Notfall+ Rettungsmedizin - Dr. iur. Erik Hahn
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die Verwirklichung des Tatbestandes, dafür
aber das Unwerturteil und damit die
Rechtswidrigkeit des Handelns, entfallen
lässt. Zu den Voraussetzungen des rechtfertigenden
Notstandes gehört das Vorliegen
einer Notstandslage, also einer gegenwärtigen
Gefahr für Leben oder Leib des
Patienten, die sich nur unter der Verletzung
geringer zu wichtender Interessen abwenden
lässt. Die vorzunehmende Notstandshandlung
muss sich zudem als geeignet,
erforderlich und angemessen erweisen. 4
Die Bundesärztekammer fordert in ihrem
Maßnahmenkatalog zur Notkompetenz,
dass der Rettungsassistent am Notfallort
auf sich alleine gestellt und ärztliche Hilfe,
etwa durch An- oder Nachforderung des
Notarztes, nicht rechtzeitig erreichbar ist.
Außerdem müssen die Maßnahmen, die
aufgrund eigener Diagnosestellung und
therapeutischer Entscheidung durchgeführt
werden, zur unmittelbaren Abwehr
von Gefahren für das Leben oder die Gesundheit
des Notfallpatienten dringend erforderlich,
das gleiche Ziel durch weniger
eingreifende Maßnahmen nicht zu erreichen
und die Hilfeleistung nach den besonderen
Umständen des Einzelfalles für den
Rettungsassistenten zumutbar sein. 5 Als
im Rahmen der Notkompetenz zulässige
Maßnahmen werden die Intubation ohne
Relaxantien, die Venenpunktion, die Applikation
kristalloider Infusionen, die Applikation
ausgewählter Medikamente und
die Frühdefibrillation genannt. Aufgrund
des in § 34 Strafgesetzbuch (StGB) enthaltenen
Angemessenheitsgrundsatzes 6 ist
der jeweils am wenigsten beeinträchtigende,
aber noch geeignete Eingriff zu wählen.
E Das nichtärztliche Rettungspersonal
darf auch im Rahmen der
Notkompetenz nur zwingend
gebotene medizinische
Behandlungen durchführen.
Wie im Fall der Delegation ärztlicher Aufgaben
muss der Rettungsassistent auch eine
unter diesen Umständen vorgenom-
4 Lissel, in: Razel, Luxenburger (Hrsg.), Handbuch
Medizinrecht, § 23, Rn. 54.
5 Kern/Hahn/Peters, in: Wölfl/Matthes (Hrsg.),
Unfallrettung, Stuttgart 2010, S. 11; BÄK, MedR
1993, 42.
6 Erb, in: MüKo, 1. Auflage 2003, § 34 StGB,
Rn. 166 ff.
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Medizinrecht
mene Maßnahme beherrschen. Kenntnisse
eines Facharztes werden dabei aber
nicht verlangt. 7
Der Maßnahmenkatalog der Bundesärztekammer
darf jedoch hinsichtlich seiner
rechtlichen Tragweite nicht überbewertet
werden. Insbesondere ist er ungeeignet,
um den darüber hinausgehenden
Anwendungsbereich von § 34 StGB verbindlich
zu beschränken und damit die
Strafbarkeitsgrenzen unerlaubter Heilkundeausübung
rechtsverbindlich zu konkretisieren.
