Engagement ermöglichen – Strukturen gestalten - BBE
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<strong>Engagement</strong> <strong>ermöglichen</strong> <strong>–</strong><br />
<strong>Strukturen</strong> <strong>gestalten</strong><br />
Nationales Forum für<br />
<strong>Engagement</strong> und Partizipation<br />
Band 3<br />
Nationales Forum<br />
für <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation<br />
Handlungsempfehlungen für eine nationale <strong>Engagement</strong>strategie
ISBN: 978-3-00-031931-0
3<br />
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Inhaltsverzeichnis<br />
Editorial<br />
Geleitwort, Staatssekretär Josef Hecken (BMFSFJ)<br />
Einleitung, Dr. Serge Embacher (<strong>BBE</strong>)<br />
Plenum am 25. März 2010<br />
Rede anlässlich der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung einer Nationalen<br />
<strong>Engagement</strong>strategie, Dieter Hackler (BMFSFJ)<br />
Begrüßung durch den Vorsitzenden des <strong>BBE</strong>-Sprecherrates Prof. Dr. Thomas Olk<br />
Podiumsdiskussion<br />
Dialogforen<br />
Dialogforum „Reform des Zuwendungsrechts“<br />
Bericht: Regeln vereinfachen <strong>–</strong> Gestaltungsfreiheit schaffen<br />
Ergebnisse<br />
Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Modernisierung und Entbürokratisierung<br />
des Zuwendungsrechts (Kurzfassung)<br />
Dialogforum „Weiterentwicklung der Freiwilligendienste“<br />
Bericht: Vielfalt unter einem Dach<br />
Ergebnisse<br />
Uwe Slüter: Kurzgutachten „Mögliche Rahmenbedingungen für ein Freiwilligendienstestatusgesetz (FWDStG)“<br />
Dr. Nicole D. Schmidt: Thesen „Zur Zielgruppe Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen“<br />
Susanne Huth: Thesen „Zum freiwilligen <strong>Engagement</strong> von Menschen mit Migrationshintergrund.<br />
Zum Begriff ‚benachteiligte Jugendliche‘“<br />
Prof. Dr. Gisela Jakob: Thesen „Überlegungen zu einem Freiwilligendienstestatusgesetz“<br />
Christiane Richter: Thesen „Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für Seniorinnen und<br />
Senioren im Freiwilligendienst“<br />
Dialogforum „Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>“<br />
Bericht: <strong>Engagement</strong> <strong>–</strong> Möglichkeiten <strong>–</strong> Bilden<br />
Ergebnisse<br />
Birger Hartnuß: Kurzgutachten „Schulöffnung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>“<br />
Prof. Dr. Thomas Rauschenbach: Kurzgutachten „<strong>Engagement</strong> und Bildung“<br />
Dialogforum „Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>“<br />
Bericht: Erwerbsarbeit und <strong>Engagement</strong> aufeinander abstimmen; Chancen, Hindernisse, Gefahren<br />
Ergebnisse<br />
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V.: Expertise „<strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit.<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>, Erwerbsarbeit, Arbeitsmarktpolitik und neue Rahmenbedingungen:<br />
Herausforderungen und Wechselwirkungen“<br />
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170<br />
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Dialogforum „Infrastrukturförderung“<br />
Bericht: Vernetzen und Abstimmen <strong>–</strong> Wer macht was?<br />
Ergebnisse<br />
Dr. Thomas Röbke/Prof. Dr. Gisela Jakob: Gutachten „<strong>Engagement</strong>förderung als Infrastrukturförderung“<br />
Prof. Dr. Hans-Jürgen Dahme/Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt: Gutachten „<strong>Engagement</strong>politik als Infrastrukturförderung<br />
- zur engagementpolitischen Bedeutung und Entwicklung von Verbänden im Sozialsektor“<br />
Prof. Dr. Elisabeth Bubolz-Lutz: Thesen „Öffentliche Förderung der Infrastruktureinrichtungen der<br />
<strong>Engagement</strong>förderung“<br />
Dialogforum „Unternehmen in der Bürgergesellschaft <strong>–</strong> Corporate Citizenship“<br />
Bericht: Partnerschaften strategisch entwickeln<br />
Ergebnisse<br />
Peter Kromminga/Dr. Reinhard Lang: Gutachten „Gemeinnützige Mittler als<br />
Katalysatoren für Unternehmensengagement“<br />
Anhang<br />
Verhaltenskodex für die Bürgerbeteiligung im Entscheidungsprozess<br />
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren<br />
Weitere Publikationen des Nationalen Forums für <strong>Engagement</strong> und Partizipation<br />
Impressum<br />
Herausgeber: Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> (<strong>BBE</strong>)<br />
Michaelkirchstr. 17/18, 10179 Berlin<br />
V.i.S.d.P.: PD Dr. Ansgar Klein, Geschäftsführer des <strong>BBE</strong><br />
Redaktion: Dr. Serge Embacher, Ina Bömelburg, Tobias Quednau<br />
Layout und Satz: Regina Vierkant<br />
Fotos: Frank-Michael Arndt<br />
Druck: Druckhaus Köthen, Köthen<br />
Koordinierungsstelle Nationales Forum für <strong>Engagement</strong> und Partizipation<br />
Dr. Serge Embacher (Projektleitung), Ina Bömelburg, Tobias Quednau, Benjamin Reitz<br />
Telefon: 030 - 6 29 80 625, Telefax: 030 - 6 29 80 152<br />
E-Mail: forum@b-b-e.de, Internet: www.b-b-e.de/nationales-forum/<br />
Berlin Juli 2010<br />
ISBN: 978-3-00-031931-0<br />
Das Nationale Forum für <strong>Engagement</strong> und<br />
Partizipation wird gefördert vom<br />
Träger der <strong>BBE</strong>-Geschäftsstelle ist der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V.
Editorial<br />
Als sich im Frühjahr 2010 über 300 Expertinnen und<br />
Experten zu zwei Kongressen im Paul-Löbe-Haus<br />
des Deutschen Bundestages versammelten, um in<br />
zehn Dialogforen über Möglichkeiten einer nationalen<br />
<strong>Engagement</strong>strategie zu beraten, konnten wir nur<br />
hoffen, was sich im Nachhinein bestätigt hat: Das Nationale<br />
Forum für <strong>Engagement</strong> und Partizipation ist<br />
durch seine fachpolitischen Beiträge zu einer wichtigen<br />
Beratungsinstanz für die <strong>Engagement</strong>politik des<br />
Bundes geworden.<br />
Durch die breite Einbindung der organisierten Bürgergesellschaft<br />
ist eine wichtige Bedingung für gelingende<br />
<strong>Engagement</strong>politik erfüllt worden. Die Stärkung<br />
der Rahmenbedingungen für die Entfaltung der<br />
Bürgergesellschaft und des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
kann nämlich nur unter Einbeziehung der<br />
Betroffenen glücken. Bürgerbeteiligung ist ein Kernelement<br />
von <strong>Engagement</strong>politik. Die systematische<br />
Einbindung von engagementfördernden Unternehmen<br />
und Wirtschaftsverbänden sowie die intensive<br />
Mitwirkung von Bund, Ländern und Kommunen im<br />
Forumsprozess machen deutlich, dass die Förderung<br />
des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s und die Entwicklung<br />
guter Rahmenbedingungen die enge Kooperation<br />
mit Politik und Wirtschaft erfordert.<br />
Vor diesem Hintergrund ist das Nationale Forum<br />
für <strong>Engagement</strong> und Partizipation ein spannendes<br />
Governance-Experiment mit offenem Ausgang. Hier<br />
wird versucht, die Entwicklung einer nationalen <strong>Engagement</strong>strategie<br />
als einen Aushandlungsprozess<br />
zwischen allen Beteiligten zu organisieren. Dabei ist<br />
jede Seite auf je eigene Weise beteiligt. Die föderalen<br />
Ebenen des Staates <strong>–</strong> also Bund, Länder und Kommunen<br />
<strong>–</strong> nutzen bei der Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen<br />
die Expertise der Engagierten vor<br />
Ort und stehen überdies in der Verantwortung, sich<br />
sachgerecht im Hinblick auf Arbeits- und Verantwortungsteilung<br />
abzustimmen. Die Wirtschaft hat <strong>–</strong> zu-<br />
mal in Zeiten der allfälligen Krise <strong>–</strong> die Chance, sich<br />
im Rahmen des engagementpolitischen Prozesses<br />
zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu bekennen.<br />
Die Bürgergesellschaft schließlich kann ihre Impulse<br />
und Ideen direkt in den politischen Prozess einbringen<br />
und ist dabei auch ‘genötigt’, ihre Ideen und<br />
Forderungen einem Realitätstest zu unterziehen.<br />
Man sieht also, dass es sich beim Nationalen Forum<br />
für <strong>Engagement</strong> und Partizipation um ein anspruchsvolles<br />
Format der Begleitung und Vorbereitung von<br />
engagementpolitischen Entscheidungen handelt. Das<br />
Offene und Experimentelle dieses Formats ist kein<br />
Makel, sondern ein Beitrag zur Vitalisierung des demokratischen<br />
Gemeinwesens, das vom ergebnisoffenen<br />
Diskurs lebt. Das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> (<strong>BBE</strong>), in dem sich die Akteure aus Bürgergesellschaft,<br />
Wirtschaft, Staat und Kommunen zum<br />
Zwecke der <strong>Engagement</strong>förderung vernetzen, kann all<br />
seine Erfahrungen in der trisektoralen Netzwerkarbeit<br />
als Veranstalter des Forums nutzen und damit seine<br />
Veranstalterrolle für das Forum auch weiterhin optimal<br />
wahrnehmen. Die schon seit vielen Jahren im Netzwerk<br />
versammelte Expertise kommt Dank seiner Veranstalterrolle<br />
für das Nationale Forum für <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation noch besser als bislang zur Geltung.<br />
Mit dem vorliegenden dritten Band unserer Publikationsreihe<br />
dokumentieren wir den Auftaktkongress des Nationalen<br />
Forums für <strong>Engagement</strong> und Partizipation für die<br />
laufende 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages<br />
am 25. März 2010 sowie die sechs Dialogforen vom<br />
April 2010 zu den Themenfeldern Reform des Zuwendungsrechts,<br />
Zukunft der Freiwilligendienste, Bildung<br />
und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>, Erwerbsarbeit<br />
und <strong>Engagement</strong>, Infrastrukturförderung und Corporate<br />
Citizenship (Unternehmen in der Bürgergesellschaft).<br />
Damit erhalten die Leserin und der Leser einen guten<br />
Einblick in den aktuellen Entwicklungsstand der Diskussion<br />
um die nationale <strong>Engagement</strong>strategie.<br />
3
Editorial<br />
Auch die Koordinierungsstelle des Nationalen Forums<br />
für <strong>Engagement</strong> und Partizipation betrachtet ihre Arbeit<br />
als einen kontinuierlichen Lernprozess. Daher sind wir<br />
dankbar für Kritik und Anregungen und würden es begrüßen,<br />
wenn Sie uns <strong>–</strong> wie nun schon seit über einem<br />
Jahr <strong>–</strong> auch weiterhin konstruktiv und kritisch begleiten.<br />
Darüber hinaus gilt unser Dank dem Bundesministerium<br />
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für<br />
die großzügige Förderung des Nationalen Forums für<br />
<strong>Engagement</strong> und Partizipation sowie allen engagierten<br />
Menschen, die sich bislang in den Prozess des Aufbaus<br />
der nationalen <strong>Engagement</strong>strategie eingebracht<br />
haben. Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> ist ein zentrales<br />
Element des demokratischen Gemeinwesens.<br />
Auf bald im Nationalen Forum für <strong>Engagement</strong> und<br />
Partizipation! Eine erste Gelegenheit dazu bietet der<br />
zugangsoffene Diskurs zu den vorliegenden Zwischenergebnisses<br />
des Forums im Internet im Herbst<br />
diesen Jahres.<br />
Prof. Dr. Thomas Olk<br />
(Vorsitzender des Sprecherrats des <strong>BBE</strong>)<br />
PD Dr. Ansgar Klein<br />
(Geschäftsführer des <strong>BBE</strong>)<br />
Dr. Serge Embacher<br />
(Leiter der Koordinierungsstelle des Nationalen<br />
Forums für <strong>Engagement</strong> und Partizipation)<br />
4
Geleitwort<br />
Wir haben uns in der <strong>Engagement</strong>politik in dieser Legislaturperiode<br />
ein großes Ziel gesetzt: die Entwicklung<br />
und Umsetzung einer nationalen <strong>Engagement</strong>strategie.<br />
Die beeindruckende Vielfalt des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
vor Ort, das sich in Nachbarschaftsheimen,<br />
Freiwilligenagenturen, Mehrgenerationenhäusern, im<br />
Sportverein, in Bürgerinitiativen, in Sozialunternehmen,<br />
im Hospiz oder bei der Freiwilligen Feuerwehr zeigt,<br />
soll weiter gefördert und ausgebaut werden. Um dies<br />
wirksam voranzutreiben, will die Bundesregierung unter<br />
Federführung des Bundesministeriums für Familie, Senioren,<br />
Frauen und Jugend für die engagementpolitischen<br />
Aktivitäten in den verschiedenen Ressorts und in Partnerschaft<br />
mit Ländern und Kommunen eine gemeinsame<br />
Strategie entwickeln. Das heißt nicht, dass Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> vereinheitlicht oder „verregelt“<br />
werden soll. Vielmehr verfolgen wir die Absicht, der mit<br />
der Vielfalt des <strong>Engagement</strong>s zugleich anwachsenden<br />
Vielfalt engagementpolitischer Ansätze eine strategische<br />
Perspektive zu geben. Hier kann der Bund in seiner gesamtstaatlichen<br />
Verantwortung aktiv werden.<br />
Ein wichtiges Merkmal dieser Strategie wird darin bestehen,<br />
dass wir sie gemeinsam mit der Bürgergesellschaft<br />
entwickeln werden. Durch ihre Teilhabe leistet<br />
sie einen bedeutenden Beitrag zur Stärkung unserer<br />
Demokratie. Die zahlreichen Initiativen, Vereine und<br />
Verbände der organisierten Bürgergesellschaft und<br />
des dritten Sektors, aber auch die engagierten Unternehmen<br />
sowie die zahlreichen Stiftungen und Bürgerstiftungen<br />
sind wichtige und unabdingbare Akteure für<br />
eine erfolgreiche Umsetzung einer solchen Strategie.<br />
Die Bundesregierung ist sich bewusst, dass ein kooperatives<br />
und von einer neuen Verantwortungsteilung<br />
geprägtes Verhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und<br />
Bürgergesellschaft hierbei von Bedeutung ist.<br />
In diesem Sinne ist der Beteiligungsprozess in den<br />
Dialogforen ein wichtiger Schritt in diese Richtung.<br />
Eine ständige Herausforderung besteht darin, die<br />
unterschiedlichen Akteure des <strong>Engagement</strong>s und der<br />
<strong>Engagement</strong>politik zu motivieren, sich auf eine echte<br />
Partnerschaft einzulassen.<br />
Die nationale Engamenstrategie als öffentlichen,<br />
transparenten und dialogischen Prozess zu etablieren<br />
und zu verstetigen, wird in der laufenden Legislaturperiode<br />
unser Ziel sein. Dabei gilt schon heute<br />
unser Dank den vielen engagierten Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmern an den vom Nationalen Forum für<br />
<strong>Engagement</strong> und Partizipation (NFEP) ausgerichteten<br />
sechs Dialogforen im Frühling dieses Jahres.<br />
Die in den Foren versammelte Expertise, aber auch<br />
die spürbare Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme<br />
haben wesentlich dazu beigetragen, dass das Nationale<br />
Forum dem BMFSFJ wichtige Empfehlungen für<br />
eine nationale <strong>Engagement</strong>strategie aufzeigen konnte.<br />
Josef Hecken, Staatssekretär im Bundesministerium<br />
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />
5
Einleitung<br />
<strong>Engagement</strong> <strong>ermöglichen</strong> <strong>–</strong> <strong>Strukturen</strong> <strong>gestalten</strong>:<br />
Chancen für die Bürgergesellschaft<br />
Das freiwillige <strong>Engagement</strong> von Bürgerinnen und<br />
Bürgern leistet einen unschätzbaren Beitrag zur<br />
Vitalisierung der Demokratie. Das demokratische<br />
Gemeinwesen lebt von Menschen, die sich aktiv<br />
für seine Ausgestaltung einsetzen und damit den<br />
rechtsstaatlich garantierten Freiheitsrechten, wie sie<br />
in Artikel 1-19 des Grundgesetzes beschrieben sind,<br />
reale Bedeutung geben. Was Freiheit sei, wird durch<br />
staatsbürgerliches Handeln erst richtig definiert und<br />
damit lebendig. Darin liegt der selten thematisierte<br />
eigentliche „Wert“ des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
<strong>–</strong> dass private Freiheitsrechte ihrer wahre Bedeutung<br />
erst erlangen, wenn sie von ihren Trägern<br />
zugleich als öffentliche Freiheitsrechte begriffen und<br />
im <strong>Engagement</strong> gelebt werden. Daraus ergibt sich<br />
auch der Umstand, dass <strong>Engagement</strong> und Teilhabe<br />
zwei Seiten derselben Medaille sind, da derjenige,<br />
der sich in der Bürgergesellschaft aus freien Stücken<br />
engagiert, daraus auch das Bedürfnis <strong>–</strong> nicht unbedingt<br />
den Anspruch <strong>–</strong> entwickelt, über die Dinge des<br />
Gemeinwesens mitbestimmen zu wollen. Alle Versuche,<br />
diese genuin politische Dimension des <strong>Engagement</strong>s<br />
negieren und das <strong>Engagement</strong> auf die Rolle<br />
des Ehrenamts reduzieren zu wollen, gehen an einer<br />
avancierten Idee von Bürgergesellschaft vorbei.<br />
Um diese Idee in den Blick zu bekommen, lohnt es<br />
sich, zunächst das spezifische Demokratieverständnis<br />
zu klären, das dafür am besten geeignet ist. Demokratie<br />
ist ja nicht bloß ein Verfahren, um legitime<br />
politische Entscheidungen herbeizuführen. Entscheidend<br />
ist vielmehr die Qualität des demokratischen<br />
Verfahrens und damit auch der von ihm produzierten<br />
Entscheidungen. Pflanzen sich in ihm Autorität und<br />
Willkür und damit die Macht der Interessen fort, getarnt<br />
unter dem Mantel des korrekten Verfahrens?<br />
Oder entwickelt es sich in einem prozesshaften und<br />
stets falliblen Werden in Richtung einer deliberativen<br />
(beratschlagenden), also von freier Rede und offener<br />
Meinungsbildung bestimmten Demokratie?<br />
6<br />
Ohne Mühe lässt sich in der damit angedeuteten<br />
Bandbreite der Möglichkeiten die deliberative Demokratie<br />
als die der Bürgergesellschaft angemessenste<br />
auszeichnen. In der deliberativen Demokratie wird<br />
der politische Prozess selbst zum Grundbaustein<br />
für die demokratische Ordnung. Demokratie wird als<br />
die untrennbare Einheit von öffentlicher Meinungsbildung<br />
und freier Entscheidungsfindung wahrgenommen.<br />
Erst wenn jene nach Kriterien der Offenheit,<br />
Transparenz, Fairness und Inklusion ausgerichtet ist,<br />
kann diese volle Legitimität für sich beanspruchen.<br />
Akzeptanz und Folgebereitschaft hängen bei demokratischen<br />
Entscheidungen wesentlich vom vorangegangenen<br />
Prozess der öffentlichen Deliberation, dem<br />
vorbehaltlosen Ringen um das bessere Argument,<br />
ab. Das Prinzip der Volkssouveränität, welches nicht<br />
auf regelmäßige freie Wahlen beschränkt bleiben<br />
darf, findet somit erst im aktiven demokratischen <strong>Engagement</strong><br />
von Bürgerinnen und Bürgern seinen adäquaten<br />
Ausdruck.<br />
Demokratische Politik im diesem deliberativen Sinne<br />
ist als Prozess einer kollektiven Aneignung des Gemeinwesens<br />
zu verstehen, bei dem sich aktive Bürgerinnen<br />
und Bürger darüber bewusst werden, dass die<br />
Gestaltung gesellschaftlicher Zustände ihre eigene<br />
Angelegenheit ist und es daher auf ihr persönliches<br />
<strong>Engagement</strong> ankommt. Private Freiheit wird in dieser<br />
Perspektive <strong>–</strong> wie bereits erwähnt <strong>–</strong> immer auch als<br />
öffentliche Freiheit gesehen, sich für das Gemeinwohl<br />
zu engagieren.<br />
Die Voraussetzungen für eine solch anspruchsvolle<br />
demokratische Beteiligungskultur sind heute durchaus<br />
gegeben. Die über 23 Millionen bürgerschaftlich<br />
Engagierten in Deutschland stehen für eine neue Beteiligungskultur,<br />
die auch (und vor allem) demokratiepolitisch<br />
relevant ist. Allerdings kommt es darauf an,<br />
geeignete Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> zu <strong>gestalten</strong>, um das bürgerschaftliche
<strong>Engagement</strong> als Element des demokratischen Prozesses<br />
zu <strong>ermöglichen</strong> und zu fördern.<br />
Vor diesem demokratiepolitischen Hintergrund stellt<br />
das Nationale Forum für <strong>Engagement</strong> und Partizipation<br />
(NFEP) den anspruchsvollen und keineswegs<br />
als Selbstläufer firmierenden Versuch dar, auf Bundesebene<br />
einen neuartigen Governance-Prozess in<br />
Gang zu bringen. Governance als Gegenbegriff zu<br />
Government (engl. für „Regierung“) steht dabei für ein<br />
neues Staatsverständnis <strong>–</strong> ein Verständnis, das von<br />
der Einsicht getragen ist, dass die Qualität politischer<br />
Prozesse umso besser ist, je stärker der Aspekt der<br />
deliberativen Beteiligung darin berücksichtigt ist. Dabei<br />
ist <strong>Engagement</strong>politik nur ein kleiner <strong>–</strong> aber eben<br />
bedeutsamer <strong>–</strong> Ausschnitt, in dem sich deliberative<br />
Demokratie initiieren und motivieren lässt. Die nationale<br />
<strong>Engagement</strong>strategie könnte zu einem Experimentierfeld<br />
für ein neues Politikverständnis werden,<br />
bei dem es ganz zentral um demokratische Teilhabe<br />
und freien Diskurs geht, bevor die durch Wahlen legitimierten<br />
Instanzen <strong>–</strong> Regierungen und Parlamente<br />
<strong>–</strong> entscheiden. Was immer sie entscheiden, ihre<br />
Entscheidungen werden umso besser sein, je stärker<br />
sie von einem deliberativ geprägten Demokratieverständnis<br />
angeleitet werden.<br />
Das NFEP hat nun die ganz spezifische und demokratiepolitisch<br />
relevante Aufgabe, die Entwicklung<br />
einer nationalen <strong>Engagement</strong>strategie <strong>–</strong> bei der es<br />
um Fragen des Zuwendungsrechts und Infrastruktur<br />
für <strong>Engagement</strong> ebenso geht wie um die Themen<br />
Bildung, Integration, Pflege, Arbeitsmarktpolitik und<br />
Unternehmensengagement <strong>–</strong> durch die Organisation<br />
eines Fachdiskurses mit Expertise aus der Bürgergesellschaft<br />
anzureichern. Dabei kommt es vor allem<br />
darauf an, die verschiedenen relevanten Bereiche,<br />
die föderalen Ebenen des Staates ebenso wie Wirtschaft<br />
und Bürgergesellschaft, gleichermaßen einzubinden.<br />
Damit eine nationale <strong>Engagement</strong>strategie<br />
tatsächlich zur Strategie werden kann, ist im Idealfall<br />
ein Umdenken erforderlich, bei dem „alte Zöpfe“ abgeschnitten<br />
und neue <strong>Strukturen</strong> ersonnen werden<br />
müssen. Dazu gehört auch, dass Phasen der Entscheidung<br />
sich mit solchen der partizipativen Deliberation<br />
abwechseln, wozu vor allem moderne Beteiligungsformen<br />
via Internet wichtig sind. Mit der für den<br />
Herbst 2010 geplanten Online-Beteiligungsphase im<br />
WEB2.0-Format versucht das NFEP, auch diesem<br />
Erfordernis gerecht zu werden.<br />
Der vorliegende dritte Band der Dokumentationsreihe<br />
des NFEP, den die Koordinierungsstelle beim<br />
Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
(<strong>BBE</strong>) nunmehr vorlegt, hält nun den aktuellen Stand<br />
Einleitung<br />
der Dinge bei der Entwicklung der <strong>Engagement</strong>politik<br />
auf Bundesebene fest. Zur Erinnerung: Im Koalitionsvertrag<br />
der schwarz-gelben Bundesregierung<br />
vom Herbst 2009 ist die Weiterentwicklung und<br />
Umsetzung einer nationalen <strong>Engagement</strong>strategie<br />
ausdrücklich festgeschrieben. Die Koordinierungsstelle<br />
des NFEP hat daraufhin die Ergebnisse der<br />
Beratungen aus dem letzten Jahr (s. Bd. 1 u. 2 der<br />
Dokumentationsreihe) aufgegriffen, um die nächsten<br />
Schritte zu gehen:<br />
Am 25. März 2010 fand in der Humboldt Viadrina<br />
School of Governance in Berlin ein Auftaktkongress<br />
für die laufende Wahlperiode statt. In seiner Begrüßungsrede<br />
stellte dabei Prof. Dr. Thomas Olk, Vorsitzender<br />
des Sprecherrats des <strong>BBE</strong>, die Bedeutung<br />
des Prozesses und der Aushandlung bei der Weiterentwicklung<br />
der <strong>Engagement</strong>politik heraus. Dieter<br />
Hackler, im Bundesministerium für Familie, Senioren,<br />
Frauen und Jugend (BMFSFJ) verantwortlicher Abteilungsleiter<br />
für <strong>Engagement</strong>politik, unterstrich in seiner<br />
Rede die Bedeutung der nationalen <strong>Engagement</strong>strategie<br />
aus Sicht der Bundesregierung und hob hervor,<br />
dass eine zeitgemäße <strong>Engagement</strong>politik nicht „top<br />
down“, sondern nur unter aktiver Mitwirkung der Bürgergesellschaft<br />
entstehen könne. Auf einem mit Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmern aus Staat, Wirtschaft<br />
und Bürgergesellschaft besetzten Podium wurde anschließend<br />
über Woher und Wohin der <strong>Engagement</strong>politik<br />
diskutiert und eine aktuelle Bestandsaufnahme<br />
präsentiert. Alle Beiträge sind im vorliegenden Band<br />
dokumentiert.<br />
Ebenfalls dokumentiert sind die sechs jeweils eintägigen<br />
Dialogforen, die im April 2010 an wechselnden<br />
Orten in Berlin stattfanden und sich mit folgenden<br />
Themen beschäftigten;<br />
• Zuwendungsrecht,<br />
• Freiwilligendienste,<br />
• Bildung,<br />
• Arbeitsmarktpolitik/Erwerbsarbeit,<br />
• Infrastruktur,<br />
• Unternehmen in der Bürgergesellschaft.<br />
Diese Foren, die jeweils mit Vertreterinnen und Vertretern<br />
aus Politik, Wirtschaft, Bürgergesellschaft<br />
und Wissenschaft besetzt waren, hatten die Aufgabe,<br />
die Ergebnisse der beiden Kongresse aus dem<br />
Jahr 2009 aufzugreifen und die aktuellen Probleme<br />
und Herausforderungen in der <strong>Engagement</strong>politik<br />
zu diskutieren, zu bündeln und mit Handlungsempfehlungen<br />
zu versehen, die in möglichst konzisen<br />
Ergebnispapieren zusammengefasst werden sollten.<br />
Die Dialogforen waren lebhafte Veranstaltungen, bei<br />
7
Einleitung<br />
denen sehr engagiert diskutiert und gestritten wurde.<br />
Allen Teilnehmenden gilt unser Dank und unser Respekt<br />
angesichts der Geduld, die solche „diskursiven<br />
Großveranstaltungen“ jedem einzelnen abverlangen.<br />
Am Ende jedes Dialogforums stand ein mehrseitiges<br />
Papier mit Handlungsempfehlungen für die konkrete<br />
Ausgestaltung der <strong>Engagement</strong>strategie. Im vorliegenden<br />
Band sind die Dialogforen so aufbereitet,<br />
dass neben dem Ergebnispapier auch ein kurzer<br />
Bericht über die wichtigsten Punkte, die von der Koordinierungsstelle<br />
vorher in Auftrag gegebenen und<br />
allen Teilnehmenden vorgelegten Gutachten sowie<br />
thematische Stellungnahmen angedruckt sind. Mit<br />
Hilfe dieser Dokumente ist es möglich, eine genaue<br />
Vorstellung vom Stand der Dinge zu erlangen.<br />
Die Ergebnispapiere aller Dialogforen <strong>–</strong> insgesamt<br />
über 30 Seiten engagementpolitische Problembeschreibungen<br />
und Handlungsempfehlungen <strong>–</strong> hat die<br />
Koordinierungsstelle des NFEP Anfang Mai 2010 dem<br />
BMFSFJ übergeben. Dort wurden sie gesichtet und<br />
als Grundlage für einen im Herbst 2010 geplanten<br />
Kabinettsbeschluss der Bundesregierung verwendet.<br />
Dieser Beschluss wird einen weiteren Meilenstein darstellen<br />
und seinerseits den Anstoß für die Weiterentwicklung<br />
der nationalen <strong>Engagement</strong>strategie geben.<br />
Denn das Wesen dieser Strategie besteht im Prozess<br />
selbst. Dauerhafte Fortschritte lassen sich in der <strong>Engagement</strong>politik<br />
nur erzielen und sichern, wenn sie<br />
auf einem Prozess der Beratschlagung und gleichberechtigten<br />
Teilhabe basiert. Dieser Prozess ist fallibel<br />
und gelegentlich auch störanfällig. Doch sollte das<br />
nicht dazu führen, ihn in Frage zu stellen. Zum Modell<br />
des deliberativen Austauschs gibt es in der von<br />
Vielfalt und Heterogenität geprägten demokratischen<br />
Gesellschaft heute keine sinnvolle Alternative. Die beteiligten<br />
Akteure müssen sich dauerhaft darauf einstellen,<br />
neue Kooperationsverhältnisse einzugehen und<br />
an einer neuen Aufgaben- und Verantwortungsteilung<br />
zu arbeiten. Das berührt vor allem das Verhältnis des<br />
Staates zu einer heute immer selbstbewusster gewordenen<br />
Bürgergesellschaft. Um die neuen Facetten und<br />
Aspekte in diesem Verhältnis zu beleuchten, hat der<br />
Europarat im vergangenen Jahr im Zusammenspiel<br />
mit europäischen Nicht-Regierungsorganisationen einen<br />
Verhaltenskodex für die Bürgerbeteiligung im Entscheidungsprozess<br />
(Code of Good Practice for Civil<br />
Participation in the Decision Making Process) verabschiedet.<br />
Dort werden die Kooperationsmöglichkeiten<br />
zwischen Staat und Bürgergesellschaft an spezifische<br />
Diskurs- und Verfahrensregeln geknüpft, die den politischen<br />
Prozess transparenter und inklusiver machen<br />
sollen. Die Dokumentation dieses Kodexes bildet den<br />
Abschluss des vorliegenden Bandes.<br />
8<br />
Zum Abschluss möchte ich der Hoffnung Ausdruck<br />
verleihen, dass der Prozess der Entwicklung einer<br />
nationalen <strong>Engagement</strong>strategie auch weiterhin von<br />
großer Dynamik, zupackenden Menschen und wegweisenden<br />
Beschlüssen gekennzeichnet sein möge.<br />
Es geht dabei auch um die Zukunft des demokratischen<br />
Gemeinwesens, und das sollte uns jede Anstrengung<br />
wert sein. Wie auch immer man die ganze<br />
Sache bewerten mag <strong>–</strong> am Ende geht es nicht ohne<br />
fleißige Helferinnen und Helfer, die sich der Sache<br />
verschreiben und dabei auch bereit sind, über die<br />
Grenzen des eigentlich Zumutbaren zu gehen. Mein<br />
Dank gilt Ina Bömelburg, Tobias Quednau, Benjamin<br />
Reitz und Christine Dehne, meinen Kolleginnen und<br />
Kollegen aus der Koordinierungsstelle, ohne die das<br />
alles nicht funktionieren würde. Schließlich sei auch<br />
Regina Vierkant für die umsichtige und gewissenhafte<br />
Gestaltung des vorliegenden Berichts gedankt.<br />
Serge Embacher, im sehr heißen Sommer 2010
Plenum<br />
am 25. März 2010
Hackler - Rede anlässlich der Auftaktveranstaltung<br />
Dieter Hackler, Abteilungsleiter im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />
Rede anlässlich der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung<br />
einer Nationalen <strong>Engagement</strong>strategie<br />
Sehr geehrter Herr Professor Olk, liebe Kolleginnen<br />
und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, meine<br />
sehr geehrten Damen und Herren,<br />
„Kein Problem der Welt wird gelöst, wenn wir nur<br />
träge darauf warten, bis ein Zuständiger sich darum<br />
kümmert.“ Das hat der amerikanische Bürgerrechtler<br />
Martin Luther King einmal gesagt. Ich würde sogar<br />
noch weiter gehen: Ohne die Kreativität und ohne die<br />
Eigeninitiative des Einzelnen ist Fortschritt <strong>–</strong> in welchem<br />
Bereich auch immer <strong>–</strong> überhaupt nicht denkbar!<br />
Aber mit Kreativität und Eigeninitiative ist das natürlich<br />
so eine Sache: Das lässt sich nicht per Dekret verordnen<br />
oder gar steuern! Wir können nur den Nährboden<br />
schaffen, in dem Kreativität und Eigeninitiative gedeihen<br />
<strong>–</strong> ein Umfeld, in dem Menschen sich beteiligen<br />
wollen, sich verantwortlich fühlen und aus eigener<br />
Motivation heraus aktiv werden. Genau deshalb sind<br />
wir heute hier. „Wir“ <strong>–</strong> das sind Vertreterinnen und<br />
Vertreter der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der<br />
Politik. „Wir“ <strong>–</strong> das sind ganz unterschiedliche Perspektiven<br />
auf bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>, von<br />
denen unser gemeinsames Ziel nur profitieren kann.<br />
Dieses Ziel ist eine Nationale <strong>Engagement</strong>strategie.<br />
Herzlichen Dank, dass Sie hier sind, und herzlich<br />
willkommen hier im Robert-Koch-Saal der Humboldt-<br />
Viadrina School of Governance!<br />
Die Wahl des Ortes sollten wir durchaus programmatisch<br />
verstehen: Gestern vor 118 Jahren, am 24. März<br />
1882, hat Robert Koch hier in einem benachbarten<br />
Saal eine Entdeckung bekannt gegeben, die die Welt<br />
veränderte: die Entdeckung des Tuberkulose-Bakteriums.<br />
Damals war die Tuberkulose in Europa weit<br />
verbreitet. In der Altersgruppe der 15- bis 40-jährigen<br />
ging damals jeder zweite Todesfall auf Tuberkulose<br />
zurück. Mit massiven volkswirtschaftlichen Folgen:<br />
Denn diese Menschen fehlten als Arbeitskräfte.<br />
Der Mediziner und spätere Nobelpreisträger Robert<br />
Koch hat eine Menge Zeit, Energie und Herzblut in<br />
10<br />
die Lösung dieses Problems investiert. Nicht weil er<br />
sich „zuständig“ fühlte <strong>–</strong> um noch einmal das Zitat<br />
von Martin Luther King aufzugreifen. Nein, er widmete<br />
sich deshalb so intensiv diesem Problem, weil er<br />
schlicht und einfach ein leidenschaftlicher Forscher<br />
und Mediziner war.<br />
Die meisten Menschen haben eine solche Leidenschaft<br />
<strong>–</strong> etwas, wofür sie sich vorbehaltlos begeistern<br />
und für das ihnen keine Mühe zu groß und kein Weg<br />
zu weit scheint. Mit diesen Kräften können wir eine<br />
Menge Gutes bewegen. Wie wir diese Kräfte aktivieren<br />
und bündeln, wie wir Menschen motivieren, ihre<br />
Fähigkeiten, Talente, Neigungen und Interessen einzubringen,<br />
wie wir Netzwerke schmieden zwischen<br />
Zivilgesellschaft, Unternehmen und Staat <strong>–</strong> all diese<br />
Fragen werden bei der Entwicklung einer Nationalen<br />
<strong>Engagement</strong>strategie für unser Land eine Rolle spielen.<br />
Und weil eine Strategie immer nur so gut ist wie<br />
ihre Umsetzung, darf gerade eine <strong>Engagement</strong>strategie<br />
nicht fernab der gesellschaftlichen Probleme am<br />
Reißbrett entstehen! Sie muss aus der lebendigen<br />
Vielfalt des <strong>Engagement</strong>s heraus entstehen.<br />
Wenn wir uns zur Umsetzung unserer <strong>Engagement</strong>strategie<br />
verantwortungsbewusste und eigeninitiativ<br />
handelnde Bürgerinnen und Bürger wünschen, dann<br />
müssen wir ihrer Eigeninitiative und ihrer Verantwortung<br />
schon bei der Strategieentwicklung durch Mitgestaltungsmöglichkeiten<br />
Raum geben. Das ist die Idee.<br />
Die breite Beteiligung der Zivilgesellschaft ist also gewissermaßen<br />
schon Teil der Strategie:<br />
• Dadurch fließen die Erfahrungen der Menschen<br />
ein, die sich engagieren.<br />
• Dadurch nutzen wir die schöpferische Kraft der<br />
Bürgerinnen und Bürger.<br />
• Dadurch gewinnen wir schon bei der Planung den<br />
nötigen Rückenwind für die Umsetzung.<br />
• Und dadurch stärken wir unsere Demokratie.
