<br />
2 Bvr 1152/10<br />
BGH Urteil 17.05.2011 1 StR 50/11<br />
OLG Köln Urteil 02.03.2011 6 U 165/10<br />
Regelungen über die Sicherungsverwahrung sind<br />
verfassungswidrig, vgl. dazu auch <strong>Iurratio</strong>-Karteikarte<br />
VerfR 4001<br />
BGH nimmt zu den Anforderungen an das Mordmerkmal<br />
der Verdeckungsabsicht Stellung<br />
AGB-Klausel, die eine Ersatzzustellung bei anderen<br />
Hausbewohnern oder Nachbarn erlaubt, ohne dass eine<br />
Benachrichtigung erfolgt, ist unwirksam.<br />
Strafrecht/<br />
Öffentliches Recht<br />
Strafrecht<br />
Zivilrecht<br />
BGH Urteil 09.03.2011 VIII ZR 266/09 Beweislast für das Fehlschlagen der Nachbesserung Zivilrecht<br />
BGH Urteil 22.03.2011 II ZR 249/09<br />
BGH Urteil 22.03.2011 II ZB 19/09<br />
BGH Urteil 24.03.2011<br />
VII ZR 164/10,<br />
VII ZR 146/10,<br />
135/10, 134/10,<br />
111/10<br />
Zur Rechtskrafterstreckung eines Urteils bei Inanspruchnahme<br />
der Gesellschafter einer GbR aus ihrer persönlichen Haftung<br />
BGH zur Organisation einer wirksamen Fristenkontrolle des<br />
Prozessbevollmächtigten<br />
Zivilprozessrecht<br />
Zivilprozessrecht<br />
BGH zu § 649 Satz 1 und 2 BGB Zivilrecht<br />
BGH Urteil 13.04.2011 VIII ZR 220/10 Bestimmung des Erfüllungsorts der Nacherfüllung Zivilrecht<br />
BGH Urteil 04.05.2010 VIII ZR 195/10 Ersatzansprüche des Mieters wegen Schönheitsreparaturen Zivilrecht<br />
BGH Urteil 11.05.2011 VIII ZR 289/09 Nutzung eines fremden ebay-Kontos Zivilrecht<br />
BVerwG Urteil 23.02.2011 8 C 50.09<br />
BVerfG Beschluss 24.02.2011<br />
VG Karlsruhe<br />
2 BvR 1596/10 ,<br />
2 BvR 2346/10<br />
Urteil 07.04.2011 6 K 2400/10<br />
Mengenmäßige Beschränkung der Abgabe von Alkohol an<br />
Tankstellen außerhalb der Ladenöffnungszeiten rechtmäßig<br />
BVerfG erneut zum Richtervorbehalt bei der Blutentnahme<br />
Kommunales Vertretungsverbots eines Rechtsanwalts, der zugleich<br />
Stadtrat ist, ist zulässig.<br />
Verwaltungsrecht/<br />
Wirtschaftsverwaltungsrecht<br />
Öffentliches Recht/<br />
Strafprozessrecht<br />
Verwaltungsrecht
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