8 Wenn also etwa ein Rettungsdienstmitarbeiter
unter den oben genannten
Voraussetzungen des rechtfertigenden
Notstandes ausreichend qualifiziert ist, um
einen grundsätzlich unter dem Arztvorbehalt
stehenden Eingriff durchzuführen, obwohl
er entgegen des Maßnahmenkatalogs
kein Rettungsassistent, sondern etwa nur
Rettungssanitäter oder gar Rettungshelfer
ist, so kann auch er gerechtfertigt sein. 9 Zu
denken ist hier beispielsweise an denjenigen,
der einige Semester Medizin ohne Abschluss
studiert und in dieser Zeit gerade
die einschlägigen Fächer belegt hat, an besonders
berufserfahrene Rettungssanitäter
oder solche, die sich gerade in einem fortgeschrittenen
Stadium einer Qualifizierungsmaßnahme
zum Rettungssanitäter
befinden. Ihnen kann die Vornahme einer
sicher beherrschten Maßnahme im Rahmen
der Notkompetenz nicht verwehrt
werden. Gleiches gilt auch für die Durchführung
einer überhaupt nicht im Katalog
aufgenommenen Behandlungsweise, wenn
diese notfallmedizinisch indiziert ist und
zuverlässig beherrscht wird. 10
Zumindest bei Vorliegen dieser Voraussetzungen
wäre die Behandlung also nicht
strafbar. Selbst wenn aber, etwa aufgrund
der vermeintlich spezialgesetzlichen Regelung
im Rettungsassistentengesetz (RettAssG),
mit Teilen der Literatur 11 bereits die
Anwendbarkeit des HPG abzulehnen sein
7 Ohr, Notfall Rettungsmed 2005, 440 (442).
8 Vgl. Boll, Notfall Rettungsmed 2003, 345
(346); BGH, NJW 1991, 2359.
9 Braig, Zivilrechtliche Aspekte rettungsdienstlicher
Einsätze, S. 187 f.; vgl. Boll, Notfall
Rettungs med 2003, 345 (349 f.).
10 Boll, MedR 2002, 232 (234).
11 Vgl. etwa: Bockelmann, NJW 1966, 1145
(1146); Boll, Strafrechtliche Probleme bei Kompetenzüberschreitungen
nichtärztlicher medizinischer
Hilfspersonen in Notsituationen,
S. 164 ff.; Lippert, NJW 1982, 2089 (2091).
wäre („lex specialis derogat legi generali“),
bliebe noch ausreichend Raum für eine
Rechtfertigung im Rahmen anderer Verstöße
gegen den Arztvorbehalt. Zu nennen
ist hier unter anderem das unzulässige Verabreichen
von Betäubungsmitteln nach § 2
9 Abs. 1 Nr. 6b i.V.m. § 13 Abs. 1 S. 1 Betäubungsmittelgesetz
(BtmG).
Neben dem Strafrecht kommt der Notkompetenz
auch im Zivil- und dabei insbesondere
im Haftungsrecht große Bedeutung
zu. Ein innerhalb des Kompetenzrahmens
durchgeführter Eingriff
wird regelmäßig weder die Voraussetzung
des § 823 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
erfüllen, 12 noch kann allein aufgrund des
eigentlich bestehenden Verstoßes gegen
den Arztvorbehalt der Vorwurf der Sorgfaltswidrigkeit
gegenüber dem Rettungsdienstpersonal
erhoben werden. 13 Hiervon
abzugrenzen ist aber die Haftung für
einen Behandlungsfehler aufgrund eines
nicht „lege artis“ vorgenommenen Eingriffs.
Diese bleibt davon unbenommen
weiterhin möglich. 14
Einordnung und Bewertung der
bisherigen Rechtsprechung
Einführung
Außerhalb des Rettungsdienstes wurde
der Versuch, sich mit dem Verweis auf
das Bestehen berufsspezifischer Regeln
dem Erlaubniszwang des HPG zu entziehen,
noch bei einer Reihe weiterer Berufsgruppen
unternommen. Besonders deutlich
war das im Bereich der Physiotherapie
zu spüren, als Physiotherapeuten und
Masseure bzw. medizinische Bademeister
15 den Aufstand gegen die jeweiligen
Zulassungsbehörden probten und in den
Voten der Rechtsprechung – jedenfalls zunächst
– auch Unterstützung fanden. So
gelangte etwa der Verwaltungsgerichtshof
(VGH) Mannheim in seiner Entscheidung
12 Allgemein gegen eine zivilrechtliche Haftung
in diesem Fall: Lippert, Notfall Rettungsmed
2003, 50 (52).
13 Ohr, Notfall Rettungsmed 2005, 440 (442).
14 Kern/Hahn/Peters, in: Wölfl/Matthes (Hrsg.),
Unfallrettung, Stuttgart 2010, S. 11.
15 Zur fehlenden Anwendbarkeit des HPG auf
Masseure und medizinische Bademeister vgl.
Hahn A. B. 2010, S. 404f. BVerwG, PKR 2010, 22.