Meine Damen und Herren, eine Demokratie ist nur so<br />
stark wie ihre Zivilgesellschaft unabhängig ist. Deshalb<br />
erhoffe ich mir eine Strategie, die die Zielgruppen befähigt,<br />
selbst zum Akteur, zum aktiven Problemlöser zu<br />
werden; eine Strategie, die den Engagierten Rahmenbedingungen<br />
bietet, die ihnen erlauben, sich mit ihren ganz<br />
speziellen Fähigkeiten als aktive Problemlöser in die<br />
Gesellschaft einzubringen; eine Strategie, die verantwortungsbewusst<br />
mit der wertvollen Ressource Zeit unserer<br />
Engagierten umgeht und sicherstellt, dass diese Ressource<br />
so wertschöpfend wie möglich eingesetzt wird;<br />
Jeder Bürger unseres Landes soll sich dort einbringen<br />
können, wo genau seine Fähigkeiten und Talente<br />
gefragt sind. Das kann dort sein, wo es vor allem auf<br />
Herzenswärme und Hilfsbereitschaft ankommt. Was<br />
würden wir ohne die vielen Helferinnen und Helfer in<br />
Suppenküchen, Jugendzentren oder Seniorentreffs<br />
tun, um nur einige zu nennen! Andere wiederum stellen<br />
ihre herausragenden, beruflichen Qualifikationen<br />
in ihrer Freizeit in den Dienst einer guten Sache: die<br />
Rechtsanwältin, die ein kostenloses Gutachten für eine<br />
Flüchtlingsfamilie erstellt, der Musiklehrer, der sozial<br />
benachteiligten Kindern kostenlos Klavierunterricht<br />
anbietet oder die Schriftstellerin, die älteren Menschen<br />
bei der Aufzeichnung ihrer Erinnerungen hilft. Wo immer<br />
Menschen sich Zeit für Verantwortung nehmen,<br />
bleibt der Zusammenhalt unserer Gesellschaft intakt!<br />
Daran kann man manchmal den Glauben verlieren.<br />
Wenn man die Zeitung aufschlägt, dann hat man ja oft<br />
den Eindruck, dass der Ellenbogen zunehmend unser<br />
gesellschaftliches Zusammenleben bestimmt. Und<br />
dann liest man immer wieder von Menschen, die die<br />
Welt mit ihrem <strong>Engagement</strong> ein Stück besser machen.<br />
• Judy Korn halbiert mit ihrem Violence Prevention<br />
Network die Rückfallquote strafffälliger Jugendlicher<br />
und spart dem Staat damit etwa 20.000 Euro<br />
für jeden vermiedenen Rückfall;<br />
• Murat Vural sorgt mit seinem Interkulturellen Bildungs-<br />
und Förderverein dafür, dass Jugendliche<br />
mit Migrationshintergrund füreinander Verantwortung<br />
auf ihrem Bildungsweg übernehmen;<br />
• Andreas Heinicke bringt mit seiner Idee zum „Dialog<br />
im Dunkeln“ mittlerweile über 6000 blinde Menschen<br />
in über 30 Ländern in Arbeit, indem er sie<br />
befähigt, Sehende durch Ausstellungen im Dunkeln<br />
zu führen.<br />
Noch viele weitere Namen könnte man an dieser Stelle<br />
nennen! Denn solche Ideen gibt es überall in unserem<br />
Land. Ich möchte, dass wir sie aufspüren, fördern<br />
und ihnen erlauben, ihre Kraft zu entfalten. Ich<br />
möchte erprobte und wirksame Lösungsansätze als<br />
Modelllösungen vervielfältigen, um sie für die gesamte<br />
Hackler - Rede anlässlich der Auftaktveranstaltung<br />
Gesellschaft nutzbar zu machen. Dabei helfen uns<br />
auch Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmer,<br />
die mit viel Pioniergeist und Kreativität aus einem sozialen<br />
Projekt eine rentable Geschäftsidee entwickeln,<br />
so wie die Sozialunternehmerin Katja Urbatsch, die<br />
im Dezember 2009 für ihr Projekt „Arbeiterkind“ den<br />
Deutschen <strong>Engagement</strong>preis erhalten hat. Motiviert<br />
durch ihre eigene Biografie hat sie ein Mentorensystem<br />
entwickelt: Es zeigt Kindern aus nicht-akademischen<br />
Familien Bildungsperspektiven auf, ermutigt sie zum<br />
Bildungsaufstieg und unterstützt sie auf ihrem Weg zu<br />
einem erfolgreichen Studium. Mittlerweile helfen über<br />
1000 Mentorinnen und Mentoren in 70 Ortsgruppen<br />
jungen Menschen bei ihrem Ziel, als erste ihrer Familien<br />
einen Hochschulabschluss zu erlangen. Diejenigen,<br />
die dieses Ziel erreichen, ermutigen andere allein<br />
schon durch ihr Vorbild. Viele werden ihrerseits Menschen<br />
in ähnlicher Situation helfen. Das zeigt: Solche<br />
Ideen erzeugen Multiplikatoreffekte. Wie ein Stein, der<br />
ins Wasser fällt, versetzen sie ihr Umfeld in Bewegung!<br />
Meine Damen und Herren, unsere Nationale <strong>Engagement</strong>strategie<br />
soll die Rahmenbedingungen dafür<br />
schaffen, dass aus der Mitte unserer Gesellschaft heraus<br />
mehr solche dynamische und wirksame Lösungen<br />
sozialer Probleme entstehen! Gut 23 Millionen Menschen<br />
engagieren sich in Deutschland. Das sind sehr<br />
viele. Aber wir wissen aus Umfragen, dass die Zahl derer,<br />
die grundsätzlich bereit sind, ihre Fähigkeiten in den<br />
Dienst der Gesellschaft zu stellen, noch viel größer ist.<br />
Wie viel könnten wir gewinnen, wenn wir das enorme<br />
<strong>Engagement</strong>potenzial älterer Menschen noch besser<br />
nutzten? Die Generation, die heute in Rente geht, ist die<br />
aktivste und gesündeste Rentnergeneration aller Zeiten.<br />
Wie viel leichter gelänge die Integration von Menschen<br />
mit Migrationshintergrund, wenn noch mehr engagierte<br />
Migrantinnen und Migranten als Vorbilder, Mittler und<br />
Wegbereiter wirken würden? Mir liegt sehr viel daran,<br />
dass wir sowohl ältere Menschen als auch Menschen<br />
mit Migrationshintergrund viel stärker in die <strong>Engagement</strong>förderung<br />
einbeziehen. Wo passende Angebote<br />
fehlen oder wo es vielleicht auch nur bei der Kommunikation<br />
hakt, können wir die Rahmenbedingungen<br />
verbessern. Niemand soll an fehlenden Informationen,<br />
Möglichkeiten oder Angeboten scheitern, sich zu engagieren!<br />
Es lohnt sich, in Beteiligungsmöglichkeiten für<br />
möglichst viele Bürgerinnen und Bürger zu investieren.<br />
Denn die besten Ideen entstehen dort, wo Menschen<br />
mit Freude und Begeisterung dabei sind!<br />
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sind uns einig,<br />
dass wir eine starke Zivilgesellschaft aus aktiven<br />
Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern brauchen und<br />
dass dieses Gesellschafts- und Menschenbild einer<br />
Nationalen <strong>Engagement</strong>strategie zugrunde liegen soll.<br />
11
Hackler - Rede anlässlich der Auftaktveranstaltung<br />
Einig sind wir uns aber sicherlich auch, dass die Nationale<br />
<strong>Engagement</strong>strategie ebenso die Verantwortung<br />
des Staates gegenüber seinen Bürgern spiegeln soll.<br />
Vor diesem Hintergrund noch einige Worte zur Rolle<br />
der Bundesregierung bei der Entwicklung der Nationalen<br />
<strong>Engagement</strong>strategie. Was wir politisch brauchen,<br />
ist eine abgestimmte <strong>Engagement</strong>förderung <strong>–</strong><br />
und zwar abgestimmt sowohl zwischen Bund, Ländern<br />
und Gemeinden als auch zwischen den Ressorts auf<br />
Bundesebene. Denn ein Problem in unserer <strong>Engagement</strong>politik<br />
war bisher, dass die eine Hand nicht weiß,<br />
was die andere tut. Das ist ja ganz typisch bei Querschnittsaufgaben.<br />
Auf der Ebene des Bundes möchte<br />
ich deshalb zunächst einmal, dass sich alle Ressorts<br />
konkrete Vorhaben für die <strong>Engagement</strong>förderung stellen.<br />
Das ist ein wichtiger Schritt, um eine ressortübergreifende<br />
<strong>Engagement</strong>politik zu entwickeln. Eine Kabinettbefassung<br />
zur Nationalen <strong>Engagement</strong>strategie<br />
streben wir noch in diesem Jahr an. Was wir zu diesem<br />
Zeitpunkt präsentieren, ist nicht in Stein gemeißelt. Es<br />
bleibt offen für weitere Ideen.<br />
Was wird am Ende dieses Entwicklungsprozesses stehen?<br />
„Diese Frage ist zu gut, um sie mit einer Antwort<br />
zu verderben!“ hat Robert Koch einmal gesagt, nach<br />
dem dieser Saal benannt ist. Auf welche Frage er mit<br />
damit Bezug genommen hat, weiß ich nicht. Aber sie<br />
passt gut hierher! Denn auch der Entwicklungsprozess,<br />
der heute offiziell beginnt, ist zu gut, um ihn mit<br />
der Prognose eines Endergebnisses zu verderben!<br />
Ich vertraue darauf, dass Sie das Beste daraus machen<br />
werden <strong>–</strong> so wie Sie das auch dort tun, wo Sie sich sonst<br />
engagieren!HerzlichenDankfürIhrenBeitragzumZusammenhalt<br />
unserer Gesellschaft und für Ihre Bereitschaft, die<br />
Nationale <strong>Engagement</strong>strategie mitzu<strong>gestalten</strong>.<br />
Das ist für uns alle eine große Chance. Denn mit Ihrer<br />
Beteiligung können wir das bürgerschaftliche <strong>Engagement</strong><br />
als das stärken und fördern, was es ist: Das<br />
Herzstück unserer Demokratie!<br />
12
Prof. Dr. Thomas Olk, Vorsitzender des <strong>BBE</strong>-Sprecherrats<br />
Begrüßung<br />
Sehr geehrter Herr Hackler, sehr geehrte Abgeordnete,<br />
sehr geehrte Frau Helbig, sehr geehrte Damen<br />
und Herren,<br />
ich darf Sie im Namen des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> (<strong>BBE</strong>) sehr herzlich zur<br />
heutigen Veranstaltung des Nationalen Forums für<br />
<strong>Engagement</strong> und Partizipation hier im Robert-Koch-<br />
Hörsaal begrüßen. Herr Hackler hat den Geist des<br />
Robert-Koch-Hörsaals bereits beschworen. Wir befinden<br />
uns aber auch in den Räumen der Humboldt-<br />
Viadrina School of Governance. Damit haben wir<br />
einen weiteren, hervorragenden Bezug zu dem, was<br />
das Nationale Forum für <strong>Engagement</strong> und Partizipation<br />
darstellt: ein Lehrstück und Praxisexperiment, in<br />
dem neue Formen der Governance erprobt werden.<br />
Herr Hackler hat bereits deutlich hervorgehoben,<br />
dass Regieren nicht top-down funktioniert. Es geht<br />
also darum, den Staat nicht als Vater Staat, sondern<br />
als Partnerstaat in einem Geflecht unterschiedlicher<br />
Akteure auf Augenhöhe zu platzieren. Durch eine<br />
enge Zusammenarbeit, gemeinsame Verabredungen,<br />
Selbstverpflichtungen der Akteure und damit auch<br />
durch eine Verantwortungsteilung soll etwas erreicht<br />
werden, das sonst nicht erreicht werden könnte. Wir<br />
haben damit ein sehr komplexes Manöver vor uns.<br />
Es erklärt sich nicht von selbst, ist schwierig, erfordert<br />
Reflexion und muss den Akteuren zum Teil auch<br />
erstmal nahe gebracht werden. Aber das Manöver ist<br />
unvermeidbar.<br />
Herr Hackler hat deutlich gemacht, dass die politische<br />
Förderung, die Verbesserung der Rahmenbedingungen,<br />
die Unterstützung des unentgeltlichen, freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong>s nur als politische Querschnittsaufgabe<br />
zu bewältigen ist. Querschnittsaufgaben können<br />
nicht top-down durch Anweisungen und Verordnungen<br />
gelöst werden. Es braucht vieler Partner, nicht nur<br />
aus dem öffentlichen Bereich, also Bund, Ländern<br />
und Kommunen. Das ist eine wichtige Achse, aber es<br />
Olk - Begrüßung<br />
gibt noch die verschiedenen Ressorts. All die starken,<br />
selbstbewussten, von sich selbst überzeugten Ministerialbürokratien,<br />
die ihre eigene Handlungslogik haben<br />
und die morgens nicht dafür aufstehen, um mit dem<br />
nächsten Hause zu kooperieren. Wir haben sowohl in<br />
der Horizontalen zwischen den einzelnen Ressorts als<br />
auch in der Vertikalen zwischen Bund, Ländern und<br />
Kommunen im öffentlichen Bereich erheblichen Diskussions-<br />
und Reflexionsbedarf über Rollen, Verantwortlichkeiten<br />
und die Notwendigkeit von Kooperationen.<br />
Aber das Nationale Forum für <strong>Engagement</strong> und<br />
Partizipation geht noch einen Schritt weiter. Staatliche<br />
Institutionen sollen nicht nur untereinander, sondern<br />
auch mit der Zivilgesellschaft kooperieren. Und wenn<br />
ich die Zivilgesellschaft sage, meine ich es selbstironisch.<br />
Denn es ist ja ein substantiierender Begriff für<br />
eine Vielfalt, manche sagen auch für den Pudding, den<br />
man versucht an die Wand zu nageln. Es gibt vielleicht<br />
nichts Schlimmeres für einen preußischen Beamten<br />
als diese Kooperation. Aber sie muss sein. Und dann<br />
kommt als Drittes auch noch die Wirtschaft an Bord.<br />
Auch bei der Wirtschaft ist es nicht so, dass alle das<br />
gleiche denken, wollen und fühlen. Es gibt die berühmten<br />
kleinen und mittleren Unternehmen, es gibt<br />
große Unternehmen, es gibt börsennotierte Unternehmen,<br />
es gibt Familienunternehmen, und alle ticken irgendwie<br />
anders.<br />
All diese unterschiedlichen Akteure sollen gemeinsam<br />
in ein Boot. Das muss ein ziemlich großes Boot<br />
sein, und es muss klar sein, wer an welcher Stelle rudert<br />
und wer steuert. Gerade vor dem Hintergrund der<br />
Finanzknappheit in den öffentlichen Haushalten und<br />
all der Schwierigkeiten, wenn staatliche Institutionen<br />
versuchen, die Rahmenbedingungen für Zivilgesellschaft<br />
zu <strong>gestalten</strong>, müssen wir deutlich machen, was<br />
wir nicht meinen. Es geht nicht um die Indienstnahme<br />
der Zivilgesellschaft für den Staat. Es geht nicht<br />
um die Instrumentalisierung zivilgesellschaftlicher<br />
Akteure für die Legitimation einer vielleicht nicht so<br />
13
Olk - Begrüßung<br />
gelungenen staatlichen Politik. Es geht aber andersherum<br />
auch nicht darum, einfach nur Forderungen<br />
an den Staat zu erheben. In diesen Rollen gefallen<br />
wir uns ja oft. Lobbyisten kennen ihr Geschäft: noch<br />
eine Forderung, noch ein Wahlprüfstein, stellen wir<br />
mal eine Forderung an andere. Das sind die eingeübten<br />
Rollen, die wir schon kennen, und die müssen<br />
wir überdenken.<br />
Worum geht es aber im positiven Sinne? Es geht um<br />
das Zusammenspiel der vielen unterschiedlichen<br />
Akteure, deshalb Governance. All die genannten Akteure<br />
handeln nach unterschiedlichen Spielregeln.<br />
Sie sollen in einem gemeinsamen Prozess zusammengebracht<br />
werden, um auszuhandeln, was gemeinsam<br />
geht und was nicht geht. Dabei muss auch<br />
über den Tellerrand der Tagespolitik hinausgeschaut<br />
werden. Die Tagespolitik ist wichtig und muss abgearbeitet<br />
werden. Aber es bedarf auch eines Leitbildes,<br />
an dem sich die Akteure orientieren können. Wo soll<br />
es hingehen? Was bedeutet zivilgesellschaftliche Politik?<br />
Was heißt Stärkung von Zivil- oder Bürgergesellschaft?<br />
Wenn wir darüber mal intensiv sprechen, wird<br />
auch mancher Unterschied zu Tage kommen.<br />
Die Bürgergesellschaft ist kein Kuchenbacken. Es<br />
ist das zivile Austragen von Konflikten und unterschiedlichen<br />
Meinungen und Positionen. Das muss<br />
möglich sein, aber nach den zivilgesellschaftlichen<br />
Regeln, nämlich gewaltfrei und mit Empathie für die<br />
Rolle des anderen. Zu diesen zivilgesellschaftlichen<br />
Regeln gehört auch <strong>–</strong> und das ist ein wichtiger Punkt<br />
- eine Konsensorientierung in dem Sinne, dass man<br />
schaut, welche produktiven gemeinsamen Ergebnisse<br />
bekommen wir denn hin, ohne dass einer seine<br />
Interessenlage verleugnen muss. Das gilt für alle<br />
drei Akteursgruppen: Zivilgesellschaft, Wirtschaft<br />
und Staat. Der vor uns liegende Prozess im Nationalen<br />
Forum für <strong>Engagement</strong> und Partizipation bietet<br />
die große und neue Chance, sich intensiver mit der<br />
Perspektive des jeweils anderen auseinanderzusetzen.<br />
In Kenntnis dieser anderen Perspektive lassen<br />
sich bessere Lösungen für die Rahmenbedingungen<br />
der Zivilgesellschaft erarbeiten. Denn eine Politik zur<br />
Unterstützung der Rahmenbedingungen des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s muss Akteure darin stärken,<br />
etwas zu tun, das sie sowieso tun würden, wenn<br />
man sie ließe. Es gibt heute eine Reihe von Bedingungen,<br />
die das erschweren. Das kann sich beim Kuchenbacken<br />
für den Vereinsbasar schon zeigen.<br />
Bei einem solchen Prozess des Perspektivwechsels<br />
und der gemeinsamen Auseinandersetzung, zu<br />
dem ich sich alle herzlich einladen möchte, gibt es<br />
natürlich auch Risiken. Er zwingt uns, unsere eigene<br />
14<br />
Perspektive nicht zu verwischen. Es muss klar sein,<br />
wer was gesagt und wer was zu verantworten hat.<br />
Es bleibt dabei, jeder hat seine Rolle, jeder hat seine<br />
ureigenen Interessen und Sichtweisen. Nach dem<br />
Prozess muss man unterscheiden können, was einerseits<br />
von wem in den Prozess eingebracht wurde<br />
und was andererseits politisch umgesetzt wurde. Das<br />
betrifft einen besonders wichtigen Punkt: Das, was<br />
staatliche Politik ist, muss von den verfassungsrechtlich<br />
dafür vorgesehenen Organen auch verantwortet<br />
werden. Zivilgesellschaft maßt sich nicht an, eine Verantwortung<br />
zu übernehmen, die verfassungsgemäß<br />
dafür vorgesehene politische Organe zu tragen haben.<br />
Insofern bleibt es bei dem Recht der Politik auf<br />
die Durchsetzung bindender Entscheidungen. Aber<br />
sowohl Wirtschaft als auch Zivilgesellschaft sind an<br />
dem Prozess beteiligt, Themen, Anliegen und Sichtweisen<br />
in diesen Prozess einzubringen. Dadurch<br />
werden, so ist die Hoffnung, die politischen Entscheidungsträger<br />
schlauer und damit die politischen Resultate<br />
besser als sie ohne die Beteiligung wären.<br />
Dieser verbesserte politische Output stellt einen politischen<br />
Mehrwert für diesen schwierigen Prozess dar.<br />
Er ermöglicht eine größere Berücksichtigung von Anliegen<br />
und Themen aus der Gesellschaft. Damit wird<br />
Politik sach-, problem- und realitätsnäher. Und es gibt<br />
eine echte Beteiligung der eben genannten Akteure.<br />
Dadurch wird die Politik bei diesen auch besser legitimierbar<br />
und nachvollziehbarer. Nur solange der<br />
Prozess diesen Mehrwert bringt, ist er auch sinnvoll.<br />
Der Erfolg des Prozesses hängt aber davon ab, dass<br />
alle Beteiligten mitmachen, nicht blockieren, ihre Rolle<br />
angemessen ausfüllen und Verantwortung übernehmen.<br />
Um zu beurteilen, inwiefern das Nationale<br />
Forum für <strong>Engagement</strong> und Partizipation diesen Ansprüchen<br />
gerecht wird, muss der Prozess, der ein<br />
Governance-Experiment darstellt, selbst der Evaluation<br />
unterliegen. Man muss kritisch schauen: Haben<br />
wir bessere Ergebnisse? Haben wir eine bessere<br />
Berücksichtigung? Haben wir Beteiligung? Haben wir<br />
mehr Akzeptanz von politischen Maßnahmen? Oder<br />
nicht? Das wären genau die Fragen, die es nach<br />
Ende des Prozesses zu beantworten gilt.<br />
Ich möchte noch kurz die Rolle des <strong>BBE</strong> in diesem<br />
Prozess als Veranstalter des Nationalen Forums für<br />
<strong>Engagement</strong> und Partizipation erläutern. Das <strong>BBE</strong><br />
ist ein trisektorales Netzwerk. Wir haben über 240<br />
Mitgliedsorganisationen aus allen drei Bereichen der<br />
Gesellschaft und müssen ein breites Spektrum von<br />
Akteuren vernetzen. Damit verfügen wir über ideale<br />
Voraussetzungen, die Rahmenbedingungen für<br />
den Prozess zu schaffen. Außerdem können wir uns<br />
Partikularismen nicht leisten. Denn es würde sofort
auffallen und Widerstand hervorrufen, wenn wir zu<br />
Gunsten bestimmter Bereiche und zu Lasten anderer<br />
agieren würden. Wir müssen alle Akteursgruppen<br />
und ihre berechtigten Anliegen im Auge haben. Und:<br />
Wir sind akzeptiert, das hat sich in drei Workshops<br />
mit allen drei Stakeholder-Gruppen im Vorfeld gezeigt.<br />
Darin sehen wir eine Verpflichtung, es gut zu<br />
machen. Wir haben diese Verpflichtung übernommen.<br />
Es hat sich im letzten Jahr gezeigt: Manches,<br />
was in kürzester Zeit machbar war, wäre ohne die<br />
<strong>Strukturen</strong> des <strong>BBE</strong> nicht machbar gewesen. All das<br />
zeigt, dass das <strong>BBE</strong> als Veranstalter eines solchen<br />
Prozesses sehr gut geeignet ist. Insofern ist es nicht<br />
ganz zufällig, dass das Bundesministerium das <strong>BBE</strong><br />
gebeten hat, das Nationale Forum für <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation zu veranstalten.<br />
Wie geht es nun weiter? Was passiert in den nächsten<br />
Monaten und im Laufe des heutigen Tages? Das<br />
Nationale Forum für <strong>Engagement</strong> und Partizipation ist<br />
ein echter Begleitungsprozess, der auch die Begleitung<br />
der Ressortabstimmung umfassen soll. Das ist<br />
ein Novum und in dieser Form noch nie geschehen.<br />
Es wird so sein, dass wir einen ersten Kabinettsbeschluss<br />
vorbereiten, der noch für dieses Jahr erwartet<br />
wird. Es wird aus der Fülle der möglichen Themen<br />
erstmal um sechs spezifische Themenbereiche gehen:<br />
Zuwendungsrecht, Freiwilligendienste, Bildung<br />
und <strong>Engagement</strong>, Erwerbsarbeit und <strong>Engagement</strong>,<br />
Infrastruktur sowie Unternehmen und <strong>Engagement</strong>.<br />
Dieses sind keineswegs die einzigen und vielleicht<br />
auch nicht in jeder Hinsicht die dringlichsten Themen.<br />
Aber die politische Tagesordnung legt es nah,<br />
sie jetzt zu bearbeiten. Neben diesen Themen gibt es<br />
weitere wichtige Themen. Denken sie z. B. an sozialräumliche<br />
Prozesse, etwa Programme wie Soziale<br />
Staat, überhaupt die Bedeutung bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s für die Kommune. Der Prozess müsste<br />
nach dieser Runde von Dialogforen weitergehen. Herr<br />
Hackler hat ja angedeutet, dass es auch so geplant<br />
ist. Wenn Sie also nicht mit ihrem Lieblingsthema dabei<br />
sind, gibt es einen Themenspeicher, in den wir es<br />
gerne aufnehmen. Wir sind gespannt auf Hinweise,<br />
welche Themen uns womöglich durch die Lappen<br />
gegangen sind. Wenn also alles so weiter läuft wie<br />
geplant, wird es weitere Dialogforen geben. Die sind<br />
aber noch der Schnee von Übermorgen.<br />
Jetzt geht es darum, in den Dialogforen ganz konkret<br />
an den Themenschwerpunkten für die ersten sechs<br />
Themenfelder zu arbeiten. Im letzten Jahr haben wir<br />
Netze ausgeworfen und erstmal alles eingesammelt,<br />
was uns zu bestimmten Themen einfällt und gesagt<br />
wird. Das ist einfach, da muss man sich noch nicht so<br />
sehr konzentrieren. Wir sind jetzt aber in einer Phase<br />
Olk - Begrüßung<br />
des Prozesses, in der es nicht mehr darum geht, alle<br />
Fragen aufzuwerfen und alles für wichtig zu halten.<br />
Jetzt geht es um Fokussierung und darum, Prioritäten<br />
zu setzen.<br />
Jetzt müssen wir sagen, was in den Bereichen, in<br />
denen wir politisch etwas bewegen wollen, die ganz<br />
wichtigen Dinge sind und was zu diesen Themen im<br />
Kabinettsbeschluss stehen sollte. Das steht heute und<br />
im April an. Im Anschluss an die gleich stattfindende<br />
Podiumsdiskussion werden sich Expertinnen und<br />
Experten in den trisektoral besetzten sechs Arbeitsgruppen<br />
an die Arbeit machen, Überschriften für diese<br />
Themen zu finden. Die Ergebnisse werden an das<br />
Ministerium weitergereicht und dann die Diskussionsgrundlage<br />
für den weiteren Prozess sein. Die Aufgabe<br />
ist nicht, möglichst viele Forderungen an die Regierung<br />
zu stellen. Das wäre nicht produktiv und würde<br />
den politischen Prozess mit Themen überladen, die<br />
man nicht abarbeiten kann. Wir müssen fokussieren,<br />
was ist besonders wichtig, was muss jetzt unbedingt<br />
und was kann später geregelt werden. Noch einmal:<br />
Alle Beteiligten bleiben in ihrem Verantwortungsbereich.<br />
Niemand muss Angst haben, dass er instrumentalisiert<br />
oder für Zwecke missbraucht wird. Es<br />
geht um einen konstruktiven Prozess des sich Aufeinandereinlassens<br />
in einem Aushandlungsprozess in<br />
einem spannenden Governance-Experiment, das, so<br />
hoffen wir, zu anderen, zu besseren Resultaten führt<br />
als durch die üblichen Formen der Politikrituale erwartbar<br />
gewesen wäre. Natürlich gibt es die üblichen<br />
Formen des Lobbying, der Einflussnahme weiterhin.<br />
Keiner kann oder will das einschränken. Klassische<br />
Verbändeanhörungen, Runden mit und ohne Kamin<br />
und ähnliche Formate werden weiter stattfinden. Es<br />
geht darum, diesen Prozess zu <strong>gestalten</strong>, und alles<br />
andere läuft weiter wie gehabt. In diesem Sinne bitte<br />
ich Sie heute, ihren Sachverstand und ihre Expertise<br />
einzubringen, konstruktiv mitzuarbeiten, und ich freue<br />
mich auf einen spannenden Prozess. Vielen Dank für<br />
ihre Aufmerksamkeit.<br />
15
Podiumsdiskussion<br />
Anke Schaefer (Moderatorin):<br />
In der kommenden Stunde geht es darum, wie eine nationale<br />
<strong>Engagement</strong>strategie sinnvoll und zielgerichtet<br />
entwickelt werden kann. Wie also, um mit den Worten<br />
von Prof. Olk zu sprechen, soll das große Boot aussehen,<br />
in dem jeder genau weiß wo er sitzt, wer rudert<br />
und wer steuert. Ich möchte Ihnen gerne die Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmer des Podiums vorstellen:<br />
Christoph Linzbach ist Unterabteilungsleiter im Bundesministerium<br />
für Familie Senioren, Frauen und Jugend<br />
Prof. Dr. Thomas Olk ist Vorsitzender des <strong>BBE</strong>-<br />
Sprecherrates.<br />
Markus Grübel ist Mitglied der CDU-Bundestagsfraktion<br />
und Vorsitzender des Unterausschusses Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> im Deutschen Bundestag.<br />
Sibylle Laurischk ist Mitglied der FDP-Bundestagsfraktion<br />
und Vorsitzende des Familienausschusses<br />
im Deutschen Bundestag<br />
Monika Helbig ist Staatsekrerärin im Berliner Senat<br />
und Beauftragte des Landes Berlin für Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong>.<br />
Dr. Marita Hilgenstock betreut bei der RWE-AG das<br />
Thema Corporate Responsibility.<br />
Moderatorin:<br />
Es ist wichtig, die unterschiedlichen Perspektiven zusammenzuführen.<br />
Wie kann eine nationale <strong>Engagement</strong>strategie<br />
aus Sicht des Ministeriums, aus Sicht<br />
des Parlamentes, aus Sicht des Landes Berlin und<br />
eben auch aus Sicht der Zivilgesellschaft entwickelt<br />
werden. Und nicht zuletzt: Was erwartet die Wirtschaft?<br />
Zunächst eine Frage an Herrn Linzbach. Wie<br />
skizzieren Sie die wichtigsten Aspekte einer nationalen<br />
<strong>Engagement</strong>strategie?<br />
Christoph Linzbach:<br />
Noch liegt die Strategie nicht vor. Sie wissen, dass<br />
wir im vergangenen Jahr einen Prozess hatten, der<br />
16<br />
auch in einer Kabinettsbefassung mündete und danach<br />
in Abstimmung mit der Zivilgesellschaft weitergeführt<br />
wurde. Ich will das mit dem vergleichen, was<br />
wir dieses Jahr vorhaben. Prof. Olk hat zurecht gesagt,<br />
dass wir nicht dasselbe erneut auflegen dürfen, was<br />
wir im vergangenen Jahr gemacht haben. Wichtig ist,<br />
dass ein Text für die Kabinettsbefassung Substanz<br />
hat. Er sollte wesentliche Vorhaben, zwei bis drei, so<br />
unsere Vorstellung, der anderen Bundesressorts aus<br />
ihren jeweiligen Zuständigkeitsfeldern beinhalten. Das<br />
wird die Grundlage für die Ressortabstimmung sein.<br />
Vorgeschaltet haben wir jetzt diese Veranstaltung mit<br />
den sechs Themenschwerpunkten. Die Koordinierungsstelle<br />
des Nationalen Forums für <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation wird uns dann in den nächsten Tagen<br />
eine Zusammenfassung übermitteln. Wir werden uns<br />
dann in den nächsten Wochen zu den Ergebnissen der<br />
jeweiligen Dialogforen verhalten. Wir stellen uns vor,<br />
dass wir in den nächsten Wochen auf der Grundlage<br />
dessen, was heute und in den Dialogforen im April erarbeitet<br />
wird, eine Einschätzung darüber vornehmen<br />
werden, was aus unserer Sicht in eine Ressortabstimmung<br />
eingebracht werden könnte. Das heißt: Wir greifen<br />
ganz konkret die Themen auf, die heute hier bearbeitet<br />
werden, und bringen sie in den Prozess ein. Mir<br />
ist wichtig eines deutlich zu machen. Es handelt sich<br />
um einen integrierten Prozess. Hier sind auch Ressortvertreterinnen<br />
und Ressortvertreter anwesend und sie<br />
werden auch an den Foren im April teilnehmen. Es ist<br />
also ein kontinuierlicher Diskussionsprozess. Danach<br />
beginnt dann die eigentliche Ressortabstimmung. Bitte<br />
nageln Sie mich heute noch nicht fest, für wann wir<br />
eine Kabinettsbefassung vorsehen. Wir müssen erst<br />
einmal ein Gefühl dafür bekommen, wie viel Zeit auch<br />
die anderen Bundesressorts benötigen, die vielleicht<br />
nicht so nah am Thema <strong>Engagement</strong> sind wie wir, um<br />
ihre Beiträge zu liefern. Aber für dieses Jahr auf jeden<br />
Fall, lieber früher als später, damit wir dann auch in der<br />
Nachfolge eines Kabinettsbeschlusses noch ausreichend<br />
Zeit haben wichtige Vorhaben umzusetzen.
Moderatorin:<br />
Vielen Dank. Eine Frage an Herrn Grübel: Wie sehen<br />
Sie aus Sicht des Parlaments die nationale <strong>Engagement</strong>strategie?<br />
Markus Grübel:<br />
Als Parlament setzen wir die Regierung ein und kontrollieren<br />
sie. Wir begrüßen es, dass die neue Regierung<br />
fortsetzt, was die alte Regierung begonnen hat. Manchmal<br />
gibt es auch Brüche beim Regierungswechsel. Wir<br />
haben den Unterausschuss Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
wieder eingerichtet und, etwas pathetisch gesagt,<br />
es befindet sich im Einsetzungsbeschluss fast der<br />
Ritterschlag für das Nationale Forum für <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation. Dort haben wir das Nationale Forum<br />
für <strong>Engagement</strong> und Partizipation ausdrücklich erwähnt.<br />
Ich zitiere unter den Aufgaben: „ ... im Dialog mit den zivilgesellschaftlichen<br />
Akteuren, wie z. B. dem Nationalen<br />
Forum für <strong>Engagement</strong> und Partizipation, den Trägern im<br />
gemeinnützigen Sektor, den Wohlfahrtsverbänden, den<br />
kommunalen Spitzenverbänden, den Dachverbänden<br />
der unterschiedlichen Bereiche (Kultur, Sport, Soziales,<br />
Gesundheit, Bildung, Katastrophen- und Bevölkerungsschutz<br />
u. a.) an der Fortentwicklung der <strong>Engagement</strong>politik<br />
des Bundes mitzuwirken.“ Wir haben uns das ausdrücklich<br />
in den Aufgabenkatalog hinein geschrieben. Sie<br />
haben auf dem Banner stehen: „Das Nationale Forum für<br />
<strong>Engagement</strong> und Partizipation begleitet die Bundesregierung.“<br />
Auch wir begleiten als Unterausschuss die Bundesregierung,<br />
und das Nationale Forum für <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation begleitet, so empfinden wir das, unsere<br />
Arbeit im Unterausschuss. Wir haben im Unterausschuss<br />
in den nächsten Monaten Themen auf der Tagesordnung,<br />
die auch Ihre Themen sind. Auch Themen aus den<br />
Dialogforen, wie z. B. die Weiterentwicklung der Freiwilligendienste,<br />
wie die Reform des Zuwendungsrechtes, wie<br />
<strong>Engagement</strong>förderung als Infrastrukturförderung, etc. So<br />
sind wir verhältnismäßig eng verzahnt. Zum Auftakt haben<br />
wir die erste Arbeitssitzung mit einem Bericht aus<br />
dem <strong>BBE</strong> und aus dem Nationalen Forum für <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation begonnen, weil wir im Grunde an<br />
der gleichen Sache arbeiten und den Prozess begleiten.<br />
Moderatorin:<br />
Abgeordnete sind aber sehr eingespannt in Sitzungen<br />
etc. Werden sich die Abgeordneten dezidiert in diesen<br />
Prozess einbringen?<br />
Markus Grübel:<br />
Selbstverständlich ja.<br />
Moderatorin:<br />
Frau Laurischk, wollen sie da noch etwas hinzufügen?<br />
Vielleicht auch die Rolle, die die Bundesfamilienministerin<br />
hier spielen kann?<br />
Podiumsdiskussion<br />
Sibylle Laurischk:<br />
Wir hatten gestern eine Sitzung des Unterausschusses,<br />
und die Ministerin war in dieser Sitzung<br />
auch dabei und hat ihre Vorstellungen in einer ersten<br />
Befassung darlegen können. Es ist ein wichtiges Signal,<br />
dass auch in einem Unterausschuss dargestellt<br />
wird, dass die Regierung sich der Aufgabe, die im<br />
Koalitionsvertrag steht, widmen wird. Dass wir als<br />
Parlamentarier Einfluss nehmen werden, da können<br />
sie sicher sein. Mir war aus der Erfahrung in der<br />
vergangenen Legislaturperiode, in der das Thema<br />
Integration im Bundestag immer wieder eine Rolle<br />
gespielt hat, sehr wichtig, in der Aufgabenstellung<br />
des Unterausschusses auch das Thema Integration<br />
aufzunehmen und auf die Beteiligung von Menschen<br />
mit Migrationshintergrund in der Zivilgesellschaft<br />
großen Wert zu legen. Ich gehe davon aus, dass im<br />
Nationalen Forum für <strong>Engagement</strong> und Partizipation<br />
solche Fragen auch Niederschlag finden. Ebenso<br />
sollten sie in allen Ressorts der Bundesregierung<br />
Berücksichtigung finden, sodass das Thema Integration,<br />
das den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern<br />
soll, auch insofern eine ganz breite Aufstellung findet.<br />
Denn sie gelingt nur, wenn wir in der Zivilgesellschaft<br />
die Gemeinsamkeiten herausstellen und wegkommen<br />
von Ghetto- und Ausgrenzungssituationen. Das<br />
ist ein sehr anspruchvolles Feld, das wir sicher nicht<br />
in kurzer Zeit bewältigen können. Aber gerade deswegen<br />
braucht es eine Strategie, eine lang angelegte<br />
Zielsetzung.<br />
Moderatorin:<br />
Frau Helbig, Sie sprechen für das Land Berlin. Wir<br />
haben gehört, dass wir die Strategie brauchen, dass<br />
wir sie wollen. Vielleicht gibt es aber auch den ein<br />
oder anderen Stolperstein aus ihrer Sicht?<br />
Monika Helbig:<br />
Die Tatsache, dass wir heute hier zusammen sitzen,<br />
ist eine Entwicklungslinie, angefangen mit der<br />
Bestandsaufnahme der Enquete-Kommission seinerzeit,<br />
der Runde von Dialogforen, die am Ende<br />
der letzten Legislaturperiode stattfand. Ich bin sehr<br />
dankbar, dass sowohl von Herrn Prof. Olk als auch<br />
von Herrn Hackler sehr klar herausgearbeitet wurde,<br />
dass alle Ebenen auch in ihrer Zuständigkeit beteiligt<br />
werden müssen. Das ist einer der Hauptkritikpunkte<br />
gewesen, den auch ich schon in der Vergangenheit<br />
mehrfach formuliert habe. Letztendlich kümmert sich<br />
der Bund um ein wichtiges Thema. Aber man muss<br />
sehr genau hinsehen, welche Akteure gibt es schon,<br />
die eine Menge Gutes tun. Ich habe es so verstanden,<br />
dass alle Akteure in diesem Prozess mitgenommen<br />
werden sollen. Ich fand den Satz von Herrn<br />
Hackler sehr schön: „Demokratie ist nur so stark wie<br />
17
Podiumsdiskussion<br />
Zivilgesellschaft unabhängig ist.“ Das ist einer der<br />
Schlüsselsätze für das, was hier passieren muss,<br />
wenn wir von einer nationalen <strong>Engagement</strong>strategie<br />
reden. Das Land Berlin macht eine Menge. Wir<br />
sind dabei, eine umfassende <strong>Engagement</strong>plattform<br />
zu entwickeln, wo man im Internet die Szene erkennen<br />
kann, also sehen, welches <strong>Engagement</strong> es gibt.<br />
Das ist ein Ansatz, der auch für den Bund interessant<br />
ist. Was aber immer wieder Kritik hervorgerufen hat,<br />
wenn man Eckpunkte miteinander verabredet, ist die<br />
Frage: Was erreicht man mit vom Bund finanzierten<br />
Modellprojekten? Es gibt eine Menge guter Ansätze,<br />
die finanziert wurden, dann endet die Finanzierung<br />
des Bundes und die Länder oder die Kommunen<br />
sind nicht in der Lage, diese Projekte, die gut<br />
entstandenen Ideen weiterzufinanzieren. Ich möchte<br />
wiederholt appellieren, dass man in künftigen Überlegungen<br />
dieses gleich berücksichtigt. Wie soll es am<br />
Ende der Kette weitergehen mit den guten Ideen, die<br />
entstanden sind. Wenn ich mir noch etwas wünschen<br />
darf, was am Ende in einer nationalen Strategie stehen<br />
soll und kann, dann bitte ich darum, einfach mal<br />
auf die Kompetenzverteilung innerhalb der Republik<br />
zu schauen und zu sehen, was bundesgesetzlich regelbar<br />
ist. Wir werden natürlich mit solch einer Strategie<br />
wieder in eine Situation kommen, dass sie irgendwann<br />
einmal im Bundesrat landet. Auch da habe<br />
ich als zuständige Staatssekretärin im Land Berlin<br />
mit dem Thema zu tun und sehe schon, dass dann<br />
alle wieder auf dem Baum sind und sagen, dass die<br />
Kompetenzverteilung innerhalb der Republik verletzt<br />
wurde. Deswegen kann ich nur an den Bund appellieren,<br />
zu prüfen, was bundesgesetzlich möglich ist. Da<br />
spielen Haftungsrecht, steuerrechtliche Änderungen,<br />
aber z. B. auch die Frage, wie <strong>Engagement</strong> als Brücke<br />
in die Erwerbsarbeit genutzt werden kann, eine<br />
wichtige Rolle. Wie gehe ich mit den erworbenen<br />
Kompetenzen im Rahmen von <strong>Engagement</strong> um? Wie<br />
kann ich vielleicht eine gesetzliche Verpflichtung für<br />
Unternehmen schaffen, dass sie das bei ihrer Personalauswahl<br />
berücksichtigen. Das wäre ein Beispiel,<br />
das mir konkret einfällt.<br />
Moderatorin:<br />
Bevor wir zu Frau Dr. Hilgenstock kommen, gleich<br />
die Anschlussfrage an Prof. Olk. Warum braucht man<br />
überhaupt eine nationale <strong>Engagement</strong>strategie? Warum<br />
muss sie beim Staat verankert sein? Ist nicht die<br />
Zivilgesellschaft in sich stark genug, bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> zu fördern?<br />
Thomas Olk:<br />
Das ist eine wichtige Frage. Natürlich ist es so, dass<br />
auch Skepsis formuliert wird. Auch aus der Zivilgesellschaft<br />
heraus wird immer wieder die Frage<br />
18<br />
gestellt, ob das nicht zu staatslastig ist. Der Begriff<br />
Nationale <strong>Engagement</strong>strategie ist geradezu erfurchterheischend.<br />
Das kann ein Riesending werden<br />
und klingt nach viel Bürokratie und Gleichmacherei.<br />
Man kann das an konkreten Beispielen sehen, ob<br />
es das Freiwilligendienstestatusgesetz oder ähnliche<br />
Dienste sind. Es kann nicht darum gehen, ein<br />
Format durch den Bund zu formulieren und das flächendeckend<br />
in alle Bereiche herunterzudeklinieren.<br />
Das wäre der falsche Weg. Das würde vorhandene<br />
Ressentiments und Vorbehalte stärken. Sondern es<br />
geht darum, Rahmenbedingungen zu setzen, z. B.<br />
qualitative Mindestbedingungen in denen sich Vielfalt<br />
dann auf einem bestimmten qualitativen Niveau<br />
bewegen kann. Solche Dinge sind machbar. Wenn<br />
Akteure der Zivilgesellschaft sagen, sie machen das<br />
alles ganz ohne Staat, habe ich manchmal auch das<br />
Gefühl, dass sie etwas vergessen. Staatliche Institutionen<br />
regeln unseren Alltag jeden Tag, das geht<br />
von der Haftung und Versicherung über Hygienebestimmungen<br />
beim Kuchenbacken bis zu den großen<br />
Fragen. Ohne den Staat fehlen also auch die notwendigen<br />
Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft.<br />
Es kommt aber darauf an, wie der Staat es macht.<br />
Das wird die entscheidende Frage sein. Nicht Gleichmacherei<br />
über ganz große, einheitliche Programme<br />
und Maßnahmen, wie wir sie schon mal in den 70er<br />
Jahren gehabt haben, wird das Ziel sein. Deswegen<br />
heißt es auch nicht nationaler <strong>Engagement</strong>plan. Es<br />
ist eine Strategie. Das signalisiert eine Pluralität von<br />
Akteuren, die kooperieren und Rahmenbedingungen<br />
setzen.<br />
Moderatorin:<br />
Eine Gruppe sind auch die Unternehmen. Frau Dr.<br />
Hilgenstock, welchen Beitrag können die Unternehmen<br />
dort leisten?<br />
Marita Hilgenstock:<br />
Ich spreche hier für eine Unternehmensgruppe, die<br />
sich gefunden hat, weil die Unternehmen zweierlei<br />
tun, wenn sie sich gesellschaftlich engagieren. Sie<br />
kooperieren mit Institutionen der Zivilgesellschaft und<br />
fördern insbesondere das zivilgesellschaftliche <strong>Engagement</strong><br />
ihrer Mitarbeiter. Wir haben uns zunächst<br />
gefunden, um voneinander zu lernen: Wo muss was<br />
passieren, wo können wir besser werden? Wir sind<br />
immer wieder auf die gleichen Fragen gekommen,<br />
die wir jetzt auch im Rahmen des Nationalen Forums<br />
für <strong>Engagement</strong> und Partizipation und der Strategie<br />
diskutieren. Wir als Unternehmen können durchaus<br />
auch ein aktiver Part sein. Einmal, wenn wir unsere<br />
Mitarbeiter motivieren, sich zu engagieren und ihnen<br />
Möglichkeiten geben, haben wir einen Zugang zu Engagierten,<br />
den wir bisher nicht hundertprozentig ge-
nutzt haben. Auf der anderen Seite haben wir natürlich<br />
auch unsere unternehmerische Kompetenz. Wir<br />
sehen durchaus im Kleinen, das es hilft, wenn wir mit<br />
diesem Know-How an geeigneter Stelle beratend mithelfen<br />
können. Unser Know-How könnte durchaus im<br />
Rahmen der Entwicklung dieser <strong>Engagement</strong>strategie<br />
nutzen, um den einen oder anderen Aspekt mehr<br />
wirtschaftlich, wettbewerbsmäßig zu sehen, ohne<br />
gleich Berührungsängste zu wecken.<br />
Moderatorin:<br />
Auf die Berührungsängste will ich gleich kommen.<br />
Wird Ihnen manchmal Kritik entgegen gehalten, dass<br />
die Unternehmen damit letztendlich doch Geld machen<br />
wollen?<br />
Marita Hilgenstock:<br />
Eher am Rande. Was wir eher sehen ist, dass schon<br />
eine genaue Vorstellung existiert, was Unternehmen<br />
tun sollten. Da fällt das Stichwort „Verpflichtende Bedingungen<br />
für Unternehmen“. Das kann es aus unserer<br />
Sicht nicht sein. Wir sind kreativ und wollen uns<br />
einbringen. Wir wollen da auch für uns selbst einen<br />
Nutzen haben, und wir sehen, dass uns unsere Mitarbeiter<br />
für die Möglichkeiten, die sie haben, danken.<br />
Wir sehen uns aber auch als aktiven Part in der Gesellschaft,<br />
denn auch Unternehmen sind auf den gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt angewiesen, auf Bildung<br />
oder auf eine Lösung der Migrationsprobleme.<br />
Gerade auf dem Pfad einer <strong>Engagement</strong>strategie,<br />
sollten wir uns gemeinsam überlegen, was da machbar<br />
ist. Wir würden uns in einer Rolle wohl fühlen, in<br />
der wir mitarbeiten können. Wir sind im Augenblick<br />
ein stückweit glücklich, aber auf der anderen Seite<br />
hadern wir: Wir haben jetzt ein eigenes Dialogforum<br />
für Unternehmensengagement. Das heißt wir haben<br />
eine gewisse Sonderrolle. Man arbeitet sich damit<br />
langsam an die Rolle von Unternehmen heran. Darüber<br />
muss gesprochen werden, insofern ist es als<br />
Thema wichtig und richtig. Wir halten es aber auch<br />
für wichtig, dass wir in den anderen Themen in den<br />
Dialogforen vertreten sind, und haben auch Kollegen<br />
gefunden, die sich dieser Themen annehmen.<br />
Moderatorin:<br />
Herr Prof. Olk, ich würde gerne fragen: Muss das<br />
noch so sein, dass die Unternehmen ein Dialogforum<br />
für sich haben?<br />
Thomas Olk:<br />
Nein, das muss nicht so sein. In einer solchen Gruppe<br />
lernen vielleicht auch eher andere etwas über Unternehmen<br />
und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>. Die<br />
Unternehmen haben das Problem, dass sie nicht zusammensitzen<br />
möchten, um sich selbst zum Thema<br />
Podiumsdiskussion<br />
zu machen. Das verstehe ich sehr gut. Auf der anderen<br />
Seite gibt es, und das muss man auch sehen, keine<br />
so große geschichtliche Tradition der Kooperation zwischen<br />
Unternehmen und der Zivilgesellschaft, wie z.<br />
B. in England oder den USA. Und es gibt erhebliche<br />
wechselseitige Schwierigkeiten der Anpassung, wenn<br />
Unternehmen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />
etwas gemeinsam machen wollen. Das gilt für<br />
beide Seiten. Da gibt es keine Schuldzuweisungen.<br />
Ein solches Dialogforum macht nur dann Sinn, wenn<br />
dort nicht nur Unternehmensvertreter sitzen. Das wäre<br />
überflüssig. Da müssen die anderen Akteure auch drin<br />
sitzen, da geht es um Fragen der Kooperation und Vernetzung<br />
und die Probleme, die dabei bestehen. Meine<br />
Beobachtung ist, Frau Hilgenstock kann das vielleicht<br />
korrigieren, dass Unternehmen sich gerne untereinander<br />
vernetzen, aber die Vernetzung mit anderen<br />
Akteuren ist eine Aufgabe, die noch vor uns liegt. Das<br />
sehen wir als <strong>BBE</strong>, da wollen wir weiterkommen und dafür<br />
brauchen wir möglicherweise eine solche Gruppe.<br />
Moderatorin:<br />
Herr Linzbach, wie beurteilen sie die Zusammensetzung<br />
der heutigen Foren und speziell das Forum, in<br />
dem sich Unternehmen äußern werden?<br />
Christoph Linzbach:<br />
Ich finde das Thema <strong>Engagement</strong> und Unternehmen<br />
sehr spannend. Wir haben vorgesehen, dass wir in<br />
dieser Legislaturperiode den ersten <strong>Engagement</strong>bericht<br />
der Bundesregierung vorlegen werden. Der wird<br />
sich in einem allgemeinen Teil mit einem Überblick<br />
über die Situation des <strong>Engagement</strong>s in Deutschland<br />
beschäftigen. In einem zweiten Teil wird er das Thema<br />
Unternehmensengagement aufgreifen. Da hat<br />
sich in den vergangenen Jahren viel getan. Viele Unternehmen<br />
entwickeln ein neues Selbstverständnis.<br />
Sie sehen sich zunehmend auch als gesellschaftlich<br />
relevante Akteure vor Ort. Es gibt nach wie vor viele<br />
kleine lokale Unternehmen, die dann z. B. die Trikots<br />
von einem Verein finanzieren. Das ist und bleibt wichtig.<br />
Das Rollenverständnis im Themenfeld <strong>Engagement</strong><br />
von Unternehmen verändert sich. Das sollten<br />
wir verfolgen und begleiten und für das gesamte <strong>Engagement</strong>feld<br />
nutzen.<br />
Monika Helbig:<br />
In der Tat gibt es sehr unterschiedliche Ausprägungen<br />
von <strong>Engagement</strong> in Unternehmen. Herr Linzbach hat<br />
die kleinen lokalen Partnerschaften angesprochen.<br />
Es gibt aber auch große Unternehmen, die zum Teil<br />
schon eigene CSR-Abteilungen haben. Die sehen<br />
das mehr aus dem Personalentwicklungsaspekt. Die<br />
<strong>Engagement</strong>bewegten wünschen sich mehr Vernetzung<br />
in die Zivilgesellschaft.<br />
19
Podiumsdiskussion<br />
Ein ganz wichtiger Aspekt sind auch Unternehmen,<br />
die Patenschaften haben und zum Beispiel junge<br />
Leute in Ausbildungsverhältnissen beim Start ihres<br />
Berufslebens begleiten. Das kann und sollte man befördern,<br />
denn da kann man mehrere Fliegen mit einer<br />
Klappe schlagen. Auf der einen Seite kann man jungen<br />
Menschen, die keinen erstklassigen Bildungsabschluss<br />
haben, eine Chance bieten. Auf der anderen<br />
Seite können die Unternehmen auch ihren eigenen<br />
Nachwuchs rekrutieren. Das ist eine Idee, die man<br />
noch mehr transportieren und verstärken könnte, und<br />
man muss prüfen welche gesetzlichen Regelungen<br />
das flankieren können.<br />
Moderatorin:<br />
Das Thema ist wichtig. Noch eine Replik darauf von<br />
Frau Dr. Hilgenstock?<br />
Marita Hilgenstock:<br />
Ich kann dem nur zustimmen. Gerade bei der Frage,<br />
wie kommen Jugendliche oder Langzeitarbeitslose<br />
in Arbeit, können Unternehmen Ideen entwickeln,<br />
die auch dem Unternehmen selbst nutzen. Wir sprachen<br />
von Interessen der Zivilgesellschaft. Es gibt<br />
gemeinsame Interessen von Zivilgesellschaft und<br />
Unternehmen. Da haben wir eine gute Chance, gemeinsam<br />
etwas auf den Weg zu bringen. Wenn wir<br />
diese gemeinsamen Punkte gefunden haben, dann<br />
ist es auch für diejenigen, die gesellschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
in den Unternehmen verantworten und<br />
deren Auftrag es zunächst ist, Geld zu verdienen,<br />
leichter zu vermitteln. Wir müssen uns nicht um Fördermittel<br />
kümmern, aber wir müssen uns in dem<br />
Unternehmen schon rechtfertigen, wofür wir Geld<br />
ausgeben. Das sollte man anerkennen. Da können<br />
Zivilgesellschaft und Politik Hilfestellungen geben,<br />
dass wir gemeinsame Handlungsfelder finden. Dann<br />
wird es auch nachhaltig gemacht.<br />
Moderation:<br />
Lassen sie uns noch über den Prozess des Findens<br />
der Strategie sprechen. Frau Helbig, was erwarten<br />
Sie genau von diesem Prozess? Sollte man nicht ein<br />
klares Ziel haben, was am Ende dieses Findungsprozesses<br />
stehen sollte?<br />
Monika Helbig:<br />
Ich wünsche mir schon, dass es am Ende konkrete<br />
Ideen gibt, was letztendlich diese nationale <strong>Engagement</strong>strategie<br />
ausmacht. Da müsste auf der einen<br />
Seite die Definition des Feldes der Zivilgesellschaft<br />
stehen und auf der anderen Seite die Handlungsmöglichkeiten,<br />
die vorrangig seitens des Bundes<br />
auch ergriffen werden können. Ein wichtiger Punkt ist<br />
das Thema Transparenz. Berlin hat aktuell eine sehr<br />
20<br />
schwierige Debatte zu diesem Thema. Die Frage<br />
Transparenz im Dritten Sektor spielt sowohl für das<br />
<strong>Engagement</strong> als auch für den Zuwendungsgeber auf<br />
mehrfachen Ebenen eine Rolle. Ich würde mir wünschen,<br />
dass der Bund dieses Thema hier an dieser<br />
Stelle noch mal bearbeitet. Das könnte eines der Ergebnisse<br />
aus den Foren sein, dass man Eckpunkte<br />
definiert, was man unter Transparenz versteht. Was<br />
muss letztendlich für die, die sich engagieren oder<br />
Geld geben wollen, an Information öffentlich sein. Wir<br />
machen in Berlin eine umfassende Plattform „Engagiert<br />
in Berlin“, und da haben wir ein paar Transparenzgrundsätze<br />
definiert. Weil wir der Meinung sind,<br />
dass das zwingend erforderlich ist, wenn man das<br />
Thema <strong>Engagement</strong> befördern will.<br />
Moderatorin:<br />
Transparenz soll auch dadurch erreicht werden, dass<br />
man sich auch online an den Foren beteiligen kann,<br />
Herr Olk?<br />
Thomas Olk:<br />
Bürgerbeteiligung ist eine andere Art der Transparenz.<br />
Wir wollen das nicht durcheinander bringen.<br />
Bürgerbeteiligung über diese Online-Befragung ist<br />
wichtig und daher auch Teil des Prozesses. Es ist<br />
auch eine neue Form, über das Internet Beteiligung<br />
zu verbreitern. Aber hier geht es klar um eine Bringschuld<br />
des Dritten Sektors. Die Organisationen,<br />
die sich selbst zivilgesellschaftlich nennen - das<br />
ist ein Qualitätsbegriff -, müssen da auch gewisse<br />
Standards erfüllen. Dazu gehört auch Transparenz<br />
über bestimmte Parameter ihres Handelns. Dann<br />
kann man auch an andere entsprechende Forderungen<br />
stellen und ist für Dritte, die sich freiwillig<br />
engagieren wollen, durchsichtig. Das ist ein gutes<br />
Thema. Ein anderes wichtiges Thema ist natürlich<br />
die Infrastruktur. Wir haben immer noch ein großes<br />
Problem, das nicht kleiner wird, gerade wegen der<br />
Finanzschwierigkeiten auf kommunaler Ebene. Wir<br />
haben auf der kommunalen Ebene die vielen Infrastruktureinrichtungen,<br />
die ganz wichtig sind, wie<br />
der Freiwilligensurvey immer wieder herausarbeitet.<br />
Für die Vermittlung, für die Öffentlichkeitsarbeit,<br />
für die Entwicklung von Organisationen im Freiwilligenmanagement.<br />
Diese Organisationen brauchen<br />
professionelle Kerne vor Ort. Ehrenamt kann nicht<br />
alleine durch Ehrenamtliche angeregt, vermittelt und<br />
betreut werden. Ich sehe ein massives Problem der<br />
Glaubwürdigkeit, wenn wir auf der einen Seite auf<br />
der Bundesebene eine nationale <strong>Engagement</strong>strategie<br />
entwickeln und dann miterleben müssen, wie auf<br />
kommunaler Ebene alles abgeholzt wird, was nach<br />
<strong>Engagement</strong>förderung aussieht. Das wäre eine Katastrophe<br />
und darf nicht passieren.
