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Im Leid mit Gott - Christentum und Kultur

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Lass uns die Sterne zählen<br />

Fast immer war es still, wenn er nachts nach Hause kam <strong>und</strong> vorsichtig den Schlüssel umdrehte. Auf<br />

den kalten Fliesen tastete er sich im Dunkeln zur Küche, wo die knarrende Holztüre kein Licht in das<br />

Zimmer ließ, in dem seine Frau seit St<strong>und</strong>en schlief. Vier Scheiben Brot, Milch, Käse stellte sie immer<br />

für ihn bereit - während der Arbeit blieb ihm nie Zeit, zu Abend zu essen. 20 Minuten saß er jede<br />

Nacht alleine in der halbdunklen Küche <strong>und</strong> obwohl ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen <strong>und</strong> die<br />

Kälte an seinen Beinen nach oben schlich, fühlte er sich geborgen <strong>und</strong> willkommen. „Hier ist mein<br />

Platz“, dachte er jeden Abend, „genau hier an diesem Tisch“, von dem er danach aufstehen würde<br />

<strong>und</strong> zusehen, wie sich sein kleiner Sohn unter seiner großen warmen Hand schläfrig zu ihm umdrehte,<br />

um dann selbst neben seiner Frau einzuschlafen.<br />

An diesem Tag war die Wohnung nicht völlig dunkel, als er leise die Tür öffnete. Schwaches Licht<br />

entkam aus dem Zimmer seines Kindes <strong>und</strong> er schritt geräuschlos dem Lichtkegel entgegen. Mit dem<br />

Rücken an die Wand neben dem Fenster gelehnt, war der kleine Junge auf seinen angewinkelten<br />

Knien eingeschlafen, die Nachtlampe brannte. Er hatte seine Füße <strong>mit</strong> seinen kurzen Armen umarmt<br />

<strong>und</strong> sein Gesicht dem Licht zugewandt - der friedliche, aber allzu leicht verletzbare Gesichtsausdruck<br />

eines Kleinkindes. „Papa“, flüsterte seine leise Stimme, als er näher kam <strong>und</strong> die Bettdecke nach<br />

oben zog, „ich habe auf dich gewartet, Papa“, <strong>und</strong> es schien ihm fast peinlich darüber eingeschlafen<br />

zu sein. „Lieb von dir“, er redete langsam <strong>und</strong> ruhig <strong>und</strong> möglichst ohne seine Erschöpfung allzu<br />

deutlich werden zu lassen. „Lieb von dir, aber was wolltest du mir denn so spät noch sagen?“ Der<br />

Kleine hob den Kopf <strong>und</strong> schien für einen Augenblick nachzudenken, was denn der Gr<strong>und</strong> dafür<br />

gewesen war, weshalb er seien Vater zum ersten Mal nachts noch antreffen wollte, wenn dieser<br />

heimkam. „Der liebe <strong>Gott</strong> ist nicht mehr lieb, Papa, er hat Tiger überfahren lassen. Dann kann er doch<br />

nicht länger lieb sein, Papa, oder, wenn er <strong>mit</strong> ansehen kann, wie ein kleines Kätzchen überfahren<br />

wird - dann kann er doch nicht mehr lieb sein, oder?“ Trotz seiner Müdigkeit spürte der Mann, dass es<br />

diesmal nicht einfach sein würde, eine Antwort zu geben, er ahnte es zumindest, freilich ohne zu<br />

wissen, wie die Erklärung, die in den nächsten Sek<strong>und</strong>en von ihm erwartet wurde, aussehen würde.<br />

„Weißt du“, setzte er an, „weißt du“, <strong>und</strong> er zögerte <strong>und</strong> überlegte <strong>und</strong> sah in die kleinen,<br />

verschlafenen, traurigen Augen, die sachte verrieten, dass hinter ihnen eine zerbrechliche Welt<br />

gerade einen Riss erlitten hatte <strong>und</strong> plötzlich wusste er genau, was er zu antworten hatte. „Natürlich<br />

ist der liebe <strong>Gott</strong> lieb, er ist immer lieb <strong>und</strong> er ist trotzdem lieb. Er kann nur nicht ständig überall sein<br />

<strong>und</strong> alle im Auge haben. Manchmal - ganz selten allerdings - ist er vielleicht ein klein wenig<br />

überfordert <strong>und</strong> schafft es einfach nicht, jeden Menschen <strong>und</strong> überhaupt jeden Winkel der Erde<br />

gleichzeitig zu beobachten. Er ist ja auch schon alt <strong>und</strong> da fallen ihm manchmal die Augen zu, so wie<br />

dir vorhin die Augen zugefallen sind, obwohl du doch eigentlich auf mich warten wolltest. Das<br />

verstehst du doch, oder? Wie schnell das manchmal geht? Und dann passieren solche Dinge, wie,<br />

dass eine kleine Katze überfahren wird, in diesen Augenblicken - aber sonst ist <strong>Gott</strong> immer<br />

aufmerksam <strong>und</strong> schützend.“ - „Und immer lieb?“ - „Ja, deshalb ist <strong>Gott</strong> trotzdem lieb. Lass uns die<br />

Sterne draußen zählen - du wirst merken, dass es viel zu viele sind. Auf alle die muss <strong>Gott</strong> aufpassen.<br />

Solange du die Sterne nicht zählen kannst, wirst du immer wissen, dass <strong>Gott</strong> lieb ist.“ - Weil er zu viel<br />

zu tun hat, Papa, richtig?“ - „Genau, weil er zu viel zu tun hat!“<br />

Das Kind zog die Decke fest zu sich heran <strong>und</strong> seine kleinen Hände klammerten sich im weichen Stoff<br />

fest. „Papa, ich habe es auch gar nicht so richtig geglaubt, dass der liebe <strong>Gott</strong> nicht lieb sein soll,<br />

meine ich, das habe ich auch gar nicht so richtig geglaubt.“ - „Solange du die Sterne nicht zählen<br />

kannst“, wiederholte er, „kannst du immer sicher sein, dass <strong>Gott</strong> lieb ist.“ Die letzten Worte hatte der<br />

Junge schon nicht mehr gehört.<br />

Er knipste das Licht aus <strong>und</strong> tastete sich im Dunkeln zur Türe <strong>und</strong> ließ zum ersten Mal in dieser Nacht<br />

sein Abendessen unberührt auf dem Küchentisch stehen. Er war müde - schrecklich müde <strong>und</strong><br />

drückte sich erschöpft in das Kissen neben dem Bett seiner Frau. Ihr Atem war langsam <strong>und</strong> ruhig<br />

genau wie der seines Sohnes in diesem Moment im Nebenzimmer sein würde. Und damals fühlte er,<br />

dass er das Richtige gesagt hatte. Ja, für diesen Augenblick war es das Richtige gewesen. Sein<br />

Magen knurrte, aber er schlief sofort ein, obwohl er sonst nie hungrig schlafen konnte.<br />

Kathrin Schölch, 23. Juni 2008

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