Moderatorin:<br />
Frau Laurischk, die Frage an sie. Wir haben schon<br />
gehört, dass all das, was heute in den Dialogforen<br />
diskutiert wird, nicht das letzte Wort ist. Aber gibt es<br />
Themen, die auch noch diskutiert werden müssen?<br />
Sibylle Laurischk:<br />
Gerade das bürgerschaftliche <strong>Engagement</strong> hat als<br />
Thema eine Offenheit. Wir sollten uns hüten, die<br />
Themen vorzugeben oder abschließend zu betrachten.<br />
Der Prozess in einer freiheitlichen Gesellschaft<br />
muss offen bleiben. Da ist staatliches Handeln ein<br />
gewisses Risiko. Deswegen ist das Stichwort Transparenz<br />
sicherlich gut. Einflussnahme darf nicht dazu<br />
führen, dass bestimmte Felder im bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong> en vogue sind und der Rest möglicherweise<br />
außen vor bleibt. Die Offenheit muss auch<br />
in der Dialogfähigkeit der Akteure gewahrt bleiben.<br />
Worum es uns geht, ist das <strong>Engagement</strong> der Bürgerschaft,<br />
der Wirtschaft und auch des staatlichen<br />
Sektors. Das es nicht nur etwas ist, was zufällig<br />
stattfindet und je nach Kassenlage auch geliebt ist,<br />
sondern das es eine Struktur ist, die jede lebendige<br />
Gesellschaft braucht. Nur wenn sich der einzelne<br />
Mensch in seinem Impuls, etwas tun zu wollen, in<br />
dem Recht etwas tun zu können, wiederfindet. Dann<br />
haben wir eine lebendige, eine freiheitliche Gesellschaft.<br />
Dieses Wechselspiel braucht jeder Staat als<br />
Grundlage. Deswegen muss man sich hüten, Themen<br />
zu sehr zu definieren. Es wird heute Aufgabe<br />
der Foren sein, Ansätze zu entwickeln. Die spannende<br />
Frage wird dann sein, wie die Bundesregierung<br />
diese Initiativen, diese Impulse umsetzt und<br />
wie sie das Thema am Laufen hält. Denn was jetzt<br />
in einer ersten Befassung umgesetzt wird, auch in<br />
diesem Jahr noch, wie wir gehört haben, wird nicht<br />
das Ende der Veranstaltung sein. Wir müssen es offen<br />
halten. Bemerkenswert war, was die Ministerin<br />
Schröder gestern im Unterausschuss sagte. Bürger<br />
und Bürgerinnen, die im bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong><br />
stehen, sind selbstbewusst. Dieser selbstbewusste<br />
Mensch ist Grundlage jeglichen demokratischen<br />
Handelns. Deswegen keine engen Themen,<br />
offen, klar und transparent sein und Infrastruktur im<br />
Rahmen des Möglichen und Notwendigen vorhalten.<br />
Insofern fand ich das Stichwort professionelle Kerne<br />
zu schaffen, die das <strong>Engagement</strong> <strong>ermöglichen</strong> und<br />
leichter machen, interessant.<br />
Moderatorin:<br />
Herr Linzbach, es gibt am Horizont ein Statusgesetz<br />
für Freiwilligendienste zu sehen, aber noch ferner<br />
vielleicht ein Gesetz zur Förderung bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s. Wäre das etwas, was am Ende<br />
stehen könnte?<br />
Podiumsdiskussion<br />
Christoph Linzbach::<br />
Ich kann mir vorstellen, dass das Freiwilligendienstestatusgesetz<br />
auch Teil der Strategie sein<br />
wird. Hier sind wir im Moment in der Hausabstimmung.<br />
Es gibt auch im Verbändebereich Diskussionen.<br />
Es geht darum, die verschiedenen Formate<br />
der Freiwilligendienste unter ein Dach zu stellen.<br />
Die sind sehr unterschiedlich. Der Freiwilligendienst<br />
aller Generationen hat ein Acht-Stunden-<br />
Format, während die Jugendfreiwilligendienste ein<br />
Vollzeitformat sind. Wenn man das in ein Gesetz<br />
bringt und gewisse Standards sicherstellen will,<br />
muss man auf jeden Fall gewährleisten, dass alle<br />
Formate unbeschädigt bleiben und ihre Entwicklungsperspektive<br />
behalten. Außerdem ist im Koalitionsvertrag<br />
der Begriff Förderplan enthalten.<br />
Als Zusammenstellung all der strategischen Maßnahmen,<br />
die die Bundesregierung in diesem Feld<br />
unternimmt, könnte das etwas sein, das man sich<br />
bis zum Ende der Legislaturperiode vorstellen<br />
könnte. Ich stimme ausdrücklich zu, dass die Strategie<br />
mit dem Kabinettsbeschluss nicht am Ende<br />
ist, sondern die Umsetzung erst anfängt. Auch die<br />
Strategie muss weiter entwickelt werden. Das ist<br />
ein Stück Arbeit im Fortschritt, work in progress<br />
könnte man sagen. Der letzte Punkt, den Sie angesprochen<br />
haben, das Gesetz zur Förderung des<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s steht sehr weit<br />
am fernen Horizont. Es ist viel gesagt worden über<br />
Zuständigkeiten der Länder, der Kommunen, die zu<br />
beachten sind. Da werden wir im Rahmen der <strong>Engagement</strong>strategie<br />
sehr darauf achten. Das ist ein<br />
Vorhaben, was zwar im Koalitionsvertrag steht, das<br />
ich persönlich in nächster Zeit, ganz offen gesagt,<br />
für nicht realisierbar halte.<br />
Moderatorin:<br />
Wir haben jetzt viel über <strong>Strukturen</strong>, Zuständigkeiten<br />
und Institutionen gesprochen. Zum Abschluss noch<br />
ganz kurz: Warum engagieren Sie sich eigentlich persönlich<br />
für das bürgerschaftliche <strong>Engagement</strong>, Herr<br />
Grübel?<br />
Markus Grübel:<br />
Weil es mir Freude macht, Verantwortung zu tragen.<br />
Da, wo ich als bürgerschaftlich Engagierter tätig bin,<br />
macht es mir Freude, und als Präsident vom Blasmusikverband<br />
sage ich meinen Leuten immer: Ehrenamt<br />
muss Freude machen. In dem Moment, in dem<br />
ich es als Belastung und Qual empfinde, läuft etwas<br />
falsch. Ich habe mit der kirchlichen Jugendarbeit angefangen<br />
und es hat mir immer Freude gemacht. Das<br />
zu vermitteln ist wichtig, nicht immer dieses sich opfern<br />
müssen, sondern es macht mir Freude mich einzubringen,<br />
anderen zu helfen.<br />
21
Podiumsdiskussion<br />
Moderatorin:<br />
Herr Olk, sind Sie, wenn Sie es tun, immer so durchsetzt<br />
von der gesellschaftlichen Relevanz, oder spüren<br />
Sie auch die pure Freude?<br />
Thomas Olk:<br />
Es ist interessant, welches Psychogramm sie gerade<br />
erstellen. Ich bin auch gleichzeitig Vorstandsvorsitzender<br />
einer kleinen Stiftung, die bundesweit versucht,<br />
Bürgergesellschaft zu <strong>gestalten</strong>. Das macht mir<br />
Gestaltungsspaß. Wir haben einen Integrationswettbewerb.<br />
Wir haben schon in einer Zeit, als das noch<br />
nicht so normal war, <strong>Engagement</strong> von Migrantinnen<br />
und Migranten ausgezeichnet. Gestern habe ich von<br />
einem Vertreter dieser Szene die Frage gehört: Ist das<br />
jetzt Migrationsvorder- oder -hintergrund? Der Punkt<br />
ist, dass sie durch das <strong>Engagement</strong> die Aufnahmegesellschaft<br />
mit<strong>gestalten</strong>, und da gab es erstaunlich<br />
kreative Projekte und Ideen. In denen wurde deutlich,<br />
dass Migrantinnen und Migranten keine Adressaten<br />
für Befürsorgung und keine Opfer, sondern Gestalter<br />
sind. Diese Erfahrung ist für mich die Bestätigung,<br />
dass wir auf dem richtigen Weg sind.<br />
Monika Helbig:<br />
<strong>Engagement</strong> ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammen<br />
hält, und deshalb ist es wichtig, dass man neben<br />
dem, was man an professioneller Arbeit leistet, auch<br />
noch etwas tut, das darüber hinausgeht. Da kommt<br />
auch etwas zurück. Man opfert sich nicht nur für jemanden<br />
oder eine Sache auf, sondern man erfährt<br />
auch eine positive Reaktion, wenn man etwas ehrenamtlich<br />
oder freiwillig für die Gesellschaft tut. Jeder,<br />
der diese Erfahrung machen kann oder gemacht hat,<br />
der wird auch nicht mehr loslassen. Deshalb ist es<br />
wichtig denen, die sich vielleicht noch engagieren<br />
wollen, eine Möglichkeit zum <strong>Engagement</strong> zu bieten,<br />
weil sie vielleicht mit einer Idee herumlaufen, aber<br />
noch nicht so richtig den Zugang gefunden haben.<br />
Das ist einer der Punkte, die wir erarbeiten müssen,<br />
diese Möglichkeit zu schaffen.<br />
Moderatorin:<br />
Frau Laurischk, was spüren Sie persönlich, wenn Sie<br />
ehrenamtlich tätig sind?<br />
Sibylle Laurischk:<br />
Durch das Ehrenamt bin ich in die Politik gekommen.<br />
Das ist für viele eine erste Erfahrung. Man will etwas<br />
erreichen, man will etwas verändern. Ganz konkret:<br />
Als ich als Mutter mit drei Kindern im Schlepptau und<br />
der Mütterinitiative Hangrutsche beim Finanzbürgermeister<br />
der Stadt Offenburg erschienen bin und gesagt<br />
habe, dass wir mehr Kindertagesbetreuungseinrichtungen<br />
brauchen und es dort hieß, brauchen wir<br />
22<br />
nicht, da ging das Thema Vereinbarkeit von Familie<br />
und Beruf los. Und spätestens als wir Mütter dann<br />
anfangen mussten, unsere Kinder im Bürgermeisterbüro<br />
zu wickeln, war er schon etwas mehr überzeugt.<br />
Solche Erfahrungen bringen dann auch kommunalpolitisches<br />
<strong>Engagement</strong> und in meinem Fall auch den<br />
Weg in die Politik. So finden Menschen immer wieder<br />
Themen, bei denen sie sagen, da ist was los, da soll<br />
was passieren, da will ich etwas bewegen. Das sind<br />
die Impulse, die wir in einer offenen, freiheitlichen<br />
Gesellschaft brauchen, die wir als Politikerinnen und<br />
Politiker aufnehmen müssen. Das ist mir ungemein<br />
wichtig und ich bin immer noch im Vorstand eines<br />
kleinen Vereins und erlebe dort ganz andere Probleme<br />
als hier in Berlin.<br />
Marita Hilgenstock:<br />
Ich musste gerade bei dem Wickeln schmunzeln. Daran<br />
kann ich gut anknüpfen. Es ist immer schön, in<br />
Projekten zu sehen, was in der Gesellschaft für eine<br />
gestalterische Kraft herrscht. Ich kann mich an das<br />
Dorf erinnern, in dem unsere Tochter zur Welt kam.<br />
Wir hatten keinen Spielplatz, den hat die Dorfjugend<br />
gebaut. Wir hatten keinen Kindergarten. Wir haben<br />
der Kirche den Raum abgeschwatzt. Wir hatten ein<br />
Provisorium, das zehn Jahre gehalten hat, und das<br />
motiviert einen.<br />
Christoph Linzbach:<br />
Ich bin zwar von morgens bis abends von der gesellschaftlichen<br />
Relevanz des bürgerschftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
durchdrungen, insofern kann ich das absolut<br />
bedienen, was sie eben gefordert haben. Ich habe<br />
früher relativ viel gemacht, hätte heute auch gerne<br />
mehr Zeit, mir Initiativen und Projekte vor Ort anzuschauen.<br />
Es gibt viel im Land, das man noch nicht<br />
kennt und gerne kennenlernen möchte und das auch<br />
Wertschätzung verdient. Bei mir konkret steht das<br />
Gespräch mit Frau Dr. Zimmermann an, die mir einen<br />
Platz in einem nachberuflichen Tätigkeitsfeld, wenn<br />
ich mal in Rente gehe, sichern soll. Damit kann man<br />
gar nicht früh genug beginnen.
Dialogforen
• Gerhard Bäumer, Bundesministerium der Finanzen<br />
• Werner Ballhausen, Bündnis für Gemeinnützigkeit<br />
• Dr. Martina Beckmann, Bundesministerium der<br />
Justiz<br />
• Rainer Bode, Landesarbeitsgemeinschaft<br />
Soziokultureller Zentren NRW<br />
• Dr. Christine Bruhn, Deutsche Kinder- und<br />
Jugendstiftung<br />
• Ulla Engler, Deutscher Paritätischer<br />
Wohlfahrtsverband, Gesamtverband<br />
• Dr. Michael Ernst-Pörksen, C.O.X.<br />
Steuerberatungs- und Treuhandgesellschaft<br />
• Wolfgang Gottschlich, Staatskanzlei des<br />
Landes Nordrhein-Westfalen<br />
• Stephan Jentgens, Deutscher Bundesjugendring<br />
• Dirk Kirchner, KPMG<br />
• PD Dr. Ansgar Klein, Bundesnetzwerk<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
• Vera Klier, Bundesarbeitsgemeinschaft<br />
der Seniorenorganisationen<br />
• Volker Languth-Wasem,<br />
Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe<br />
Dialogforum „Reform des<br />
Zuwendungsrechts“<br />
Teilnehmerinnen und Teilnehmer des<br />
Dialogforums am 13. April 2010 und des<br />
vorbereitenden Workshops am 25. März 2010<br />
• Kerstin Piontkowski, Deutscher Verein für<br />
öffentliche und private Fürsorge<br />
• Carsten-Michael Pix, Deutscher Feuerwehrverband<br />
• Matthias Potocki, Unterausschuss Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> des Deutschen Bundestags<br />
• Bernd Roeder, Deutscher Olympischer Sportbund<br />
• Dietrich Schippel, aktiv in Berlin <strong>–</strong> Landesnetzwerk<br />
Bürgerengagement<br />
• Gabriele Schulz, Deutscher Kulturrat<br />
• Tina Seifert, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
• Manfred Spangenberg, Bundesnetzwerk<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
• Dr. Klaus Spieler, Akademie für Ehrenamtlichkeit<br />
Deutschland<br />
• Verena Staats, Bundesverband Deutscher Stiftungen<br />
• Wolfgang Thiel, Deutsche Arbeitsgemeinschaft<br />
Selbsthilfegruppen<br />
• Gerhard Timm, Bundesarbeitsgemeinschaft der<br />
Freien Wohlfahrtspflege<br />
• Michael Triltsch, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend
Dialogforum Reform des Zuwendungsrechts<br />
Regeln vereinfachen <strong>–</strong> Gestaltungsfreiheit schaffen<br />
Bericht über das Dialogforum „Reform des Zuwendungsrechts“<br />
am 13. April 2010 im Deutschen Bundestag<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> findet oft in Organisationen<br />
statt. Ein Großteil dieser Organisationen,<br />
dazu zählen große Verbände genauso wie kleine<br />
Vereine und Initiativen, wird durch öffentliche Gelder<br />
unterstützt und ist damit unmittelbar vom Zuwendungsrecht<br />
betroffen. Ein Zuwendungsrecht, das der<br />
Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen gerecht<br />
wird und sowohl für Zuwendungsgeber als auch Zuwendungsnehmer<br />
unbürokratisch zu handhaben ist,<br />
ist daher zentral für die Förderung bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s. Es bildet damit wie das Gemeinnützigkeitsrecht,<br />
das Spendenrecht, das Vereinsrecht und<br />
versicherungsrechtliche Bestimmungen einen essentiellen<br />
Baustein der rechtlichen Rahmenbedingungen<br />
für bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>.<br />
Das Dialogforum Reform des Zuwendungsrechts<br />
konnte bei der Erarbeitung seiner Handlungsempfehlungen<br />
am 13. April 2010 an die Diskussion anschließen,<br />
die insbesondere von großen Verbänden<br />
seit längerem geführt wird. Vor allem in den Punkten<br />
Jährlichkeitsprinzip, Festbetragsfinanzierung, Rücklagenbildung,<br />
Besserstellungsverbot, zuwendungsfähige<br />
Ausgaben, Anerkennung bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s als Eigenmittel und Umsatzsteuerrecht<br />
war mit den „Empfehlungen des Deutschen Vereins<br />
zur Entbürokratisierung und Modernisierung des Zuwendungsrechts“<br />
die Debatte schon sehr präzise vorstrukturiert.<br />
Im Rahmen des Dialogforums wurde der aktuelle<br />
Handlungsbedarf jedoch noch einmal genauer beschrieben.<br />
Dabei wurde deutlich, dass zwischen Zivilgesellschaft<br />
und Staat noch massiver Diskussionsund<br />
Klärungsbedarf besteht. Zum Teil treffen sehr<br />
unterschiedliche Wahrnehmungen und Handlungslogiken<br />
aufeinander. Während es den Organisationen<br />
der Zivilgesellschaft um Flexibilität, mehr Handlungsfreiheit<br />
und Entbürokratisierung geht, dienen die<br />
Regelungen des Zuwendungsrechts aus der Sicht<br />
des Bundesministeriums der Finanzen, des Bundesverwaltungsamtes<br />
und des Bundesrechnungshofes<br />
vor allem dem Grundsatz der sparsamen und missbrauchsfreien<br />
Verwendung öffentlicher Gelder. Beide<br />
Anliegen sind berechtigt. Daher wird es auch künftig<br />
weitere Diskussionen geben. Dies gilt z. B. für das<br />
Jährlichkeitsprinzip. Auf zivilgesellschaftlicher Seite<br />
besteht der wohlbegründete Wunsch, das Prinzip<br />
der Jährlichkeit bei der Mittelzuweisung flexibler zu<br />
<strong>gestalten</strong>, da Projektverläufe im Gegensatz zu öffentlichen<br />
Haushalten nicht vor dem Jahreswechsel Halt<br />
machen. Dagegen weist die staatliche Seite darauf<br />
hin, dass öffentliche Haushalte nicht beliebig in der<br />
Verwaltung gestaltet werden können, sondern von<br />
Parlamenten beschlossen werden. Ein Abrücken<br />
vom Jährlichkeitsprinzip zieht daher die Schwierigkeit<br />
nach sich, mehrjährige Verpflichtungen und damit<br />
auch ungewisse Wechsel auf die Zukunft eingehen<br />
zu müssen. An diesem Beispiel kann man ganz konkret<br />
die Schwierigkeiten ablesen, die sich aus einer<br />
Modernisierung des Zuwendungsrechts ergeben.<br />
25
Dialogforum Reform des Zuwendungsrechts<br />
Ergebnisse<br />
Mit dem vom Bundesministerium der Finanzen initiierten<br />
Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s ist ein wichtiger Reformschritt<br />
zur Vereinfachung und Entbürokratisierung des Gemeinnützigkeits-<br />
und Spendenrechts gelungen. Dennoch<br />
besteht weiterer Reformbedarf, vor allem im Bereich<br />
des Zuwendungsrechts.<br />
Durch den Abbau unnötiger Bürokratie könnte die Effektivität<br />
von öffentlichen Zuwendungen gesteigert werden.<br />
Zur besseren Förderung des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
sollten deshalb im Zuwendungsrecht und in<br />
der Zuwendungspraxis bürokratische Hemmnisse abgebaut<br />
werden mit dem Ziel, den Verwaltungsaufwand<br />
für beide Seiten zu verringern und zusätzlich mehr<br />
Rechtssicherheit und Gestaltungsfreiheit zu schaffen.<br />
1. Allgemeine Nebenbestimmungen<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Die Verwaltungsvorschriften zu § 44 BHO (Bundeshaushaltsordnung)<br />
enthalten umfangreiche Nebenbestimmungen,<br />
die <strong>–</strong> versehen mit einer hohen Regelungsdichte<br />
<strong>–</strong> die Auflagen und Pflichten für den<br />
Zuwendungsempfänger beschreiben und in der Regel<br />
zu Bestandteilen des Zuwendungsbescheides erklärt<br />
werden. Durch eine Vereinfachung des Zuwendungsrechts<br />
könnte der Verwaltungsaufwand bei der Gestaltung<br />
zivilgesellschaftlicher Projekte verringert werden.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Die Allgemeinen Nebenbestimmungen der Bundeshaushaltsordnung<br />
sollten, soweit dies möglich ist,<br />
vereinfacht werden.<br />
Insbesondere sollte geprüft werden, wie die dort verankerten<br />
Mitteilungspflichten des Zuwendungsemp-<br />
26<br />
fängers stärker ins Verhältnis zur Höhe der Zuwendung<br />
gesetzt werden können.<br />
Auch eine Ausdehnung der zweimonatigen Mittelverwendungsfrist<br />
sowie praktikablere Regelungen für<br />
die Verzinsung von Rückzahlungsansprüchen (z. B.<br />
durch längere Bewirtschaftungszeiträume und höhere<br />
Bagatellgrenzen) würden dazu beitragen, den<br />
Verwaltungsaufwand für Zuwendungsempfänger und<br />
Zuwendungsgeber zu reduzieren.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Bundesregierung wird gebeten, die Nebenbestimmungen<br />
der BHO zu überarbeiten. Unter Beteiligung<br />
der Zivilgesellschaft sollte für geringfügige<br />
Zuwendungen ein insgesamt vereinfachtes Zuwendungsverfahren<br />
angestrebt werden, das die positiven<br />
Erfahrungen aus den Bundesländern berücksichtigt.<br />
2. Jährlichkeitsprinzip<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Für Zuwendungsempfänger ist nicht das Kalenderjahr maßgeblich,<br />
innerhalb dessen öffentliche Mittel aufgrund des<br />
Jährlichkeitsprinzips ausgegeben werden müssen, sondern<br />
der Zeitraum des geförderten Vorhabens insgesamt.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Es sollte daher geprüft werden, inwieweit durch haushalterische<br />
Instrumente eine überjährige Mittelbereitstellung<br />
realisiert werden kann.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Bundesregierung sollte zusammen mit dem<br />
Haushaltsgesetzgeber die Frage klären, wie eine
überjährige Mittelbereitstellung, z. B. durch die Ausbringung<br />
von Verpflichtungsermächtigungen oder<br />
durch die vermehrte Bereitstellung von Selbstbewirtschaftungsmitteln,<br />
realisiert werden kann.<br />
3. Festbetragsfinanzierung<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Die weit verbreitete Fehlbedarfsfinanzierung erschwert<br />
die Planbarkeit der Verwendung öffentlicher<br />
Mittel. Außerdem setzt sie keine Anreize für<br />
Organisationen, während des Förderzeitraumes<br />
zusätzliche Mittel einzuwerben. Bei der Festbetragsfinanzierung<br />
wird die Förderung dagegen<br />
beim Zuwendungsempfänger belassen, auch wenn<br />
weitere Mittel eingehen. Sie kann damit die Ausweitung<br />
von Projekten befördern und entlastet zugleich<br />
den Zuwendungsgeber bei der Prüfung des<br />
Verwendungsnachweises.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Es sollten Wege aufgezeigt werden, inwieweit der<br />
Einsatz der Festbetragsfinanzierung durch entsprechende<br />
Verwaltungsvorschriften und -richtlinien ausgeweitet<br />
werden kann.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Bundesregierung wird gebeten, im Rahmen der<br />
Bund-Länder-Koordinierung auf eine vermehrte Festbetragsfinanzierung<br />
hinzuwirken.<br />
4. Rücklagenbildung<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Institutionell geförderte Zuwendungsempfänger<br />
tragen die Risiken eines „normalen“ Geschäftsbetriebes.<br />
Ebenso kann der Eingang von Spenden<br />
das Bilden von Rücklagen erforderlich machen. Das<br />
Steuerrecht lässt daher im Rahmen der Gemeinnützigkeitsanerkennung<br />
die Bildung von Rücklagen <strong>–</strong><br />
in eingeschränktem Umfang <strong>–</strong> zu. Daran sollte sich<br />
auch das Zuwendungsrecht orientieren.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Bei institutionellen Förderungen sollte eine Harmonisierung<br />
des haushaltsrechtlichen Verbots, Rücklagen aus<br />
eigenen Mitteln zu bilden, mit den steuerrechtlichen Vorschriften<br />
der Abgabenordnung geprüft werden.<br />
Dialogforum Reform des Zuwendungsrechts<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Bundesregierung wird gebeten, das haushaltsrechtliche<br />
Verbot, Rücklagen aus eigenen Mitteln zu<br />
bilden, unter Berücksichtigung der positiven Erfahrungen<br />
aus den Bundesländern zu überdenken.<br />
5. Besserstellungsverbot<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Die Beschäftigungsbedingungen bei Zuwendungsempfängern<br />
sind heute nicht mehr direkt mit dem<br />
Referenzbereich „Beschäftigte des Bundes“ vergleichbar.<br />
So sind z. B. befristete Beschäftigungsverhältnisse<br />
bei Zuwendungsempfängern im Rahmen<br />
der Projekttätigkeit weit verbreitet. Besserstellungen<br />
in Teilbereichen können daher Nachteile in sonstigen<br />
Bereichen gegenüberstehen.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Es sollte deshalb geprüft werden, ob durch eine Modernisierung<br />
und Anpassung des Besserstellungsverbots<br />
bürokratischer Aufwand vermindert werden kann.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Bundesregierung und der Haushaltsgesetzgeber<br />
werden gebeten zu prüfen, wie durch eine Neufassung<br />
des Besserstellungsverbots angemessene Vergütungen<br />
gewährleistet werden können.<br />
6. Anerkennung zuwendungsfähiger Ausgaben<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Die unterschiedlichen Praktiken und Anerkennungen<br />
von zuwendungsfähigen Ausgaben durch Bund, Länder<br />
und Kommunen sind für die Empfänger zum Teil<br />
schwer nachzuvollziehen.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Es sollten daher Möglichkeiten für die Entwicklung<br />
einheitlicher und verständlicher Regelungen für die<br />
zuwendungsfähigen Ausgaben ausgelotet werden.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Bund und Länder werden gebeten, einheitliche und<br />
verständliche Regelungen für die zuwendungsfähigen<br />
Ausgaben zu erarbeiten.<br />
27
Dialogforum Reform des Zuwendungsrechts<br />
7. Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> als Eigenmittel<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Grundsätzlich ist es auf Bundesebene über fachspezifische<br />
Förderrichtlinien möglich, bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> als Eigenmittel zu berücksichtigen. Klarere<br />
Regelungen wären indes für diese Form der Anerkennung<br />
hilfreich.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Es sollte geprüft werden, inwieweit die Möglichkeit<br />
der Anerkennung von bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong><br />
als Eigenmittel in die Verwaltungsvorschriften<br />
zu § 44 BHO aufgenommen werden kann.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Bundesregierung wird gebeten, zusammen mit<br />
den übrigen Ressorts der Bundesregierung und den<br />
Bundesländern zu prüfen, inwieweit die Erfahrungen<br />
in einzelnen Bundesländern und der Europäischen<br />
Union eine stärkere Anerkennung des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s als Eigenmittel in den Verwaltungsvorschriften<br />
von Bund und Ländern zulassen.<br />
8. Umsatzsteuerrecht<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Da als Zuwendung gedachte Finanzierungen der öffentlichen<br />
Hand zunehmend in den Verdacht geraten,<br />
verdeckte Entgelte zu sein, werden sie mit Umsatzsteuer<br />
belegt.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Für den Zuwendungsgeber sollte deshalb klargestellt<br />
werden, wo die Grenzlinie zwischen Entgelt und Zuschuss<br />
verläuft, damit für den Zuwendungsempfänger<br />
wieder Rechtssicherheit hergestellt wird.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Bundesregierung wird gebeten, durch geeignete<br />
Maßnahmen Rechtssicherheit wiederherzustellen<br />
und insbesondere das Problem der nachträglichen<br />
Heranziehung zur Umsatzsteuer zu lösen.<br />
28
Kurzfassung<br />
Das staatliche Zuwendungsrecht entspricht nicht<br />
mehr den Anforderungen an ein modernes und zukunftsfähiges<br />
Recht. Es ist vielfach durch ein Übermaß<br />
an Bürokratie gekennzeichnet. Dadurch wird<br />
die Effektivität von Zuwendungen gemindert. Ebenso<br />
werden die Eigenständigkeit der Zuwendungsempfänger<br />
und das Prüfungs- und Mitspracherecht<br />
der öffentlichen Zuwendungsgeber erschwert.<br />
Durch eine Vereinfachung und Verbesserung des<br />
Zuwendungsrechts ließe sich der Verwaltungsaufwand<br />
für beide Seiten wesentlich verringern und<br />
zusätzlich ein Mehr an Rechtssicherheit und Gestaltungsfreiheit<br />
schaffen. Die Empfehlungen des<br />
Deutschen Vereins benennen die grundsätzlichen<br />
Schwierigkeiten. Sie machen zugleich konkrete<br />
Vorschläge für eine Reform des Zuwendungsrechts.<br />
Die Bundesregierung ist damit aufgefordert,<br />
das Zuwendungsrecht zu entbürokratisieren und zu<br />
modernisieren. Wesentliche Ziele dieses Reformprozesses<br />
sollten sein:<br />
Entbürokratisierung der Verwaltungsvorschriften<br />
zu § 44 BHO und der Allgemeinen<br />
Nebenbestimmungen (ANBest)<br />
Die Verwaltungsvorschriften zu § 44 BHO enthalten<br />
umfangreiche Nebenbestimmungen, die Auflagen<br />
und Pflichten für den Zuwendungsempfänger beschreiben.<br />
Sie sind einheitlich gegliedert und im Inhalt<br />
weitgehend ähnlich. Gleichwohl sind sie in aller<br />
Ausführlichkeit für institutionelle Zuwendungsempfänger<br />
(ANBest - I), für Projektförderung (ANBest -<br />
P), für Projektförderung an Gebietskörperschaften<br />
(ANBest - GK) und für Projektförderung auf Kostenbasis<br />
(ANBest - P - Kosten) gefasst. Die ANBest bilden<br />
damit kein rationales Regelwerk, sondern stehen<br />
als Beispiel für eine überzogene Regelungsdichte im<br />
Zuwendungsrecht. Der Deutsche Verein empfiehlt<br />
deshalb die ANBest zu vereinheitlichen und zu straf-<br />
Dialogforum Reform des Zuwendungsrechts<br />
Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Modernisierung<br />
und Entbürokratisierung des Zuwendungsrechts<br />
fen. Dabei sind insbesondere die Mitteilungspflichten<br />
des Zuwendungsempfängers stärker ins Verhältnis<br />
zur Höhe der Zuwendung zu setzen. Es sollte eine<br />
Neudefinition der „zeitnahen Verwendung“ der Mittel<br />
erfolgen, und mit Ausnahme von zeitlich festgebundenen<br />
Ausgabenpositionen (wie z. B. Personalkosten)<br />
auch eine Ausdehnung der zweimonatigen<br />
Verwendungsfrist geprüft werden. Ebenso ist für die<br />
Verzinsung von Rückzahlungsansprüchen eine praktikable<br />
Regelung zu finden.<br />
Flexiblere Handhabung des Jährlichkeitsprinzips<br />
Öffentliche Zuwendungsgeber und Zuwendungsempfänger<br />
sind an den Grundsatz der Jährlichkeit<br />
gebunden, sofern nicht eine Verpflichtungsermächtigung<br />
vorliegt. Grundsätzlich heißt das: Alle Ausgaben<br />
sind bis zum Ende des Jahres zu tätigen.<br />
Jahresübergreifende Projekte müssen deshalb<br />
haushaltstechnisch in zwei Projekte aufgeteilt werden,<br />
um dieser Bedingung Rechnung zu tragen.<br />
Diese Wirkung des Jährlichkeitsprinzips erscheint<br />
lebensfern. Für Zuwendungsempfänger ist nicht<br />
das Kalenderjahr maßgeblich, sondern der Zeitraum<br />
des geförderten Vorhabens insgesamt. Vom<br />
Deutschen Verein wird deshalb empfohlen, die Zuwendungen<br />
über den gesamten Projektzeitraum zu<br />
bewilligen. Bei mehrjährigen Bewilligungen sollte<br />
dann eine Übertragbarkeit der Mittel ermöglicht<br />
werden.<br />
Vermehrte Festbetragsfinanzierung<br />
Die momentan verbreitete Form der Fehlbedarfsfinanzierung<br />
sollte ersetzt werden, da mit ihr falsche<br />
ökonomische Anreize gesetzt werden. Bei dieser Finanzierungsart<br />
werden jene Projektträger „bestraft“,<br />
die mehr Einnahmen erzielen oder zusätzliche Dritt-<br />
29
Dialogforum Reform des Zuwendungsrechts<br />
mittel akquirieren. Eigene erwirtschaftete Mittel führen<br />
hier sofort zu einer Kürzung des errechneten<br />
Fehlbedarfs und damit zur teilweisen Rückzahlung<br />
der Zuwendung. Leistung und Erfolg werden so<br />
diskreditiert. Grundgedanke der Festbetragsfinanzierung<br />
ist dagegen, das Vorhaben mit einem im<br />
Voraus festgesetzten Betrag zu fördern und für den<br />
Fall, dass das Vorhaben kostengünstiger zu realisieren<br />
ist, die Mittel beim Zuwendungsempfänger zu<br />
belassen.<br />
Damit werden Zuwendungsempfänger veranlasst,<br />
weitere Drittmittel einzuwerben. Diese Finanzierungsart<br />
sollte daher immer dann gewährt werden,<br />
wenn dadurch die Ausweitung des Projektes begünstigt<br />
oder die Akquisition weiterer Finanzierungsmittel<br />
unterstützt wird.<br />
Lockerung des sogenannten<br />
„Besserstellungsverbotes“<br />
Zuwendungen des Bundes zur institutionellen und<br />
projektbezogenen Förderung dürfen nur mit der<br />
Auflage bewilligt werden, dass der Zuwendungsempfänger<br />
seine Beschäftigten nicht besser stellt<br />
als vergleichbare Beschäftigte des Bundes (sog.<br />
Besserstellungsverbot). Das Besserstellungsverbot<br />
gilt für sämtliche mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängende<br />
Regelungen und Leistungen. Damit<br />
besteht eine erhebliche Regelungsdichte, die<br />
in ihrer Wirkung zweifelhaft erscheint. So gilt das<br />
Besserstellungsverbot beispielsweise nicht bei Zuwendungen<br />
auf Kostenbasis. Hier wird davon ausgegangen,<br />
dass Personalkosten bei gewerblich orientierten<br />
Unternehmen immer dann zuwendungsfähig<br />
sind, wenn sie bei wirtschaftlicher Betriebsführung<br />
anfallen. Dieser allgemeine Wirtschaftlichkeitsgrundsatz<br />
sollte jedoch für alle Zuwendungsempfänger<br />
in gleichem Maß gelten. Zudem bietet eine<br />
völlige Übernahme der Vergütungsregeln des öffentlichen<br />
Dienstes nicht mehr die erforderliche Flexibilität.<br />
Zuwendungsempfängern gelingt es immer<br />
weniger, für zeitlich befristete Projekte qualifiziertes<br />
Personal zu den in der öffentlichen Verwaltung vorgegebenen<br />
Tarifen zu gewinnen. Eine Anpassung<br />
des Besserstellungsverbots ist dringend geboten.<br />
Bei der Bemessung der zuwendungsfähigen Ausgaben<br />
sollten nur die Vergütungen berücksichtigt<br />
werden, die für vergleichbare Beschäftigte des öffentlichen<br />
Dienstes gezahlt werden. Darüber hinausgehende<br />
Zahlungen können aus sonstigen Mitteln<br />
des Zuwendungsempfängers bestritten werden. Mit<br />
diesem Verfahren würde eine leistungsgerechtere<br />
Entlohnung ermöglicht.<br />
30<br />
Zeitgemäße Definition zuwendungsfähiger<br />
Ausgaben<br />
Gegenwärtig gibt es noch sehr unterschiedliche<br />
Praktiken und Anerkennungen von zuwendungsfähigen<br />
Ausgaben. Bund, Länder und Kommunen haben<br />
unterschiedliche Festlegungen, was sie für zuwendungsfähig<br />
halten. So bestehen beispielsweise<br />
erhebliche Unsicherheiten bei der Anrechnung von<br />
Versicherungen, Personal- und Betriebskosten (sog.<br />
Overheadkosten), Beratungskosten oder Reise- und<br />
Fahrtkosten. Nach Ansicht des Deutschen Vereins<br />
müssen daher einheitliche und verständliche Regelungen<br />
für die zuwendungsfähigen Ausgaben geschaffen<br />
werden.<br />
Dabei sind insbesondere für die genannten Probleme<br />
Lösungen zu finden. Eine konkrete Beschreibung<br />
sowie Erläuterungen von zuwendungsfähigen<br />
Ausgaben sollte ins Internet eingestellt werden, damit<br />
auch „kleine“ Zuwendungsempfänger die Möglichkeit<br />
haben, sich im Vorfeld einer Förderung zu<br />
informieren.<br />
Anerkennung bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
als Eigenmittel<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> beschränkt sich<br />
nicht nur auf die Bereitstellung finanzieller Ressourcen.<br />
Vielmehr sind viele Menschen auch<br />
bereit, gemeinnützigen Organisationen Zeitressourcen<br />
für die Erfüllung zivilgesellschaftlicher<br />
Aufgaben zur Verfügung zu stellen. Dieses zeitliche<br />
<strong>Engagement</strong> (sog. Zeitspende) wird aber weder in<br />
den Verwaltungsvorschriften noch in den Allgemeinen<br />
Nebenbestimmungen im Zuwendungsverfahren<br />
des Bundes als Eigenleistung anerkannt. Das<br />
heißt: Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> wird in der<br />
Bundesförderung vielfach nicht honoriert. In einigen<br />
Bundesländern kann es hingegen als Eigenmittel<br />
in den Kosten- und Finanzierungsplan der<br />
beantragten Förderung eingestellt werden. Damit<br />
werden jene Organisationen gestärkt, die an Stelle<br />
von finanziellen Mitteln die <strong>Engagement</strong>zeit ihrer<br />
Mitglieder einbringen. Zudem wird mit diesem Verfahren<br />
deutlich gemacht, dass durch bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> relevante Werte produziert<br />
werden. Die Anerkennung von Bürgerschaftlichem<br />
<strong>Engagement</strong> als Eigenmittel des Zuwendungsempfängers<br />
sollte deshalb in die Verwaltungsvorschriften<br />
zu § 44 BHO und in die entsprechenden<br />
Regelungen auf Landes- und Kommunalebene eingeführt<br />
werden, um die erforderliche Verbindlichkeit<br />
herbeizuführen.
Klarheit im Umsatzsteuerrecht schaffen<br />
Zunehmend geraten als Zuwendung gedachte Finanzierungen<br />
der öffentlichen Hand in den Verdacht,<br />
verdeckte Entgelte zu sein. Im Ergebnis droht die<br />
Belegung der Zuschüsse mit Umsatzsteuer. Inzwischen<br />
folgt auch der Bundesfinanzhof nicht mehr<br />
dem Wortlaut der Umsatzsteuerrichtlinie, wonach Zuwendungen<br />
aus öffentlichen Kassen, die ausschließlich<br />
auf Grundlage des Haushaltsrechts vergeben<br />
werden, grundsätzlich nichtsteuerbare „echte Zuschüsse“<br />
sind. Für die Beteiligten sind die Grenzlinien<br />
zwischen Auftrag und Zuschuss damit kaum noch erkennbar.<br />
Die Bundesregierung ist deshalb aufgefordert,<br />
diesen Konflikt zeitnah zu lösen und die gebotene<br />
Rechtssicherheit herzustellen. Dabei sollte die<br />
bestehende und bewährte Differenzierung zwischen<br />
einem nicht umsatzsteuerbaren Zuschuss und einem<br />
steuerbaren Leistungsaustausch beibehalten, jedoch<br />
klarer als bislang gefasst werden.<br />
Anmerkung<br />
Die Empfehlungen des Deutschen Vereins finden<br />
Sie in einer ausführlicheren Fassung unter: http://<br />
www.deutscher-verein.de/05-empfehlungen/2009/<br />
september/Empfehlungen_zur_Modernisierung_<br />
und_Entbuerokratisierung_des_Zuwendungsrechts.<br />
Dialogforum Reform des Zuwendungsrechts<br />
31
• Ulrich Beckers, Jugend für Europa<br />
• Michael Bergmann, Deutscher Caritasverband<br />
• Florian Bernschneider, MdB<br />
• Michael Bogatzki, AFS Interkulturelle Begegnungen<br />
• Hartmut Brombach, Bundesarbeitskreis Freiwilliges<br />
Soziales Jahr<br />
• Ulla Eberhard, Kölner Freiwilligenagentur<br />
• Dr. Jaana Eichhorn, Deutsche Sportjugend<br />
• Hartwig Euler, Arbeitskreis Lernen und Helfen in<br />
Übersee<br />
• Dr. Kornelia Folk, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
• Dr. Andreas Frank, Bayerisches Staatsministerium<br />
für Arbeit und Sozialordnung<br />
• Marco Franosch, Auswärtiges Amt<br />
• Kai Gehring, MdB<br />
• Hejo Held, Deutsches Rotes Kreuz<br />
• Dr. Astrid Hencke, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
• Susanne Huth, INBAS-Sozialforschung<br />
• PD Dr. Ansgar Klein, Bundesnetzwerk<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
• Ariane Krieg, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
• Irene Krug, Institut für Sozialarbeit und<br />
Sozialpädagogik<br />
• Dr. Hans-Joachim Lincke, Zentrum für<br />
Zivilgesellschaftliche Entwicklung (ZZE)<br />
Dialogforum<br />
„Weiterentwicklung der<br />
Freiwilligendienste“<br />
Teilnehmerinnen und Teilnehmer des<br />
Dialogforums am 14. April 2010 und des<br />
vorbereitenden Workshops am 25. März 2010<br />
• Frank Lonny, Ministerium für Generationen, Familie,<br />
Frauen und Integration des Landes Nordrhein-<br />
Westfalen<br />
• Dörte Lüdeking, Institut für Sozialarbeit und<br />
Sozialpädagogik<br />
• Ronald Münch, Auswärtiges Amt<br />
• Beate Oertel, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
• Dr. Christa Perabo, Landes-Ehrenamtsagentur<br />
Hessen<br />
• Christiane Richter, Bundesverband Seniorpartner<br />
in School<br />
• Sönke Rix, MdB<br />
• Nicole Schmidt, Freiwilligenzentren mittenmang<br />
Schleswig-Holstein<br />
• Veronika Schneider, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband<br />
• Martin Schulze, Bundesarbeitskreis Freiwilliges<br />
Soziales Jahr<br />
• Maja Schweitzer, Auswärtiges Amt<br />
• Uwe Slüter, Bundesarbeitskreis Freiwilliges Soziales<br />
Jahr<br />
• Thomas Stein, FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag<br />
• Prof. Dr. Heinz-Dietrich Steinmeyer, Westfälische<br />
Wilhelms-Universität Münster<br />
• Peter Tobiassen, Zentralstelle für Recht und Schutz<br />
der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen<br />
• Anna Veigel, Deutsche UNESCO-Kommission<br />
• Hannes Wezel, Städtenetzwerk Baden-Württemberg
Vielfalt unter einem Dach<br />
Freiwilligendienste sollen als eine besondere Form<br />
des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s weiterentwickelt<br />
werden <strong>–</strong> darüber waren sich die 37 Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmer des Dialogforums am 14. April 2010<br />
einig. Freiwilligendienste <strong>ermöglichen</strong> den Dienstleistenden,<br />
ihre sozialen und individuellen Kompetenzen<br />
zu erweitern, sich aktiv ins Gemeinwesen einzubringen<br />
und damit einen wichtigen Beitrag zum Gemeinwohl<br />
zu leisten. Deshalb soll künftig mehr Menschen<br />
das Ableisten eines Freiwilligendienstes ermöglicht<br />
werden. Dabei kommt es darauf an, die Qualität der<br />
Dienste zu verbessern und die Vorteile für den Einzelnen<br />
und das Gemeinwesen populärer zu machen. Die<br />
besondere Herausforderung liegt darin, der Vielfalt an<br />
Diensten im In- und Ausland, die vom Freiwilligen Sozialen<br />
Jahr (FSJ) und dem Freiwilligen Ökologischen<br />
Jahr (FÖJ) über die Förderprogramme „Weltwärts“<br />
und „Kulturweit“, den Europäischen Freiwilligendienst<br />
bis zu den Freiwilligendiensten aller Generationen<br />
(FdaG) reicht, gerecht zu werden. All diese Dienste<br />
unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich ihrer<br />
rechtlichen Grundlage, ihrer finanziellen Ausstattung<br />
und der Rahmenbedingungen wie Dauer und Stundenumfang<br />
sowie der Form der pädagogischen Begleitung<br />
und Betreuung.<br />
Die Förderung von Freiwilligendiensten soll ein Baustein<br />
der nationalen <strong>Engagement</strong>strategie sein. In ihrer<br />
Koalitionsvereinbarung haben CDU/CSU und FDP<br />
am 26. Oktober 2010 die Absicht erklärt, Freiwilligendienste<br />
im Rahmen einer gemeinsamen, ressortübergreifenden<br />
Strategie zu fördern und die rechtlichen<br />
Rahmenbedingungen zu verbessern. Aufgabe des<br />
Dialogforums war es, Empfehlungen für dieses Vorhaben<br />
zu entwickeln.<br />
Neben den zuständigen Ressorts der Bundesregierung<br />
kamen die verschiedenen Freiwilligendienstträger<br />
und Trägerverbünde sowie zentrale Akteure aus<br />
der Forschung und der AG „Freiwilligendienste“ des<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Bericht über das Dialogforum „Freiwilligendienste“ am 14. April 2010 im BMFSFJ, Berlin<br />
Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
zusammen. Auch einige Bundestagsabgeordnete haben<br />
im Dialogforum mitgewirkt.<br />
Mit seinen thematischen Schwerpunkten knüpfte<br />
das Dialogforum an die Fachdiskussionen der vergangenen<br />
Jahre und aktuelle fachwissenschaftliche<br />
Expertisen an. Zentral war die Frage, wie eine<br />
gleichberechtigte Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen<br />
an Freiwilligendiensten ermöglicht werden kann.<br />
Bestimmten Gruppen fehlt aus ganz unterschiedlichen<br />
Gründen der Zugang zu Freiwilligendiensten.<br />
Mehrere Expertinnen und Experten haben daher<br />
die spezifischen Problemlagen und Bedürfnisse von<br />
Seniorinnen und Senioren, Menschen mit Einwanderungsgeschichte<br />
und sozial benachteiligten oder<br />
individuell beeinträchtigten Menschen dargelegt. In<br />
den Ergebnissen ist festgehalten, wie diese bei der<br />
Förderung von Freiwilligendiensten durch den Bund<br />
berücksichtigt werden könnten.<br />
Anknüpfend an die aktuelle Debatte um die Verkürzung<br />
des Wehrdienstes auf sechs Monate hat das Dialogforum<br />
sich mit den möglichen Auswirkungen der Veränderungen<br />
im Zivildienst auf den Bereich der Freiwilligendienste<br />
befasst. Darüber hinaus ging es um den<br />
Ausbau der Jugendfreiwilligendienste, die Problematik<br />
der Umsatzbesteuerung von Trägern und Einsatzstellen<br />
und die weitere Förderung der FdaG.<br />
In der Diskussion um die Gestaltung eines Freiwilligendienstestatusgesetz<br />
hat sich einmal mehr gezeigt,<br />
dass es äußerst schwierig sein dürfte, die Jugendfreiwilligendienste<br />
mit den FdaG in einem Gesetz<br />
zu integrieren. Die Unterschiede zwischen beiden<br />
Dienstformen wurden in der Debatte noch einmal herausgearbeitet.<br />
Während Jugendfreiwilligendienste<br />
in der Regel Vollzeitdienste mit hohem Fortbildungsanteil<br />
sind, bei denen die Jugendlichen und jungen<br />
Erwachsenen oft auch auf sozialversicherungsrecht-<br />
33
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
liche Absicherung angewiesen sind, lassen sich bei<br />
den FdaG keine allgemeinen Festlegungen bezüglich<br />
Umfang, Mindestanforderungen und sozialer Absicherung<br />
definieren: Welcher Dauer und welchen Umfang<br />
an Wochenstunden sollte ein Freiwilligendienst<br />
umfassen? Wieviele Tage an Fort- und Weiterbildung<br />
sollten gesetzlich festgeschrieben sein? Sollte es einen<br />
allgemein gültigen sozialversicherungsrechtlichen<br />
Status für alle Freiwilligendienstleistenden geben?<br />
Die Förderung des Programms Freiwilligendienste<br />
aller Generationen könnte auch unabhängig von einer<br />
gesetzlichen Regelung gestaltet werden. Die Diskussion<br />
im Dialogforum hat gezeigt, dass es anstelle<br />
einer Standardisierung darauf ankommt, die Freiwilligendienste<br />
aller Generationen so zu fördern, dass sie<br />
das bürgerschaftliche <strong>Engagement</strong> vor Ort anregen<br />
und bereichern.<br />
34
Ergebnisse<br />
Freiwilligendienste sollen weiterentwickelt werden.<br />
Ihre gesellschaftliche Anerkennung soll verbessert<br />
werden. Insbesondere gilt es, neue Zielgruppen für<br />
einen Freiwilligendienst zu gewinnen und mehr Organisationen<br />
und Kommunen darin zu unterstützen,<br />
sich für Freiwilligendienste zu öffnen.<br />
1. Zielgruppen für Freiwilligendienste<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Freiwilligendienste sind eine besondere Form des<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s und sollen zugleich<br />
den Erwerb sozialer und individueller Kompetenzen<br />
<strong>ermöglichen</strong>. Grundsätzlich sollen Freiwilligendienste<br />
allen Bevölkerungsgruppen offen stehen. Bei der Förderung<br />
von Freiwilligendiensten stellt sich daher die<br />
Frage, wie eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht<br />
werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, welche<br />
Barrieren bestehen und welche Lösungen und Fördermaßnahmen<br />
vorgeschlagen werden können.<br />
Ein Problem beim Ausbau der Freiwilligendienste<br />
besteht in einer unzureichenden Forschungs- und<br />
Datenlage über Zielgruppen und deren besondere<br />
Bedürfnisse. Dazu gehört auch die Erforschung hemmender<br />
Faktoren und fehlender Zugänge für die unterschiedlichen<br />
Zielgruppen.<br />
Lösungsvorschläge<br />
Es kommt darauf an, wirksame Förderinstrumente<br />
(etwa pädagogische Konzepte, Finanzierung, Pauschalen)<br />
zu identifizieren und anzupassen bzw. Alternativen<br />
zu entwickeln.<br />
Bei der Weiterentwicklung von Freiwilligendiensten<br />
sollten <strong>–</strong> dem jeweiligen Format angemessen <strong>–</strong> neben<br />
der Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachse-<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
nen folgende Zielgruppen berücksichtigt werden: Seniorinnen<br />
und Senioren, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte,<br />
Erwerbslose, Erwerbstätige (die Mindestzahl<br />
der Wochenstunden kann für diese Personengruppe<br />
eine Barriere bilden und wurde im Dialogforum kontrovers<br />
diskutiert), sozial Benachteiligte und individuell Beeinträchtigte<br />
(z. B. Menschen mit Behinderung).<br />
Für unterschiedliche Zielgruppen sollten unterschiedliche<br />
Formen entwickelt werden, da sie jeweils besondere<br />
Rahmenbedingungen benötigen, z. B. einen<br />
höheren fachlichen Begleitungsbedarf oder spezielle<br />
pädagogische Konzepte. Damit Träger die Möglichkeit<br />
haben, einen Freiwilligendienst anzubieten, der<br />
den speziellen Bedürfnissen der jeweiligen Zielgruppe<br />
gerecht wird, sollten sie mit entsprechenden Mitteln<br />
ausgestattet werden.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Für die Förderung von Freiwilligendiensten sollte eine<br />
einheitliche Zuständigkeit innerhalb der Bundesregierung<br />
definiert werden.<br />
Um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung<br />
oder Beeinträchtigung an Freiwilligendiensten zu<br />
erleichtern, sollte bei der Förderung dieser Dienste<br />
ein erhöhter Begleitungsbedarf berücksichtigt werden.<br />
Die Freiwilligendienstträger sollten in die Lage<br />
versetzt werden, unterschiedlich befähigten Freiwilligendienstleistenden<br />
eine angemessene Begleitung<br />
zu <strong>ermöglichen</strong>, und zwar unabhängig davon, ob sie<br />
bereits fallspezifische Leistungen (z. B. psycho-soziale<br />
Beratung für Freiwillige mit Behinderungen, die<br />
gemäß §§1, 4, 5, 9 SGB IX und §§ 53, 54 SGB XII<br />
möglich sind) erhalten oder nicht.<br />
Um Menschen mit Migrationshintergrund den Zugang zu<br />
Freiwilligendiensten zu erleichtern, sollten Migrantenorganisationen<br />
neben der eigenen Trägerschaft verstärkt<br />
35
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
in den Bereichen Zielgruppenakquise und pädagogische<br />
Begleitung und als Einsatzstellen eingebunden<br />
werden. Dazu benötigen Migrantenorganisationen Informationen<br />
über Freiwilligendienste, Kontakt- und Kooperationsbeziehungen<br />
zu Freiwilligendienstträgern sowie<br />
personelle, fachliche und finanzielle Unterstützung.<br />
Berufliche Orientierung durch einen Freiwilligendienst<br />
ist für bestimmte Zielgruppen besonders wichtig.<br />
Kompetenzbilanzen und besondere Vorbereitungsoder<br />
Anschlussprogramme (Qualifizierung) z. B. der<br />
Bundesagentur für Arbeit sollten so gestaltet werden,<br />
dass sie die im Freiwilligendienst erworbenen Kompetenzen<br />
sichtbar machen bzw. nutzen. Dadurch soll<br />
der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden.<br />
Daneben ist zu prüfen, inwieweit die mit dem Bezug<br />
von Leistungen nach SGB II verbundenen Auflagen<br />
einem <strong>Engagement</strong> im Freiwilligendienst im Wege<br />
stehen (siehe Dialogforum Arbeitsmarktpolitik).<br />
Bestehende Regelförderangebote für die verschiedenen<br />
Zielgruppen sollten mit den speziellen Angeboten<br />
im Rahmen der Freiwilligendienste kombiniert<br />
werden. Die besondere Qualität des Freiwilligendienstes<br />
als Bildungs- und Orientierungsdienst sollte<br />
dabei erhalten bleiben.<br />
Der Europäische Freiwilligendienst formuliert hinsichtlich<br />
der Flexibilisierung von Dienstzeiten und<br />
der zusätzlichen Förderung bestimmter Zielgruppen<br />
Lösungsansätze, die auf nationale Freiwilligendienste<br />
übertragen werden können.<br />
2. Zivildienstverkürzung<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Die Entwicklung der Freiwilligendienste sollte grundsätzlich<br />
unabhängig von der Verkürzung des Zivildienstes<br />
betrieben werden. Die Veränderungen im Zivildienst<br />
haben jedoch Auswirkungen auf den Bereich der<br />
Freiwilligendienste. Die Weiterentwicklung der Jugendfreiwilligendienste<br />
muss daher auch im Zusammenhang<br />
mit der Verkürzung des Zivildienstes gesehen werden.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Die Verkürzung des Zivildienstes sollte hinsichtlich der<br />
Auswirkungen auf die Entwicklung der Freiwilligendienste<br />
geprüft werden. Dazu gehört u. a. die Prüfung<br />
eines Mitteltransfers. Freiwerdende Zivildienstmittel<br />
sollen für den Ausbau der Jugendfreiwilligendienste<br />
genutzt werden. Jugendfreiwilligendienste können eine<br />
36<br />
attraktive Anschlussoption zum Zivildienst sein, wenn<br />
die Rahmenbedingungen entsprechend gestaltet sind.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Bundesregierung sollte prüfen, wie die Freiwilligendienste<br />
so gestaltet werden können, dass sie an<br />
den Zivildienst anschließen. Insbesondere ist darauf<br />
zu achten, dass eine freiwillige Verlängerung des Zivildienstes<br />
und die Freiwilligendienste gleich ausgestattet<br />
werden. Die Dauer dieser freiwilligen Verlängerung<br />
sollte flexibel gehandhabt werden.<br />
3. Ausbau der Freiwilligendienste<br />
3.1 Jugendfreiwilligendienste<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Jugendfreiwilligendienste können junge Menschen<br />
dazu anleiten, soziale Verantwortung zu übernehmen<br />
und gemeinwohlorientiert zu handeln. Junge Menschen<br />
profitieren in ganz besonderer Weise von der<br />
Ausübung eines <strong>Engagement</strong>s für ihre persönliche<br />
und berufliche Entwicklung und leisten gleichzeitig<br />
einen wichtigen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher<br />
Aufgaben. Diese Potentiale sind noch nicht hinreichend<br />
entwickelt.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Jugendfreiwilligendienste sollten qualitativ und quantitativ<br />
ausgebaut werden. Bei der Gestaltung der verschiedenen<br />
Dienste sollten die verschiedenen Zielgruppen<br />
berücksichtigt werden. Es kommt darauf an,<br />
den Anteil von Freiwilligendienstleistenden pro Jahrgang<br />
zu erhöhen. Alle, die einen Freiwilligendienst machen<br />
möchten, sollten dazu die Möglichkeit erhalten.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Bundesregierung sollte prüfen, wie die unterschiedlichen<br />
Dienste aufeinander abgestimmt werden können.<br />
Alle Plätze in den Jugendfreiwilligendiensten (national<br />
und transnational) sollten finanziert und mit einer erhöhten<br />
Pauschale ausgestattet werden, so dass die<br />
Träger von Freiwilligendiensten besser in die Lage versetzt<br />
werden, die Bildungsmaßnahmen im Rahmen der<br />
Dienste auszubauen. Die Höhen der Förderpauschalen<br />
sollten je nach Zielgruppe differenziert werden.<br />
Zudem sollte die Anerkennung des <strong>Engagement</strong>s in<br />
Jugendfreiwilligendiensten verbessert werden (z.B.
durch Bildungsgutscheine, Kompetenznachweise und<br />
Kompetenzbilanzen, Vergünstigungen und gezielte<br />
Kampagnen). Der europäische Youth Pass kann als<br />
Vorbild für einen Kompetenznachweis auf nationaler<br />
Ebene genutzt werden.<br />
Es sollten weitere Träger dafür gewonnen werden,<br />
einen Freiwilligendienst anzubieten. Kooperationen<br />
zwischen Trägern der Freiwilligendienste und Migrantenorganisationen,<br />
die in den Bereichen Zielgruppenakquise,<br />
pädagogische Begleitung oder als<br />
Einsatzstellen tätig werden bzw. sich als Träger etablieren<br />
wollen, sollten gefördert werden. Der Bund<br />
sollte dazu gemeinsam mit den Bundesländern und<br />
den Trägern eine Strategie initiieren. Die Träger<br />
sollten dazu konkret benennen, welche Bedingungen<br />
gegeben sein müssen, um die Dienste auszubauen.<br />
3.2 Freiwilligendienste aller Generationen<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Freiwilligendienste können den Zugang zum bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong> erleichtern, sollten aber<br />
klar davon unterschieden werden. Bei der Entwicklung<br />
spezieller Förderprogramme für Zielgruppen<br />
sollte dies berücksichtigt werden.<br />
Auf der Ebene der Bundesländer gibt es eine gute<br />
Kooperation der unterschiedlichen Träger. Diese Vernetzung<br />
schließt jedoch die nicht geförderten Träger<br />
noch nicht mit ein. Auf Bundesebene fehlt die Einbindung<br />
der Wohlfahrtsverbände bei den Freiwilligendiensten<br />
aller Generationen (FdaG).<br />
Der Bekanntheitsgrad der FdaG ist nicht ausreichend.<br />
Dies verhindert oft, dass auch neue Träger und Einsatzstellen<br />
die FdaG umsetzen.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Die FdaG sollten so gestaltet werden, dass sie Interessierten<br />
den Zugang zum bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong><br />
erleichtern.<br />
Neue Träger und Einsatzstellen können einfacher gewonnen<br />
werden, wenn Trägerverbünde, Länder und<br />
kommunale Spitzenverbände sowie Städte, Gemeinden<br />
und Landkreise kooperieren.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Da die Weiterfinanzierung der FdaG unklar ist, sollte<br />
die Bundesregierung in Absprache mit den Ländern<br />
und Kommunen die Fortführung nach 2011 sicher-<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
stellen. Daneben sollten die Entwicklung der FdaG<br />
und die Werbung weiter finanziert werden.<br />
4. Umsatzsteuerbefreiung<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Träger und Einsatzstellen sind durch die Umsatzsteuerpflicht<br />
bei Verträgen nach § 11 Absatz 1 Jugendfreiwilligendienstegesetz<br />
(JFDG) mit einem großen finanziellen<br />
sowie verwaltungstechnischen Aufwand konfrontiert.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Freiwilligendienste sollten als Lerndienste grundsätzlich<br />
von der Umsatzsteuer befreit werden. Ziel sollte<br />
eine eindeutige Klärung der Umsatzbesteuerung der<br />
Träger sein.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Der Gesetzgeber sollte im Umsatzsteuergesetz einen<br />
Befreiungstatbestand einführen.<br />
Es sollte geprüft werden, inwieweit die Europäische<br />
Mehrwertsteuersystemrichtlinie der Umsatzsteuerbefreiung<br />
von Trägern entgegensteht und inwieweit die<br />
Bundesregierung darauf hinwirken kann, dies zu ändern.<br />
Das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit<br />
sollte dazu genutzt werden.<br />
5. Freiwilligendienstestatusgesetz:<br />
Überblick zu den aktuellen Positionen<br />
Der folgende Überblick fasst die aktuellen Gemeinsamkeiten<br />
und Differenzen zur Thematik zusammen<br />
und sollte bei der Erarbeitung eines Freiwilligendienstestatusgesetzes<br />
durch die Bundesregierung<br />
berücksichtigt werden.<br />
A. Konsens<br />
Ziele eines Freiwilligendienstestatusgesetzes<br />
• Berücksichtigung möglichst aller Freiwilligendienstformate.<br />
Das umfasst die sog. geregelten<br />
Freiwilligendienste auf Grundlage gesetzlicher Regelungen<br />
oder staatlicher Förderrichtlinien (FSJ/<br />
FÖJ, „kulturweit“, Freiwilligendienste aller Generationen,<br />
„weltwärts“) sowie die sog. ungeregelten<br />
Freiwilligendienste (Kurzzeitfreiwilligendienste,<br />
längerfristige Freiwilligendienste).<br />
• Keine Schwächung einzelner Formate<br />
37
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
• Verbesserung der Übersichtlichkeit<br />
• Stärkung der Rechtssicherheit sowie des Status<br />
von Freiwilligendienstleistenden<br />
• Abgrenzung zum bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>,<br />
zur Erwerbsarbeit und zum Pflichtdienst<br />
• Freiwilligendienste als Bildungsdienste verorten<br />
• Berücksichtigung von Fragen der sozialen Sicherung<br />
Charakter und Struktur des Gesetzes<br />
• Unterteilung des Gesetzes in einen allgemeinen<br />
Teil und einen besonderen Teil<br />
• Allgemeiner Teil mit Definition und Mindestanforderungen<br />
für Freiwilligendienste<br />
• Besonderer Teil mit passgenauen Regelungen für<br />
die einzelnen Dienstformen<br />
Allgemeiner Teil: Definition<br />
• Es gibt unterschiedliche Definitionen von Freiwilligendiensten<br />
(siehe unten). Für alle Definitionen<br />
gilt, dass Freiwilligendienste gleichzeitig der Gesellschaft<br />
und der persönlichen Bildung der Freiwilligen<br />
dienen und dafür nur solche Tätigkeiten in<br />
Frage kommen, die keine Erwerbsarbeitsplätze ersetzen.<br />
Zudem sind sie freiwillig und unentgeltlich.<br />
Allgemeiner Teil: Mindestanforderungen für<br />
Freiwilligendienste<br />
• Freiwilligendienste basieren auf einer vertraglichen<br />
Selbstverpflichtung, in der Dauer, Art und zeitlicher<br />
Umfang der Tätigkeit festgelegt werden.<br />
• Freiwilligendienste haben Begleitkonzepte.<br />
• Freiwilligendienste fördern die soziale und fachliche<br />
Erfahrung.<br />
• Freiwillige leisten ergänzende und arbeitsmarktneutrale<br />
Tätigkeiten in Einsatzstellen bzw. Einrichtungen.<br />
• Freiwilligendienste werden von gemeinnützigen Organisationen<br />
oder öffentlichen Trägern angeboten.<br />
• Freiwillige erhalten einen allgemein gültigen Nachteilsausgleich<br />
als Zeichen der Anerkennung, wie z. B.<br />
Anspruch auf Kindergeld oder auf Waisenrente.<br />
• Aufwandsentschädigungen können gewährt und<br />
anfallende Kosten erstattet werden.<br />
Fragen der sozialen Sicherung<br />
• Freiwillige sind gegen Krankheit, Unfall und Berufsunfähigkeit<br />
gemäß den bestehenden Standards abzusichern.<br />
Es sollten passgenaue Regelungen für die<br />
unterschiedlichen Zielgruppen entwickelt werden.<br />
• Falls kein eigener sozialversicherungsrechtlicher<br />
Status möglich ist, darf der Freiwilligendienst keine<br />
sozialversicherungsrechtliche Schlechterstellung<br />
38<br />
bedeuten Die entsprechenden Regelungen sollten<br />
an die Lebens-, Berufs- und Familiensituation angepasst<br />
werden.<br />
• Den Freiwilligen sollte im Rahmen von Vollzeitdiensten<br />
für die Zeit nach ihrem Dienst der soziale<br />
Status erhalten bleiben, den sie vor Beginn des<br />
Dienstes hatten (status quo ante).<br />
Besonderer Teil: passgenaue Regelungen für<br />
die einzelnen Dienstformen<br />
Unterscheidung passgenauer Regelungen für:<br />
• Jugendfreiwilligendienste im Inland mit enger Orientierung<br />
am Jugendfreiwilligendienstegesetz<br />
(JFDG),<br />
• Internationale Jugendfreiwilligendienste.<br />
B. Dissens<br />
Allgemeiner Teil: Definition<br />
Beispiele für die unterschiedlichen Definitionen zu<br />
Freiwilligendiensten:<br />
• Die Enquetekommission definiert sie als ganztägige<br />
Dienste und als eine besondere, staatlich geförderte<br />
Form bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s,<br />
in der sich Jugendliche und junge Erwachsene für<br />
das Gemeinwohl engagieren.<br />
• NachRauschenbach/LiebigsindFreiwilligendienste<br />
hinsichtlich Dauer, Umfang, Einsatzorte sowie sozialer<br />
Absicherung und Gratifikation vertraglich<br />
zwischen Freiwilligen und Organisation geregelt,<br />
im Falle bestimmter Dienste zusätzlich gesetzlich<br />
festgeschrieben. Sie sind vom Grundsatz her nicht<br />
vergütet und formal zeitlich begrenzt.<br />
• Im Bericht der Kommission ‚Impulse für die Zivilgesellschaft’<br />
werden die neuen Freiwilligendienste<br />
für alle Altersgruppen als zeitlich und inhaltlich<br />
flexibel für engagementbereite Menschen in unterschiedlichen<br />
Lebensphasen beschrieben. Zugleich<br />
berücksichtigen sie die Interessen der Organisationen<br />
und Einrichtungen hinsichtlich der Planbarkeit<br />
und Verbindlichkeit der Einsätze.<br />
• Internationale Freiwilligendienste stellen eine besondere<br />
Form des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
dar, bei dem Anfang und Ende, Dauer und<br />
Umfang, Inhalt, Aufgaben, Ziele und Art der freiwilligen<br />
Tätigkeit ebenso vereinbart sind wie der finanzielle<br />
und organisatorische Rahmen, die rechtliche<br />
und soziale Absicherung. Dies wird i. d. R.<br />
zwischen Freiwilliger/m, Einsatzstelle/Projektpartner<br />
im Ausland und Träger/Entsendeorganisation<br />
schriftlich vereinbart.
Allgemeiner Teil: Mindestanforderungen für<br />
Freiwilligendienste <strong>–</strong> Dauer<br />
Hier gibt es unterschiedliche Positionen:<br />
• Freiwilligendienste sind Blöcke aus mindestens<br />
drei zusammenhängenden Monaten; auf der<br />
Grundlage von mindestens 20 Wochenstunden für<br />
ältere Menschen bzw. 30 Wochenstunden für junge<br />
Menschen und einer maximalen Dauer von 24<br />
Monaten.<br />
• Freiwilligendienste haben einen Umfang von durchschnittlich<br />
mindestens acht Wochenstunden und<br />
eine Dauer von mindestens sechs Monaten.<br />
• Freiwilligendienste haben einen Umfang von mindestens<br />
15 Wochenstunden und sind befristet auf<br />
max. 24 Monate.<br />
Allgemeiner Teil: Mindestanforderungen für<br />
Freiwilligendienste <strong>–</strong> Begleitkonzepte<br />
Hinsichtlich des Umfangs der Bildungsangebote gibt<br />
es einen Dissens:<br />
• Bei Vollzeitfreiwilligendiensten für Jugendliche liegt<br />
der Umfang der pädagogischen Begleitung bei 25<br />
Tagen pro Jahr; für ältere Freiwilligendienstleistende<br />
(ab 28 Jahre) sollte mindestens ein Tag pro Monat<br />
angeboten werden.<br />
• Die Dauer der Bildungsmaßnahmen beträgt, bezogen<br />
auf einen zwölfmonatigen Dienst, mindestens<br />
20 Tage (ausgenommen fremdsprachige Schulung).<br />
• Die Träger der Freiwilligendienste aller Generationen<br />
(FDaG) müssen eine kontinuierliche Begleitung<br />
der Freiwilligen und deren Fort- und Weiterbildung<br />
im Umfang von mindestens durchschnittlich<br />
60 Wochenstunden pro Jahr sicherstellen.<br />
Besonderer Teil: passgenaue Regelungen für<br />
die einzelnen Dienstformen<br />
Hier besteht ein Dissens bezüglich der Berücksichtigung<br />
jüngerer Freiwilliger unter 28 Jahre:<br />
• Legaldefinition der FDaG in § 2 Absatz 1a SGB<br />
VII sieht keine Altersbegrenzung vor; FDAG sollen<br />
auch für Jugendliche möglich sein.<br />
• Der Bundesarbeitskreis Freiwilliges Soziales Jahr<br />
befürwortet die Einführung eines Freiwilligendienstes<br />
für Menschen ab 28 Jahren im In- oder Ausland.<br />
Soziale Sicherung<br />
Unterschiedliche Vorstellungen zur konkreten Ausgestaltung<br />
reichen von:<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
• einem allgemein gültigen sozialversichungsrechtlichen<br />
Status für alle Freiwilligendienste mit: einer<br />
beitragsfreien Anrechnungszeit in der Rentenversicherung,<br />
• einer Absicherung in der gesetzlichen Unfallversicherung,<br />
• der Möglichkeit der Familienversicherung sowie<br />
der Absicherung des Status quo ante im Rahmen<br />
der Arbeitslosenversicherung<br />
bis hin zu einer<br />
• Beschränkung auf passgenaue Regelungen für die<br />
einzelnen Dienstformate, z. B. für die Internationalen<br />
Freiwilligendienste u.a. möglichst beitragsfreie<br />
Mitgliedschaft im gesetzlichen Sozialversicherungssystem<br />
während des Dienstes, wenn nötig<br />
Verlängerung des Status nach dem Dienst,<br />
• beitragsfreie Anrechnungszeit in der Rentenversicherung,<br />
• beitragsfreie Anrechnungszeit in der Arbeitslosenversicherung;<br />
Sicherung des Status quo ante,<br />
• Absicherung in der gesetzlichen Unfallversicherung,<br />
• Krankenversicherung u. a. Absicherung durch private<br />
Gruppenversicherung und gesetzliche Familienversicherung.<br />
Bei den Freiwilligendiensten aller Generationen geht<br />
es z. B. um<br />
• eine gesetzliche Unfallversicherung laut der Legaldefinition<br />
in § 2 Absatz 1a SGB VII<br />
• grundsätzliche Sozialversicherungsfreiheit: Geht<br />
der Tätigkeitsumfang über ein Drittel einer vergleichbaren<br />
Vollzeitstelle hinaus, unterliegen die<br />
Tätigkeiten der Einkommenssteuerpflicht sowie<br />
unter Umständen auch der Sozialversicherungspflicht.<br />
• Von zentraler Bedeutung für Träger und Freiwillige<br />
ist die Frage, inwiefern die Zahlung einer<br />
pauschalierten Aufwandsentschädigung den<br />
Freiwilligeneinsatz als sozialversicherungsrechtliches<br />
Beschäftigungsverhältnis qualifiziert. Freiwilligendienste<br />
erfüllen nicht die Merkmale von<br />
Erwerbsarbeit, da sie keinen Erwerbszweck verfolgen.<br />
Der Dienst ist nicht auf Gewinnerzielung<br />
ausgerichtet, sondern verfolgt arbeitsmarktneutral<br />
gemeinnützige Ziele. Eine gesetzliche Klarstellung<br />
respektive Regelung dieser Frage erscheint daher<br />
dringend erforderlich. Möglich wäre eine Änderung<br />
von § 14 Abs. 1 S. 3 SGB IV in Verbindung mit<br />
einem erweiterten steuerrechtlichen Privilegierungstatbestand<br />
in § 3 EStG mit der Folge, dass<br />
die privilegierten Aufwandsentschädigungen nicht<br />
als Arbeitsentgelt gelten.<br />
39
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Uwe Slüter<br />
Kurzgutachten: Mögliche Rahmenbedingungen für ein<br />
Freiwilligendienstestatusgesetz (FWDStG)<br />
I. Vorbemerkungen<br />
1. Einführung<br />
Freiwilligendienste sind seit einigen Jahren verstärkt<br />
im Blick von Politik und Öffentlichkeit.<br />
Freiwilligendienste bieten den Teilnehmenden Erfahrungsräume.<br />
Sie öffnen die Augen für soziale Notlagen<br />
und bieten Einblicke in soziale Berufe. Gleichzeitig tragen<br />
sie zur Persönlichkeitsentwicklung bei, indem vor<br />
allem junge Freiwillige lernen, Verantwortung für sich<br />
selbst und andere zu übernehmen, eigenes Handeln,<br />
Verhalten und Einstellungen kritisch zu hinterfragen,<br />
eigenes Handeln bewusster zu erleben und eine realistischere<br />
Selbsteinschätzung zu gewinnen. Alle Freiwilligen<br />
lernen eigene Grenzen kennen und akzeptieren<br />
und werden dabei unterstützt, eine eigene persönliche<br />
und berufliche Perspektive zu entwickeln. Gleichzeitig<br />
können die Freiwilligen ihre Kommunikations-, Kooperations-,<br />
Entscheidungs-, Urteils-, Kritik- und Konfliktfähigkeit<br />
erweitern. Freiwilligendienste <strong>ermöglichen</strong><br />
Partizipation und Lernen von Mitbestimmung, fördern<br />
zudem die Entwicklung politischer Handlungsperspektiven<br />
und ermutigen zur Übernahme von gesellschaftlicher<br />
Verantwortung. Freiwillige, insbesondere Freiwillige,<br />
die einen Auslandsdienst geleistet haben, bringen<br />
ihre friedens- und entwicklungspolitischen Kompetenzen<br />
in unsere Gesellschaft ein.<br />
Die schwarz-gelbe Bundesregierung strebt in ihrer<br />
Koalitionsvereinbarung von Oktober 2009 eine gemeinsame<br />
ressortübergreifende Strategie an, um<br />
einheitliche und transparente Bedingungen für alle<br />
Freiwilligendienstleistenden zu schaffen. Weiter<br />
strebt sie einen einheitlichen Status für Freiwilligendienstleistende<br />
im Zuge eines Freiwilligendienststatusgesetzes<br />
an. Zudem soll der Kindergeldbezug in<br />
Zeiten geregelter und ungeregelter Jugendfreiwilligendienste<br />
vereinheitlicht werden. 1<br />
40<br />
In seinem Grundriss einer engagementpolitischen Agenda<br />
fordert das Nationale Forum für <strong>Engagement</strong> und<br />
Partizipation vor allem eine ressortübergreifende und<br />
einheitliche Regelung. 2 Darüber hinaus müssen ausreichend<br />
Plätze zur Verfügung gestellt werden. Dazu ist die<br />
Bereitstellung der finanziellen und (steuer-) rechtlichen<br />
Rahmenbedingungen notwendig. In diesem Zusammenhang<br />
soll auch geprüft werden, ob ein einheitlicher Status<br />
für Freiwilligendienstleistende die Förderung, rechtliche<br />
Absicherung und Ausweitung der Freiwilligendienste<br />
nachhaltig sichern und fördern kann. 3<br />
Mit der Absicht, einen einheitlichen Status für Freiwilligendienstleistende<br />
zu schaffen, greift die Bundesregierung<br />
vor allem einen Beschluss des Deutschen<br />
Bundestages aus dem Jahr 2005 auf. Dort wird die<br />
Bundesregierung aufgefordert zu prüfen, inwieweit<br />
ein Bundesfreiwilligendienstgesetz die Freiwilligendienste<br />
nachhaltig sichern und fördern kann. 4<br />
Im Zuge der Vorbereitungen zur Fortsetzung des Nationalen<br />
Forums, das sich intensiv mit einem Freiwilligendienststatusgesetz<br />
beschäftigen will, wurde ich<br />
um ein Kurzgutachten zu möglichen Rahmenbedingungen<br />
für ein solches Gesetz gebeten.<br />
Die folgenden Ausführungen plädieren für die Schaffung<br />
eines einheitlichen Mindeststandards für Freiwilligendienste<br />
unter Berücksichtigung vorhandener Formate und<br />
besonderer Anforderungen unterschiedlicher Zielgruppen.<br />
Eine verbesserte Förderung der Freiwilligendienste <strong>–</strong> insbesondere<br />
der Jugendfreiwilligendienste <strong>–</strong> ist notwendig,<br />
aber nicht Gegenstand dieses Kurzgutachtens.<br />
Die Vorschläge sind ein erster Diskussionsbeitrag.<br />
2. Hintergrund<br />
Die Notwendigkeit eines FWDStG wird insbesondere<br />
vor dem Hintergrund einer Freiwilligendienstvielfalt
diskutiert, die sich in den letzten Jahren <strong>–</strong> auch politisch<br />
motiviert <strong>–</strong> entwickelt hat.<br />
3. Übersicht über in Deutschland angebotene<br />
Freiwilligendienstformen:<br />
Geregelte Freiwilligendienste (auf Grundlage gesetzlicher<br />
Regelungen oder staatlicher Förderrichtlinien):<br />
• Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ)/Freiwilliges Ökologisches<br />
Jahr (FÖJ): Die weitaus größte Rolle<br />
bei den Freiwilligendiensten spielt das FSJ mit<br />
steigender Tendenz! Daneben können junge Menschen<br />
ein FÖJ leisten. Das FSJ und FÖJ können<br />
auch im Ausland geleistet werden. Rechtliche<br />
Grundlage ist das Jugendfreiwilligendienstegesetz<br />
(JFDG).<br />
• Kulturweit: „kulturweit“ ist seit 2009 ein Freiwilligendienstangebot<br />
des Auswärtigen Amts in Kooperation<br />
mit der Deutschen UNESCO-Kommission. „kulturweit“<br />
ermöglicht Menschen aus Deutschland im<br />
Alter zwischen 18 und 26 Jahren, sich für 6 oder 12<br />
Monate im Ausland im Bereich der Kultur- und Bildungspolitik<br />
zu engagieren. Rechtliche Grundlage<br />
ist das JFDG.<br />
• Freiwilligendienste aller Generationen (FDaG): Vor<br />
dem Hintergrund der demografischen Entwicklung<br />
wurden auf Grundlage der Empfehlungen der<br />
Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“ ab<br />
2005 Modellprojekte zum „generationsübergreifenden<br />
Freiwilligendienst“ vom BMFSFJ für junge und<br />
hauptsächlich ältere Menschen gefördert. Nachfolger<br />
ist das am 1. Januar 2009 gestartete Programm<br />
„Freiwilligendienste aller Generationen“.<br />
Wer sich im Umfang von mindestens 8 Wochenstunden<br />
für die Dauer von mindestens 6 Monaten<br />
engagiert, erhält u. a. einen Anspruch auf Qualifizierung<br />
und fachliche Begleitung und ist in der gesetzlichen<br />
Unfallversicherung abgesichert. Rechtliche<br />
Grundlage ist die Legaldefinition in § 2 Absatz<br />
1a SGB VII.<br />
• Auch der Europäische Freiwilligendienst (EFD) ist<br />
durch Beschluss des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates ein geregelter Dienst. Junge Freiwillige<br />
aus Deutschland leisten einen Dienst im Ausland,<br />
oder ausländische junge Menschen leisten<br />
einen Freiwilligendienst in Deutschland. Rechtliche<br />
Grundlage ist der Beschluss Nr. 1719/2006/EG des<br />
Rates der Europäischen Union. Der EFD wird ausdrücklich<br />
auf EU-Ebene nicht als Beschäftigungsverhältnis<br />
gesehen.<br />
• Förderprogramm „weltwärts“: DasFörderprogramm<br />
„weltwärts“ soll das <strong>Engagement</strong> junger Menschen<br />
für die „Eine Welt“ nachhaltig fördern und versteht<br />
sich als Lerndienst, der jungen Menschen einen<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
interkulturellen Austausch in Entwicklungsländern<br />
ermöglicht. Die Rahmenbedingungen sind in der<br />
Richtlinie zur Umsetzung des entwicklungspolitischen<br />
Freiwilligendienstes des BMZ geregelt.<br />
Nicht geregelte Freiwilligendienste:<br />
• Kurzzeitfreiwilligendienste: Häufig wollen junge<br />
Menschen einen Dienst leisten, der eine kürzere<br />
Dauer als 6 Monate hat. Modelle für kurzzeitige<br />
Freiwilligendienste bieten Einsatzmöglichkeiten<br />
zwischen drei und 6 Monaten, die dem FSJ vergleichbar<br />
sind.<br />
• Ungeregelte längerfristige Freiwilligendienste: Das<br />
Ziel der Völkerverständigung prägt die längerfristigen<br />
Freiwilligendienste, die sich grundsätzlich<br />
an junge Frauen und Männer richten und mit Ausnahme<br />
des „Anderen Dienst“ im Ausland nach §<br />
14b Zivildienstgesetz (ZDG) nicht gesetzlich geregelt<br />
sind. Die Bedeutung hat sich seit dem Start<br />
des Förderprogramms „weltwärts“ durch das BMZ<br />
erheblich verringert.<br />
Wo es keine rechtlichen oder fördertechnischen Rahmenbedingungen<br />
gibt, die eingehalten werden müssen,<br />
gibt es auch viele Formen von Freiwilligendiensten. Die<br />
Aufzählung ist deshalb nicht abschließend.<br />
Freiwilligendienste haben sich in den letzten Jahren<br />
rasant entwickelt: 5<br />
FSJ Inland 40.000 6<br />
FÖJ Inland 2.200<br />
FSJ Ausland (und FÖJ) 700<br />
ungeregelte FWD Inland 650<br />
Förderprogramm „weltwärts“<br />
2.900<br />
sonstige FWD Ausland 2.000 7<br />
Europäischer Freiwilligendienst<br />
(800 Entsendungen;<br />
400 Freiwillige<br />
in Deutschland)<br />
1.200<br />
„kulturweit“ 8 190<br />
Zahlen zu den FDaG sind erst ab Februar oder März<br />
2010 im Rahmen der Veröffentlichung einer Befragung<br />
zu erwarten (Stand Januar 2010).<br />
41
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
II. Ziele des FWDStG<br />
Folgende Ziele sollten mit der Gesetzesinitiative<br />
verbunden sein:<br />
Erhöhung der Übersichtlichkeit und Rechtssicherheit<br />
ohne Schwächung erfolgreicher Freiwilligendienst-<br />
Modelle<br />
Neue gesetzgeberische Vorgaben müssen die vorhandenen<br />
Freiwilligendienst-Formen weiter stärken.<br />
Dies gilt insbesondere für das FSJ, aber auch für das<br />
Förderprogramm „weltwärts“.<br />
Verbesserung der gesellschaftlichen Anerkennung<br />
Ein Fördergesetz muss passgenaue Rahmenbedingungen<br />
für die einzelnen Freiwilligendienst-Formate<br />
schaffen, die einerseits Benachteiligungen verhindern,<br />
andererseits Anreize schaffen, einen Freiwilligendienstleisten<br />
zu wollen.<br />
Verbesserte Rahmenbedingungen für Freiwilligendienste<br />
schaffen<br />
Bereits 2005 hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung<br />
aufgefordert, verbesserte Rahmenbedingungen<br />
für Freiwilligendienste zu schaffen. Trotz der Novellierung<br />
des JFDG haben sich die Rahmenbedingungen für<br />
Jugendfreiwilligendienste nicht ausreichend verbessert.<br />
Einheitliche Zuständigkeiten für Freiwilligendienste<br />
schaffen<br />
Eine ressortübergreifende Gestaltung der Freiwilligendienste<br />
stellt die Zusammenarbeit mit Familien-,<br />
Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Integrations- oder auch<br />
Gesundheitspolitik sicher. Die Steuerung sollte beim<br />
BMFSFJ liegen, auch wenn andere Ressorts Angebote<br />
vorhalten. Ein besonderes Augenmerk muss<br />
stets auf die besonderen Interessen und Belange<br />
junger Menschen gelegt werden.<br />
III. Rechtliche Rahmung<br />
Ein FWDStG könnte als Artikelgesetz gestaltet werden<br />
mit folgenden Artikeln:<br />
• Artikel 1: Allgemeiner Freiwilligendienststatus<br />
• Artikel 2: Freiwilligendienst für Menschen bis 27<br />
Jahren im Inland. Die Regelungen sollten sich eng<br />
am JFDG orientieren.<br />
• Artikel 3: Freiwilligendienst für Menschen bis 27<br />
Jahren im Ausland. Die Regelungen sollten sich<br />
42<br />
eng am Förderprogramm „weltwärts“ orientieren,<br />
diese gesetzgeberisch festschreiben und um den<br />
gesamten Zuständigkeitsbereich des Auswärtigen<br />
Amtes erweitert werden.<br />
• Artikel 4: Freiwilligendienst für Menschen ab 28<br />
Jahre im In- oder Ausland. Es muss geprüft werden,<br />
ob zwischen Regelungen für das In- und Ausland<br />
zusätzlich unterschieden werden muss. Sollte<br />
es schwierig sein, die unterschiedlichen Bedarfe<br />
der Zielgruppe in einem einheitlichen Status zu<br />
bündeln, kann es auch Sinn machen, das FWDStG<br />
auf Jugendfreiwilligendienste zu beschränken.<br />
IV. Inhalte<br />
1. Allgemeiner Freiwilligendienststatus<br />
1.1 Ziele<br />
Folgende allgemeine Ziele sollten mit der Regelung<br />
eines allgemeinen Freiwilligendienststatus verbunden<br />
sein.<br />
Abgrenzung der Freiwilligendienste vom Pflichtdienst<br />
Regelmäßig wird eine Debatte um die Einführung<br />
einer allgemeinen Dienstpflicht als „soziale Schule<br />
der Nation“ für junge Männer und Frauen alternativ<br />
zum Zivildienst geführt. Handlungsleitend in der<br />
Debatte sind befürchtete Lücken im Bereich der sozialen<br />
Dienste, und deshalb wird mehrheitlich für einen<br />
Pflichtdienst aus funktionalen Gründen plädiert.<br />
Eine allgemeine Dienstpflicht ist nicht nur aus ökonomischen<br />
und politischen Gründen, sondern vor allem<br />
aus ethischen und verfassungsrechtlichen Gründen<br />
der falsche Weg. Leitend in der Debatte bleibt, dass<br />
solche Forderungen deutschem und internationalem<br />
Recht widersprechen.<br />
Freiwilligendienste als besonderen Teil des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s beschreiben <strong>–</strong> Abgrenzung<br />
zum allgemeinen bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong><br />
Freiwilligendienste sind eine besondere, eigene Form<br />
des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s, und zwar<br />
jenseits des traditionellen Ehrenamts, jenseits von<br />
Pflicht, Erwerbsarbeit, Ausbildung und Zivildienst. 9<br />
Notwendig ist es, trotz aller Gemeinsamkeiten zwischen<br />
Freiwilligendiensten und bürgerschaftlichem<br />
<strong>Engagement</strong> zu unterscheiden, um den Regelungsrahmen<br />
für ein künftiges Gesetz einzugrenzen und<br />
gleichzeitig von den Bestrebungen nach einem Bundesgesetz<br />
zur nachhaltigen Förderung des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s abzugrenzen.
Freiwilligendienste als Bildungsprojekt verorten<br />
Der Bildungsanspruch ist konstitutives Element der<br />
Freiwilligendienste und macht ihre besondere Attraktivität<br />
aus. Der Bildungscharakter und der Bildungsanspruch<br />
in und von Freiwilligendiensten sind zu erhalten.<br />
Freiwilligendienste sind arbeitsmarktneutral zu <strong>gestalten</strong><br />
Freiwilligendienste sind zuerst ein Bildungsprojekt mit<br />
einem expliziten Bildungsauftrag in Abgrenzung zum<br />
formalen Lernen. Eine Engführung auf berufsqualifizierende<br />
und/oder arbeitsmarktpolitische Instrumente<br />
birgt für die Freiwilligendienste die Gefahr, den Anspruch<br />
der Arbeitsmarktneutralität aufzugeben.<br />
Freiwilligendienste für junge Menschen sollen helfen,<br />
die Lebenslagen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen<br />
zu verbessern<br />
Die gesetzlich geregelten Jugendfreiwilligendienste<br />
zielen auf die Verbesserung der Lebenslagen von<br />
Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Soziale Bildung<br />
soll jungen Menschen die Möglichkeit geben,<br />
in der Praxis soziale Erfahrung zu sammeln und einen<br />
Beitrag zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu<br />
leisten. Damit bezieht sich das JFDG auf das Kinder-<br />
und Jugendhilfegesetz. Der Referenzrahmen<br />
des Kinder- und Jugendhilfegesetz, muss auch im<br />
FWDStG für die Zielgruppe junge Menschen verbindlich<br />
festgeschrieben werden. Freiwilligendienste<br />
für Menschen ab 28 Jahren sollen u. a. helfen, in<br />
den Arbeitsmarkt zu integrieren, biografische Übergänge<br />
zu <strong>gestalten</strong> und sinnvolle <strong>Engagement</strong>felder<br />
zu entdecken.<br />
1.2 Definition mit Mindestanforderungen für alle<br />
geregelten und ungeregelten Freiwilligendienste<br />
Es gibt unterschiedliche Definitionen von Freiwilligendiensten.<br />
Sie reichen von der auf die ganztägigen<br />
Dienste ausgerichteten Definition der<br />
Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s“ 10 bis hin zur weiteren Definition<br />
von Rauschenbach/Liebig. 11 Danach sind<br />
Freiwilligendienste „Dienstverhältnisse innerhalb<br />
gemeinnütziger Organisationen, die im Zwischenbereich<br />
von Ehrenamt und (formalen) Bildungsangeboten<br />
angeboten werden. Sie sind mit obligatorischen<br />
Bildungsangeboten verknüpft und werden<br />
in Form freiwilliger Selbstverpflichtung zumeist von<br />
jungen, aber auch von älteren Menschen in Anspruch<br />
genommen.“<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
1.2.1 Mindestanforderungen<br />
Freiwilligendienste enthalten Statuselemente verschiedener<br />
anderer Tätigkeitsformen und sind doch<br />
etwas Eigenes:<br />
• Freiwilligendienste sind nicht „herkömmliches Ehrenamt“,<br />
aber freiwilliges bzw. bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong>.<br />
• Freiwilligendienste sind nicht Pflichtdienst, aber der<br />
Freiwillige verpflichtet sich. Freiwilligendienste sind<br />
keine Arbeitsverhältnisse, aber auch fremdnützige<br />
Hilfstätigkeit.<br />
• Freiwilligendienste sind nicht Ausbildungsverhältnis,<br />
aber Bildungsdienst.<br />
Sortiert man diesen Abgrenzungsmerkmalen positive<br />
Kriterien zu, ergeben sich folgende Mindestanforderungen:<br />
• Freiwilligendienste basieren auf einer vertraglichen<br />
Selbstverpflichtung, in der Dauer, Art und zeitlicher<br />
Umfang der Tätigkeit festgelegt werden.<br />
• Freiwilligendienste werden pädagogisch begleitet,<br />
dienen der sozialen und fachlichen Erfahrung.<br />
• Freiwillige leisten „überwiegend praktische Hilfstätigkeiten“,<br />
worin auch die gewünschte soziale Komponente<br />
und der Bildungscharakter zum Ausdruck<br />
kommen.<br />
• Freiwillige kommen in gemeinwohlorientierten Einsatzstellen<br />
bzw. Einrichtungen zum Einsatz.<br />
• Freiwilligendienste werden von gemeinnützigen Organisationen<br />
oder öffentlichen Trägern angeboten.<br />
• Freiwillige erhalten einen allgemein gültigen Nachteilsausgleich<br />
als Zeichen der Anerkennung, wie<br />
z. B. Anspruch auf Waisenrente und Kindergeld.<br />
1.2.2 Offene Fragen<br />
Bei der Diskussion eines Allgemeinen Status gibt es<br />
einige „Klippen“ und offene Fragen. Zwei Beispiele:<br />
Dauer<br />
Neben formalen Gemeinsamkeiten zwischen Freiwilligendiensten<br />
und bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong><br />
gibt es vor allem bei der Frage der Dauer unterschiedliche<br />
Auffassungen.<br />
• Die Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“<br />
definiert: „Generationsübergreifende Freiwilligendienste<br />
sollten länger dauern können als ein Jahr, in<br />
Vollzeit ausgeübt werden oder mit wenigen Stunden<br />
Zeiteinsatz in der Woche, Beruf und Familie begleitend.<br />
In der Regel sollte eine Mindestdauer von 3<br />
43
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
zusammenhängenden Monaten mit mindestens 20<br />
Wochenstunden und einer Höchstdauer bis zu 24<br />
Monaten bei Diensten im In- und Ausland eingehalten<br />
werden. Bei berufsbegleitenden Formen sollte<br />
jedenfalls eine entsprechende zeitliche Mindestanforderung<br />
festgelegt werden.“ 12 Für die FDaG sind<br />
inzwischen gesetzlich im Rahmen der Legaldefintion<br />
nach § 2 Absatz 1a SGB VII mindestens 6 Monate<br />
und mindestens 8 Wochenstunden festgelegt.<br />
• Jugendfreiwilligendienste sind in der Regel vergleichbar<br />
einer Vollzeittätigkeit. FSJ und FÖJ dauern<br />
zwischen mindestens 6 und höchstens 18 Monaten<br />
(in Ausnahmefällen 24 Monate).<br />
• Kurzzeitfreiwilligendienste sind ebenfalls Jugendfreiwilligendienste<br />
und sind bereits ab 3 Monaten möglich.<br />
• Freiwilligendienste im Ausland sind ebenfalls in der<br />
Regel Vollzeitdienste und dauern in der Regel 12<br />
Monate, aber auch hier gibt es zeitliche Ausnahmen.<br />
Einige Träger bieten den Dienst bereits ab 6<br />
Monaten bis zu einer Dauer von 24 Monaten an.<br />
Außerhalb der FDaG gibt es in Deutschland im<br />
Grundsatz nur Vollzeitfreiwilligendienste, die überwiegend<br />
Jugendfreiwilligendienste sind. Die politisch<br />
geforderte zeitliche Flexibilisierung wurde bei<br />
der Novellierung des JFDG zwar in der möglichen<br />
Ableistung in Blöcken, der Ausgestaltung mit einem<br />
besonderen Konzept bis zu einer Dauer von 24 Monaten,<br />
der Möglichkeit der Ableistung mehrerer Freiwilligendienste<br />
nacheinander sowie der Option eines<br />
kombinierten In- und Auslandsdienstes umgesetzt.<br />
Eine Abkehr von der Vollzeittätigkeit bei Jugendfreiwilligendiensten<br />
war jedoch politisch nicht gewollt.<br />
Die Arbeitsgruppe „Freiwilligendienste“ des <strong>BBE</strong> definiert<br />
Freiwilligendienste in einem Arbeitspapier als<br />
Dienst mit mindestens 3 zusammenhängenden Monaten<br />
und maximal 24 Monaten mit je 15 Wochenstunden.<br />
13 Die im Fachforum Freiwilligendienste zusammengeschlossenen<br />
Träger, zu denen die Mitglieder<br />
des BAK-FSJ, BAK-FÖJ und des Gesprächskreises<br />
Internationale Freiwilligendienste gehören, definieren<br />
Freiwilligendienste als Blöcke aus mindestens drei<br />
zusammenhängenden Monaten; auf der Grundlage<br />
von mindestens 20 Wochenstunden und einer maximalen<br />
Dauer von 24 Monaten. Den Trägern geht es<br />
bei dieser Minimaldefinition um eine Abgrenzung zum<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>.<br />
Rechtliche und soziale Fragen <strong>–</strong> Status<br />
Es gibt vor allem bei der Frage der rechtlichen und<br />
sozialen Absicherung der Freiwilligen große Unterschiede.<br />
Ziel muss es sein, dass der Status eines<br />
Teilnehmers an Freiwilligendiensten als ein Rechts-<br />
44<br />
verhältnis der eigenen Art definiert wird. Menschen,<br />
die sich in Freiwilligendiensten sozial und ohne Gewinnerzielungsabsicht<br />
engagieren, dürfen in ihrer<br />
sozialen Sicherung jedoch nicht schlechter gestellt<br />
werden, als sie ohne ihr <strong>Engagement</strong> stünden. Besonders<br />
der Schutz vor Krankheit, Unfall, Invalidität<br />
und Haftpflichtschäden <strong>–</strong> dieser Schutz kann je nach<br />
Lebens-, Berufs- und Familiensituation unterschiedlich<br />
aussehen <strong>–</strong> muss verbindlich geregelt sein.<br />
Fraglich ist, ob ein eigener Status im Rahmen eines<br />
allgemeinen Freiwilligendienststatus konsensfähig ist<br />
und welche Merkmale er haben sollte.<br />
• Die Tätigkeit in den gesetzlich geregelten Jugendfreiwilligendiensten<br />
FSJ und FÖJ ist beschäftigungsähnlich<br />
und deshalb sozialversicherungspflichtig.<br />
14 Träger bzw. Einsatzstellen müssen<br />
vollständig für die Sozialversicherungsbeiträge<br />
aufkommen. 15<br />
• Für das Programm Kulturweit gilt wie im FSJ-Ausland<br />
die gesetzliche Sozialversicherungspflicht.<br />
• Ungeregelte Freiwilligendienste im Inland sind<br />
nach Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit<br />
und Soziales Beschäftigungsverhältnisse und<br />
damit sozialversicherungspflichtig. 16<br />
• Die Freiwilligendienste aller Generationen sind<br />
grundsätzlich sozialversicherungsfrei. Die Freiwilligen<br />
sind lediglich in der gesetzlichen Unfallversicherung<br />
pflichtversichert. 17 Geht der Tätigkeitsumfang<br />
über ein Drittel einer vergleichbaren<br />
Vollzeitstelle hinaus, unterliegen die Tätigkeiten<br />
der Einkommenssteuerpflicht 18 und es kann auch<br />
dazu kommen, dass die Tätigkeit als sozialversicherungspflichtig<br />
eingestuft wird.<br />
• Im Förderprogramm „weltwärts“ besteht keine gesetzliche<br />
Sozialversicherungspflicht, weil von einer<br />
Entsendung der Freiwilligen ausgegangen wird.<br />
Der private Versicherungsschutz umfasst mindestens<br />
eine Auslandskrankenversicherung, Unfallversicherung<br />
inkl. Invalidität und Todesfall, eine<br />
Pflegeversicherung, eine Haftpflicht- und Rücktransportversicherung.<br />
• Der Europäische Freiwilligendienst hält für alle Teilnehmer/innen<br />
eine private Kranken-, Unfall-, Invaliditäts-<br />
und Haftpflichtversicherung vor.<br />
Ziel sollte ein allgemein gültiger sozialversicherungsrechtlicher<br />
Status sein, dieser könnte wie folgt aussehen:<br />
• Die Freiwilligen sollen von der Rentenversicherung<br />
als versicherungsfrei aufgenommen und die<br />
Dienstzeit als beitragsfreie Anrechnungszeit gewertet<br />
werden.
• In der Arbeitslosenversicherung sollten die Freiwilligen<br />
nach Beendigung ihres Dienstes denselben<br />
Status erhalten, den sie vor ihrem Freiwilligendienst<br />
innehatten.<br />
• Die Freiwilligen sollen in die gesetzliche Unfallversicherung<br />
einbezogen werden (Berufsgenossenschaft).<br />
• Junge Menschen sollen die Möglichkeit erhalten,<br />
über ihre Eltern in der Familienversicherung versichert<br />
zu bleiben.<br />
• Nicht alle Freiwilligen benötigen diesen sozialversicherungsrechtlichen<br />
Status umfassend. Im Einzelfall<br />
muss geprüft werden, ob insbesondere für<br />
Freiwillige, die älter als 27 Jahre sind, alle Regelungen<br />
notwendig ist.<br />
Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass sich ein<br />
derartiger Status einfach realisieren lässt, weil Freiwilligendienste<br />
im Inland als beschäftigungsähnlich definiert<br />
werden. Der in der Sozialversicherung gebräuchliche<br />
Begriff der Beschäftigung geht weit über den<br />
Arbeitsbegriff hinaus. Im Prinzip sind alle Tätigkeiten,<br />
auch die, bei denen der Lerneffekt im Vordergrund<br />
steht, Beschäftigung. Damit sind alle Beschäftigungsverhältnisse<br />
in Deutschland sozialversicherungspflichtig<br />
und alle Inlandsfreiwilligendienste damit<br />
wahrscheinlich ebenfalls sozialversicherungspflichtig.<br />
Weiter ist nicht davon auszugehen, dass die Bundesregierung<br />
ein Mandat für die Harmonisierung der sozialen<br />
Sicherung an die EU abgeben wird, 19 deshalb lassen<br />
sich europäische Richtlinien zur Schaffung eines<br />
Freiwilligendienststatus in Deutschland nicht nutzen.<br />
Sollte sich ein derartiger allgemeiner sozialversicherungsrechtlicher<br />
Status nicht realisieren lassen,<br />
sollten passgenaue Regelungen für die unterschiedlichen<br />
Zielgruppen geschaffen werden.<br />
2. Passgenaue Regelungen für die unterschiedlichen<br />
Zielgruppen und <strong>–</strong> Formate<br />
Neben einem allgemeinen Freiwilligendienststatus<br />
sind passgenaue Regelungen für die unterschiedlichen<br />
Zielgruppen und Formate (In- und Auslandsdienste<br />
für Jüngere und Ältere, siehe oben unter III.,<br />
Artikel 2-4) notwendig.<br />
2.1 Sozialversicherungsrechtliche Absicherung<br />
Für einen Freiwilligendienst für Menschen bis 27 Jahren<br />
im Inland 20 sollten die Regelungen des JFDG gelten.<br />
Für einen Freiwilligendienst für Menschen bis 27<br />
Jahren im Ausland sollten die Regelungen des Förderprogramms<br />
„weltwärts“ gesetzgeberisch festgeschrieben<br />
werden.<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Freiwilligendienstleistende ab 28 Jahre benötigen<br />
sehr unterschiedliche rechtliche und sozialversicherungsrechtliche<br />
Rahmenbedingungen. Erhalten<br />
sie Taschengeld oder Verpflegung und/ oder Unterkunft<br />
in den Einrichtungen, ist davon auszugehen,<br />
dass im Inland Sozialversicherungsbeiträge anfallen.<br />
Dann kann auf die Lösung für Artikel 2 (Inland<br />
junge Menschen) oder bei einer Entsendung auf Artikel<br />
3 (Ausland junge Menschen) zurückgegriffen<br />
werden. 21<br />
2.2 Dauer<br />
Empfohlen wird ein Regelungsrahmen für eine überwiegende<br />
Tätigkeit, also wenigstens 20 Stunden/<br />
Woche für ältere Menschen, für junge Menschen<br />
sollten 30 Wochenstunden als Regel festgeschrieben<br />
werden. Ausnahmen sind denkbar. So lassen<br />
sich sinnvoll Bildungselemente und Begleitangebote<br />
integrieren. Berechtigte Interessen der Organisationen<br />
und Einrichtungen hinsichtlich der Planbarkeit<br />
und Verbindlichkeit können so ebenso berücksichtigt<br />
werden. Innerhalb dieses Zeitkorridors muss die<br />
Dauer des Freiwilligendienstes flexibel gestaltbar<br />
bleiben.<br />
2.3 Begleitung der Freiwilligen<br />
Unabhängig von der Dauer und Form eines Freiwilligendienstes<br />
ist eine Begleitung sicherzustellen, die es<br />
den Freiwilligen ermöglicht, ihre Erfahrungen in einer<br />
Gruppe von Freiwilligen zu reflektieren und in gesellschaftliche<br />
Zusammenhänge einzuordnen. Abhängig<br />
von der Zielgruppe und Lebensphase sind unterschiedliche<br />
Begleitkonzepte notwendig. Die begleitende Bildung<br />
kann sich auch nicht nur auf die Begleitung durch<br />
Mentorinnen und Mentoren beschränken.<br />
Die Notwendigkeit der pädagogischen Begleitung<br />
für junge Menschen ist durch Gesetzesevaluationen<br />
und diverse Befragungen der Freiwilligen belegt. Mit<br />
dem Umfang von 25 Seminartagen pro Freiwilligenjahr<br />
wurden in In- und Auslandsdiensten gute Erfahrungen<br />
gemacht. Die Seminartage sollten bei Dienstzeiten,<br />
die kürzer als ein Jahr sind, wenigstens 2 Tage<br />
pro Monat betragen.<br />
Die pädagogische Begleitung für Freiwillige ab 28<br />
Jahre sollte ebenfalls geregelt sein. Auch sie haben<br />
ein Recht auf Begleitangebote, die sich an den Bedarfen<br />
der Freiwilligen ausrichten müssen. Vorgeschlagen<br />
wird, „älteren“ Freiwilligen einen Rechtsanspruch<br />
auf Seminarteilnahme und Begleitangebote<br />
einzuräumen und sie gleichzeitig zur Teilnahme an<br />
einem Seminartag pro Monat zu verpflichten.<br />
45
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
2.4 Trägerprinzip<br />
Ein Freiwilligendienst braucht in allen Formaten Trägerstrukturen,<br />
die in der Lage sind, die Einhaltung<br />
der Rahmenbedingungen und Qualitätsstandards zu<br />
garantieren. Die Träger übernehmen die Gesamtverantwortung<br />
für die Ausgestaltung des Dienstes. Notwendig<br />
ist eine plurale Trägerlandschaft und <strong>–</strong> in der<br />
Regel <strong>–</strong> eine Trennung von Einsatzstelle und Träger.<br />
Ein wichtiges Ziel des FWDStG sollte die Stärkung<br />
vorhandener Dienstformen und Trägerstrukturen<br />
sein. Eine Beibehaltung des Prinzips der geborenen<br />
Träger, wie sie das FSJ-Gesetz kennt, ist für das Inland<br />
zu empfehlen. Das Prinzip der bundeszentralen<br />
Organisation der Jugendfreiwilligendienste sollte mit<br />
dem neuen Gesetz unterstützt und auch für andere<br />
Formate übernommen werden. Neben den bisherigen<br />
bewährten Trägern in den In- und Auslandsdiensten<br />
bedarf es aber auch der Anerkennung neuer Träger<br />
gemäß zu entwickelnder Standards.<br />
Die Rolle des Staates als Anbieter von Freiwilligendiensten<br />
ist klärungsbedürftig. Im letzten Jahr initiierte<br />
das Auswärtige Amt mit „kulturweit“ einen Jugendfreiwilligendienst<br />
für das Ausland ohne Beteiligung<br />
zivilgesellschaftlicher Akteure.<br />
2.5. Anerkennungskultur<br />
Gesellschaftliche Anerkennung für das <strong>Engagement</strong><br />
sollte sich auch in Form von Vergünstigungen ausdrücken.<br />
Ein Fördergesetz sollte unter dem Stichwort Anerkennungskultur<br />
passgenaue Rahmenbedingungen<br />
für die einzelnen Formate schaffen, die einerseits<br />
Benachteiligungen verhindern, andererseits Anreize<br />
schaffen, einen Freiwilligendienst leisten zu wollen.<br />
Beispiele, deren rechtliche Verankerung zielgruppenspezifisch<br />
geprüft werden sollte:<br />
• Ausgabe eines „Freiwilligendienst-Ausweises“, der<br />
Voraussetzung wäre für<br />
46<br />
• eine verbilligte BahnCard,<br />
• kostenlose Familienheimfahrten mit der Bahn,<br />
• die begünstigte Nutzung aller anderen öffentlichen<br />
Verkehrsmittel,<br />
• eine ermäßigteNutzungöffentlicherundprivater Angebote<br />
wie Theater, Museen, Bäder und Konzerte,<br />
• bevorzugten Zugang/einen Bonus für Universität<br />
und Berufsausbildung,<br />
• Anerkennung als Praktikum bei einschlägigen Ausbildungsgängen,<br />
• Verkürzung der Ausbildung bei entsprechenden<br />
Ausbildungsgängen und Tätigkeiten,<br />
• Befreiung von der Praxisgebühr/Medikamentenzuzahlung,<br />
• Befreiung von der Rundfunkgebühr,<br />
• Verlängerung des Kindergeldbezugs um Dauer des<br />
Freiwilligendienstes, da ansonsten eine schnelle Studienaufnahme<br />
im Vordergrund stehen könnte. Das<br />
gleiche gilt für die Familienversicherung bei der Krankenversicherung<br />
und die Waisen-/Halbwaisenrente.<br />
• Bildungsgutscheine, die vielfältig einsetzbar sind, z. B.<br />
für die Zahlung von Studiengebühren, vor allem aber,<br />
um Fortbildungen und Weiterbildungen zu bezahlen;<br />
• HonorierungderAbleistungeinesFreiwilligendienstes<br />
• bei Ausbildungsvergabe im öffentlichen Dienst,<br />
• bei Wartesemesterregelungen an den Universitäten,<br />
• Garantie für Arbeitsplatzerhalt bei Aussetzen (wie<br />
Sabbatjahrregelung),<br />
• Zeugnisse, Zertifikate, Kompetenzbilanzierung.<br />
• Die geringen Freibeträge für Freiwillige bei Bedarfsgemeinschaften<br />
beim ALG II machen ein <strong>Engagement</strong><br />
aus finanzieller Sicht für diese Zielgruppe wenig<br />
attraktiv. Hier braucht es höhere Freibeträge.<br />
V. Zusammenfassung<br />
Ein FWDStG bietet die Chance für mehr Rechtssicherheit<br />
und Übersichtlichkeit im vielfältigen Bereich<br />
der Freiwilligendienste. Der Bereich kann dadurch<br />
mehr Anerkennung erfahren, weiterentwickelt und<br />
zukunftsfähig gemacht werden.<br />
Dabei wird es darauf ankommen, eine Überregulierung<br />
zu vermeiden und einzelne Freiwilligendienstangebote<br />
nicht zu schwächen.<br />
Die Diskussion ist auf Grundlage des Koalitionsvertrages<br />
eröffnet. Das Nationale Forum für <strong>Engagement</strong> und Partizipation<br />
bietet eine Plattform zum Austausch und zur<br />
Lösungssuche. Ziel sind sinnvolle, möglichst konkrete<br />
Handlungsvorschläge an den Gesetzgeber, die vom gesamten<br />
Feld getragen werden und in ein mögliches Gesetzgebungsverfahren<br />
eingespeist werden können.<br />
Anmerkungen<br />
1 Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag<br />
zwischen CDU, CSU und FDP. Beschlossen<br />
und unterzeichnet am 26.10.2009, S. 80.<br />
2 Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
(2009) (Hg.): Nationales Forum für <strong>Engagement</strong>
und Partizipation. Erster Zwischenbericht. Berlin.<br />
Hintergrund ist die Forderung des Dialogforums<br />
„Rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen“,<br />
ein Bundesgesetz zur nachhaltigen Förderung des<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s mit den Zielen<br />
einer systematischen Förderpolitik, Transparenzerweiterung<br />
und Beteiligung der Zivilgesellschaft<br />
zu entwickeln. In den Regelungskatalog sollen die<br />
Jugendfreiwilligendienste ebenfalls aufgenommen<br />
werden.<br />
3 Ebd., S. 15<br />
4 Bundestagsdrucksache 15/4395.<br />
5 Vom Autor telefonisch erfragt, aus öffentlich zugänglichen<br />
Quellen bezogen oder nach Befragung<br />
Verantwortlicher geschätzt. Basis ist entweder<br />
das Jahr 2009 oder 2008.<br />
6 Die Statistik des BAK FSJ weist für 2007/2008 ca.<br />
35.000 Zugänge ins FSJ aus. Zusätzlich, so wird<br />
geschätzt, gibt es nochmals ca. 5.000 Einsatzplätze<br />
bei nicht bundesweit organisierten Trägern.<br />
7 Stand 2008, ohne FSJ-14c (ca. 1.200), incl. 14b<br />
(ca. 550); Quelle: Arbeitsgemeinschaft Dienst für<br />
den Frieden (AGDF).<br />
8 Zum 1.9.09 entsandte Freiwillige.<br />
9 Dieses hat die Kommission Impulse für die Zivilgesellschaft<br />
festgehalten und bezieht sich auch auf<br />
die gleichnamige Enquete-Kommission des Deutschen<br />
Bundestags.<br />
10 „Freiwilligendienste sind eine besondere, staatlich<br />
geförderte Form bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s,<br />
in der sich Jugendliche und junge Erwachsene<br />
im Rahmen eines FSJ/ FÖJ, EFD oder auch<br />
eines internationalen Freiwilligendienstes für das<br />
Gemeinwohl engagieren (Enquete-Kommission<br />
„Zukunft des BE“ 2002; S. 251).<br />
11 Weiter: „Freiwilligendienste sind hinsichtlich ihrer<br />
Dauer, Umfang, Einsatzorte sowie sozialer Absicherung<br />
und Gratifikation vertraglich zwischen<br />
Freiwilligen und Organisation geregelt, im Falle<br />
bestimmter Dienste zusätzlich gesetzlich festgeschrieben.<br />
Sie sind vom Grundsatz her nicht<br />
vergütet und formal zeitlich begrenzt.“ Vgl. Rauschenbach,<br />
Thomas; Liebig, Reinhard (2002):<br />
Freiwilligendienste <strong>–</strong> Wege in die Zukunft. Gutachten<br />
zur Lage und Zukunft der Freiwilligendienste<br />
für den Arbeitskreis Bürgergesellschaft<br />
und Aktivierender Staat der Friedrich Ebert-Stiftung.<br />
Bonn, S. 5.<br />
12 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen<br />
und Jugend (2004): Perspektiven für Freiwilligendienste<br />
und Zivildienst in Deutschland. Bericht der<br />
Kommission Impulse für die Zivilgesellschaft. Berlin,<br />
S. 10 und 11.<br />
13 Freiwilligendienste <strong>–</strong> was sie als eine besondere Form<br />
des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s auszeichnet;<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Entwurf eines Positionspapiers der AG 3 „Freiwilligendienste“<br />
des <strong>BBE</strong> vom 18.9.2009.<br />
14 Dies gilt auch für die ungeregelten Freiwilligendienste<br />
im Inland, deren Beschäftigungsumfang<br />
in der Regel mehr als ein Drittel einer Vollzeittätigkeit<br />
umfasst. Sie haben zwar keinen Arbeitnehmerstatus,<br />
sind jedoch beschäftigungsähnlich<br />
und deshalb in die gesetzlich geregelte Sozialversicherung<br />
vollständig einzubeziehen.<br />
15 Bei den Inlandsdiensten steht zwar nicht die für den<br />
Arbeitsvertrag typische Verpflichtung zur Leistung<br />
bestimmter Arbeit im Vordergrund, damit genügt<br />
die Tätigkeit in den Freiwilligendiensten keiner arbeitsrechtlichen<br />
Einordnung als Arbeitnehmer/-in.<br />
Allerdings geht der in der Sozialversicherung gebräuchliche<br />
Begriff der Beschäftigung weit über<br />
den Arbeitsbegriff hinaus.<br />
16 In Prüfungen einzelner Träger kommen die Prüfer<br />
zu unterschiedlichen Ergebnissen. Einmal werden<br />
generationsübergreifende FWD im Modellprojekt,<br />
die in Vollzeit angeboten wurden, als voll sozialversicherungspflichtig<br />
eingestuft. Eine andere<br />
Prüfung eines Kurzzeitdienstes in Vollzeit kam<br />
zu dem Schluss, dass die Mini-Job-Regelung zugrunde<br />
zu legen ist. Es besteht Handlungsbedarf.<br />
17 Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, § 2<br />
Abs. 1a.<br />
18 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen<br />
und Jugend (2008): Praxishandbuch zum Freiwilligendienst<br />
aller Generationen. Vgl.: www.freiwilligendienste-aller-Generationen.de.<br />
S. 34 ff.<br />
19 In der EU wird die Frage von Freiwilligendiensten<br />
unter dem Stichwort Mobilität diskutiert. Die<br />
Mobilitätsempfehlung der EU sieht vor, dass<br />
Freiwillige nicht als Arbeitnehmer zu betrachten<br />
sind und dass ihnen bei grenzüberschreitenden<br />
Aktivitäten keine Steine in den Weg gelegt werden<br />
dürfen. Es handelt sich aber nur um eine<br />
Empfehlung. In der gemeinsamen Zielsetzung<br />
des Rates ging es 2007 den Nationalstaaten<br />
darum, Freiwilligendienste unter rechtlichen<br />
Gesichtspunkten zu bewerten. Sie wurden als<br />
nicht-formale Bildungsveranstaltungen und die<br />
Dienstleistenden als Nicht-Arbeitnehmer qualifiziert.<br />
Von europäischer Seite gäbe es Ansatzpunkte,<br />
die es <strong>ermöglichen</strong> würden, konsequent<br />
eine eigene Richtlinie für Freiwilligendienste zu<br />
erlassen, die den transnationalen Austausch ermöglicht.<br />
Sozialrechtlich ist das verbunden mit<br />
der so genannten Wanderarbeiterrichtlinie aus<br />
dem Jahre 1971.<br />
20 Dies umfasst junge Menschen, die in Deutschland<br />
leben oder für einen Freiwilligendienst nach<br />
Deutschland einreisen.<br />
21 Siehe auch Fußnote 10.<br />
47
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Dr. Nicole D. Schmidt<br />
Thesen: Zur Zielgruppe Menschen mit<br />
Behinderungen und Beeinträchtigungen<br />
Kompetenz, Empowerment und gesellschaftliche<br />
Teilhabe durch Freiwilligendienste<br />
(Erfahrungen aus Bundesmodellprojekten des<br />
BMFSFJ bei mittenmang)<br />
Menschen mit Behinderungen sind Bürgerinnen<br />
und Bürger, die in unserer Gesellschaft faktisch<br />
noch nicht wirklich gleichgestellt sind, obwohl Gesetzesgrundlagen<br />
hierfür vorliegen. Zumeist werden<br />
sie als Hilfeempfänger gesehen, für die gesellschaftliche<br />
Anstrengungen unternommen werden<br />
müssen.<br />
Die Erfahrungen von mittenmang mit Bundesmodellprojekten<br />
zeigen: Das eigene freiwillige <strong>Engagement</strong><br />
von Menschen mit Behinderungen stärkt<br />
diese Personen in ihren Fähigkeiten, fördert oder<br />
aktiviert ihre Kompetenzen durch den Freiwilligendienst,<br />
ermöglicht Empowerment und Bewusstheit<br />
anstelle eines Rückzugs oder Verharren in<br />
Betroffenheit. Das <strong>Engagement</strong> führt zur gesellschaftlichen<br />
Teilhabe in Richtung einer inklusiven<br />
Gesellschaft.<br />
Die Sicherstellung der gesellschaftlichen Teilhabe<br />
von Ausgrenzung bedrohter Menschen (etwa Menschen<br />
mit Behinderungen oder auch Bürgerinnen<br />
und Bürger mit Migrationshintergrund mit Problemen<br />
wie Bildungsferne oder Altersarmut) und die<br />
Förderung des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
u. a. in Form von Freiwilligendiensten sind gesellschaftspolitische<br />
Querschnittsaufgaben. Die Erfahrungen<br />
von mittenmang zeigen, dass multiple Problemlagen<br />
synergetische Lösungen im freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong> finden können: persönliche Stärkung<br />
im Spektrum der Lebensbewältigung und Salutogenese,<br />
Teilhabe in der Gemeinschaft, Förderung der<br />
Beschäftigungsfähigkeit, positive Effekte in Bezug<br />
auf Bildungsferne, Armutsprobleme (Isolation) und<br />
Gemeinwesen-Effekte.<br />
48<br />
Die Gruppe der Menschen mit Behinderungen stellt<br />
eine zahlenmäßig wachsende Gruppe dar (Zunahme<br />
von Behinderung im Alter/demografische Effekte; Zunahme<br />
von psychischen Erkrankungen etc.). Diese<br />
Gruppe ist grundsätzlich geeignet, in bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> und Freiwilligendienste eingebunden<br />
zu werden, wenn die Bedingungen stimmen (z. B.<br />
spezifisches Freiwilligen-Management mit individueller,<br />
fachlicher Freiwilligenbegleitung). Zudem können<br />
die verschiedenen Altersgruppen <strong>–</strong> vom Jugendlichen<br />
mit z. B. Lernbehinderungen bis zum älteren<br />
Menschen <strong>–</strong> eingebunden werden.
Susanne Huth<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Thesen: Zum freiwilligen <strong>Engagement</strong> von Menschen mit<br />
Migrationshintergrund. Zum Begriff „benachteiligte Jugendliche“<br />
Auch wenn repräsentative Daten zum freiwilligen <strong>Engagement</strong><br />
von Menschen mit Migrationshintergrund<br />
in Deutschland noch immer fehlen, so ist durch zahlreichen<br />
Studien und Praxisbeobachtungen bekannt,<br />
dass Menschen mit Migrationshintergrund im traditionellen<br />
Freiwilligensektor und damit auch in den Freiwilligendiensten<br />
deutlich unterrepräsentiert sind. Zugleich<br />
nehmen benachteiligte Jugendliche <strong>–</strong> unter denen solche<br />
mit Migrationshintergrund einen überproportionalen<br />
Anteil stellen <strong>–</strong> die Möglichkeit, einen Freiwilligendienst<br />
zu leisten, verhältnismäßig seltener wahr, als dies Jugendliche<br />
mit höheren Bildungsabschlüssen und aus<br />
sozial gesicherten Verhältnissen dies tun.<br />
Die folgenden Ausführungen geben einen knappen<br />
Überblick über<br />
• die Definition von „Migrationshintergrund“ sowie<br />
den Kenntnisstand über das freiwillige <strong>Engagement</strong><br />
von Menschen mit Migrationshintergrund;<br />
• den Benachteiligtenbegriff in der Kinder- und Jugendhilfe,<br />
der Arbeitsförderung sowie im Bundesprogramm<br />
„Freiwilligendienste machen kompetent“.<br />
Zum freiwilligen <strong>Engagement</strong> von Menschen<br />
mit Migrationshintergrund<br />
Menschen mit Migrationshintergrund<br />
Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund handelt<br />
es sich um Personen, die nach 1949 auf das<br />
heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland<br />
zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen<br />
Ausländerinnen und Ausländer und alle in<br />
Deutschland Geborene mit zumindest einem zugezogenen<br />
oder als Ausländerin bzw. Ausländer in<br />
Deutschland geborenen Elternteil. Der Migrationsstatus<br />
einer Person wird hierbei aus seinen persönlichen<br />
Merkmalen zu Zuzug, Einbürgerung und<br />
Staatsangehörigkeit sowie aus den entsprechenden<br />
Merkmalen seiner Eltern bestimmt.<br />
Dies bedeutet, dass in Deutschland geborene Deutsche<br />
einen Migrationshintergrund haben können, sei<br />
es als Kinder von Spätaussiedler(inne)n, als Kinder<br />
ausländischer Elternpaare oder als Deutsche mit einseitigem<br />
Migrationshintergrund. Dieser Migrationshintergrund<br />
leitet sich dann ausschließlich aus den Eigenschaften<br />
der Eltern ab. Die Betroffenen können diesen<br />
Migrationshintergrund aber nicht an ihre Nachkommen<br />
vererben. Dies ist dagegen bei den Zugewanderten<br />
und den in Deutschland geborenen Ausländer(inne)n<br />
der Fall. Nach den heutigen ausländerrechtlichen Vorschriften<br />
umfasst diese Definition somit üblicherweise<br />
Angehörige der 1. bis 3. Migrantengeneration.<br />
Bei den Personen mit Migrationshintergrund wird unterschieden<br />
zwischen Personen mit Migrationshintergrund<br />
im engeren Sinne (Zugewanderte und in Deutschland<br />
geborene Ausländerinnen und Ausländer) und solchen<br />
mit Migrationshintergrund im weiteren Sinne. 1<br />
Kenntnisstand zum freiwilligen <strong>Engagement</strong><br />
von Menschen mit Migrationshintergrund<br />
Die Datenlage über das Ausmaß und die Kontexte<br />
des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s von Menschen mit Migrationshintergrund,<br />
ihre Motivlagen zur Übernahme<br />
von <strong>Engagement</strong>aktivitäten und Barrieren gegenüber<br />
einem <strong>Engagement</strong> ist noch immer unzureichend.<br />
Neuere Zahlen einer Repräsentativbefragung (Halm/<br />
Sauer 2007) zeigen, dass annähernd zwei Drittel<br />
(64%) der türkeistämmigen Menschen mit Migrationshintergrund<br />
in Vereinen, Verbänden, Gruppen oder<br />
Initiativen aktiv sind, wobei eine höhere Bildung und<br />
eine längere Aufenthaltsdauer in Deutschland die Beteiligungsquote<br />
begünstigen. Dieser Anteil entspricht<br />
in etwa dem Aktivitätsgrad der deutschen Gesamtbevölkerung<br />
(70%).<br />
49
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Türkeistämmige Menschen mit Migrationshintergrund<br />
sind am ehesten in türkischen Vereinen und Gruppen<br />
aktiv (40%), vor allem im kulturellen, religiösen und im<br />
Freizeitbereich. Die Beteiligung in interkulturellen und<br />
deutschen Vereinigungen ist dann höher, wenn hier<br />
gemeinsame Anliegen und Interessen berührt werden,<br />
beispielsweise in der politischen und beruflichen<br />
Interessenvertretung, im Sport oder bei Aktivitäten<br />
am Wohnort.<br />
Über diese Beteiligung hinaus sind 10% der türkeistämmigen<br />
Menschen mit Migrationshintergrund auch<br />
freiwillig engagiert; in der deutschen Gesamtbevölkerung<br />
liegt dieser Anteil bei mehr als einem Drittel. Hier<br />
ist der Zusammenhang mit dem Bildungsgrad und<br />
dem beruflichen und finanziellen Hintergrund noch<br />
deutlicher als bei der Beteiligungsquote. Derart besser<br />
integrierte Menschen mit Migrationshintergrund<br />
engagieren sich häufiger als solche, die weniger gut<br />
in die Gesellschaft eingebunden sind.<br />
Insgesamt engagieren sich Menschen mit Migrationshintergrund<br />
eher informell in Bereichen der gegenseitigen<br />
Hilfe und Selbsthilfe und in ihren ethnischen<br />
Gemeinschaften. Das „Migrantin- bzw. Migrant-Sein“<br />
bestimmt dabei die Formen und Inhalte des <strong>Engagement</strong>s,<br />
die Bewältigung der eigenen Situation bzw. der<br />
Situation der eigenen Gruppe in der Migration steht im<br />
Mittelpunkt und ist Anlass dafür, sich zu engagieren. 2<br />
Die Sonderauswertung der Migrantenstichprobe des<br />
zweiten Freiwilligensurvey ergibt, dass sich Menschen<br />
mit Migrationshintergrund zu 61% außerhalb von Familie<br />
und Beruf aktiv in Vereinen, Gruppen, Organisationen<br />
oder Einrichtungen beteiligen. 23% der befragten<br />
Menschen mit Migrationshintergrund des Freiwilligensurveys<br />
sind freiwillig engagiert. Dabei ist zu beachten,<br />
dass in der Migrantenstichprobe des Freiwilligensurveys<br />
deutschsprachige und somit eher gut sozial eingebundene<br />
Menschen mit Migrationshintergrund vertreten<br />
sind. Die Durchführung der Telefoninterviews in<br />
deutscher Sprache führte dazu, dass sich vergleichsweise<br />
viele formal höher gebildete Menschen mit Migrationshintergrund<br />
an der Umfrage beteiligten. 3<br />
Der Evaluation von FSJ und FÖJ ist zu entnehmen,<br />
dass Jugendliche aus dem Ausland oder in Deutschland<br />
lebende junge Menschen mit ausländischer<br />
Herkunft einen Freiwilligendienst mit Anteilen von<br />
rd. 6 % im FSJ und rd. 7 % im FÖJ leisten. Nicht alle<br />
Träger betreuen solche Jugendlichen, im FSJ sind<br />
es 60 % der Träger und im FÖJ ist es etwas über<br />
die Hälfte der Träger. Etwa zur Hälfte sind die in Frage<br />
kommenden jungen Menschen aus dem Ausland<br />
im Rahmen eines Austauschprogramms extra für<br />
50<br />
den Freiwilligendienst nach Deutschland eingereist<br />
(„Incoming“). Rechnet man diese Gruppe ab, dann<br />
reduziert sich der Anteil von tatsächlich in Deutschland<br />
lebenden Ausländerinnen und Ausländern bzw.<br />
von Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf rd.<br />
3 % bzw. 4 % in den beiden Freiwilligendiensten.<br />
Damit sind sie stark unterrepräsentiert angesichts<br />
eines Gesamtanteils von rd. 13 % in der altersgleichen<br />
Bevölkerung. 4<br />
Zum Begriff „benachteiligte Jugendliche“<br />
Der Begriff „benachteiligte Jugendliche“ wird in der<br />
Jugendhilfe, Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe<br />
genutzt. Der Begriff wird vor allem durch die für die<br />
Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe relevanten<br />
Rechtsbereiche SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz)<br />
und SGB III (Arbeitsförderungsrecht) umschrieben<br />
<strong>–</strong> jedoch nicht exakt definiert.<br />
Der Benachteiligtenbegriff schließt neben einer individuellen<br />
Beeinträchtigung vor allem eine soziale Benachteiligung<br />
mit ein. Die Betroffenen gelten als sozial<br />
benachteiligt, wenn ihre Lebenschancen erheblich<br />
eingeschränkt werden, weil sie einer bestimmten<br />
Gruppe angehören. Sowohl das dritte als auch das<br />
achte SGB verbinden mit der sozialen Benachteiligung<br />
Rechtsansprüche.<br />
Kinder- und Jugendhilfe<br />
§ 13 SGB VIII bezeichnet als Zielgruppe der Jugendsozialarbeit<br />
individuell beeinträchtigte und sozial benachteiligte<br />
junge Menschen bis zum 27. Lebensjahr,<br />
die sozialpädagogische Hilfen angeboten bekommen<br />
sollen, die ihre schulische und berufliche Ausbildung,<br />
Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration<br />
fördern. Eine nähere Zielgruppenbestimmung<br />
erfolgt im Gesetz selbst nicht.<br />
Von einer sozialen Benachteiligung ist in der Regel<br />
immer dann auszugehen, wenn die altersmäßige<br />
gesellschaftliche Integration nicht wenigstens durchschnittlich<br />
gelungen ist, insbesondere bei Haupt- und<br />
Sonderschülern ohne Schulabschluss, Absolventen<br />
eines Berufsvorbereitungsjahres, Abbrechern von<br />
Maßnahmen der Arbeitsverwaltung, schulischer und<br />
beruflicher Bildungsgänge, Langzeitarbeitslosen,<br />
jungen Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen,<br />
jungen Menschen mit Sozialisationsdefiziten,<br />
jungen Menschen, die in besonderen sozialen<br />
Schwierigkeiten sind, bei ausländischen jungen Menschen<br />
und Aussiedlern (mit Sprachproblemen) auch<br />
dann, wenn ihre schulischen Qualifikationen höher
als der Hauptschulabschluss liegen; schließlich bei<br />
jungen Menschen mit misslungener familiärer Sozialisation<br />
und durch gesetzliche Rahmenbedingungen<br />
benachteiligte Mädchen und junge Frauen (http://<br />
www.good-practice.de/3349.php).<br />
Als individuelle Beeinträchtigungen können alle physischen<br />
und psychischen oder sonstigen persönlichen<br />
Beeinträchtigungen individueller Art, wie z. B. Abhängigkeit,<br />
Verschuldung, Delinquenz, Behinderung<br />
oder auch wirtschaftliche Benachteiligung betrachtet<br />
werden. Aber auch individuelle Beeinträchtigungen,<br />
insbesondere psychische, physische oder sonstige<br />
persönliche Beeinträchtigungen individueller Art,<br />
insbesondere Lernbeeinträchtigung, Lernstörung,<br />
-schwächen, Leistungsbeeinträchtigung, -störungen,<br />
-schwächen, Entwicklungsstörungen sind als solche<br />
einzuordnen. 5<br />
Arbeitsförderung<br />
In SGB III werden lernbeeinträchtigte und sozial<br />
benachteiligte Jugendliche als Zielgruppen berufsvorbereitender<br />
Bildungsmaßnahmen und bei der<br />
Förderung der Berufsausbildung genannt. In der Geschäftsanweisung<br />
für ausbildungsfördernde Maßnahmen<br />
(HEGA 05/2007, lfd. Nr. 7) wird die Zielgruppe<br />
nach § 242 „Außerbetriebliche Berufsausbildung“ wie<br />
folgt definiert:<br />
Zur förderungsfähigen Zielgruppe gehören Jugendliche<br />
und junge Erwachsene ohne berufliche Erstausbildung,<br />
die die allgemeine Schulpflicht erfüllt haben.<br />
Förderungsfähig sind lernbeeinträchtige und sozial<br />
benachteiligte Auszubildende, die auch mit ausbildungsbegleitenden<br />
Hilfen eine betrieblichen Ausbildung<br />
nicht erfolgreich absolvieren können.<br />
Eine Altersbeschränkung sieht das Gesetz nicht vor.<br />
Als lernbeeinträchtigt gelten Auszubildende<br />
• ohne Hauptschul- oder vergleichbaren Abschluss<br />
bei Beendigung der allgemeinen Schulpflicht,<br />
• aus Förderschulen für Lernbehinderte unabhängig<br />
vom erreichten Schulabschluss,<br />
• mit Hauptschul- oder vergleichbarem Abschluss<br />
bei Beendigung der allgemeinbildenden Schulpflicht<br />
ausnahmsweise nur dann, wenn erhebliche<br />
Bildungsdefizite vorliegen, die erwarten lassen,<br />
dass ohne Berufsausbildung in außerbetrieblichen<br />
Einrichtungen ein Berufsabschluss nicht zu erreichen<br />
ist. In diesen Fällen ist der Psychologische<br />
Dienst der Agentur für Arbeit einzuschalten.<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Als sozial benachteiligt gelten insbesondere Auszubildende<br />
unabhängig von dem erreichten allgemeinbildenden<br />
Schulabschluss,<br />
• die nach Feststellung des Psychologischen<br />
Dienstes verhaltensgestört oder wegen gravierender<br />
sozialer, persönlicher und/oder psychischer<br />
Probleme den Anforderungen einer betrieblichen<br />
Berufsausbildung nicht gewachsen sind,<br />
• die Teilleistungsschwächen (z. B. Legasthenie,<br />
Dyskalkulie, ADS) aufweisen,<br />
• für die Hilfe zur Erziehung im Sinne des Kinder- und<br />
Jugendhilfegesetzes (SGB VII) geleistet worden ist<br />
oder wird, wenn sie voraussichtlich in der Lage<br />
sein werden, die Anforderungen der regulären<br />
Maßnahmen nach § 241 SGB III zu erfüllen. Wenn<br />
aufgrund gravierender Probleme im Bereich der<br />
Erziehung bereits eine hohe Wahrscheinlichkeit<br />
dafür besteht, dass der Abschluss einer nach dem<br />
SGB III geförderten außerbetrieblichen Ausbildung<br />
von dem Jugendlichen nicht erreicht werden kann,<br />
sondern eine Ausbildung in einer speziellen Erziehungseinrichtung<br />
angezeigt ist, kann eine Förderung<br />
nach dem SGB III nicht erfolgen.<br />
Allein die Tatsache der Unterbringung in einem Erziehungsheim<br />
oder in einer sonstigen Form des<br />
betreuten Wohnens bewirkt keine Förderungsverpflichtung<br />
der Jugendhilfe für die Kosten, die für die<br />
Teilnahme an der Ausbildungsmaßnahme entstehen.<br />
Die Verpflichtung des Jugendhilfeträgers, während<br />
der Maßnahme weiterhin die Aufwendungen für betreutes<br />
Wohnen (§§ 27, 34, 41 SGB VIII) zu übernehmen,<br />
wird dadurch nicht berührt.<br />
Die Einzelfallentscheidung erfolgt auf der Grundlage<br />
der engen Zusammenarbeit zwischen öffentlichen<br />
Trägern der Jugendhilfe und der Agentur für Arbeit (§<br />
9 Abs. 3 SGB III, §§ 13, 81 SGB VIII sowie der „Empfehlungen<br />
zur Zusammenarbeit der Agenturen für<br />
Arbeit mit den Kommunen bei der beruflichen und sozialen<br />
Integration junger Menschen“ (RdErl 14/2000<br />
<strong>–</strong> Ziffer 4.4).<br />
Davon betroffen sind:<br />
• ehemals drogenabhängige Jugendliche,<br />
• straffällig gewordene Jugendliche,<br />
• jugendlicheSpätaussiedlermitSprachschwierigkeiten,<br />
• ausländische Jugendliche, die aufgrund von<br />
Sprachdefiziten oder bestehender sozialer Eingewöhnungsschwierigkeiten<br />
in einem fremden soziokulturellen<br />
Umfeld der besonderen Unterstützung<br />
bedürfen,<br />
• allein erziehende junge Frauen/Männer. 6<br />
51
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Bundesprogramm „Freiwilligendienste machen<br />
kompetent“<br />
Als Zielgruppe des Bundesprogramms werden ebenfalls<br />
„benachteiligte Jugendliche“ gefasst. Wie die<br />
Ergebnisse der Evaluation des FSJ und FÖJ zeigen,<br />
können vor allem Jugendliche aus bildungsfernen<br />
Schichten die im freiwilligen <strong>Engagement</strong> bestehenden<br />
Potenziale und Gelegenheiten für informelle Bildungsprozesse<br />
bisher kaum nutzen. Daher wurden<br />
im Bundesprogramm „Freiwilligendienste machen<br />
kompetent“ die Schulqualifikation bzw. der Bildungsstatus<br />
junger Menschen als entscheidender Faktor<br />
bzw. Indikator für Benachteiligung definiert. Das Programm<br />
richtet sich an junge Menschen aus bildungsarmen,<br />
sozial benachteiligten und partizipationsfernen<br />
Schichten mit einer niedrigen Schulqualifikation<br />
(kein Schulabschluss oder Hauptschulabschluss).<br />
Unter diesem Aspekt gehören zur Zielgruppe:<br />
• junge Menschen ohne oder mit niedrigen Schulabschlüssen,<br />
• junge Menschen, die nach der Schule keine Ausbildung<br />
begonnen oder ihre Ausbildung abgebrochen<br />
haben,<br />
• junge Menschen mit besonderen Problemlagen<br />
bzw. Förderbedarfen (z.B. Sprachvermögen, abweichendes<br />
Verhalten, Behinderungen) und<br />
• junge Menschen mit Migrationshintergrund. 7<br />
Anmerkungen<br />
1 Quelle: Statistisches Bundesamt: http://www.<br />
destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/<br />
Internet/DE/Content/Statistiken/Bevoelkerung/<br />
MigrationIntegration/Migrationshintergrund/<br />
Aktuell,templateId=renderPrint.psml.<br />
2 Quelle: Huth, Susanne (2009): Handlungsfeld<br />
Beteiligung, in: Mund, Petra; Theobald, Bernhard<br />
(Hg.): Kommunale Integration von Menschen mit<br />
Migrationshintergrund <strong>–</strong> ein Handbuch. Berlin. S.<br />
283-288.<br />
3 Quelle: Gensicke, Thomas; Picot, Sibylle; Geiss,<br />
Sabine (2006): Freiwilliges <strong>Engagement</strong> in<br />
Deutschland 1999 <strong>–</strong> 2004. Wiesbaden. S. 304f.<br />
4 Quelle: Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik<br />
e. V. (2006): Ergebnisse der Evaluation<br />
des FSJ und FÖJ - Systematische Evaluation<br />
der Erfahrungen mit den neuen Gesetzen zur<br />
„Förderung von einem freiwilligen sozialen Jahr<br />
bzw. einem freiwilligen ökologischen Jahr“ (FSJ-/<br />
FÖJ-Gesetze) im Auftrag des Bundesministeriums<br />
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, S. 236f.<br />
52<br />
5 Quelle: Good Practice Center - Förderung von<br />
Benachteiligten in der Berufsbildung (www.goodpractice.de).<br />
6 Quelle: http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-<br />
Content/A05-Berufl-Qualifizierung/A051-Jugendliche/Publikation/pdf/GA-BaE-07-2007.pdf.<br />
7 Quelle:http://www.fwd-kompetent.de/index.php?id=114.
Prof. Dr. Gisela Jakob<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Thesen: Überlegungen zu einem Freiwilligendienstestatusgesetz<br />
In der Fachdiskussion hat sich in den letzten Jahren<br />
ein Konsens herauskristallisiert, dass ein Freiwilligendienstestatusgesetz<br />
(im Folgenden FWDStG) für<br />
die Jugendfreiwilligendienste notwendig ist. Dies hätte<br />
den Vorteil einer Angleichung der verschiedenen<br />
Jugendfreiwilligendienste, wie sie derzeit unter der<br />
Federführung verschiedener Ministerien umgesetzt<br />
werden. Darüber hinaus könnte eine solche gesetzliche<br />
Regelung, die den Status von Jugendfreiwilligendiensten<br />
bestimmt, steuerrechtliche Klarheit<br />
schaffen. Nicht zuletzt ist eine solche Regelung wichtig,<br />
um den Status der Freiwilligendienste im Ausland<br />
klarzustellen.<br />
Problematisch erscheint mir eine solche vereinheitlichende<br />
Regelung allerdings für die neuen „Freiwilligendienste<br />
aller Generationen“ <strong>–</strong> und dies aus verschiedenen<br />
Gründen:<br />
Bislang gibt es in der Fachöffentlichkeit keinen Konsens<br />
über die Subsumtion der „Freiwilligendienste<br />
aller Generationen“ unter das Dach „Freiwilligendienste“.<br />
Dies macht sich derzeit an der Auseinandersetzung<br />
über die zu leistende Mindeststundenzahl<br />
fest. Die Debatte darüber, ob ein Freiwilligendienst<br />
nun mindestens 8 oder 15 Stunden umfassen muss,<br />
ist nur ein Symptom dafür, dass die Unterordnung der<br />
freiwilligen Tätigkeiten in dem generationsbezogenen<br />
Programm unter das Label Freiwilligendienste nicht<br />
überzeugt.<br />
Es fehlt bislang eine fachlich tragfähige Bestimmung,<br />
was die „Freiwilligendienste aller Generationen“<br />
als Freiwilligendienste kennzeichnet. Während<br />
dies für die Jugendfreiwilligendienste mit dem<br />
Fokus auf Bildungserfahrungen und bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> in einer lebensgeschichtlichen<br />
Übergangsphase geklärt ist, ist bis heute offen, was<br />
denn nun den inhaltlichen Kern der generationsof-<br />
fenen Freiwilligendienste ausmachen soll und <strong>–</strong> vor<br />
allem <strong>–</strong> was sie von regulären Formen freiwilligen<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s unterscheidet. Der<br />
Hinweis auf die Begleitung und auf Bildungserfahrungen<br />
der „neuen“ Freiwilligendienstler trägt nicht.<br />
In vielen Formen bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s,<br />
und dies reicht von den Hospizvereinen und AIDS-<br />
Initiativen bis zu den Sportvereinen und Freiwilligen<br />
Feuerwehren, sind Bildungsprozesse immanenter<br />
Bestandteil. Dabei wird fachliches Wissen ebenso<br />
erworben wie soziale, kommunikative und reflexive<br />
Kompetenzen. Bildung ist demnach kein exklusives<br />
Element für Freiwilligendienste aller Generationen.<br />
Hinzu kommt bei den generationsoffenen Freiwilligendiensten,<br />
dass unklar ist, was <strong>–</strong> neben der Vermittlung<br />
fachlicher Kenntnisse für das <strong>Engagement</strong><br />
<strong>–</strong> die Zielsetzung von Bildungsprozessen sein soll.<br />
Wozu soll eine ein- bis zwei Mal im Monat stattfindende<br />
eintägige Qualifizierung in einer max. sechsmonatigen<br />
freiwilligen Tätigkeit, die danach i. d. R.<br />
nicht fortgeführt wird, dienen?<br />
Die Kriterien der Verbindlichkeit und der zeitlichen<br />
Anforderungen tragen ebenfalls nicht als besondere<br />
Kennzeichnung von Freiwilligendiensten aller<br />
Generationen. Auch andere Formen freiwilligen<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s sind hoch verbindlich<br />
angelegt, und nicht selten sind engagierte<br />
Bürgerinnen und Bürger mit einem hohen Stundenkontingent<br />
aktiv.<br />
Bleibt als letztes Kriterium noch der Hinweis auf Menschen<br />
in Übergangsphasen, die sich in einem Freiwilligendienst<br />
aller Generationen engagieren. Aus<br />
meiner Sicht liegen dafür keine aussagekräftigen<br />
Erkenntnisse vor. Dies mag auf einen Teil der Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmer zutreffen. Erwerbslose<br />
oder Rentnerinnen und Rentner befinden sich allerdings<br />
nicht per se in einer Statuspassage.<br />
53
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Resümee: In vielen Projekten, die derzeit unter dem<br />
Dach der „Freiwilligendienste aller Generationen“<br />
laufen, wird <strong>–</strong> abhängig von den lokalen Akteuren<br />
<strong>–</strong> wertvolle Arbeit geleistet. Allerdings gibt es keine<br />
tragfähige fachliche Begründung für die Kennzeichnung<br />
dieser Aktivitäten als „Freiwilligendienste aller<br />
Generationen“. Die Tätigkeiten sind Varianten freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong>s, die aufgrund der Vorgaben des<br />
Programms sehr stark verregelt sind. Damit sind wiederum<br />
zahlreiche Folgeprobleme (Nähe zu Erwerbsarbeit,<br />
pauschalierte Aufwandsentschädigungen, Sozialversicherungspflicht<br />
etc.) verbunden.<br />
Neben der mangelnden fachlichen Begründung gibt<br />
es weitere Argumente gegen eine noch stärkere<br />
rechtliche Kodifizierung dieser Freiwilligendienste<br />
aller Generationen: Damit würde eine besondere<br />
Variante freiwilligen <strong>Engagement</strong>s festgeschrieben<br />
und staatlich gefördert, die stark verregelt und mit<br />
einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden<br />
ist. Statt eines solchen standardisierten Modells<br />
müsste es derzeit vielmehr darum gehen, ein Modell<br />
staatlicher Unterstützung lokaler <strong>Engagement</strong>förderung<br />
zu entwickeln, dass den Kommunen und<br />
den Akteurinnen und Akteuren vor Ort Spielräume<br />
lässt für eine Entwicklung, die den lokalen Gegebenheiten<br />
angemessen ist (vgl. dazu das Gutachten<br />
von Jakob/Röbke 2010 für das Dialogforum<br />
„Infrastrukturförderung“).<br />
Zum weiteren Vorgehen bezüglich eines Freiwilligendienstestatusgesetzes:<br />
Aus meiner Sicht macht es Sinn, beim weiteren gesetzgeberischen<br />
Vorgehen die Regelungen für die Jugendfreiwilligendienste<br />
von Regelungen zu anderen<br />
Freiwilligendiensten zu trennen. Da ein Freiwilligendienstestatusgesetz<br />
für die Jugendfreiwilligendienste<br />
weitgehend unstrittig ist und z. B. die Situation der<br />
Auslandsdienste verbessern würde, wäre eine zeitnahe<br />
gesetzliche „Lösung“ im Sinne eines solchen<br />
Gesetzes angemessen.<br />
Von (weiteren) gesetzlichen Regelungen zu den Freiwilligendiensten<br />
aller Generationen würde ich derzeit<br />
entschieden abraten, da es hier noch viele ungeklärte<br />
Fragen gibt:<br />
• So steht eine sorgfältige Evaluation der (neuen) generationsoffenen<br />
Freiwilligendienste, in der diese<br />
im Kontext des jeweiligen lokalen Umfeldes in den<br />
Blick genommen werden, noch aus.<br />
• Des weiteren sind die vorgesehenen Regelungen<br />
für diese Freiwilligendienste in der Fachöffentlichkeit<br />
und bei den verschiedenen Akteurinnen und<br />
54<br />
Akteuren, die mit <strong>Engagement</strong>förderung befasst<br />
sind, höchst umstritten.<br />
• Vieles spricht dafür, die Freiwilligendienste aller<br />
Generationen im Kontext der Debatte um eine<br />
Stärkung der lokalen <strong>Engagement</strong>förderung durch<br />
Bund und Länder zu diskutieren. Dabei könnten<br />
diese Freiwilligendienste eine Variante bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s (neben vielen anderen)<br />
sein. Bei einer staatlichen Unterstützung lokaler<br />
<strong>Engagement</strong>förderung ginge es dann allerdings<br />
nicht um strikte Vorgaben und Detailregelungen,<br />
sondern damit sollten die Kommunen (und die zivilgesellschaftlichen<br />
Akteure vor Ort) in die Lage<br />
versetzt werden, einen engagementförderlichen<br />
und -<strong>ermöglichen</strong>den Rahmen zu schaffen.
Christiane Richter<br />
Dialogforum Weiterentwicklung der Freiwilligendienste<br />
Thesen: Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für<br />
Seniorinnen und Senioren im Freiwilligendienst<br />
Die Zahlen der Bevölkerungsstatistik für die Bundesrepublik<br />
Deutschland weisen eindeutig den demografischen<br />
Wandel aus. Der demografische Wandel<br />
zwingt uns, gesellschaftliche Aufgaben völlig neu zu<br />
denken. Wir können es uns für die Zukunft nicht leisten,<br />
auf die Ressourcen der Generation in der dritten<br />
Lebensphase zu verzichten. Vielmehr sollten wir bei<br />
der Gestaltung des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
und insbesondere der Freiwilligendienste die Realitäten<br />
und Möglichkeiten dieser Menschen in unserer<br />
Gesellschaft berücksichtigen.<br />
Erfahrungen in diesem Bereich sind inzwischen<br />
durch den generationsübergreifenden Freiwilligendienst<br />
in den Jahren 2005 bis 2008 gesammelt<br />
worden und vom Zentrum für Zivilgesellschaftliche<br />
Entwicklung (ZZE) evaluiert worden. 1 Hier kann man<br />
ablesen, dass erhebliche Zuwachsraten im <strong>Engagement</strong><br />
zu erreichen sind, wenn die Rahmenbedingungen<br />
stimmen.<br />
Notwendigerweise sollten diese Zahlen gesteigert<br />
werden, da in der Generation der dritten Lebensphase<br />
noch erhebliche Reserven schlummern. Zwei Faktoren<br />
sind entscheidend, um dieses Ziel zu erreichen:<br />
1. Fragen der Motivation,<br />
2. stimmige Rahmenbedingungen.<br />
Bei der Frage der Motivation wird immer wieder betont,<br />
dass Seniorinnen und Senioren einer verbindlichen,<br />
verpflichtenden Aufgabe neben dem Aspekt<br />
des lebenslangen Lernens den Vorrang geben.<br />
Die Bereitschaft sich zu engagieren hängt auch maßgeblich<br />
davon ab, welcher zeitliche Aufwand je Woche<br />
gefordert wird. Eine Verpflichtung von wöchentlich<br />
zwischen 5 bis zu höchstens 8 Stunden wird<br />
erfahrungsgemäß als oberste Grenze im Rahmen<br />
einer Verpflichtungserklärung akzeptiert.<br />
Dagegen wird eine Begrenzung auf 24 Monate nicht<br />
akzeptiert, da die Seniorinnen und Senioren, wenn<br />
sie die ihnen angemessene Aufgabe für das letzte<br />
Drittel ihres Lebens gefunden haben, ungern ein<br />
so genanntes <strong>Engagement</strong>hopping wie die jüngeren<br />
Menschen anstreben.<br />
Bei der Konzeption eines Freiwilligenstatusgesetzes<br />
sind daher aus den oben genannten Gründen die<br />
Möglichkeiten und Bedürfnisse der älteren Generation<br />
im Sinne eines Gesetzes für alle Generationen<br />
angemessen zu berücksichtigen.<br />
Seniorpartner in School e.V. (SiS) hat seit 2001<br />
Erfahrungen in der Umsetzung eines Freiwilligendienstes<br />
sammeln können. Es ist gelungen, in diesem<br />
Zeitraum das Konzept von SiS in insgesamt<br />
9 Bundesländern einzuführen und inzwischen 800<br />
Seniorpartner als Mediatoren in den Schulen bundesweit<br />
einzusetzen.<br />
Anmerkung<br />
1 Zentrum für Zivilgesellschaftliche Entwicklung,<br />
Die wissenschaftliche Begleitung des Bundesmodellprogramms<br />
Generationenübergreifende<br />
Freiwilligendienste, durchgeführt im Auftrag des<br />
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen<br />
und Jugend. Abschlußbericht. September 2008. In:<br />
http://www.freiwilligendienste-aller-generationen.<br />
de/fileadmin/inhalt_dokumente/generationsuebergreifende-freiwilligendienste-080915.pdf.<br />
55
• Eva-Maria Antz, Stiftung Mitarbeit<br />
• Katarina Batarilo, Centrum für soziale Investitionen<br />
und Innovationen (CSI)<br />
• Dr. Jeannette Behringer, Landeszentrale für politische<br />
Bildung Baden-Württemberg<br />
• Dr. Claire Bortfeldt, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
• Mara Dehmer, Deutscher Verein für öffentliche und<br />
private Fürsorge<br />
• Dr. Karin Fehres, Deutscher Olympischer Sportbund<br />
• Jörg Freese, Deutscher Landkreistag<br />
• Dr. Thorsten Geißler, Bundesministerium für Bildung<br />
und Forschung<br />
• Eva Geithner, Deutsche Sportjugend<br />
• SilkeGerstenberger,StiftungderDeutschenWirtschaft<br />
• Daniel Grein, Deutscher Bundesjugendring<br />
• Ramona Hartmann, Freiwilligenagentur Cottbus<br />
• Birger Hartnuß, Staatskanzlei Rheinland-Pfalz<br />
• Sigrid Meinhold-Henschel, Bertelsmann Stiftung<br />
• Dagmar Hesse, Bundesministerium des Inneren<br />
• Rainer Hub, Diakonisches Werk der Evangelischen<br />
Kirche Deutschland<br />
• Reinhild Hugenroth, Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik<br />
• Thomas Kegel, Akademie für Ehrenamtlichkeit<br />
Deutschland<br />
• PD Dr. Ansgar Klein, Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong><br />
• Michael Kriegel, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband<br />
• Sophia Lehmbrock, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
• Jens Maedler, Bundesvereinigung Kulturelle Kinder-<br />
und Jugendbildung<br />
• Nadine Mersch, Deutscher Bundesjugendring<br />
• Dr. Georg Mildenberger, Centrum für soziale Investitionen<br />
und Innovationen (CSI)<br />
Dialogforum „Bildung<br />
und bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong>“<br />
Teilnehmerinnen und Teilnehmer des<br />
Dialogforums am 21. April 2010 und des<br />
vorbereitenden Workshops am 25. März 2010:<br />
• Jörg Miller, Universität Duisburg Essen, Zentrum<br />
für gesellschaftliches Lernen und soziale Verantwortung<br />
• Annette Mörchen, Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft<br />
für Erwachsenenbildung<br />
• Prof. Dr. Chantal Munsch, Universität Siegen, Fachbereich<br />
Erziehungswissenschaft und Psychologie<br />
• Prof. Dr. Siglinde Naumann, Fachhochschule Nordhausen<br />
• Prof. Dr. Thomas Olk, Martin-Luther-Universität<br />
Halle-Wittenberg<br />
• Bianka Pergande, Deutsche Kinder- und Jugendstiftung<br />
• Christiane Richter, Bundesverband Seniorpartner<br />
in School<br />
• Sabine Rüger, Bundesministerium für Familie, Senioren,<br />
Frauen und Jugend<br />
• Carola Schaaf-Derichs, Landesfreiwilligenagentur<br />
Berlin<br />
• Prof. Dr. Ortfried Schäffter, Humboldt-Universität<br />
zu Berlin <strong>–</strong> Institut für Erziehungswissenschaften<br />
• Yvonne Schütz, Städtetag Baden-Württemberg<br />
• Dr. Hans Th. Sendler, EUSENDOR<br />
• Axel Stammberger, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
• Tina Stampfl, Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik<br />
• Dr. Annette Steinich, Bundesministerium für Bildung<br />
und Forschung<br />
• Bernhard Suda, Diözesan-Caritasverband für das<br />
Erzbistum Köln e.V<br />
• Gottfried Wolf, Ministerium für Arbeit und Sozialordnung,<br />
Familie und Senioren des Landes Baden-<br />
Württemberg<br />
• Brigitta Wortmann, BP Europa SE<br />
• Dr. Gertrud Zimmermann, Bundesministerium für<br />
Familie, Senioren, Frauen und Jugend
<strong>Engagement</strong> <strong>–</strong> Möglichkeiten <strong>–</strong> Bilden<br />
Bereits die Enquete-Kommission des Deutschen<br />
Bundestages zur Zukunft des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s hat festgehalten, dass Menschen im<br />
<strong>Engagement</strong> wichtige soziale und personale Kompetenzen<br />
erwerben, die das Lernen in Schule und<br />
Hochschule ergänzen können. Doch kommt die Bereitschaft<br />
und Fähigkeit sich zu engagieren nicht von<br />
selbst. Sie müssen erworben und gefördert werden,<br />
brauchen Anregungen, Freiräume und Vorbilder.<br />
Mit diesen Fragen befassten sich am 21. April 2010<br />
die 32 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Dialogforums<br />
„Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>“.<br />
Ziel des Forums war es, bildungs- und engagementpolitische<br />
Fachdebatten zusammenzutragen<br />
und so zu verdichten, dass sie als Handlungsempfehlungen<br />
für eine nationale <strong>Engagement</strong>strategie dienen<br />
können.<br />
Um dem facettenreichen Thema Bildung und <strong>Engagement</strong><br />
gerecht zu werden, wurden drei Arbeitsgruppen<br />
gebildet, die sich mit dem Verhältnis von Bildungseinrichtungen<br />
und <strong>Engagement</strong>, mit Qualifizierung und<br />
Weiterbildung für Hauptamtliche und freiwillig Engagierte<br />
in zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie<br />
mit der Frage der Anerkennung der im <strong>Engagement</strong><br />
erworbenen Kompetenzen befassten.<br />
Die Debatte um die Entwicklung von Bildungseinrichtungen<br />
hatte zu berücksichtigen, dass Bildungspolitik<br />
in Deutschland Ländersache ist. Daher richteten sich<br />
die Empfehlungen vor allem auf ein Bundesmodellprogramm<br />
zur Förderung von <strong>Engagement</strong> und Partizipation<br />
in Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen<br />
und Weiterbildungseinrichtungen sowie auf die Weiterentwicklung<br />
von Einzelprogrammen der Ressorts<br />
der Bundesregierung. Die Abstimmung zwischen<br />
Bund und Ländern ist vor allem dann entscheidend,<br />
wenn die Vernetzung von Bildungseinrichtungen mit<br />
bürgergesellschaftlichen Akteuren auf lokaler Ebene<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Bericht über das Dialogforum „Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>“ am 21. April 2010 in<br />
der Humboldt-Viadrina-School of Governance, Berlin<br />
unterstützt werden soll <strong>–</strong> hier knüpfte das Dialogforum<br />
an die bildungspolitische Debatte um lokale Bildungsbündnisse<br />
an.<br />
Weiterbildung- und Qualifizierung sind essentiell für<br />
eine gute Zusammenarbeit zwischen freiwillig Engagierten<br />
und hauptamtlich Tätigen. Deshalb hat das<br />
Dialogforum empfohlen, die Förderung des Bundes in<br />
diesem Bereich stärker auf verschiedene Zielgruppen<br />
und berufsbiografische Verläufe auszurichten. Dies<br />
setzt eine strategische Förderung und Abstimmung<br />
zwischen den Ressorts der Bundesregierung, aber<br />
auch klarere Informationen über bestehende Angebote<br />
voraus.<br />
Schließlich ging es bei der Diskussion um die Anerkennung<br />
von Kompetenzen aus dem <strong>Engagement</strong><br />
darum, dass Kompetenznachweise ein nützliches<br />
Mittel zur Anerkennung solcher Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />
sein können. Neben der Verwertbarkeit für<br />
die berufliche Laufbahn ging es jedoch vor allem darum,<br />
Standards für die Qualität von Kompetenznachweisen<br />
zu definieren.<br />
Am Ende wurde festgehalten, dass es auf vielen Feldern<br />
noch Forschungsbedarf gibt. Darüber, was bürgerschaftliche<br />
Kompetenzen sind und wie und wo sie<br />
erworben werden, weiß man beispielsweise noch zu<br />
wenig. Weiterführende Forschungsfragen zum Zusammenhang<br />
von Bildung und bürgerschaftlichem<br />
<strong>Engagement</strong> ergänzen daher die Ergebnisse des<br />
Dialogforums.<br />
57
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Ergebnisse<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> trägt entscheidend zur<br />
Verbesserung des Bildungs- und Qualifikationsniveaus<br />
in Deutschland bei, benötigt dafür aber lern- und engagementförderliche<br />
Rahmenbedingungen. Der Zugang zum<br />
<strong>Engagement</strong> ist allerdings sozial ungleich verteilt. Ziel<br />
muss deshalb sein, alle Bevölkerungsgruppen unabhängig<br />
von Herkunft und Bildungsstand zum bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong> zu ermutigen und zu befähigen.<br />
1. Öffnung von Bildungseinrichtungen für<br />
bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Bildungseinrichtungen wie Kindertagesstätten, Schulen<br />
und Hochschulen sowie Institutionen der Erwachsenenund<br />
Weiterbildung wie z. B. die Volkshochschulen und<br />
Einrichtungen der konfessionellen Weiterbildung, aber<br />
auch andere Akteure, die das informelle Lernen pflegen<br />
wie z. B. Verbände, Vereine, Initiativen und Angebote<br />
der Kinder- und Jugendhilfe, sind wichtige Partner<br />
für die Förderung bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s, da<br />
sie Menschen in allen Lebensphasen und Lebenslagen<br />
begleiten und fördern. Sie sollen dazu aufgefordert und<br />
darin unterstützt werden, <strong>Engagement</strong>, Partizipation und<br />
Demokratie in ihr Leitbild und ihre Praxis zu integrieren.<br />
Bildungseinrichtungen und Bildungsinstitutionen können<br />
bei der Erfüllung ihres Auftrags durch bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> bzw. zivilgesellschaftliche<br />
Akteure wirksam unterstützt werden. Die Einrichtungen<br />
sollten ermutigt und befähigt werden, Kooperationen<br />
mit bürgerschaftlichen Akteuren einzugehen.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Eine demokratische, kooperative und beteiligungsfördernde<br />
Organisationskultur ermöglicht es Lernenden,<br />
sich zu engagieren und ihr Lernumfeld mitzu<strong>gestalten</strong><br />
58<br />
(z. B. durch Service Learning). In Abstimmung zwischen<br />
Bund, Ländern und Kommunen sollten dafür<br />
geeignete Angebote entwickelt werden.<br />
Bildungseinrichtungen und Akteure aus allen gesellschaftlichen<br />
Bereichen sollen motiviert und befähigt<br />
werden, Bildungsbündnisse und Vernetzungen einzugehen,<br />
um Lernen in verschiedenen <strong>Engagement</strong>feldern<br />
zu <strong>ermöglichen</strong>.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Bundesregierung sollte ein Modellprogramm initiieren,<br />
das Möglichkeiten zur Stärkung von <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation in Kindertagesstätten, Schulen,<br />
Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen<br />
aufzeigt. Dabei kann an die Erfahrungen z. B. aus<br />
dem Programm der Bund-Länder-Kommission „Demokratie<br />
lernen & leben“ und anderer erfolgreicher<br />
Programme wie z. B. die Förderung von Netzwerken<br />
von Eltern mit Migrationshintergrund in verschiedenen<br />
Bundesländern angeknüpft werden.<br />
Es sollte u. a. auf Basis einer Bestandsanalyse geprüft<br />
werden, wie in Kooperation mit den Ländern<br />
kommunalpolitische und andere Akteure vor Ort bei<br />
der Vernetzung und Förderung der Zusammenarbeit<br />
von Bildungseinrichtungen und zivilgesellschaftlichen<br />
Akteuren unterstützt werden können.<br />
Durch die Ressorts der Bundesregierung sollte jeweils<br />
geprüft werden, inwieweit zielgruppen- und<br />
themenspezifische Programme entwickelt werden<br />
können (z. B. Qualifizierungsmaßnahmen und andere<br />
Formen der qualifizierenden Entwicklungsbegleitung<br />
für Bildungseinrichtungen).<br />
Das Thema <strong>Engagement</strong> und <strong>Engagement</strong>förderung<br />
sollte in den Bildungsbericht der Bundesregierung und<br />
das nationale Bildungspanel aufgenommen werden.
2. Qualifizierung und Weiterbildung für Hauptamtliche<br />
und freiwillig Engagierte<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Bedarfsorientierte professionelle Begleitung soll<br />
bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> unterstützen und<br />
fördern. Daher müssen Aus-, Fort- und Weiterbildung<br />
von Hauptamtlichen und freiwillig Engagierten<br />
Bestandteil einer <strong>Engagement</strong>strategie des Bundes<br />
sein. Sie sollten sowohl dem Bedarf der Hauptamtlichen<br />
(Berufsbilder, organisationales Lernen, Freiwilligenmanagement)<br />
als auch der freiwillig Engagierten<br />
(optionales Lernen je nach Tätigkeitsbereich, Freiwilligenmanagement)<br />
gerecht werden.<br />
Es besteht bereits eine Vielfalt an Bildungs- und Qualifizierungsangeboten,<br />
die sich auf unterschiedliche<br />
Zielgruppen und Themenfelder beziehen. Dies führt<br />
zu einer Unübersichtlichkeit der Angebote.<br />
Oftmals fehlt ein gemeinsames Verständnis über<br />
den Eigensinn des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s und die<br />
darauf bezogenen Angebote „zivilgesellschaftlichen<br />
Lernens“ (z. B. politische Bildung, Demokratiebildung,<br />
lebenslanges Lernen).<br />
In zahlreichen Organisationen fehlt ein Verständnis<br />
für eine integrative Verantwortungskultur (Haupt- und<br />
Ehrenamt verzahnen) und für eine engagementfreundliche<br />
Lernkultur aller dort Tätigen.<br />
Übersichtlichkeit und ein gemeinsames Verständnis<br />
sind notwendig für die bedarfsgerechte Weiterentwicklung<br />
der Bildungs- und Qualifizierungsangebote<br />
und ihrer Standards.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Für Organisationen sollten Anreize geschaffen werden,<br />
die Zusammenarbeit mit freiwillig Engagierten in<br />
ihr Leitbild integrieren.<br />
Für eine systematische Weiterbildung, Qualifizierung<br />
und Begleitung von freiwillig Engagierten müssen<br />
verlässliche und transparente <strong>Strukturen</strong> verstetigt,<br />
neue geschaffen und bekannt gemacht werden.<br />
Bestimmte Bevölkerungsgruppen wie z. B. ältere<br />
Bürgerinnen und Bürger, bildungsbenachteiligte Menschen<br />
und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte<br />
sollten einen besseren Zugang zu lebenslangem<br />
Lernen und Qualifizierungsmöglichkeiten im <strong>Engagement</strong><br />
erhalten. Dazu zählen neue Zugangswege und<br />
passgenaue Bildungsangebote.<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Bildungs- und Qualifizierungsangebote sollten sich<br />
stärker an biographischen Schnittstellen (Übergänge<br />
zwischen Lebensphasen) orientieren. Um entsprechende<br />
Angebote zu schaffen, bedarf es weiterführender<br />
Forschungsvorhaben und Konzepte.<br />
Hauptamtlich Tätige in Verwaltung, Politik, Bildungseinrichtungen<br />
und zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />
müssen für den Umgang mit freiwillig<br />
Engagierten qualifiziert werden. Dies sollte Teil des<br />
Berufsbildes und insoweit Bestandteil der Aus-, Fortund<br />
Weiterbildung sein.<br />
Es ist der Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamt<br />
förderlich<br />
• gemeinsam Qualifizierungsmaßnahmen zu durchlaufen,<br />
• durch Freiwilligenmanagement die Rollen Hauptamtlicher<br />
und freiwillig Engagierter zu definieren<br />
und<br />
• bei der Organisationsentwicklung auf integrierte<br />
„Personalführung“ hinzuwirken.<br />
Hier gilt es, erfolgreiche Modelle weiter zu fördern, neue<br />
zu entwickeln und gute Erfahrungen zu übertragen.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
(Lösungswege)<br />
Die von den Ressorts der Bundesregierung vorangetriebenen<br />
Projekte zur engagementbezogenen<br />
Qualifizierung und Weiterbildung sollten in einer Bestandsaufnahme<br />
erfasst, evaluiert und weiterentwickelt<br />
werden. Dies sollte in eine ressortübergreifende<br />
Vernetzung münden.<br />
Bestehende Angebote der Aus-, Fort- und Weiterbildung<br />
sollten bundesweit und online-gestützt transparenter<br />
und besser erreichbar gemacht werden.<br />
Es sollte geprüft werden, inwieweit Organisationen<br />
durch ein <strong>Engagement</strong>-Audit zertifiziert werden können.<br />
3. Anerkennung der im <strong>Engagement</strong><br />
erworbenen Kompetenzen<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
<strong>Engagement</strong> braucht Anerkennung. Die Bildungswirkungen<br />
des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s sollten<br />
gezielt ins öffentliche Bewusstsein gehoben werden.<br />
Es sollte sichtbar werden, dass die vielfältigen<br />
Formen freiwilligen <strong>Engagement</strong>s zur Stärkung<br />
59
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
personaler, sozialer, kultureller, fachlicher und methodischer<br />
Kompetenzen beitragen. Diese sind für<br />
die freiwillig Engagierten und ihre gesellschaftliche<br />
Teilhabe, für den Zugang zu Bildungseinrichtungen<br />
sowie für den (Wieder-) Eintritt in das Erwerbsleben<br />
wichtig, werden aber noch nicht hinreichend<br />
berücksichtigt.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Im bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong> erworbene<br />
Kompetenzen sollten eine stärkere Wertschätzung<br />
erfahren, indem sie im formalen Bildungssystem und<br />
in der Arbeitswelt berücksichtigt sowie in der öffentlichen<br />
Wahrnehmung anerkannt werden. Es sollten<br />
vergleichbare und aussagekräftige Nachweisstrukturen<br />
(z. B. Kompetenznachweise und Kompetenzbilanzen)<br />
geschaffen werden, die dies unterstützen.<br />
Dabei sollte auf bestehende <strong>Strukturen</strong> aufgebaut<br />
werden.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
In Abstimmung mit den Bundesländern, den zivilgesellschaftlichen<br />
Organisationen und der Wirtschaft<br />
sollte die Bundesregierung Mindeststandards für<br />
Kompetenznachweise entwickeln, die auf bestehenden<br />
Kompetenznachweisen aufbauen und für Unternehmen<br />
(Personalentscheidungen) und Bildungseinrichtungen<br />
aussagekräftig sind. Insbesondere sollte<br />
geprüft werden, wie die Kompetenznachweise für den<br />
Zugang zu Studien- und Ausbildungsplätzen berücksichtigt<br />
werden können. Die im <strong>Engagement</strong> erworbenen<br />
Kompetenzen könnten die formalen Bildungsabschlüsse<br />
ergänzen. Arbeitgeber (Unternehmen,<br />
Verwaltung und Organisationen) sollten dazu angeregt<br />
werden, die im bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong><br />
erworbenen Kompetenzen in ihrer Personalverantwortung<br />
anzuerkennen.<br />
Die Mindeststandards sollten die verschiedenen <strong>Engagement</strong>formen<br />
(Dauer, Umfang und Art des <strong>Engagement</strong>s,<br />
Organisationsform) und die Bedürfnisse<br />
der freiwillig Engagierten in verschiedenen Lebensphasen<br />
(Schüler, Erwerbslose, Seniorinnen und Senioren)<br />
sowie Prozessqualitäten (z. B. Transparenz,<br />
Partizipation) berücksichtigen.<br />
Da es bereits eine Vielzahl von Kompetenznachweisen<br />
und Kompetenzerfassungsverfahren gibt, sollte<br />
ein Überblick über die bestehenden Ansätze geschaffen<br />
und ihre Bekanntheit gesteigert werden.<br />
Der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) dient<br />
als Referenzrahmen für die europaweite Vergleich-<br />
60<br />
barkeit von Qualifikationen. Die im <strong>Engagement</strong> erworbenen<br />
Kompetenzen sollten wie beim EQR auch<br />
bei der Entwicklung des Deutschen Qualifikationsrahmens<br />
(DQR) einbezogen werden.<br />
Die Bundesregierung wird gebeten zu prüfen, wie<br />
Unternehmen dafür gewonnen werden können, Mitarbeitern<br />
Zeiträume für die engagementbezogene Qualifizierung<br />
zu schaffen. Darüber hinaus sollte geprüft<br />
werden, wie Bund und Länder die Qualifizierung für<br />
das bürgerschaftliche <strong>Engagement</strong> fördern können,<br />
indem sie sie bei Sonderurlaub bzw. Freistellungsregelungen<br />
berücksichtigen.<br />
4. Forschungsbedarf, Datenerhebung und<br />
Berichterstattung<br />
Der Zusammenhang zwischen Bildung und bürgerschaftlichem<br />
<strong>Engagement</strong> ist bislang nicht hinreichend<br />
erforscht. Zudem muss die Datenerhebung<br />
und Berichterstattung zu den Themen Bildung und<br />
bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> grundsätzlich besser<br />
miteinander verknüpft werden.<br />
Die Bundesregierung sollte in Kooperation mit der<br />
Wissenschaft eine Forschungsagenda zum Zusammenhang<br />
von Bildung und bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong><br />
entwickeln. Insbesondere sind dabei folgende<br />
Punkte zentral:<br />
a) Es besteht Forschungsbedarf zur Frage, welche<br />
Kompetenzen in den verschiedenen Formen<br />
und Ausprägungen des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
erworben werden. Hierzu zählt beispielsweise<br />
auch das <strong>Engagement</strong> mittels elektronischer<br />
Medien. Diese Frage ist wichtig, wenn<br />
beispielsweise gezielte Angebote an engagementferne<br />
Zielgruppen gerichtet werden sollen. Im Zusammenhang<br />
mit diesen Zielgruppen geht es nicht<br />
nur um den Erwerb von beruflichen Kompetenzen,<br />
die formale Bildungsangebote ergänzen, sondern<br />
auch um das „zivilgesellschaftliche Lernen“ demokratischer<br />
Denk- und Handlungsweisen.<br />
b) Wie müssen Bildungs- und Qualifizierungsangebote<br />
für engagementferne und/oder bildungsbenachteiligte<br />
Gruppen gestaltet werden? In diesem<br />
Zusammenhang ist auch die Entwicklung<br />
von spezifischen Weiterbildungs- und Beratungsangeboten<br />
für Multiplikatoren und Menschen in<br />
pädagogischen Berufen (Lehrer, Kursleiter von<br />
Weiterbildungseinrichtungen etc.) ein wichtiger<br />
Gegenstand der <strong>Engagement</strong>forschung.<br />
c) Der Zugang zum <strong>Engagement</strong> ist bislang oft abhängig<br />
von der sozialen Herkunft. Es sollte erforscht
werden, inwiefern Bildungseinrichtungen dazu<br />
beitragen können, dass auch engagementferne<br />
Gruppen Zugang zum bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong><br />
erhalten.<br />
d) Der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft<br />
und der Bereitschaft, sich zu engagieren,<br />
sollte mittels einer Erhebung zum bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong> auf europäischer Ebene vergleichbar<br />
werden.<br />
e) Wie können Menschen durch persönliche Ansprache<br />
und Begleitung zum <strong>Engagement</strong> motiviert<br />
werden, und welche Infrastruktur ist dafür nötig?<br />
f) In der amtlichen Statistik, z. B. im Mikrozensus,<br />
sollten die Daten zum <strong>Engagement</strong> mit solchen<br />
zum Bildungs- und sozialen Hintergrund verknüpft<br />
werden.<br />
g) Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> sollte als Bestandteil<br />
informeller Bildung in die regelmäßige<br />
Berichterstattung zur Bildung aufgenommen werden<br />
(dies gilt für Bund, Länder und Kommunen).<br />
Dies sollte auch beim Nationalen Bildungspanel<br />
geschehen.<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
61
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Birger Hartnuß<br />
Kurzgutachten: Schulöffnung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Für die Bewältigung zentraler Herausforderungen und<br />
Probleme unserer Gesellschaft gewinnt bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> zunehmend an Bedeutung. Es ist<br />
daher auch nicht verwunderlich, dass die Frage danach,<br />
wie Bereitschaft und Motivation zum freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong> entstehen und welche Bedeutung die<br />
Zivilgesellschaft für unser Bildungssystem hat, zunehmend<br />
virulent wird. Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
kommt nicht von selbst und automatisch zustande,<br />
sondern bedarf entsprechender normativer Orientierungen<br />
und Handlungsdispositionen, die erworben<br />
und erlernt werden müssen. Hierfür wird neben der<br />
Familie, den Peer-Groups und den zivilgesellschaftlichen<br />
Organisationen, insbesondere den Jugendverbänden,<br />
vor allem den öffentlichen Institutionen des<br />
Erziehungs- und Bildungssystems Verantwortung<br />
zugeschrieben. Im Rahmen des vorliegenden Kurzgutachtens<br />
steht daher die Schule als zentrale Instanz im<br />
Erziehungs- und Bildungssystem im Mittelpunkt. 1<br />
In den letzten Jahren hat sich für den Erwerb bürgerschaftlicher<br />
Kompetenzen in Anlehnung an Debatten<br />
im angelsächsischen Raum auch in Deutschland der<br />
Begriff „civic education“ durchgesetzt. Gemeint ist damit<br />
im Kern die Erziehung und Bildung zum „kompetenten,<br />
mündigen Bürger“. Im Begriff „civic education“<br />
bündeln sich Ansätze und Strategien der politischen<br />
Bildung, der Stärkung von Partizipation von Kindern<br />
und Jugendlichen, der demokratischen Gestaltung<br />
des Alltags in pädagogischen Einrichtungen sowie<br />
der Förderung von freiwilligem <strong>Engagement</strong> (vgl.<br />
Hartnuß 2007, S. 165). Ziel ist die Entwicklung bzw.<br />
Herausbildung von Bereitschaften und Fähigkeiten<br />
zur Mitbestimmung bei und Mitgestaltung von allgemeinen<br />
gesellschaftlichen und sozialen Belangen.<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> im Zusammenhang<br />
von Bildung, Schule und Lernen zu diskutieren, ist<br />
bislang alles andere als selbstverständlich. Die aktuellen<br />
Debatten um die Krise der Schule und um<br />
62<br />
Perspektiven moderner Bildung verweisen jedoch auf<br />
überraschende Anknüpfungspunkte und Bezüge zwischen<br />
Bildung, Schule und bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong>.<br />
Die öffentliche Debatte um die PISA-Studie<br />
hatte zunächst tiefe Verunsicherungen ausgelöst.<br />
Nachdem erste Reaktionen vor allem auf schulinterne<br />
Reorganisation und die Intensivierung kognitiver Wissensvermittlung<br />
gerichtet waren, gehen die Reformbestrebungen<br />
inzwischen erfreulicherweise auch in<br />
andere Richtungen, die neue Denk- und Handlungsoptionen<br />
sichtbar werden lassen.<br />
1. Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> und Bildung<br />
Es ist sicherlich nicht völlig falsch, gegenwärtig von<br />
einer „neuen Bildungsdebatte“ zu sprechen, die sich<br />
deutlich von den Diskussionen um eine Bildungsreform<br />
der vergangenen Jahrzehnte unterscheidet. Es<br />
geht ganz offensichtlich nicht mehr nur um begrenzte<br />
Korrekturen und Justierungen, sondern um grundlegende<br />
Veränderungen, um eine konzeptionelle und<br />
institutionelle Neudefinition unseres Bildungs- und Erziehungssystems<br />
(vgl. Olk 2007). Diese Bemühungen<br />
um eine Neubestimmung von Bildung und Erziehung<br />
sind keineswegs auf Deutschland beschränkt, sondern<br />
lassen sich auch in anderen europäischen Ländern<br />
beobachten. In Europa befindet sich die Schule<br />
als Institution und das schulische Lernen insgesamt<br />
in einer Krise (du Bois-Reymond 2007). Die Anforderungen<br />
einer globalisierten Wissensgesellschaft,<br />
die tiefgreifenden Umbrüche im System der Arbeit<br />
und der Arbeitsbiographien sowie nicht zuletzt soziale<br />
Ausgrenzungsprozesse haben dazu beigetragen,<br />
dass wir völlig neue Formen des Lernens und der Bildung<br />
benötigen, um die gesellschaftlichen Herausforderungen<br />
meistern zu können (vgl. ebd.).<br />
Neue Konzepte von Bildung und Lernen gehen zunehmend<br />
davon aus, dass neben dem formellen
Lernen in der Schule auch das außerschulische und<br />
informelle Lernen anerkannt, gefördert und mit dem<br />
schulischen Lernen verknüpft werden muss. Gelernt<br />
wird an vielen Orten, auch im bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>.<br />
Hier liegt die zentrale Herausforderung,<br />
um Schule und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> neu<br />
zu denken und damit sowohl für das bürgerschaftliche<br />
<strong>Engagement</strong> als auch für die Schule neue Perspektiven<br />
zu eröffnen.<br />
Die geforderte grundlegende konzeptionelle und institutionelle<br />
Neudefinition unseres Bildungs- und Erziehungssystems<br />
zielt auf ein umfassendes Lern- und<br />
Bildungskonzept, das die unterschiedlichen Bildungsinstitutionen,<br />
Bildungsorte, Bildungsaufgaben und<br />
Bildungsprozesse in ein neues Verhältnis bringt, das<br />
Kindern und Jugendlichen optimale Bildungs- und<br />
Teilhabechancen bietet, sie auf die Bewältigung von<br />
Anforderungen des Alltags und der Zukunft vorbereitet<br />
und für eine gelingende Lebensführung rüstet.<br />
Unter der Überschrift „Bildung ist mehr als Schule!“<br />
wurde 2002 in den Leipziger Thesen (vgl. Bundesjugendkuratorium<br />
u. a.) ein erweitertes Bildungsverständnis<br />
formuliert, das aus der Perspektive der<br />
Jugendhilfe verstärkt sozialpädagogische Akzente<br />
setzt. Der zwölfte Kinder- und Jugendbericht (BM-<br />
FSFJ 2005) stellt dieses neue Bildungsverständnis in<br />
den Mittelpunkt seiner Analysen und Überlegungen.<br />
Bildung zielt demnach auf eine allgemeine Lebensführungs-<br />
und Bewältigungskompetenz. Ein entsprechend<br />
erweitertes Bildungskonzept verbindet gleichauf<br />
mit Aufgaben der kulturellen und materiellen<br />
Reproduktion auch Aspekte der sozialen Integration<br />
und des sozialen Lernens (vgl. Rauschenbach/Otto<br />
2004, S. 20ff.). Der zwölfte Kinder- und Jugendbericht<br />
unterscheidet in seinem Bildungskonzept daher zwischen<br />
einem kulturellen, einem materiell-dinglichen,<br />
einem sozialen und einem subjektiven Weltbezug (vgl.<br />
BMFSFJ 2005, S. 110f.). Mit Bezug auf die kulturelle<br />
Welt geht es um die Aneignung des kulturellen Erbes.<br />
In der materiell-dinglichen Welt müssen Wissen und<br />
Kompetenzen erworben werden, die erforderlich<br />
sind, um sich mit der gegenständlichen Welt auseinanderzusetzen,<br />
sich diese anzueignen und sie weiterzuentwickeln.<br />
Der soziale Weltbezug zielt auf das<br />
Verstehen der sozialen Ordnung der Gesellschaft, die<br />
Auseinandersetzung mit den Regeln des kommunikativen<br />
Umgangs und der politischen Gestaltung des<br />
Gemeinwesens, aber auch auf die Entwicklung von<br />
Kompetenzen zur Beteiligung an der Gestaltung der<br />
sozialen Umwelt. Der subjektive Weltbezug markiert<br />
die Prozesse der Personwerdung, Identitätsbildung<br />
und Persönlichkeitsentfaltung als wichtige Bildungsdimensionen.<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Bildung und Lernen werden in diesem Konzept verstanden<br />
als ein selbstgesteuerter erfahrungsbezogener<br />
Kompetenzbildungsprozess, als ein „anhaltender<br />
und kumulativer Prozess des Erwerbs der<br />
Fähigkeit zur Selbstregulierung und als subjektive Aneignung<br />
von Welt in der aktiven Auseinandersetzung<br />
mit und in diesen Weltbezügen“ (ebd. 2005, S. 111).<br />
Voraussetzung für solche Bildungsprozesse sind Bedingungen<br />
und Gelegenheiten, konkrete Kontexte, in<br />
denen die Welt in diesen unterschiedlichen Dimensionen<br />
erschlossen werden kann. Hier geht es sowohl<br />
um Orte, an denen diese Zugänge möglich werden,<br />
als auch um Modalitäten, die es den Menschen <strong>ermöglichen</strong>,<br />
sich lernend mit der Welt auseinanderzusetzen.<br />
Im Kontext eines solchen Bildungsverständnisses<br />
kommt bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong> ein hoher<br />
Stellenwert zu. Seine Bedeutung für Bildungsprozesse<br />
wird im zwölften Kinder- und Jugendbericht<br />
ausdrücklich hervorgehoben. Bildung umfasst demnach<br />
nicht nur kognitives Wissen, sondern auch soziales<br />
Lernen <strong>–</strong> Kompetenzen wie Kommunikations-,<br />
Kooperations- und Teamfähigkeit, Empathie und<br />
soziales Verantwortungsbewusstsein <strong>–</strong> sowie demokratisches<br />
Rüstzeug und bürgerschaftliche Kompetenzen<br />
<strong>–</strong> also Partizipations- und Mitbestimmungsfähigkeiten<br />
als mündige Bürgerinnen und Bürger.<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> ist dabei sowohl<br />
Bildungsfaktor bzw. -ziel als auch Bildungsort. <strong>Engagement</strong><br />
und die dabei stattfindenden informellen<br />
Bildungsprozesse z. B. in Vereinen, Projekten und<br />
Initiativen eröffnen Möglichkeiten für ein informelles<br />
Lernen in lebensweltlichen Zusammenhängen, für ein<br />
gemeinsames Problemlösen zusammen mit anderen.<br />
Dabei steht der Erwerb von Wissen in engem Zusammenhang<br />
mit der Aneignung bürgerschaftlicher<br />
Kompetenzen. Wissen wird dadurch intensiver und<br />
nachhaltiger angeeignet; Teamfähigkeit und Verantwortlichkeit<br />
sind Teil des Lernvorgangs.<br />
Die Zusammenhänge zwischen freiwilligem <strong>Engagement</strong><br />
und informellem Lernen wurden im Freiwilligensurvey<br />
2004 auch empirisch erfasst. Demnach lässt<br />
sich freiwilliges <strong>Engagement</strong> als wichtiges informelles<br />
Lernfeld beschreiben. Im <strong>Engagement</strong> werden einerseits<br />
Fachwissen, andererseits soziale und organisatorische<br />
Kompetenzen erworben. Dies gilt besonders<br />
bei jungen Menschen. Sie erwerben durch ihr <strong>Engagement</strong><br />
vielfach Fähigkeiten, die für sie persönlich<br />
wichtig sind. 55 % der Engagierten im Alter zwischen<br />
14 und 30 geben an, dass das <strong>Engagement</strong> in sehr<br />
hohem bzw. hohem Maße Gelegenheiten zum Erlernen<br />
von Fähigkeiten bietet, die für sie persönlich<br />
63
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
wichtig sind (vgl. Gensicke u. a. 2006, S. 27 ff.). Dass<br />
in Settings des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s informelle<br />
Lernprozesse stattfinden und dabei Kompetenzen erworben<br />
werden, die für eine moderne Bildung hohe<br />
Bedeutung haben, belegen auch die Ergebnisse einer<br />
empirischen Studie der Technischen Universität<br />
Dortmund und des Deutschen Jugendinstituts zum<br />
informellen Lernen im Jugendalter (vgl. Düx u. a.<br />
2008). Demnach verfügen in ihrer Jugend engagierte<br />
Erwachsene über mehr Erfahrungen und auch Kompetenzen<br />
als Nicht-Engagierte. Dies gilt insbesondere<br />
für Organisations-, Gremien- und Leitungskompetenzen.<br />
Ein weiterer zentraler Befund der Studie<br />
betrifft die sozialisatorische Wirkung freiwilligen <strong>Engagement</strong>s:<br />
Wer als Jugendlicher gesellschaftliche<br />
Verantwortung übernimmt, engagiert sich mit großer<br />
Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener.<br />
2. Schule und Bürgergesellschaft<br />
Bislang ist weder ein breiter gesellschaftlicher Diskurs<br />
darüber im Gange, warum „bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong>“ in der Schule betrieben werden sollte,<br />
noch hat das bürgerschaftliche <strong>Engagement</strong> Eingang<br />
gefunden in die allgemeinen pädagogischen Zielbestimmungen<br />
der Schule (vgl. Edelstein 2007). Wenn<br />
jedoch <strong>–</strong> ausgehend von einem erweiterten Verständnis<br />
<strong>–</strong> Bildung nun also nicht nur kognitives Wissen,<br />
sondern auch soziales Lernen (Kompetenzen wie<br />
Kommunikations-, Kooperations- und Teamfähigkeit,<br />
Empathie und soziales Verantwortungsbewusstsein)<br />
sowie demokratisches Rüstzeug und bürgerschaftliche<br />
Kompetenzen (Partizipations- und Mitbestimmungsfähigkeiten<br />
als mündige Bürgerinnen und<br />
Bürger) umfasst, dann sind auch die pädagogischen<br />
Institutionen gefordert, Arrangements zur Verfügung<br />
zu stellen, die es <strong>ermöglichen</strong>, dass in der nachwachsenden<br />
Generation Bereitschaft und Fähigkeiten zur<br />
Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwesen<br />
und zur aktiven Beteiligung an der Gestaltung<br />
des sozialen, kulturellen und politischen Lebens entwickelt<br />
werden.<br />
Der Schule als einzige Einrichtung, die (grundsätzlich)<br />
alle Kinder und Jugendlichen erreicht, kommt dabei<br />
besondere Aufmerksamkeit zu. Aber auch wenn<br />
die Bedeutung bürgerschaftlicher Kompetenzen für<br />
ein modernes Verständnis von Bildung anerkannt<br />
wird, stellt sich dennoch die grundsätzliche Frage,<br />
ob die Institution Schule als eine tragende Säule des<br />
Bildungssystems strukturell überhaupt dazu in der<br />
Lage ist, diese Komponenten von Bildung zu vermitteln,<br />
entsprechende Lern- und Erfahrungsräume zu<br />
eröffnen und dabei auch noch mit anderen gesell-<br />
64<br />
schaftlichen Institutionen und Akteuren zu kooperieren,<br />
oder ob diese Anforderungen an die Schule<br />
eher naiv sind, von vornherein eine Überforderung<br />
bedeuten und von daher zum Scheitern verurteilt<br />
sind. Rauschenbach (2005) macht in diesem Kontext<br />
auf einige Spannungsfelder zwischen Schule und<br />
bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong> aufmerksam, die<br />
vergegenwärtigen, dass beide Bereiche unterschiedlichen<br />
Funktionslogiken unterliegen und nicht ohne<br />
weiteres miteinander vereinbar sind. So ist die Schule<br />
eine Pflichtveranstaltung, der die Wahlfreiheit des<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s gegenüber steht.<br />
Die Schule ist in erster Linie von professioneller, bezahlter<br />
Arbeit akademisch ausgebildeter Pädagogen<br />
geprägt. Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> dagegen<br />
lebt vom <strong>Engagement</strong> aus freien Stücken, nicht von<br />
bezahlter Arbeit. Schule steht in dem strukturellen<br />
Zwang zur Leistungsbewertung und Differenzbildung.<br />
Sie ist damit ein Ort der Selektion. Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> lebt vom gemeinschaftlichen Tun, vom<br />
gemeinsamen Handeln für eine Idee oder ein Vorhaben<br />
ohne direkten Leistungsdruck und Bewertung.<br />
Schule ist eine eigenständige Lernwelt, die tendenziell<br />
vom persönlichen Lebensumfeld der Schülerinnen<br />
und Schüler abgekoppelt ist. Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> entfaltet sich dagegen in aller<br />
Regel in lebensweltlichen Bezügen sozialer Orte und<br />
Nahräume. Dort werden Schülerinnen und Schüler im<br />
ganzheitlichen Sinne als Menschen wahrgenommen,<br />
wohingegen sie in der Schule vor allem Träger der<br />
Schülerrolle sind. Inhalte und Themen schulischen<br />
Lernens sind durch Curricula und Lernpläne weitgehend<br />
vorgegeben, Wahl- und Entscheidungsspielräume<br />
sind eingeschränkt. Im freiwilligen <strong>Engagement</strong> ist<br />
es dagegen offen, für welche Projekte ich mich entscheide.<br />
Im konkreten <strong>Engagement</strong> gibt es wiederum<br />
deutlich mehr Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten<br />
als in der Schule. Schulisches Lernen<br />
findet häufig ohne unmittelbaren Bezug auf konkrete<br />
Anlässe und direkte Verwertbarkeit statt, bleibt damit<br />
abstrakt. Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> setzt in<br />
der Regel unmittelbar an realen Situationen an und<br />
versucht, Lösungen für konkrete Anforderungen zu<br />
entwickeln. Und schulisches Lernen ist in der Regel<br />
„Vorratslernen“ in einer „Als-ob-Situation“, es ergeben<br />
sich aus künstlichen Lernarrangements keine direkten<br />
und unmittelbaren Folgen. Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> dagegen ist stets Handeln in realen Situation<br />
mit realen Konsequenzen des eigenen Tuns.<br />
Aus dieser Gegenüberstellung lässt sich leicht schließen,<br />
dass sich Partizipation und Bürgerengagement<br />
als Bildungsziel nicht ohne weiteres, gewissermaßen<br />
als zusätzliche Bildungsaufgabe in traditioneller Form<br />
curricular in der Schule verankern lässt. Im Schulalltag
stoßen daher Demokratie- und <strong>Engagement</strong>-Lernen,<br />
insbesondere wenn sie den schulischen Kernbereich<br />
des Unterrichts berühren, immer wieder an Grenzen<br />
von Notendruck, begrenzten Zeitbudgets, engen<br />
Lehrplanvorgaben und frontalen Methoden (siehe die<br />
Beiträge in Böhme/Kramer 2001). Demokratie- und<br />
<strong>Engagement</strong>-Lernen kann daher nicht allein im Unterricht<br />
stattfinden. Partizipation und Bürgerengagement<br />
müssen vielmehr als Prinzipien im Schulalltag<br />
spür- und erfahrbar sein und sich als Elemente der<br />
Schulkultur entfalten.<br />
Eine solche Schul- und Lernkultur lässt sich jedoch<br />
nicht in einem künstlichen, hermetisch gegenüber<br />
der realen Lebenswelt abgeschotteten Lernort Schule<br />
entwickeln. Schule ist dabei auf die Kooperation<br />
mit außerschulischen Partnern und Akteuren angewiesen;<br />
sie muss sich hin zu ihrem Umfeld öffnen<br />
und selbst Teil und Ort des Gemeinwesens werden.<br />
Diese Forderung (einer gemeinwesenorientierten<br />
Schule) ist nicht neu, und in den vergangenen Jahren<br />
haben Impulse für eine äußere Öffnung im Schulsystem<br />
spürbare Verbreitung gefunden. Eine Untersuchung<br />
des Deutschen Jugendinstituts macht darauf<br />
aufmerksam, dass es kaum noch eine Schule gibt,<br />
die keine Beziehungen zu Einrichtungen, Diensten<br />
und Organisationen im Wohnumfeld aufgebaut hat<br />
(vgl. Behr-Heintze/Lipski 2005). Die Aufnahme von<br />
Kontakten und die Kooperation von Schule mit außerschulischen<br />
Partnern sind eine wichtige Bereicherung<br />
für schulisches Leben und Lernen und eröffnen<br />
darüber hinaus neue Chancen auch für <strong>Engagement</strong>und<br />
Demokratie-Lernen. Umgekehrt ist Kooperation<br />
allein jedoch noch kein Garant dafür, dass sich Schulen<br />
eine demokratische „Verfassung“ geben und sich<br />
Partizipation als Gestaltungsprinzip schulischen Alltags<br />
manifestiert. Dafür bedarf es beider Seiten, gepaart<br />
mit einer äußeren Öffnung der Schule für Kooperationen,<br />
Partnerschaften, Bündnisse mit Akteuren<br />
der Zivilgesellschaft, müssen sich Bürgengagement<br />
und Demokratie im Selbstverständnis der Schule<br />
niederschlagen, und zwar derart, dass sich demokratische<br />
Spielregeln in den normalen Mechanismen und<br />
Abläufen des schulischen Alltags widerspiegeln und<br />
von allen in und an Schule Beteiligten erlebt werden.<br />
Worum es bei der Etablierung bürgerschaftlicher Bildungsansprüche<br />
in der Schule geht, ist daher nicht<br />
weniger als ein Prozess schulischer Organisationsentwicklung,<br />
in der demokratische Prinzipien der Mitbestimmung<br />
und Mitgestaltung sowie die Öffnung der<br />
Schule hin zum Gemeinwesen Eingang finden in schulische<br />
Leitbilder und Selbstverständnisse, die sich im<br />
Schulalltag als Kultur der Teilhabe niederschlagen.<br />
Die Enquete-Kommission des Bundestages hat hier-<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
für ein Leitbild entworfen, mit dem sie die Schule als<br />
demokratischen Ort und partnerschaftlich orientiertes<br />
Lernzentrum im Gemeinwesen beschreibt. Dieses<br />
Leitbild zeichnet sich durch eine enge Verknüpfung<br />
und Kombination von Strategien der inneren und äußeren<br />
Öffnung von Schule aus. Wege der inneren<br />
Öffnung zielen darauf ab, durch neue Formen des<br />
Unterrichtens und Lernens Prinzipien wie Handlungsorientierung,<br />
eigentätiges und verständnisintensives<br />
Lernen zu stärken und dabei Erfahrungen der demokratischen<br />
Mitbestimmung und der Verantwortungsübernahme<br />
in realen Handlungs- und Entscheidungssituationen<br />
zu <strong>ermöglichen</strong>. Gleichzeitig geht es um<br />
die demokratische Gestaltung des Schulalltags insgesamt<br />
durch bspw. die Aufwertung der Rolle von<br />
Schüler- und Elternvertretungen, die Stärkung von<br />
Begegnungs- und Kooperationsformen und ein gemeinsames<br />
<strong>Engagement</strong> von Schülern, Lehrern und<br />
Eltern. Strategien der äußeren Öffnung zielen auf die<br />
Einbettung der Schulen in das umliegende Gemeinwesen,<br />
ihre Integration in die lokale Bürgergesellschaft.<br />
Durch die enge Zusammenarbeit mit öffentlichen<br />
Einrichtungen, zivilgesellschaftlichen Akteuren<br />
und auch Wirtschaftsunternehmen können schuluntypische<br />
Zugänge und Sichtweisen in Prozesse des<br />
schulischen Lernens und Lebens einbezogen werden.<br />
Dadurch erfährt Schule eine lebensweltliche Öffnung<br />
und Bereicherung. Sie kann dadurch gleichzeitig<br />
für Aktivitäten und gemeinschaftliches Leben der<br />
Gemeinde aufgeschlossen werden und sich zu einem<br />
Zentrum des Gemeinwesens entwickeln.<br />
In Deutschland wird gegenwärtig verstärkt auf den<br />
Ausbau von Ganztagsschulen gesetzt. Die Ausdehnung<br />
der täglichen Schulzeit und die dabei zum Tragen<br />
kommenden pädagogischen Konzepte innerhalb<br />
und außerhalb des Unterrichts bieten vielfältige Anlässe<br />
und Gelegenheiten für Zusammenleben und<br />
-arbeiten im Sinne einer demokratischen und bürgerschaftlichen<br />
Gemeinschaft. Umgekehrt eröffnen<br />
bürgerschaftliche Perspektiven der Schule <strong>–</strong> nicht<br />
nur der Ganztagsschule <strong>–</strong> sowohl neue Chancen für<br />
Unterricht und Wissensvermittlung als auch für einen<br />
umfassenden Bildungsanspruch, der soziale und<br />
bürgerschaftliche Kompetenzen gleichbedeutend mit<br />
einschließt. Formen der Kooperation der Schule mit<br />
der Jugendhilfe sowie anderen Akteuren des Gemeinwesens<br />
können wichtige Beiträge für die Verbesserung<br />
der Bedingungen für Bildung, Erziehung und<br />
Betreuung liefern.<br />
Dass diese Vorstellung nicht nur an Argumentationskraft<br />
sondern auch an praktischer Relevanz gewonnen<br />
hat, findet seit einigen Jahren seinen Ausdruck<br />
in der Diskussion um die Gestaltung kommunaler<br />
65
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
bzw. regionaler Landschaften der Bildung und des<br />
Lernens (vgl. Deutscher Verein 2007). Kern dieser<br />
Debatte ist die Sichtbarmachung und Akzeptanz der<br />
spezifischen Stärken und Potenziale unterschiedlicher<br />
Bildungsorte (sowohl formelle, nonformale wie<br />
informelle) mit dem Ziel, sie vermehrt aufeinander zu<br />
beziehen, in Kooperation zu bringen und auf diese<br />
Weise dem Anspruch eines umfassenden Bildungsangebots<br />
im lokalen Raum gerecht zu werden. Die<br />
konkrete Gestaltung so verstandener Bildungs- oder<br />
Lernlandschaften berührt vor Ort ganz verschiedene<br />
Handlungsdimensionen. Mit Blick auf die Adressatinnen<br />
und Adressaten von Bildungsangeboten geht<br />
es um die Gestaltung anregender Lern- und Lebensumgebungen<br />
mit Gelegenheitsstrukturen (auch)<br />
für informelles Lernen. Unter zivilgesellschaftlicher<br />
Perspektive geht es um die Konstituierung öffentlich<br />
verantworteter, partizipativ orientierter Bildungsnetzwerke.<br />
Aus professioneller Perspektive stellt<br />
sich die Aufgabe inter-institutionell koordinierter<br />
Fortbildungen von Fach- und Leitungskräften. Und<br />
nicht zuletzt geht es aus einer planerischen Perspektive<br />
um die Etablierung einer integrierten Bildungsplanung<br />
als Teil der Raum- und Stadtplanung<br />
(vgl. Stolz 2008).<br />
3. Schulöffnung, <strong>Engagement</strong>- und Demokratieförderung<br />
in Schulen <strong>–</strong> Erfahrungen, Ansätze<br />
und Methoden<br />
In vielen Schulen gib es bereits gute, zum Teil auf<br />
jahrelange Erfahrungen und Traditionen beruhende<br />
Ansätze der Förderung gesellschaftlicher Verantwortung<br />
und schulischer Öffnungsprozesse. Gleichwohl<br />
halten die Vorwürfe, die mit der Debatte um eine bürgerschaftliche<br />
Orientierung von Schule verbundenen<br />
Erwartungen seien nur „alter Wein in neuen Schläuchen“,<br />
all dies gäbe es doch längst, einem Realitätscheck<br />
nicht stand. Die entscheidende Frage bleibt<br />
letztlich, inwiefern all diese Projekte und Ansätze<br />
eine strategische Verankerung in den pädagogischen<br />
Konzepten der Schule erfahren, sie miteinander verknüpft<br />
und integraler Bestandteil schulischen Selbstverständnisses<br />
oder jenseits des Kernauftrages der<br />
Institution lediglich schmückendes Beiwerk sind,<br />
das zwar durchaus willkommen, im Ernstfall aber<br />
doch entbehrlich ist. Genau hieran aber mangelt es<br />
in der Praxis noch häufig. Gleichwohl: Auf dem Weg<br />
zu einem demokratischen, <strong>Engagement</strong> und Verantwortung<br />
fördernden, kooperativen Leitbild fangen die<br />
Schulen nicht „bei Null“ an. Es gibt ermutigende Ansätze<br />
und Entwicklungen, von denen die Wichtigsten<br />
im Folgenden (ohne Anspruch auf Vollständigkeit)<br />
skizziert werden.<br />
66<br />
Besonders sichtbarer Ausdruck bürgerschaftlicher<br />
Öffnung von Schulen sind Formen der Zusammenarbeit<br />
mit Vereinen, Verbänden und anderen Einrichtungen<br />
im schulischen Umfeld. Es gibt kaum<br />
eine Schule, die völlig hermetisch gegenüber ihrem<br />
Wohnumfeld existiert. Schulkooperationen mit Organisationen<br />
und Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit,<br />
des Sports, der Kultur, des Natur- und<br />
Umweltschutzes etc. gehören zur Normalität im deutschen<br />
Schulsystem. Die Öffnung der Schulen für<br />
Kooperationen und Partnerschaften mit öffentlichen<br />
Einrichtungen und gesellschaftlichen Organisationen<br />
im schulischen Umfeld ist inzwischen in den Schulgesetzen<br />
aller Länder verankert. Externe Akteure,<br />
Ressourcen und Potenziale bereichern schulisches<br />
Leben, tragen zur Öffnung gegenüber dem Gemeinwesen<br />
bei und unterstützen erfahrungsorientiertes<br />
Lernen. Dies allein ist jedoch noch kein Hinweis auf<br />
eine Verankerung demokratischer und bürgergesellschaftlicher<br />
Prinzipien im Schulalltag (vgl. Behr-<br />
Heintze/Lipski 2005). Gleichwohl ist das Spektrum<br />
bürgerschaftlicher Initiativen in und für Schulen außerordentlich<br />
bunt und vielfältig.<br />
Projektunterricht ist eine etablierte Unterrichtsform;<br />
dabei arbeiten Schulen regelmäßig mit Externen und<br />
Partnern im schulischen Umfeld zusammen. Projekttage<br />
und Projektwochen tragen häufig dazu bei, dass<br />
der räumliche Rahmen der Schule überschritten wird<br />
und Schülerinnen und Schüler Erfahrungen in Realität<br />
und Alltag von Unternehmen, Einrichtungen und<br />
Organisationen machen. Sie sind damit ein wichtiger<br />
Baustein der äußeren und inneren Öffnung.<br />
Auch Sozialpraktika und Seitenwechselprojekte sind<br />
inzwischen an vielen Schulen ein fester Bestandteil.<br />
Sie <strong>ermöglichen</strong> Schülerinnen und Schülern vielerorts<br />
Einblicke in fremde Lebenswelten und <strong>ermöglichen</strong><br />
das Erproben von Verantwortungsübernahme und<br />
<strong>Engagement</strong>. Dabei kooperieren Schulen mit sozialen<br />
Einrichtungen und Organisationen wie bspw. Pflegeheimen,<br />
Krankenhäusern oder sozialen Projekten für<br />
Wohnungslose. Nicht selten unterstützen bei diesen<br />
Aktivitäten auch Freiwilligenagenturen und ähnliche<br />
Einrichtungen die Schulen mit Beratung, Begleitung<br />
und Vermittlung entsprechender Einsatzstellen.<br />
Besondere Bedeutung für eine bürgergesellschaftliche<br />
Ausrichtung von Schulen hat die Beteiligung<br />
von Eltern sowie die Zusammenarbeit mit Elternfördervereinen,<br />
die sich vielerorts gegründet haben.<br />
Über die traditionelle Arbeit der Elternvertretungen<br />
hinaus spielt die Unterstützung von Elterninitiativen<br />
und schulischer Fördervereine eine zunehmend größere<br />
Rolle. Dabei akquirieren sie nicht nur finanzielle
Mittel für die Schule, sie bringen sich auch mit vielfältigen<br />
Aktivitäten in das Schulleben ein und fungieren<br />
bisweilen als Agenten für die Gewinnung und<br />
Vermittlung externer Kompetenzen (z. B. für Projektwochen).<br />
Nicht selten sind Fördervereine Träger für<br />
bestimmte Vorhaben und Projekte wie Schulfeste<br />
oder Schulkonzerte.<br />
An vielen Schulen haben sich Projekte und zum Teil<br />
auch längerfristige Kooperationen mit Wirtschaftsunternehmen<br />
etabliert. Unternehmen stärken Bezüge<br />
zur Arbeitswelt, unterstützen bei der Einmündung in<br />
Arbeit und Beruf, bringen finanzielle Ressourcen und<br />
fachliches Know How in die Schulen ein. Die Landschaft<br />
solcher Kooperationsvorhaben und gemeinsamer<br />
Projekte im Rahmen von Corporate-Citizenship-Programmen<br />
von Unternehmen ist inzwischen<br />
extrem vielfältig (vgl. hierzu ausführlich Hartnuß/Heuberger<br />
2010, S. 478ff.). Um Wirtschaft und Schulen<br />
stärker aufeinander zu beziehen, haben sich deutschlandweit<br />
rund 450 regionale Arbeitskreise „Schule <strong>–</strong><br />
Wirtschaft“ gegründet. Ziel ist vor allem die ökonomische<br />
Bildung der Schülerinnen und Schüler und die<br />
Vorbereitung auf das Berufsleben.<br />
An Bedeutung gewonnen haben in den vergangenen<br />
Jahren auch unterschiedliche Formen von Patenschafts-<br />
und Mentoring-Projekten. Dabei geht<br />
es sowohl um Hilfen bei den Hausaufgaben, um<br />
Schlichtung von Konflikten und Schwierigkeiten im<br />
Schulalltag wie zu Hause als auch um Unterstützung<br />
bei Bewerbungen und beim Einstieg in Ausbildung<br />
und Beruf. Das Spektrum dieser Aktivitäten ist inzwischen<br />
erheblich angewachsen. Insbesondere Seniorinnen<br />
und Senioren nutzen diese Möglichkeiten, um<br />
ihre Erfahrungen und Kompetenzen in der nachberuflichen<br />
Phase für das Gemeinwohl einzubringen. Sie<br />
bereichern damit den schulischen Alltag und bieten<br />
Kindern und Jugendlichen in der Schule Angebote,<br />
die von professionellen Pädagogen in dieser Form<br />
häufig nicht angeboten werden können.<br />
Eine zentrale Form der Einübung von Demokratie<br />
und Mitbestimmung in der Schule ist die Schülerpartizipation.<br />
Hierzu gehören die Übernahme formaler<br />
Funktionen wie Klassen- und Schülersprecher, die<br />
Mitgliedschaft in Schülerräten und Schulkonferenzen,<br />
aber auch die Mitarbeit bei Schülerzeitungen oder<br />
Projekten in der Schule. Inzwischen gibt es vielerorts<br />
Initiativen, die formalen Mitbestimmungsmöglichkeiten<br />
in der Schule auf eine breitere Basis zu stellen<br />
und damit das schulische Leben insgesamt zu demokratisieren.<br />
Der Aufbau von Klassenräten, Stufenund<br />
Schulparlamenten verfolgt einen basisdemokratischen<br />
Ansatz, der Partizipation und Mitbestimmung<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
jeder und jedes Einzelnen in der Schule von Anfang<br />
an ermöglicht (vgl. Edelstein 2007).<br />
Viele (außerschulische) gesellschaftliche Akteure<br />
und Organisationen bemühen sich seit einigen Jahren<br />
intensiv darum, Möglichkeiten für Mitbestimmung<br />
und Mitgestaltung von Kindern und Jugendlichen zu<br />
stärken und nehmen dabei zunehmend auch den<br />
Lern- und Lebensort Schule in den Blick. Partizipation<br />
ist zentrales Anliegen von Bundes- und Landesjugendringen.<br />
Stiftungen wie die Deutsche Kinder- und<br />
Jugendstiftung und die Stiftung Demokratische Jugend<br />
entwickeln neue Praxismodelle und beteiligen<br />
sich an ihrer Umsetzung. Servicestellen für Jugendbeteiligung<br />
sind Ansprechpartner und bieten vor Ort<br />
Unterstützung an. Im BLK-Programm „Demokratie<br />
lernen & leben“ wurden zahlreiche Praxisbausteine<br />
und Anregungen erarbeitet, die in Schulen erprobt<br />
und umgesetzt werden können. Leider gab es für das<br />
Programm nach seinem Ausklang infolge der Föderalismusreform<br />
keine (bundesweite) Anschluss- bzw.<br />
Transfermöglichkeit. Die Deutsche Gesellschaft für<br />
Demokratiepädagogik (DeGeDe) bemüht sich seither<br />
darum, die in dem Programm gesammelten Erfahrungen<br />
und Erkenntnisse in der schulischen Wirklichkeit<br />
zu verankern. Einige Länder haben ihrerseits<br />
Transferprogramme auf den Weg gebracht und führen<br />
damit ihre demokratiepädagogischen Bemühungen in<br />
Schulen fort. Insgesamt aber sind die Potenziale für<br />
Selbst- und Mitbestimmung von Schülerinnen und<br />
Schülern in der Schule längst nicht ausgeschöpft (vgl.<br />
Bertelsmann Stiftung 2007).<br />
Zwar gibt es im Bereich der Öffnung der Schule vielfältige<br />
Ansätze und Erfahrungen der Kooperation<br />
und Unterstützung, jedoch sind solche Projekte und<br />
Vorhaben, in denen es ausdrücklich um die Verknüpfung<br />
von schulischen und außerschulischen Lernprozessen<br />
und um den Erwerb bürgerschaftlicher Kompetenzen<br />
geht, mit Blick auf die Gesamtheit unserer<br />
Schulen bislang noch die Ausnahme. In diesem Zusammenhang<br />
hat in Deutschland seit einigen Jahren<br />
die Methode des Service Learning an Bedeutung<br />
gewonnen (vgl. hierzu ausführlich Sliwka 2004). Service<br />
Learning ist ein Lehr-Lernprinzip. Es beinhaltet<br />
das Lernen gesellschaftlicher Verantwortung in Verbindung<br />
mit der praxisorientierten Vermittlung konkreter<br />
Wissensinhalte und der Öffnung der Schule<br />
gegenüber dem Gemeinwesen. In Deutschland hat<br />
die Freudenberg-Stiftung viel zur Adaptation dieses<br />
noch recht jungen Ansatzes beigetragen. Inzwischen<br />
hat sich ein bundesweites Netzwerk „Service Learning“<br />
gegründet, das sich um die Weiterentwicklung<br />
und Verbreitung des Instruments bemüht. Baden-<br />
Württemberg ist bislang das einzige Land, das das<br />
67
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Lernen von gesellschaftlicher und sozialer Verantwortung<br />
in Form des TOP SE (Themenorientiertes<br />
Projekt Soziales <strong>Engagement</strong>) curricular im Rahmenlehrplan<br />
der Realschule verankert hat.<br />
4. Herausforderungen, Perspektiven,<br />
Handlungsempfehlungen<br />
Bislang ist es nicht gelungen, bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
in angemessener Form in den aktuellen<br />
Bildungsreformprozessen zu verankern (vgl. Hartnuß<br />
2008, Hartnuß/Heuberger 2010). Dies kann nur gelingen,<br />
wenn deutlich wird, dass es sich hierbei nicht<br />
um eine beliebige zusätzliche Aufgabe für Schule<br />
handelt, sondern es um den Kernauftrag der Schule<br />
selbst geht. Schule kann ihren Auftrag durch eine<br />
bessere Verzahnung unterschiedlicher Formen des<br />
Lernens und durch die Nutzung der Bildungspotenziale<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s besser erfüllen.<br />
Mehr noch: Sie ist bei der Erfüllung ihrer Aufgaben<br />
in zunehmendem Maße auf bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
angewiesen (vgl. Olk 2007). Die Bemühungen<br />
um die Ausbildung sozialer, demokratischer<br />
und bürgerschaftlicher Kompetenzen und die dafür<br />
notwendigen Kooperationen von Schule mit dem Gemeinwesen<br />
müssen daher auch Teil von Schulentwicklungsprozessen<br />
sein und im Begriff der Schulqualität<br />
ihren Niederschlag finden: Schulen, die sich<br />
um Möglichkeiten für Mitbestimmung und Mitgestaltung<br />
bemühen, die mit Organisationen und Akteuren<br />
im Gemeinwesen zusammenarbeiten, sind bessere<br />
Schulen.<br />
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die<br />
Erkenntnis, dass Schulentwicklung nicht als allein<br />
staatlich oder innerschulisch zu leistende Aufgabe zu<br />
begreifen ist. Schulentwicklung bedeutet aus einer<br />
Systemperspektive die Selbstorganisation der Einzelschule<br />
innerhalb staatlicher Vorgaben hin zur qualitätsorientierten<br />
Profilbildung (Rahm/Schröck 2005).<br />
Dabei ist die enge Zusammenarbeit von Professionellen,<br />
Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern<br />
ein zentrales Element. Den Ansprüchen einer „guten<br />
Schule“ lässt sich nur durch ein enges Zusammenwirken<br />
aller am Bildungsprozess Beteiligten gerecht werden.<br />
„Kooperative Schulentwicklung ist ein Lernprozess,<br />
in dem organisationseigene Ressourcen über<br />
das Zusammenwirken aller schulischen Statusgruppen<br />
mit dem Ziel einer Qualitätsverbesserung des<br />
Bildungsangebotes mobilisiert werden.“ (Rahm 2008)<br />
Vor dem Hintergrund der notwendigen Verzahnung<br />
und Optimierung bestehender Bildungsangebote<br />
kommt dabei auch zivilgesellschaftlichen Akteuren<br />
und Organisationen und ihren Lern- und Bildungsan-<br />
68<br />
geboten in oder im Umfeld der Schule Bedeutung zu.<br />
Kooperative Schulentwicklung ist damit eine Herausforderung<br />
sowohl für die Einzelschule, die in ihren Bemühungen<br />
verstärkt bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
sowie die Zusammenarbeit mit außerschulischen Einrichtungen<br />
mitdenken muss, als auch für die zivilgesellschaftlichen<br />
Organisationen, die durch ihre aktive<br />
Mitwirkung Verantwortung für die Weiterentwicklung<br />
der Schule übernehmen.<br />
Sollen das frühzeitige Erlernen bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s und die Stärkung von Partizipation<br />
wirkungsvoll in Schulen und anderen Bildungsinstitutionen<br />
verankert werden, sind ein klares politisches<br />
Bekenntnis sowie entsprechende Initiative hierfür<br />
gefragt. Dies betrifft sowohl die Bundesregierung<br />
als auch die Ebene der Länder. So könnten etwa<br />
durch ein Bund-Länder-Programm neue Formen der<br />
Zusammenarbeit von Schulen und zivilgesellschaftlichen<br />
Einrichtungen, neue Formen des Lernens und<br />
Unterrichtens, in denen Verantwortungsübernahme<br />
und <strong>Engagement</strong> integriert sind (wie z. B. beim Service<br />
Learning), sowie die Entwicklung einer neuen<br />
Lernkultur initiiert und vorangetrieben werden. Mit<br />
einem solchen Programm könnte zudem sinnvoll an<br />
Erfahrungen aus dem BLK-Programm „Demokratie<br />
Lernen & Leben“ angeknüpft werden. 2<br />
Ein deutliches Bekenntnis zur Bedeutung bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s und zivilgesellschaftlicher<br />
Öffnung der Bildungsinstitutionen wäre es freilich,<br />
wenn diesem Anliegen bei den derzeitigen Bemühungen<br />
von Bund und Ländern, bis zum Jahr 2015<br />
den Anteil der gesamtstaatlichen Aufwendungen für<br />
Bildung und Forschung auf 10 % des Bruttoinlandsprodukts<br />
zu steigern, ein angemessener Platz eingeräumt<br />
würde. Die Bundeskanzlerin sowie die Regierungschefs<br />
der Länder haben sich im Oktober 2008<br />
auf dem Qualifizierungsgipfel in Dresden auf dieses<br />
Ziel verständigt. Seitdem wurden zusätzliche Mittel<br />
für Bildung und Forschung von Bund und Ländern<br />
bereitgestellt sowie neue bildungspolitische Schwerpunkte<br />
in den Bereichen frühkindliche Bildung, Schule,<br />
Berufsausbildung, Hochschule und Weiterbildung<br />
gesetzt. Nicht wenige dieser Maßnahmen bieten<br />
<strong>–</strong> wie etwa im Bereich Schule der weitere Ausbau<br />
von Ganztagsschulen oder der Schulsozialarbeit <strong>–</strong><br />
unmittelbare Bezugspunkte zur Förderung von <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation. Diese Bezüge sollten<br />
nicht nur hergestellt, sondern über das 10%-Ziel für<br />
Bildung und Forschung und auch mit entsprechenden<br />
Mitteln gefördert werden.<br />
Den Ländern kommt für die Gestaltung des Bildungssystems<br />
eine zentrale Rolle zu. Ihre Kompetenzen
sind mit der Föderalismusreform weiter gestärkt worden,<br />
wogegen die Handlungsspielräume des Bundes<br />
in Bildungsfragen erheblich eingeschränkt wurden.<br />
Bei den Ländern liegt daher auch eine besondere<br />
Verantwortung, Anliegen der <strong>Engagement</strong>- und Demokratieförderung<br />
durch eigene Initiative zu stärken.<br />
Eine Reihe von Ländern ist in diesem Sinne bereits<br />
aktiv. Um bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> im Schulsystem<br />
wirkungsvoll zu verankern, stehen den Ländern<br />
verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, die<br />
sie in Berücksichtigung ihrer je spezifischen Situation<br />
(Schulstruktur, aktuelle Reformprojekte, landespolitische<br />
Prioritäten etc.) nutzen sollten. Hierzu gehören<br />
insbesondere;<br />
• Verankerung von civic education in den Schulgesetzen:<br />
Über die allgemeinen Formulierungen von<br />
Bildungszielen, in denen die Bildung und Erziehung<br />
zur gesellschaftlichen Verantwortung meist<br />
bereits enthalten ist, und den bestehenden Regelungen<br />
zur Schulöffnung und Kooperation mit<br />
außerschulischen Partnern hinaus wäre es sinnvoll,<br />
civic education als Aufgabe von Schulen mit<br />
eigenem Paragraphen festzuschreiben. Auf diese<br />
Weise würde ein klarer, auch rechtlicher Bezugsrahmen<br />
für civic education geschaffen, der allein<br />
natürlich noch kein Garant für die Etablierung entsprechender<br />
Angebote im Schulalltag ist, jedoch<br />
den engagierten Akteuren in den Schulen mehr<br />
Handlungssicherheit geben würde. Zudem würde<br />
hiervon ein starker politischer Impuls ausgehen,<br />
sich vor Ort ernsthaft mit dem Thema auseinander<br />
zu setzen.<br />
• klare Verortung von civic education beim Ausbau<br />
von Ganztagsschulen: Gleiches gilt für die Gestaltung<br />
von Ganztagsschulen. Bisherige Regelungen<br />
eröffnen zwar durchaus Chancen, eindeutige Positionierungen<br />
zur <strong>Engagement</strong>- und Demokratieförderung<br />
als Teil der Ganztagsschulentwicklung<br />
können jedoch zu mehr Handlungssicherheit<br />
sowohl bei schulischen als auch außerschulischen<br />
Partnern beitragen. 3<br />
• Landesprogramme zur <strong>Engagement</strong>- und Demokratieförderung<br />
in Schulen: Mit eigenen Programmen<br />
(z. B. Transferprogramme zum BLK-Programm<br />
„Demokratie lernen & leben“, Landesprogramme<br />
wie „<strong>Engagement</strong> macht Schule“ oder zum Service<br />
Learning, u. a.), die von einigen Ländern bereits<br />
aufgelegt wurden, können Projekte und Methoden<br />
der <strong>Engagement</strong>förderung erprobt und etabliert<br />
werden. Durch solche Programm können Schulen<br />
<strong>–</strong> jenseits staatlicher Verpflichtungen durch gesetzliche<br />
Regelungen <strong>–</strong> wirkungsvoll in der praktischen<br />
Umsetzung von civic education unterstützt<br />
werden.<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
• Beteiligung der Länder an Programmen der <strong>Engagement</strong>förderung<br />
von zivilgesellschaftlichen<br />
Organisationen: Impulse zur Stärkung von bürgerschaftlichem<br />
<strong>Engagement</strong> und Partizipation in<br />
Schulen wurden in den vergangenen Jahren vor<br />
allem von zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />
an die Schulen herangetragen (insbesondere<br />
durch den Bundesjugendring, Landesjugendringe,<br />
Freiwilligenagenturen und -zentren, die Bundesvereinigung<br />
kulturelle Jugendbildung, Sportverbände,<br />
Natur- und Umweltschutzorganisationen etc.). In<br />
diesem Bereich spielten und spielen auch Programme<br />
von Stiftungen eine besondere Rolle. 4 Die<br />
Länder sollten entsprechende Kooperationsangebote<br />
sorgfältig prüfen und die Chancen, die sich<br />
aus einer Zusammenarbeit für die Entwicklung von<br />
konkreten Projekten und Ansätzen bieten, nutzen.<br />
• Förderung von civic education durch Preise und<br />
Wettbewerbe: Wie auch für andere politische Anliegen<br />
ist es ein probates Mittel, auch <strong>Engagement</strong>-<br />
und Demokratieförderung durch Schule zum<br />
Gegenstand von Wettbewerben und Preisen zu<br />
machen und auf diese Weise öffentliche Aufmerksamkeit<br />
zu erzeugen und Schulen auf ihrem Weg<br />
zu ermutigen und zu unterstützen.<br />
• Erarbeitung von Empfehlungen und Handreichungen<br />
zur praktischen Umsetzung von civic<br />
education: Für die Erprobung von Ansätzen und<br />
Methoden der <strong>Engagement</strong>förderung ist es für<br />
Schulen hilfreich, praxisorientierte Empfehlungen<br />
und Handreichungen zur Verfügung zu stellen, in<br />
denen Erfahrungen gelungener Beispiele aufgearbeitet<br />
sind, Erfolgskriterien von Projekten beschrieben<br />
und konkrete Umsetzungsmöglichkeiten dargestellt<br />
sind. Die Länder können bei der Erstellung<br />
solcher Arbeitsmaterialien auf die Erfahrungen zivilgesellschaftlicher<br />
Organisationen zurückgreifen<br />
und gemeinsam mit ihnen entsprechende Publikationen<br />
erarbeiten.<br />
• Entwicklung von Modellregionen: <strong>Engagement</strong>förderung<br />
in und durch Schulen braucht Kooperation<br />
und Vernetzung mit gesellschaftlichen Organisationen.<br />
Besonders wirkungsvoll könnte dies durch<br />
die Entwicklung von Modellkommunen bzw. -regionen<br />
geschehen, in denen Schulen, Kindertagesstätten,<br />
Jugendorganisationen, kommunale Einrichtungen,<br />
die Verwaltung etc. eng miteinander<br />
zusammenarbeiten und die Beteiligung von Kindern<br />
und Jugendlichen sowie die Förderung ihres<br />
gesellschaftlichen <strong>Engagement</strong>s ein gemeinsames<br />
Anliegen ist, das im Alltag durch eine Vielzahl von<br />
Partizipationsangeboten in unterschiedlichen Lebensbereichen<br />
sichtbar wird. Hierfür braucht es<br />
finanzielle Ressourcen, Vernetzungsstrukturen,<br />
Qualitätskriterien, ggf. fachliche und wissenschaft-<br />
69
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
70<br />
liche Begleitung. Solche Modellregionen hätten<br />
jedoch durch ihren Beispielcharakter eine hohe<br />
Ausstrahlung. Der Aufbau von Modellregionen ist<br />
vielleicht das wirkungsvollste Instrument, das die<br />
Länder in ihrem Bemühen, Bürgerengagement und<br />
Partizipation nachhaltig im Bildungssystem zu verankern,<br />
ergreifen können.<br />
Die Öffnung der Schule für Kooperationen und Partnerschaften<br />
mit der Bürgergesellschaft, für die Verschränkung<br />
unterschiedlicher Formen des Lernens<br />
braucht Qualifizierung und Weiterbildung. Die pädagogischen<br />
Profis in Schule und Gemeinwesen müssen<br />
bereits in ihrer Ausbildung auf ein neues Selbstverständnis<br />
vorbereitet werden, das Zusammenarbeit<br />
und Partnerschaften als konstitutives Element einschließt.<br />
Das nötige Wissen und die Kompetenzen<br />
für eine partnerschaftliche Kooperation zwischen<br />
den Institutionen des öffentlichen Bildungs- und Erziehungssystems<br />
mit der Zivilgesellschaft benötigen<br />
Verankerung in den Curricula der Ausbildungsgänge<br />
von Lehrerinnen und Lehrern, Sozialpädagoginnen<br />
und Sozialpädagogen und müssen einfließen in die<br />
Konzepte von Fort- und Weiterbildung. Entsprechende<br />
Impulse und Vorstöße gilt es gezielt an die Kultusministerkonferenz<br />
und die Hochschulrektorenkonferenz<br />
heranzutragen und ihre Umsetzung einzufordern.<br />
Inzwischen gibt es bundesweit einen reichhaltigen Fundus<br />
an Erfahrungen, Ideen und Modellen für das Lernen<br />
von Bürgerschaftlichkeit und die Kooperation von<br />
Bildungseinrichtungen mit dem Gemeinwesen. Die gesammelten<br />
Erfahrungen gilt es aufzubereiten, so dass<br />
Modelle transparent und übertragbar werden. Dabei<br />
sind Qualitätskriterien zu entwickeln und zu sichern. Erfahrungen<br />
aus dem BLK-Programm „Demokratie lernen<br />
& leben“ und aus dem Feld des Service Learning zeigen<br />
bereits, dass dies erfolgreich möglich ist.<br />
Auch Wirtschaftsunternehmen können und sollen<br />
sich stärker als bisher an der Erfüllung des gesellschaftlichen<br />
Auftrags zur Erbringung qualitativ hoher<br />
Bildung beteiligen. Dabei gilt es jedoch, einen umfassenden<br />
Anspruch von Bildung zu gewährleisten und<br />
diesen nicht ökonomistisch zu verengen. Als Teilnehmer<br />
und Partner sind Unternehmen in der aktuellen<br />
Bildungsreformdiskussion willkommen, nicht jedoch<br />
als dominierende Entscheider über die Ausrichtung<br />
schulischer Curricula und Bildungsinhalte. Aus diesem<br />
Grunde muss Bildung als öffentliches Gut auch<br />
weiterhin primär durch die Bereitstellung öffentlicher<br />
Mittel in seiner Qualität gewährleistet werden. Nur<br />
so ist der Gefahr vorzubeugen, dass sich Abhängigkeiten<br />
von privaten Zuwendungen nicht auf Bildungsinhalte<br />
übertragen (vgl. Hartnuß/Heuberger 2010).<br />
Bislang noch völlig unausgeschöpft sind die Chancen,<br />
die sich aus einer stärkeren Verknüpfung von civic education<br />
mit dem Nachhaltigkeitsdiskurs ergeben können.<br />
Inzwischen hat die deutsche Debatte über Nachhaltigkeit<br />
den alleinigen Fokus auf ökologische Themen verlassen<br />
und es werden in einer erweiterten Perspektive<br />
Fragen eines erfolgreichen Wirtschaftens mit Anforderungen<br />
an die ökologische und soziale Zukunftsfähigkeit<br />
der Gesellschaft verknüpft. Dabei ist „Verantwortung“<br />
der Schlüsselbegriff für nachhaltiges Handeln.<br />
Wichtigste Ressource für verantwortliches Handeln<br />
(ökonomisch, ökologisch und sozial) aber ist Bildung.<br />
Damit kommt Fragen bürgerschaftlicher Bildung auch<br />
für den Nachhaltigkeitsdiskurs ein hoher Stellenwert<br />
zu. Zwar nehmen die öffentliche Diskussion zum Thema<br />
Nachhaltigkeit wie auch die entsprechende Berichterstattung<br />
von Bund und Länder inzwischen durchaus<br />
Bezug zu Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung als<br />
Bestandteil nachhaltiger Politik. Allerdings sind diesbezügliche<br />
Berichtspassagen eher deskriptiv und zeigen<br />
wenig konkrete Handlungsoptionen auf. Auch die UN-<br />
Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ konzentriert<br />
sich in ihren Aktivitäten nicht allein auf ökologische<br />
Anliegen. Dennoch ist die Anzahl von ausgezeichneten<br />
Projekten, die sich dem Thema <strong>Engagement</strong>förderung<br />
widmen, bislang sehr überschaubar. Wenn Nachhaltigkeit<br />
in einem weit gefassten Sinne tatsächlich Anspruch<br />
moderner Politik ist, dann ist die Frage, wie junge Menschen<br />
an Verantwortung herangeführt werden, sicher<br />
kein Nebenschauplatz, sondern eine zentrale Frage<br />
von Bildung. Dies in der öffentlichen Debatte deutlicher<br />
herauszustellen ist gleichermaßen Aufgabe von Politik<br />
und Zivilgesellschaft.<br />
Die Verknüpfung von Schule und Bürgergesellschaft<br />
braucht Druck und Initiative sowohl „von oben“ über<br />
Fachdiskurs und bildungspolitische Initiative als auch<br />
„von unten“ durch eine lebendige Praxis guter Projekte<br />
und Modelle. Die bestehenden Ansätze gilt es daher<br />
zu stärken und fortzuentwickeln. Dabei sind Möglichkeiten<br />
des gegenseitigen Lernens und des Transfers<br />
erprobter Modelle von zentraler Bedeutung. Vernetzung,<br />
Bündnisse und Partnerschaften sind auch hier<br />
der richtige Weg, um erfolgreichen Ideen zu ihrer<br />
Verbreitung zu verhelfen. Orte des Austauschs, des<br />
Lernens und gemeinsamer Strategieentwicklung sind<br />
auf nationaler, europäischer wie internationaler Ebene<br />
notwendig. In Deutschland hat sich unter anderem mit<br />
der Tagungsreihe „Schule und Bürgergesellschaft“ des<br />
<strong>BBE</strong> hierfür ein gutes Forum etabliert. Der Blick über<br />
die nationalen Grenzen hinaus macht aber deutlich,<br />
dass es gerade in diesem Feld sehr unterschiedliche<br />
Traditionen und Entwicklungen gibt, die gezielt aufgegriffen<br />
und für die Bildungsreformbemühungen in<br />
Deutschland aufgearbeitet werden sollten.
Das von der Europäischen Union ausgerufene Europäische<br />
Jahr der Freiwilligentätigkeit zur Förderung<br />
der aktiven Bürgerschaft 2011 bietet hierfür nicht<br />
nur einen aktuellen Anlass. In der Entscheidung des<br />
Rates vom 27.11.2009 werden die Mitgliedsstaaten<br />
auch ausdrücklich zu einem verstärkten Austausch<br />
zu Fragen der Bildung und Erziehung zur Bürgerschaftlichkeit<br />
aufgefordert.<br />
(4) Die Freiwilligentätigkeit stellt eine bereichernde<br />
Lernerfahrung dar, ermöglicht den Erwerb sozialer<br />
Fertigkeiten und Kompetenzen und trägt zur Solidarität<br />
bei. (...)<br />
(6) In den vom schnellen Wandel geprägten Gesellschaften<br />
werden wirksame Maßnahmen zur<br />
Unterstützung von Freiwilligentätigkeiten benötigt,<br />
damit sich mehr Menschen ehrenamtlich engagieren.<br />
Deshalb müssen Peer-Learning und der Austausch<br />
und die Entwicklung bewährter Verfahren<br />
auf lokalen, regionalen, nationalen und Gemeinschaftsebenen<br />
gefördert werden.“ 5<br />
Veränderungen im öffentlichen Bildungs- und Erziehungssystem<br />
sind kompliziert und langwierig. Massive<br />
Bedenken und Widerstände begleiten die Reformprozesse.<br />
Bürgergesellschaftliche Reformperspektiven<br />
haben es dabei häufig schwer, sich Gehör zu verschaffen.<br />
Daher ist es geboten, nicht nur hartnäckiger<br />
zu argumentieren, sondern auch mit schlagkräftiger<br />
Unterstützung. Bürgerschaftliche Akteure brauchen<br />
mehr Vernetzung und Bündelung sowie die Unterstützung<br />
aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Medien.<br />
Bündnispartner aus diesen Bereichen, die sich mit<br />
Anliegen der <strong>Engagement</strong>- und Demokratieförderung<br />
identifizieren, können die Bemühungen wirkungsvoll<br />
unterstützen und so den öffentlich Druck auf das Bildungs-<br />
und Schulsystem erhöhen. Das Europäische<br />
Jahr der Freiwilligentätigkeit zur Förderung der aktiven<br />
Bürgerschaft 2011 bietet auch hierfür Chancen, die<br />
bei den Planungen für die Gestaltung des Jahres von<br />
Bund und Ländern, aber auch den zivilgesellschaftlichen<br />
Organisationen und Netzwerken aufgegriffen<br />
werden sollten. Kampagnen und öffentliche Veranstaltungen<br />
im Rahmen des Jahres können den Anliegen<br />
bürgerschaftlicher Bildungsreformen ein wirkungsvolles<br />
Sprachrohr geben.<br />
Der Dreh- und Angelpunkt ist und bleibt, ob es gelingt,<br />
die zentralen Planer und Entscheidungsträger<br />
aus Schulentwicklungs- und Bildungspolitik an den<br />
Tisch zu bekommen, sie von den Chancen und Notwendigkeiten<br />
einer bildungspolitischen und bildungspraktischen<br />
Verankerung bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
zu überzeugen und gemeinsam mit ihnen<br />
Strategien der Realisierung zu entwerfen.<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Anmerkungen<br />
1 Die im Folgenden ausgeführten Überlegungen für<br />
die Schule lassen sich analog auch für den vorschulischen<br />
wie den nachschulischen Bereich anstellen<br />
und entsprechende Konsequenzen daraus ziehen.<br />
Analysen und Perspektiven einer zivilgesellschaftlichen<br />
Öffnung von Kindergärten und Hochschulen<br />
finden sich in dem Beitrag von Birger Hartnuß und<br />
Frank Heuberger „Ganzheitliche Bildung in Zeiten der<br />
Globalisierung. Bürgergesellschaftliche Perspektiven<br />
für die Bildungspolitik“ (Hartnuß/Heuberger 2010).<br />
2 Diese Forderung findet sich auch in den engagementpolitischen<br />
Empfehlungen des Bundesnetzwerkes<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> für die 17.<br />
Legislaturperiode, die in Auswertung der ersten Ergebnisse<br />
des Nationalen Forums für <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation im Oktober 2009 vom Sprecherrat<br />
des <strong>BBE</strong> an die neue Bundesregierung adressiert<br />
wurden.<br />
3 Eine ausführliche Argumentation zu Chancen der<br />
<strong>Engagement</strong>- und Demokratieförderung in ganztägigen<br />
Lernarrangements findet sich in Hartnuß/<br />
Maykus 2005.<br />
4 So ist die Erprobung und Verbreitung der Methode<br />
des Service Learning maßgeblich von der<br />
Freudenberg-Stiftung gefördert worden. Aktuelles<br />
Beispiel für die Initiative von Stiftungen in diesem<br />
Bereich ist das von der Bertelsmann-Stiftung aufgelegte<br />
Programm „Jugend und <strong>Engagement</strong>“.<br />
5 Amtsblatt der Europäischen Union vom 22.01.2010,<br />
Entscheidung des Rates vom 27. November 2009<br />
über das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit<br />
zur Förderung der aktiven Bürgerschaft (2011).<br />
Literatur<br />
• Behr-Heintze, Andrea/Lipski, Jens (2005): Schulkooperationen.<br />
Stand und Perspektiven der Zusammenarbeit<br />
zwischen Schulen und ihren Partnern.<br />
Ein Forschungsbericht des DJI. Schwalbach/Ts.<br />
• Bertelsmann Stiftung (2007): Vorbilder bilden. Gesellschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> als Bildungsziel. Carl<br />
Bertelsmann-Preis 2007. Gütersloh.<br />
• Böhme, Jeanette/Kramer, Rolf-Torsten (Hg.) (2001):<br />
Partizipation in der Schule. Theoretische Perspektiven<br />
und empirische Analysen. Opladen.<br />
• Bundesjugendkuratorium/Sachverständigenkommission<br />
für den Elften Kinder- und Jugendbericht/<br />
AGJ (2002): Bildung ist mehr als Schule <strong>–</strong> Leipziger<br />
Thesen. In: Forum Jugendhilfe, 26. Jg., Heft 3, S. 2.<br />
• Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen<br />
und Jugend (Hg.) (2005): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht.<br />
Bonn/Berlin.<br />
71
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
• du Bois-Reymond, Manuela/Diepstraten, Isabelle<br />
(2007): Neue Lern- und Arbeitsbiographien.<br />
In: Kahlert, Heike/Mansel, Jürgen (Hg.): Bildung,<br />
Berufsorientierung und Identität im Jugendalter.<br />
Weinheim und München.<br />
• Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge<br />
(Hg.) (2007): Diskussionspapier des Deutschen<br />
Vereins zum Aufbau kommunaler Bildungslandschaften.<br />
Berlin.<br />
• Düx, Wiebken/Prein, Gerald/Sass, Erich/Tully,<br />
Claus J. (2008): Kompetenzerwerb im freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong>. Eine empirische Studie zum informellen<br />
Lernen im Jugendalter. Wiesbaden.<br />
• Edelstein, Wolfgang (2008): Überlegungen zum<br />
Klassenrat: Erziehung zu Demokratie und Verantwortung.<br />
In: Die Ganztagsschule, Heft 2.<br />
• Edelstein, Wolfgang (2007): Schule und bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong>. Vortrag auf der Tagung<br />
„Bürgergesellschaft und Bildung <strong>–</strong> Gesellschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> als Bildungsziel“ der Bertelsmann<br />
Stiftung und des <strong>BBE</strong>. Berlin. 17.09.2007.<br />
• Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s“ (Hg.) (2002): Bericht. Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong>: auf dem Weg in eine<br />
zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Opladen.<br />
• Evers, Adalbert/Rauch, Ulrich/Stitz, Uta (2002):<br />
Von öffentlichen Einrichtungen zu sozialen Unternehmen.<br />
Hybride Organisationsformen im Bereich<br />
sozialer Dienstleistungen. Berlin.<br />
• Gensicke, Thomas/Picot, Sibylle/Geiss, Sabine<br />
(2006): Freiwilliges <strong>Engagement</strong> in Deutschland<br />
1999 <strong>–</strong> 2004. Ergebnisse der repräsentativen<br />
Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit<br />
und bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong>, in Auftrag<br />
gegeben und herausgegeben vom Bundesministerium<br />
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.<br />
Wiesbaden.<br />
• Hartnuß, Birger (2007): civic education. In: Fachlexikon<br />
der sozialen Arbeit. 6. Aufl., Baden-Baden.<br />
S. 165-166.<br />
• Hartnuß, Birger (2008): Bildungspolitik und Bürgergesellschaft.<br />
In: Bürsch, Michael (Hg.): Mut<br />
zur Verantwortung. Mut zur Einmischung. Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> in Deutschland. Bonn. S.<br />
80-101.<br />
• Hartnuß, Birger/Maykus, Stephan (2005): Mitbestimmen,<br />
mitmachen, mit<strong>gestalten</strong>. Entwurf einer<br />
bürgergesellschaftlichen und sozialpädagogischen<br />
Begründung von Chancen der Partizipations- und<br />
<strong>Engagement</strong>förderung in ganztägigen Lehrarrangements.<br />
Expertise im Auftrag des BLK-Programms<br />
„Demokratie lernen & leben“. Münster.<br />
• Hartnuß, Birger/Heuberger, Frank (2010): Ganzheitliche<br />
Bildung in Zeiten der Globalisierung. Bürgerschaftliche<br />
Perspektiven für die Bildungspolitik.<br />
72<br />
In: Olk, Thomas/Klein, Ansgar/Hartnuß, Birger<br />
(Hg): <strong>Engagement</strong>politik. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft<br />
als politische Aufgabe. VS-Verlag.<br />
Wiesbaden. S. 459-490.<br />
• Olk, Thomas (2007): Engagierte Bildung <strong>–</strong> Bildung<br />
mit <strong>Engagement</strong>? Zur Bedeutung des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s für die Bildungsreform.<br />
Eröffnungsvortrag auf der Fachtagung „Engagierte<br />
Bildung <strong>–</strong> Bildung mit <strong>Engagement</strong>? Bildung <strong>–</strong><br />
Schule <strong>–</strong> Bürgerengagement in Ostdeutschland“,<br />
4. und 5. Mai 2007 Halle/S.<br />
• Rahm, Sibylle (2008): Der Beitrag von bürgerschaftlichem<br />
<strong>Engagement</strong> zur Schulentwicklung<br />
<strong>–</strong> Erfahrungen in Bayern. In: Schule und Bürgerengagement.<br />
Bildung gemeinsam <strong>gestalten</strong>. Dokumentation<br />
der Fachtagung des <strong>BBE</strong> und des LNBE<br />
Bayern, 24. und 25. Oktober 2008 in der Akademie<br />
Dillingen. S. 15-24.<br />
• Rahm, Sibylle/Schröck, Nikolaus (2005): Schulentwicklung<br />
<strong>–</strong> von verwalteten Schulen zu lernenden<br />
Organisationen. In: Apel, Hans-Jürgen u. a. (Hg.):<br />
Studienbuch Schulpädagogik. Bad Heilbrunn. S.<br />
148-167.<br />
• Rauschenbach, Thomas/Otto, Hans-Uwe (Hg.)<br />
(2004): Die neue Bildungsdebatte. Chance oder<br />
Risiko für die Kinder- und Jugendhilfe? In: Otto,<br />
Hans-Uwe/Rauschenbach, Thomas (Hg.): Die<br />
andere Seite der Bildung. Zum Verhältnis von formellen<br />
und informellen Bildungsprozessen. Wiesbaden.<br />
S. 9-29.<br />
• Rauschenbach, Thomas (2005): Schule und bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> <strong>–</strong> zwei getrennte<br />
Welten? Anmerkungen zu einer schwierigen Beziehung.<br />
In: „Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
als Bildungsziel (in) der Schule“ Fachtagung am<br />
29./30.10.2004 in Mainz. Tagungsdokumentation.<br />
Berlin.<br />
• Sliwka, Anne (2004): Service Learning: Verantwortung<br />
lernen in Schule und Gemeinde. In: Edelstein,<br />
Wolfgang/Fauser, Peter (Hg.): Beiträge zur Demokratiepädagogik.<br />
Eine Schriftenreihe des BLK-<br />
Programms „Demokratie lernen und leben“. Berlin.<br />
• Stolz, Heinz-Jürgen (2008): Welchen Beitrag<br />
können Schulen zur Gestaltung lokaler Bildungslandschaften<br />
leisten? In: Schule und Bürgerengagement.<br />
Bildung gemeinsam <strong>gestalten</strong>. Dokumentation<br />
der Fachtagung des <strong>BBE</strong> und des LNBE<br />
Bayern, 24. und 25. Oktober 2008 in der Akademie<br />
Dillingen. S. 40-45.
Prof. Dr. Thomas Rauschenbach<br />
Kurzgutachten: <strong>Engagement</strong> und Bildung<br />
1. Einleitung<br />
Seit einigen Jahren lässt sich die Annäherung von<br />
zwei Themenfeldern beobachten, die lange Zeit eigenständig<br />
existierten und wenig bis gar nichts miteinander<br />
zu tun hatten: dem Bildungs- und Kompetenzdiskurs<br />
auf der einen Seite und den Debatten über<br />
bürgerschaftliches, freiwilliges, zivilgesellschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> auf der anderen Seite.<br />
Wurde der Bildungsdiskurs vor allem mit Schule, mit<br />
formaler Bildung und mit späterem beruflichen Erfolg<br />
in Verbindung gebracht, vielleicht sogar nahezu<br />
gleichgesetzt <strong>–</strong> und hatte darin seine allgemeine,<br />
grundlegende Bedeutung für das Aufwachsen von<br />
Kindern und Jugendlichen <strong>–</strong>, so waren die Erörterungen<br />
um das Ehrenamt und das freiwillige <strong>Engagement</strong><br />
nicht nur vor allem auf den außerschulischen<br />
Bereich, auf die Freizeit gerichtet, sondern darin<br />
geradezu ein symbolhafter Ausdruck eines nichtfunktionalistischen<br />
<strong>Engagement</strong>s junger Menschen<br />
aus freien Stücken. Für viele wurde das freiwillige<br />
<strong>Engagement</strong> in einem Verein, einem Verband, in der<br />
Kirche, in einer Initiative oder einer politischen Gruppierung<br />
mit den ausgeprägten Elementen des Gleichaltrigenbezugs,<br />
des Spaßes, einem Stück Selbstverwirklichung<br />
sowie der weitaus stärker empfundenen<br />
Selbstwirksamkeit zu einer Alternativerfahrung und<br />
zu einem Gegenentwurf zu den vielfach mit Zwang<br />
und Pflicht behafteten schulischen Bildungssettings.<br />
Diese Ausgangslage hat sich im letzten Jahrzehnt<br />
aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen merklich<br />
verändert. Einige Facetten sollen hier nur kursorisch<br />
genannt werden:<br />
• Im Anschluss an die ersten PISA-Studien (vgl.<br />
Deutsches PISA-Konsortium 2001), die vor allem<br />
Fragen der Literalität, der Mathematik und der Naturwissenschaft<br />
in den Mittelpunkt ihrer Kompe-<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
tenzmessungen gerückt hatten, ist eine generelle<br />
Diskussion um Kompetenzen, Kompetenzdimensionen<br />
und Kompetenzdiagnostik entstanden, die<br />
fast zwangsläufig auch die Frage nach anderen<br />
Inhalten und Dimensionen des Kompetenzerwerbs<br />
nach sich gezogen hat (vgl. etwa BMFSFJ 2005).<br />
• Begünstigt wurde diese Debatte durch eine wiederbelebte<br />
Auseinandersetzung um die Koordinaten<br />
eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs: „Bildung ist<br />
mehr als Schule“ wurde dabei zu einem programmatischen<br />
Leitmotiv für ein erweitertes Bildungsverständnis<br />
(vgl. etwa Bundesjugendkuratorium<br />
2001; Bundesjugendkuratorium u. a. 2002; Münchmeier/Otto/Rabe-Kleberg<br />
2002). Damit wurden in<br />
der Folge dann aber auch verstärkt die „anderen<br />
Seiten der Bildung“ ins Blickfeld gerückt (vgl. Otto/<br />
Rauschenbach 2004).<br />
• Während sich die Diskussion um Kompetenzen<br />
und Bildung in Deutschland vor allem im Anschluss<br />
an die erste PISA-Studie ausgebreitet hat (vgl.<br />
Deutsches PISA-Konsortium 2001), waren die<br />
Studien über ehrenamtliches, freiwilliges oder zivilgesellschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> <strong>–</strong> im Folgenden<br />
auch zusammengefasst unter dem Begriff des zivilgesellschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s <strong>–</strong> lange Zeit eher<br />
von Fragen der Prävalenz, also der Verbreitung, der<br />
Motivation und der mit diesem <strong>Engagement</strong> verbundenen<br />
Erwartungen geprägt (vgl. Beher/Liebig/<br />
Rauschenbach 2002).<br />
• Erst über die neueren Debatten um das informelle<br />
Lernen im Jugendalter (vgl. Rauschenbach/Düx/<br />
Sass 2006) kam verstärkt die Frage auf, ob, und falls<br />
ja, was denn junge Menschen im Rahmen ihres Freiwilligenengagements<br />
eigentlich lernen, wurde das<br />
zivilgesellschaftliche <strong>Engagement</strong> als eine mögliche<br />
Bildungsressource ins Blickfeld gerückt (vgl. etwa<br />
Konsortium Bildungsberichterstattung 2006).<br />
Mit anderen Worten: Die stärkere Ausrichtung der<br />
Bildungsthematik an der Kompetenzfrage, die gleich-<br />
73
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
zeitige Ausweitung der Referenzpunkte für einen<br />
erweiterten Bildungsbegriff, der konsequent über<br />
die schulische Bildung hinausweist, sowie die sich<br />
allmählich ausbreitende Sorge, dass ein fast ausschließlich<br />
kognitiv ausgerichtetes Bildungskonzept<br />
den zukünftigen Herausforderungen an eine individuelle<br />
Lebensführung der nachwachsenden Generation<br />
nicht gerecht werden kann, öffnete auf Seiten des<br />
Bildungsdiskurses den Blick auf jene Horizonte, die<br />
auch mit dem freiwilligen, zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong><br />
zu tun haben.<br />
Zeitgleich hat im Rahmen der <strong>Engagement</strong>forschung<br />
nach und nach eine stärkere empirische Ausrichtung<br />
Einzug gehalten, deren prägnantester Ausdruck 1999<br />
im Start des inzwischen drei Mal durchgeführten<br />
Freiwilligensurveys seinen Niederschlag fand (vgl.<br />
Rosenbladt 2001; Gensicke/Picot/Geiss 2006). Zugleich<br />
hat eine deutlicher akzentuierte Debatte über<br />
die Beweggründe und Formen des <strong>Engagement</strong>s<br />
zu einer stärkeren Akzentuierung der individuellen<br />
Facetten und des individuellen Nutzens geführt (vgl.<br />
Rauschenbach/Müller/Otto 1992) und dabei auch den<br />
Blick frei gelegt auf die impliziten wie expliziten Bildungspotenziale<br />
des Freiwilligenengagements.<br />
Vor allem die Frage nach dem Kompetenzerwerb<br />
durch das zivilgesellschaftliche <strong>Engagement</strong> junger<br />
Menschen hat zu intensiveren Debatten und ersten<br />
Studien geführt. Damit stand der Kompetenzerwerb<br />
außerhalb der etablierten Modalitäten schulisch-formaler<br />
Bildung ebenso auf der Tagesordnung wie die<br />
anderen Dimensionen des individuellen Kompetenzerwerbs.<br />
Da die großen internationalen Vergleichsstudien<br />
ausschließlich auf die schulischen Kernfächer<br />
ausgerichtet waren, konnten sie diese anderen<br />
Dimensionen bislang auch nicht erfassen.<br />
Vor diesem Hintergrund soll nachfolgend zunächst die<br />
Bedeutung des <strong>Engagement</strong>s im Jugendalter skizziert<br />
werden. Anschließend steht die wachsende Bedeutung<br />
eines kompetenzbasierten Bildungsbegriffs für<br />
das Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt,<br />
bevor dann einige Facetten des Zusammenhangs<br />
von <strong>Engagement</strong> und Bildung zur Diskussion<br />
gestellt werden. Den Abschluss bilden einige Handlungsempfehlungen<br />
auf der Basis der neueren wissenschaftlichen<br />
Diskussion um Bildung und <strong>Engagement</strong>. 1<br />
2. Das <strong>Engagement</strong> im Jugendalter<br />
Allen Unkenrufen zum Trotz sind auch in der heutigen<br />
Zeit noch viele Jugendliche freiwillig engagiert<br />
und beteiligen sich aktiv an vielen Angelegenheiten in<br />
74<br />
ihrem persönlichen Umfeld oder des öffentlichen Lebens.<br />
Jugendstudien haben wiederholt belegt, dass<br />
der Einsatz für ein Anliegen, eine Idee oder für andere<br />
Menschen für viele Jugendliche in diesem Alter<br />
ganz selbstverständlich ist und zu ihrem persönlichen<br />
Lebensstil gehört (vgl. Jugendwerk der Deutschen<br />
Shell 2000, 2002, Shell Deutschland Holding 2006;<br />
Gille u. a. 2006).<br />
Bestätigt wurden derartige Befunde aber auch durch<br />
die bisherigen Freiwilligensurveys, die nachgewiesen<br />
haben, dass junge Menschen im Schulalter mit zu<br />
den engagiertesten Altersgruppen gehören (vgl. Picot<br />
2001; Gensicke/Picot/Geiss 2006).<br />
2.1 Zur Bedeutung des <strong>Engagement</strong>s im<br />
Jugendalter<br />
Freiwilliges <strong>Engagement</strong> realisiert sich für Jugendliche<br />
im konkreten Tun, in realen Ernstsituationen <strong>–</strong><br />
ganz im Unterschied zu den vielfachen „Als-Ob-Situationen“<br />
in der Schule. In der konkreten Übernahme<br />
von sozialer Verantwortung in lebensweltlichen Zusammenhängen<br />
im Rahmen dieses <strong>Engagement</strong>s erfahren<br />
Heranwachsende oft zum ersten Mal in ihrem<br />
Leben, dass sie etwas können, dass man sie braucht,<br />
dass man ihnen außerhalb des Schonraums der Familie<br />
und außerhalb des pädagogisch-inszenierten<br />
Settings Schule etwas zutraut, kurz: dass sie dort Anerkennung<br />
und Bestätigung erfahren <strong>–</strong> mit allen Konsequenzen<br />
des Erfolgs, aber auch des Scheiterns an<br />
Realsituationen, in denen sich die Einzelnen bewähren<br />
müssen.<br />
Derartige Formen des <strong>Engagement</strong>s werden inzwischen<br />
verstärkt als eine Form von Bildungsarbeit<br />
wahrgenommen. Das war nicht immer so. Lange Zeit<br />
wurde ehrenamtliches <strong>Engagement</strong> vor allem als einseitiges<br />
Geben, als gute Tat, meist aus altruistischen<br />
Motiven verstanden. Jemand spendete Zeit, Können<br />
und Motivation für andere Menschen, für eine Idee<br />
oder gute Sache. Dies war nach Meinung vieler der<br />
soziale Kitt, der Gemeinschaften und Gesellschaften<br />
zusammenhielt <strong>–</strong> und den es zu bewahren galt. Seit<br />
den 90er-Jahren wird sehr viel stärker die Reziprozität,<br />
also das wechselseitige Geben und Nehmen<br />
des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s betont und ins Blickfeld<br />
gerückt (vgl. Rauschenbach/Müller/Otto 1992). Dies<br />
hat zugleich den Blick geöffnet für die Seiten des individuellen<br />
und gesellschaftlichen Nutzens der unterschiedlichen<br />
Formen des <strong>Engagement</strong>s.<br />
In Anbetracht derartiger Entwicklungen innerhalb der<br />
<strong>Engagement</strong>forschung, die auch als Ausdruck einer<br />
allgemein gewachsenen Bereitschaft verstanden
werden können, sich mit Fragen des <strong>Engagement</strong>s<br />
auseinanderzusetzen <strong>–</strong> und infolgedessen u. a. Bundestagskommissionen<br />
(vgl. Enquete-Kommission<br />
2002) und eigenständige Berichtsformate nach sich<br />
zogen (vgl. Alscher u. a. 2009) <strong>–</strong>, gerät das freiwillige<br />
<strong>Engagement</strong> von jungen Menschen zunehmend<br />
in den Blick von Öffentlichkeit und Politik. Dabei wird<br />
dem <strong>Engagement</strong> von Jugendlichen heute sowohl<br />
eine gesellschaftliche (a) als auch individuelle Bedeutung<br />
(b) zugeschrieben.<br />
(a) Gesellschaftliche Bedeutung des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s<br />
im Jugendalter: In Demokratien, die auf<br />
der aktiven Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürger<br />
basieren und auf diese angewiesen sind, erscheint<br />
das soziale und politische <strong>Engagement</strong> junger Menschen<br />
als ein Gradmesser für deren spätere aktive<br />
Teilhabe an der Gestaltung einer demokratischen<br />
Gesellschaft. Um auch zukünftig zivilgesellschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> in gemeinnützigen Organisationen<br />
und damit die Grundlagen für die Zivilgesellschaft<br />
aufrechtzuerhalten, kommt der Einbindung<br />
junger Menschen eine wichtige Bedeutung zu. Das<br />
Nachwachsen Jugendlicher in Formen des freiwilligen,<br />
zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong>s und in der<br />
gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme wird<br />
dementsprechend als eine der wesentlichen Voraussetzungen<br />
für die Weiterentwicklung von Demokratie<br />
und Zivilgesellschaft gesehen (vgl. Enquete-<br />
Kommission 2002).<br />
(b) Individuelle Bedeutung des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s<br />
im Jugendalter: Daneben wird dem freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong> in jüngerer Zeit verstärkt auch eine<br />
wichtige individuelle Bedeutung beigemessen, bietet<br />
es doch Jugendlichen Möglichkeiten für erste eigene<br />
Erfahrungen im Umgang mit gesellschaftlichen Organisationen<br />
und gemeinnützigen Einrichtungen, für<br />
eigene neue und andersartige Lern- und Bildungsprozesse,<br />
für den Erwerb vielfältiger Kompetenzen, für<br />
die Einübung demokratischer Spielregeln sowie für<br />
Teilhabe, Mitbestimmung, Selbstorganisation und die<br />
Vertretung ihrer eigenen Interessen. Die Übernahme<br />
von Verantwortung für andere Menschen, für Inhalte<br />
oder Sachen erscheint heute als ein wichtiger Aspekt<br />
der sozialen Integration Heranwachsender in einer<br />
tendenziell eher desintegrativen Gesellschaft (vgl.<br />
Düx u. a. 2008; Enquete-Kommission 2002).<br />
2.2 Zur Empirie freiwilligen <strong>Engagement</strong>s<br />
junger Menschen<br />
Empirisch zeigt sich, dass das freiwillige <strong>Engagement</strong><br />
jungen Menschen einen wichtigen Schritt aus<br />
dem privaten in den öffentlichen Raum und damit<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
eine Ausweitung ihres Erfahrungshorizonts ermöglicht<br />
(vgl. Buhl/Kuhn 2005). Neben Eltern und Freunden<br />
stellt soziales <strong>Engagement</strong> eine von drei Säulen<br />
dar, die zu einer erfolgreichen sozialen Entwicklung,<br />
zu gesellschaftlicher Partizipation und zu sozialer Integration<br />
Heranwachsender beitragen können (vgl.<br />
Reinders 2005).<br />
Mittlerweile kann auf eine ganze Reihe von Forschungsbefunden<br />
zum jugendlichen <strong>Engagement</strong><br />
zurückgeblickt werden (vgl. als Überblick Düx 1999;<br />
Düx/Sass 2006). Grundsätzlich ist damit auf eine<br />
in den letzten Jahren erheblich verbesserte Datengrundlage<br />
zu verweisen, auch wenn die Angaben<br />
zum Umfang des <strong>Engagement</strong>s sowie zur Verteilung<br />
auf Felder und Inhalte in den vorliegenden Studien,<br />
je nach verwendeten Begrifflichkeiten und Fragestellungen,<br />
nach wie vor schwanken. Dementsprechend<br />
ergeben sich in Abhängigkeit von der Fragestellung,<br />
von der Definition des <strong>Engagement</strong>s, von der Untersuchungsrichtung<br />
und den gewählten Alterseinteilungen<br />
in den verschiedenen Studien unterschiedliche<br />
Quoten ehrenamtlich engagierter Jugendlicher,<br />
die aber nicht unbedingt Ausdruck empirischer Beliebigkeit<br />
sind, sondern eher als Beleg für die nach wie<br />
vor unterschiedlichen empirischen Zugänge zu dieser<br />
Problematik zu werten sind (vgl. Beher/LiebigRauschenbach<br />
2002; Rauschenbach 1999).<br />
Beim Vergleich unterschiedlicher repräsentativer<br />
bundesdeutscher Bevölkerungsumfragen zu Mitgliedschaft<br />
und freiwilligem <strong>Engagement</strong> der Altersgruppe<br />
der 14- bis 20-Jährigen kommt v. Santen auf eine<br />
Bandbreite zwischen 12 und 40 Prozent engagierter<br />
junger Menschen (vgl. v. Santen 2005). In diesen Studien<br />
reicht die Fragestellung von freiwilligem <strong>–</strong> auch<br />
kurzzeitigem und projektgebundenem <strong>–</strong> <strong>Engagement</strong><br />
bis hin zur Ausübung eines Amtes. Diese unterschiedlichen<br />
Zahlen machen insoweit genau die<br />
Schwierigkeiten der empirischen Erfassung freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong>s Jugendlicher deutlich (vgl. Düx<br />
2000; BMFSFJ 2005; Züchner 2006).<br />
Zieht man die verschiedenen Wellen der Freiwilligensurveys<br />
als bislang umfangreichsten Datensatz zum<br />
zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong> in Deutschland<br />
heran, so engagieren sich bundesweit zwischen 37<br />
(1999), 36 (2004) und 35 Prozent (2009) aller jungen<br />
Menschen zwischen 14 und 24 Jahren. Zu ähnlichen<br />
Befunden gelangt auch die letzte Shell-Jugendstudie<br />
(vgl. Shell Deutschland Holding 2006). Die ersten<br />
beiden Freiwilligensurveys von 1999 und 2004 ermittelten<br />
zudem den höchsten Anteil ehrenamtlich Engagierter<br />
bei den unter 20-Jährigen (vgl. Gensicke/<br />
Picot/Geiss 2006).<br />
75
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Allerdings finden sich innerhalb der Gruppe junger<br />
Menschen deutliche Unterschiede im <strong>Engagement</strong>.<br />
So belegen verschiedene Studien, dass sich überwiegend<br />
sozial gut integrierte deutsche Jugendliche mit<br />
höherer Schulbildung engagieren (vgl. Gaiser/de Rijke<br />
2006; Düx u. a. 2008; Reinders 2009). Zugleich korrespondieren<br />
der Zugang zum <strong>Engagement</strong> sowie die<br />
Art des <strong>Engagement</strong>s mit den sozialen Ressourcen<br />
und den kulturellen Interessen im Elternhaus. Nach<br />
wie vor engagieren sich mehr männliche als weibliche<br />
Jugendliche. Auch findet sich ein deutlich geringerer<br />
Anteil Engagierter bei den jungen Menschen mit Migrationshintergrund<br />
(vgl. Gensicke/Picot/Geiss 2006),<br />
was nicht zuletzt auch mit ihrer im Schnitt geringeren<br />
schulischen Qualifikation zusammenhängen dürfte<br />
(vgl. etwa Düx u. a. 2008). Weitere milieuspezifische<br />
Einflussfaktoren für ein <strong>Engagement</strong> Heranwachsender<br />
sind Merkmale wie ein großer Freundeskreis, biografisch<br />
stabile Wohnverhältnisse oder die Bindung<br />
an eine Religionsgemeinschaft (vgl. Gensicke/Picot/<br />
Geiss 2006; Rauschenbach 1999).<br />
Folgt man der letzten Shell-Studie, so sind 40 Prozent<br />
der befragten Jugendlichen in Vereinen aktiv, 23<br />
Prozent im Bereich Schule/Hochschule, 15 Prozent in<br />
einer Kirchengemeinde/-gruppe, 13 Prozent in einem<br />
selbst organisierten Projekt, 12 Prozent in Jugendorganisationen<br />
(vgl. Shell Deutschland Holding 2006).<br />
Und in der Untersuchung von Düx u. a. (2008) engagieren<br />
sich Jugendliche bis zum Alter von 22 Jahren<br />
überwiegend im kirchlichen Umfeld (22%), im Sport<br />
(21%), in den Rettungsdiensten (12%) und in Jugendverbänden<br />
(10%).<br />
In allen Bereichen geben mindestens 50 Prozent der<br />
Engagierten an, auch in der Jugendarbeit als dem typischen<br />
Einstiegsfeld für jugendliches <strong>Engagement</strong><br />
ehrenamtlich tätig gewesen zu sein. Dabei bezieht<br />
sich das <strong>Engagement</strong> junger Menschen bis zu 24<br />
Jahren überwiegend auf die Arbeit mit Kindern und<br />
Jugendlichen. In den Feldern der Schule und Jugendarbeit<br />
geben über 80 Prozent der jungen Engagierten<br />
als Zielgruppe ihres <strong>Engagement</strong>s Kinder und Jugendliche<br />
an, im Sport sind es mit Blick auf diese Altersgruppe<br />
70 Prozent, im kirchlich-religiösen Bereich<br />
zwei Drittel (vgl. Gensicke/ Picot/Geiss 2006). Das<br />
heißt, die freiwillige Tätigkeit junger Menschen richtet<br />
sich überwiegend an Gleichaltrige bzw. an nur wenig<br />
jüngere Personen, in der Regel als Gruppenarbeit<br />
im Rahmen der außerschulischen Jugendarbeit (vgl.<br />
Enquete-Kommission 2002; Rauschenbach 2009a).<br />
Insgesamt zeigt sich anhand der neueren Studien<br />
also zum einen, dass nach wie vor ein zivilgesellschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> junger Menschen in einem<br />
76<br />
nicht zu unterschätzenden Umfang anzutreffen ist,<br />
dass zum anderen auch die damit verbundenen gesellschaftlichen<br />
wie individuellen Dimensionen nicht<br />
zu unterschätzen sind, auch wenn sie vielfach zunächst<br />
außerhalb des eigentlichen Bildungsdiskurses<br />
zum Thema geworden sind.<br />
3. Kompetenzbasierte Bildung im Jugendalter<br />
Eine deutlich anders gelagerte Entwicklung hat die<br />
Diskussion um Fragen der Bildung und der Kompetenz<br />
genommen, welche hier nicht erschöpfend behandelt<br />
werden kann. Lediglich einige ausgewählte<br />
Dimensionen dieser beiden Begrifflichkeiten werden<br />
ins Blickfeld gerückt.<br />
Menschen lernen immer und überall. Die Frage, ob<br />
das bürgerschaftliche <strong>Engagement</strong> ein wesentlicher,<br />
gar ein exklusiver Ort ist, an dem anders und Anderes<br />
gelernt wird als in der Schule und anderen Lernfeldern,<br />
ist empirisch schwierig zu klären. Ähnlich wie<br />
in der Familie finden sich auch hier alle Ebenen alltäglicher<br />
Erfahrungen und möglicher Lernprozesse.<br />
Gegenüber den hochgradig formalisierten Bildungssystemen,<br />
in denen primär kognitives Wissen in spezifischer,<br />
zumeist standardisierter Form eingeübt wird,<br />
findet sich in den Organisationen des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s eine große Bandbreite äußerst<br />
heterogener Lerninhalte, die zudem auf höchst unterschiedliche<br />
Weise angeeignet werden. Die Erhebung<br />
informeller Lernprozesse ist somit generell schwierig,<br />
da diese vielfach nicht nur ungeplant und außerhalb<br />
geregelter Lernumwelten stattfinden, sondern zudem<br />
die möglichen Einflussvariablen nur schwer getrennt<br />
voneinander betrachtet werden können (vgl. Reinders<br />
2009, S. 20ff).<br />
Diese Vielfalt und Nicht-Fassbarkeit der unterschiedlichen<br />
Lerninhalte und -formen erschwert es, Dimensionen<br />
des Lernens in diesen Settings zu beschreiben.<br />
Es gibt bisher keine geprüften Instrumente, mit<br />
denen man unterschiedlichste Formen des Kompetenzerwerbs<br />
messen und erfassen kann. Dies gilt<br />
noch mehr für informelle Lernprozesse, da diese von<br />
ihrem Charakter her ungeplant sind und damit kaum<br />
gezielt beobachtet, geschweige denn gemessen werden<br />
können.<br />
Mehr noch: Die Schwierigkeiten der Annäherung an<br />
den Kompetenzerwerb im Rahmen informellen Lernens<br />
hängen auch damit zusammen, dass hierbei die<br />
Frage nach den anderen Bildungsorten mit Fragen<br />
nach den anderen Bildungsinhalten und den anderen<br />
Bildungsmodalitäten, also den Formen der Aneignung
und des Lernens, vielfach bis zur Unkenntlichkeit ineinander<br />
vermengt werden (vgl. dazu ausführlich<br />
Rauschenbach 2009b). Das heißt: Es existiert keine<br />
einheitliche Vorstellung davon, was informelles Lernen<br />
eigentlich heißen könnte. Hinzu kommt, dass in<br />
der bisherigen gesamten Kompetenzforschung kaum<br />
ein Augenmerk auf die Frage gelegt worden ist, wo<br />
und wie Kompetenzen eigentlich erworben werden.<br />
Orte und Modalitäten des Kompetenzerwerbs spielen<br />
vorerst kaum eine Rolle. Dies aber macht es für die<br />
weitaus diffuseren, weniger standardisierten Formen<br />
des informellen Lernens noch schwieriger, Orte, Inhalte<br />
und Formen genauer zu benennen.<br />
Hinzu kommt ein weiteres Problem. Nicht zuletzt<br />
um dem Sachverhalt gerecht zu werden, dass Kompetenzen<br />
nicht auf die Enge der bisherigen untersuchten<br />
Kompetenzdimensionen der PISA-Forschung<br />
reduziert werden können, ist ein erweiterter,<br />
kompetenzbasierter Bildungsbegriff erforderlich, wie<br />
er beispielsweise im 12. Kinder- und Jugendbericht<br />
zugrunde gelegt worden ist (vgl. BMFSFJ 2005). Dieser<br />
beinhaltet vier Kompetenzdimensionen:<br />
1 . Unter kultureller Kompetenz wird die sprachlichsymbolische<br />
Fähigkeit verstanden, sich die von<br />
Menschen geschaffene kulturelle Welt mittels<br />
Zeichen und Sprache sinnhaft zu erschließen, sie<br />
zu deuten, zu verstehen, sich in einer Symbolwelt<br />
bewegen zu können. Das kommt vor allem dem<br />
traditionellen Verständnis von Bildung nahe, also<br />
dem, was Schule leisten soll.<br />
2 . Als instrumentelle Kompetenz umschreibt der 12.<br />
Kinder- und Jugendbericht jene Fähigkeiten, die<br />
sich auf die materiell-dingliche Welt beziehen,<br />
etwa sich praktisch, physisch im Leben bewegen<br />
und verhalten zu können, also nicht nur mental,<br />
semantisch oder virtuell, sondern sich ganz konkret<br />
in einer stofflichen Umgebung, in der Natur,<br />
in einer Welt von Produkten, in einer technischen<br />
Welt zurechtzufinden (eine Fähigkeit, die in modernen<br />
Informations- und Wissensgesellschaften<br />
immer stärker unterschätzt wird).<br />
3 . Der dritte Kompetenzbereich, die soziale Kompetenz,<br />
ist auf die soziale (Um-)Welt ausgerichtet<br />
und umfasst, vereinfacht ausgedrückt, all das, was<br />
sich auf andere Menschen, auf das menschliche<br />
Zusammenleben, auf das Gemeinwesen bezieht,<br />
also etwa kommunikative Kompetenz, soziale Verantwortung<br />
oder politische Bildung.<br />
4 . Und schließlich bedarf es einer vierten Kompetenzdimension,<br />
die sich auf die subjektive Welt<br />
bezieht. Angesprochen wird damit die personale<br />
Kompetenz, also etwa die Fähigkeiten, mit sich<br />
selbst, mit seinen eigenen Emotionen, Hoffnungen<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
und Ängsten, mit seiner eigenen Körperlichkeit<br />
umgehen zu können, sich selber wahrzunehmen,<br />
sich zu sich selbst verhalten zu können und so etwas<br />
wie eine personale Identität zu entwickeln.<br />
Informelles Lernen und damit auch der Kompetenzerwerb<br />
im zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong> bewegt<br />
sich dabei vor allem in den drei letztgenannten<br />
Bereichen. Zivilgesellschaftliches <strong>Engagement</strong> hat<br />
insoweit insbesondere für junge, aber auch für alle<br />
anderen Menschen, eine eigene Bildungsrelevanz<br />
(vgl. Rauschenbach u. a. 2007). Dies ist Thema des<br />
folgenden Abschnitts.<br />
4. Bildung im zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong><br />
In den letzten Jahren rückten die Bildungspotenziale<br />
jugendlichen <strong>Engagement</strong>s verstärkt in den Mittelpunkt.<br />
In Wissenschaft, Politik und den Organisationen<br />
des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s wird allgemein<br />
davon ausgegangen, dass das <strong>Engagement</strong> junger<br />
Menschen Lern- und Bildungsprozesse, insbesondere<br />
sozialer Art, sowie das Hineinwachsen in demokratische<br />
Spielregeln befördert (vgl. Thole/Hoppe 2003;<br />
Enquete-Kommission 2002; Otto/Rauschenbach<br />
2004; Corsa 1998, 2003). So sind die Themen Bildung,<br />
Demokratielernen und Kompetenzerwerb durch<br />
freiwilliges <strong>Engagement</strong> in den letzten Jahren zunehmend<br />
in den Blick der empirischen Forschung geraten.<br />
In der jüngeren Jugendverbandsforschung etwa<br />
werden verstärkt Fragen des Kompetenzerwerbs,<br />
des sozialen Lernens und der Nachhaltigkeit der im<br />
<strong>Engagement</strong> erworbenen Fähigkeiten ins Blickfeld<br />
gerückt (vgl. Lehmann 2005; Fauser/Fischer/Münchmeier<br />
2006; Schwab 2006; Reinders 2005; Richter/<br />
Jung/Riekmann 2006). Hofer/Buhl (2000) kommen<br />
bei der Sichtung empirischer Studien zum Einfluss<br />
freiwilligen <strong>Engagement</strong>s auf die Persönlichkeitsentwicklung<br />
junger Menschen zu dem Befund, dass trotz<br />
der Heterogenität der Forschungsergebnisse von positiven<br />
Einflüssen sozialen <strong>Engagement</strong>s auf die Persönlichkeitsentwicklung<br />
ausgegangen werden kann.<br />
Die Studie von Düx u. a (2008) 2 weist darauf hin,<br />
dass im <strong>Engagement</strong> Heranwachsender neben sozialen<br />
und persönlichkeitsbildenden Eigenschaften<br />
bzw. Fähigkeiten insbesondere Organisations-, Leitungs-,<br />
Team- und Gremienkompetenzen entwickelt<br />
und vertieft werden. Anders als in der Schule wird<br />
überwiegend durch Handeln in Realsituationen gelernt<br />
im Sinne von „learning by doing“. Die in § 11 des<br />
Achten Sozialgesetzbuches definierte Aufgabe der<br />
Jugendarbeit, junge Menschen zu Selbstbestimmung<br />
und gesellschaftlicher Mitverantwortung sowie zu so-<br />
77
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
zialem <strong>Engagement</strong> zu befähigen, scheinen die Jugendverbände<br />
zu erfüllen. Sie fungieren als Ermöglichungsräume,<br />
in denen Heranwachsende befähigt<br />
werden, in realen Situationen gesellschaftliche Verantwortung<br />
zu übernehmen und an der mikrosozialen<br />
Gestaltung der Gesellschaft teilzuhaben.<br />
In puncto Kompetenzerwerb wird deutlich, dass die in<br />
ihrer Jugend Engagierten, verglichen mit der Gruppe<br />
der Nicht-Engagierten, über ein breiteres Spektrum<br />
an Erfahrungen und Kompetenzen verfügen. Besonders<br />
groß sind die Differenzen zwischen den beiden<br />
Gruppen, wenn es um Organisations-, Gremien- und<br />
Leitungskompetenzen geht. Zudem zeigt sich ein<br />
Zusammenhang zwischen dem jugendlichen <strong>Engagement</strong><br />
und der gesellschaftlichen Beteiligung im Erwachsenenalter.<br />
Mit anderen Worten: Freiwilliges <strong>Engagement</strong><br />
junger Menschen hat auch Auswirkungen<br />
auf das gesellschaftliche <strong>Engagement</strong> im Erwachsenenalter.<br />
Wer als Jugendlicher gesellschaftliche Verantwortung<br />
im freiwilligen <strong>Engagement</strong> übernimmt,<br />
macht dies mit größerer Wahrscheinlichkeit auch im<br />
Erwachsenenalter.<br />
Im Anschluss an die neu entfachte Bildungsdebatte<br />
nach PISA wurde schließlich in den letzten Jahren<br />
das freiwillige <strong>Engagement</strong> zudem als eine wichtige<br />
gesellschaftliche Ressource und soziale Quelle entdeckt,<br />
nicht zuletzt auch als ein Bildungsort für Heranwachsende.<br />
Freiwilliges <strong>Engagement</strong> besitzt also<br />
spezifische Potenziale zum Kompetenzerwerb. Kurz:<br />
Es<br />
• ist ein eigenes, wichtiges Lernfeld,<br />
• ist ein Übungsfeld für politische Bildung und demokratische<br />
Kompetenz,<br />
• bietet unterschiedlichen Akteuren unterschiedliche<br />
Lerngewinne,<br />
• ist ein wichtiger Ort der sozialen Integration,<br />
• ist ein wichtiges Rekrutierungsfeld für Sozial-,<br />
Erziehungs- und Gesundheitsberufe und<br />
• bietet eher gut gebildeten Jugendlichen zusätzliche<br />
Lernchancen, wodurch aber auch wiederum<br />
schichtspezifische Unterschiede verstärkt werden.<br />
Mit Blick auf Settings des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s<br />
als Orte und Gelegenheiten des Lernens lässt sich<br />
demnach festhalten: Während junge Menschen in<br />
der Schule oder in der Arbeitswelt meist in der Rolle<br />
der Schülerin oder des Schülers bzw. des Arbeitnehmenden<br />
verhaftet bleiben, und daher dort so etwas<br />
wie institutionalisierte partikularisierte Rollenbeziehungen<br />
dominieren, müssen sie sich im freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong> in aller Regel als eigene Person einbrin-<br />
78<br />
gen, können sich jedoch zugleich aber auch selbst<br />
als Person erfahren. Im freiwilligen <strong>Engagement</strong><br />
kommt somit stärker die „ganze Person“ zum Tragen,<br />
so dass das hierauf bezogene Lernen auch eine erhöhte<br />
Chance eines verbundenen „Lernens mit Kopf,<br />
Herz und Hand“ eröffnet. Hierin liegt das bislang unterschätzte<br />
Potenzial alternativer, ergänzender Bildungsprozesse<br />
des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s <strong>–</strong> etwa<br />
in Jugendfreiwilligendiensten (vgl. Rauschenbach/<br />
Liebig 2002; Rauschenbach 2007a) <strong>–</strong> in den gegenwärtigen<br />
Bildungsbiografien junger Menschen.<br />
Dass junge Menschen nach eigener Einschätzung<br />
von diesem <strong>Engagement</strong> auch profitieren, legen die<br />
Befunde mehrerer empirischer Studien nahe, sei es<br />
der Freiwilligensurvey von 2004 (vgl. Gensicke/Picot/Geiss<br />
2006), die Evaluationsstudie zum Freiwilligen<br />
Sozialen bzw. Ökologischen Jahr sowie andere<br />
Studien zu diesem Themenbereich (Rauschenbach<br />
2007a), kleinere Studien zum Lernen im Freiwilligenengagement<br />
(vgl. Lehmann 2005) und nicht zuletzt<br />
die genannte, umfangreiche Studie zum Kompetenzerwerb<br />
im Freiwilligenengagement (vgl. Düx u. a.<br />
2008). 3<br />
Nach den Befunden der zuletzt genannten Studie und<br />
der dabei durchgeführten qualitativen Erhebungen<br />
kommen Lernprozesse in den Settings des freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong>s <strong>–</strong> im Unterschied zur Schule <strong>–</strong> in<br />
der Regel den Interessen der Jugendlichen weitaus<br />
näher, sofern diese in selbstbestimmter Form und mit<br />
selbst gewählten Inhalten stattfinden. Die Mehrheit<br />
schreibt den Erwerb der Kompetenzen dabei sowohl<br />
den offenen Bildungsprozessen in non-formalen Kontexten<br />
als auch den informellen Lernpotenzialen in<br />
den Formen des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s zu.<br />
Insgesamt gilt es, Jugendliche in diesen Formen des<br />
<strong>Engagement</strong>s und den darauf bezogenen Urteilen<br />
ernst zu nehmen und zu unterstützen. So können<br />
sie erfahren, dass das eigene Handeln auch Konsequenzen<br />
für sie selbst, für ihre Zukunft, aber auch für<br />
Dritte hat. Sobald sie sich nur als Anhängsel einer<br />
Erwachsenenkultur empfinden, wird die Chance ihrer<br />
aktiven, bildenden Beteiligung verschenkt. Kinder und<br />
Jugendliche müssen Übernahme von sozialer Verantwortung<br />
positiv, partizipativ erleben können und sehen,<br />
dass es etwas bringt, sich selbst einzubringen. 4<br />
5. Handlungsempfehlungen<br />
Abschließend werden vor dem Hintergrund der hier<br />
gemachten Ausführungen einige Handlungsempfehlungen<br />
für die weitere Gestaltung und den Ausbau der
Bildungspotenziale im freiwilligen, zivilgesellschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong> formuliert:<br />
1 . Freiwilligenengagement junger Menschen als gesellschaftliche<br />
Ressource: Menschen, die sich in<br />
ihrer Jugend zivilgesellschaftlich engagiert haben,<br />
werden sich auch im Erwachsenenalter mit einer<br />
höheren Wahrscheinlichkeit engagieren. Dieser<br />
Zusammenhang muss aus zwei Gründen im Blick<br />
behalten werden: Zum einen ist das <strong>Engagement</strong><br />
im Jugendalter eine wichtige Voraussetzung für<br />
ein generelles zivilgesellschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
im späteren Lebensalter, aber auch für ein höheres<br />
Maß an sozialer Teilhabe und Mitgestaltung einer<br />
zivilgesellschaftlichen Demokratie. Zum anderen<br />
ist in den nächsten 25 Jahren im Lichte des demografischen<br />
Wandels ein eher steigender Bedarf<br />
an personenbezogenen sozialen Dienstleistungen<br />
(„Dienste am Menschen“) zu erwarten, wofür die<br />
Erfahrungen eines zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
im Jugendalter in vielen Fällen eine wichtige<br />
Vorerfahrung ist. Daher kommt der Frage des<br />
freiwilligen <strong>Engagement</strong>s im Jugendalter in Zukunft<br />
eine eher wachsende Bedeutung zu.<br />
2. Notwendige zivilgesellschaftliche Freiräume: Das<br />
zivilgesellschaftliche <strong>Engagement</strong> zu Beginn des<br />
21. Jahrhunderts stellt sich vielfältiger und dynamischer<br />
dar, als es von außen oft betrachtet wird.<br />
In diesem <strong>Engagement</strong> kommt auch ein Stück weit<br />
das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum<br />
zum Ausdruck, vermittelt über sogenannte<br />
„intermediäre Instanzen“, also über Vereine, Verbände,<br />
Kirchen und vieles mehr. Die Formen des<br />
<strong>Engagement</strong>s sind dabei nicht nur Ausdruck der<br />
individuellen Bereitschaft, etwas für sich, für andere<br />
oder für eine Sache aus freien Stücken, jenseits<br />
beruflicher und finanzieller Interessen zu tun. Sie<br />
sind zugleich immer auch eine Zustandsbeschreibung<br />
der sich verändernden gesellschaftlichen<br />
Kontexte. Genau in dieser Hinsicht wird es in Zukunft<br />
mehr denn je darauf ankommen, ob die gesellschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen dem „Projekt<br />
Zivilgesellschaft“ genügend Raum lassen, um<br />
sich produktiv weiterzuentwickeln. Hierfür müssen<br />
künftig noch mehr als bisher alle Akteure, die am<br />
Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen beteiligt<br />
sind, ihren Beitrag leisten. Dies gilt für Kindertageseinrichtungen<br />
ebenso wie für die Schule, für<br />
die Kinder- und Jugendarbeit gleichermaßen wie<br />
für Vereine und Initiativen.<br />
3. Bedeutung anderer Bildungsorte: Bisherige Orte<br />
des zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong>s, etwa<br />
die Offene Jugendarbeit, die Jugendverbandsarbeit,<br />
das kommunale Vereinswesen oder die Angebote<br />
der politischen Bildung, müssen mit ihren<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Angeboten und Ressourcen stärker mit der Schule<br />
vernetzt werden, etwa im Rahmen der Ganztagsschulen<br />
als Bestandteil des nicht-unterrichtlichen<br />
Angebots oder im Rahmen der lokalen Bildungslandschaften.<br />
Insgesamt wird es entscheidend<br />
darauf ankommen, ob es gelingt, junge Menschen<br />
im Rahmen der schulbezogenen Teilhabe auch für<br />
Fragen des zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
zu gewinnen. Schule sollte ungleich mehr als in<br />
der Vergangenheit zu einem Ort der Einübung in<br />
sozialer Verantwortungsübernahme werden. Nur<br />
dadurch kann es gelingen, auch jene jungen Menschen<br />
zu erreichen, die bislang keine Zugänge zu<br />
den außerschulischen Angeboten gefunden haben,<br />
ohne dass sich die Frage neuer Pflichtdienste<br />
oder ähnlicher Wege der Beteiligung stellt.<br />
4. Kompetenzforschung und die Bedeutung freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong>s: Nach wie vor ist eine systematische<br />
Unterschätzung der Bildungspotenziale<br />
des Freiwilligenengagements zu beobachten.<br />
Die durch Formen des zivilgesellschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s erworbenen Kompetenzen müssen<br />
in Zukunft besser sichtbar gemacht, stärker<br />
gesellschaftlich anerkannt und bildungspolitisch<br />
aufgewertet werden. Hierzu gehört auch eine<br />
verbesserte Erforschung im Rahmen der Kompetenzdiagnostik<br />
und einer außerschulischen Bildungsforschung.<br />
Als Thema der <strong>Engagement</strong>forschung<br />
muss es zu einem Standardthema werden.<br />
5. Jugendliche als Zivilakteure der Gegenwart und<br />
Zukunft: Es gilt, junge Menschen als Akteure und<br />
Ko-Produzenten in ihrem freiwilligen <strong>Engagement</strong><br />
und in ihrem Urteil ernst zu nehmen. Sie müssen<br />
in diesem <strong>Engagement</strong> erfahren können, dass<br />
das eigene Handeln auch Konsequenzen für sie<br />
selbst, für ihre Zukunft, aber auch für Dritte hat.<br />
Die Jugend braucht eigene, von der Erwachsenenwelt<br />
unabhängige, Verantwortungsräume,<br />
sonst wird die Chance ihrer aktiven Beteiligung<br />
verschenkt. Junge Menschen müssen Demokratie<br />
positiv, partizipativ erleben können und sehen,<br />
dass es Folgen hat, sich selbst einzubringen. Nur<br />
so kann ihre Demokratiefähigkeit wachsen. Aktive<br />
Einbindung stärkt die Akzeptanz von politischen<br />
Gestaltungsprozessen.<br />
6. Zivilgesellschaftliches <strong>Engagement</strong> als jugendlicher<br />
Lebensstil: Jugendliche engagieren sich aus<br />
eigenem Interesse und eigener Bereitschaft. Es ist<br />
damit eine (eigentlich dankbare) Aufgabe für Politik<br />
und Gesellschaft, den Jugendlichen Zugänge<br />
und Gelegenheiten zu freiwilligem <strong>Engagement</strong><br />
und zu aktiver Partizipation zu eröffnen <strong>–</strong> und das<br />
nicht nur auf den vermeintlichen „Spielwiesen“ der<br />
außerschulischen Jugendarbeit, sondern auch<br />
ganz gezielt inmitten der öffentlichen Bildungssy-<br />
79
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
steme, also etwa an den Schulen oder Universitäten.<br />
Hier bestehen noch erhebliche, ungenutzte<br />
Gestaltungspotenziale.<br />
7. Verbesserte Bedingungen der Erreichbarkeit junger<br />
Menschen: Um die Bildungspotenziale des<br />
zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong>s stärker zu<br />
nutzen, müssen die Rahmenbedingungen für das<br />
freiwillige <strong>Engagement</strong> in der außerschulischen<br />
Jugendbildung, aber auch im Rahmen der Freiwilligendienste<br />
sowie vor allem in der Zusammenarbeit<br />
mit der Schule verbessert und ausgebaut<br />
werden. Nur so können die Kompetenzdimensionen<br />
des zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
vom Grundsatz her alle Kinder und Jugendlichen<br />
erreichen.<br />
Anhang<br />
1. Ausgewählte zentrale Ergebnisse der Studie<br />
zum Kompetenzerwerb von Jugendlichen im<br />
freiwilligen <strong>Engagement</strong> (vgl. Düx u. a. 2008).<br />
Die Kernfrage der Studie lautete: Was lernen Jugendliche<br />
durch ein freiwilliges <strong>Engagement</strong> in ehrenamtlichen<br />
Settings? Um Antworten auf diese Frage zu erhalten,<br />
wurden zwei Erhebungen durchgeführt. Zum<br />
einen wurden im Rahmen einer qualitativen Erhebung<br />
74 engagierte Jugendliche im Alter zwischen 15 und<br />
22 Jahren sowie 13 ehemals engagierte Erwachsene<br />
zu ihren (Lern-)Erfahrungen in drei unterschiedlichen<br />
Settings des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s leitfadengestützt<br />
interviewt <strong>–</strong> in Jugendverbänden, in Initiativen<br />
und in der politischen Interessenvertretung bzw.<br />
Schülervertretung.<br />
Zum anderen wurden in einer standardisierten, telefonischen<br />
Erhebung über 2.000 Personen im Alter zwischen<br />
25 und 40 Jahren befragt, von denen 1.500 im<br />
Jugendalter mindestens ein Jahr ehrenamtlich aktiv<br />
waren, während dies bei den anderen 550 Befragten<br />
nicht der Fall war. Befragt wurden sie vor allem zu<br />
Umfang, Ausmaß und Qualität ihrer selbst eingeschätzten<br />
Kompetenzen sowie zum vermutlichen Einfluss<br />
der unterschiedlichen Bildungsorte auf diesen<br />
Kompetenzerwerb. Auf diese Weise sollten sich zumindest<br />
Hinweise identifizieren lassen, ob und wenn<br />
ja, in welchen Bereichen diese Settings engagierten<br />
jungen Menschen exklusive oder zumindest privilegierte<br />
Bildungsmöglichkeiten eröffnen.<br />
Beiden Erhebungen lässt sich zunächst einmal<br />
entnehmen, dass die untersuchten Segmente des<br />
freiwilliges <strong>Engagement</strong>s für junge Menschen aus<br />
deren Sicht wichtige gesellschaftliche Lernfelder<br />
80<br />
darstellen, in denen Kompetenzen vor allem in den<br />
Dimensionen personaler, sozialer und praktischer<br />
Bildung erworben werden. Die Befunde unterstützen<br />
dabei die These, dass hier anders und Anderes gelernt<br />
wird als in der Schule. Dies lässt sich in mehrfacher<br />
Hinsicht zeigen und anhand einiger Themenblöcke<br />
illustrieren (vgl. ausführlich Düx u. a. 2008,<br />
S. 261ff.).<br />
(1) <strong>Engagement</strong>spezifische Kompetenzen: Während<br />
Schule insbesondere kulturelle <strong>–</strong> und darin überwiegend<br />
kognitive <strong>–</strong> Kompetenzen vermittelt, weisen<br />
die Befunde der qualitativen Untersuchung vor allem<br />
auf die Entwicklung sozialer und personaler Kompetenzen<br />
durch ein entsprechendes ehrenamtliches<br />
<strong>Engagement</strong> hin. Die Ergebnisse der standardisierten<br />
Untersuchung <strong>ermöglichen</strong> darüber hinaus weitere<br />
Präzisierungen: Durch ein ehrenamtliches <strong>Engagement</strong><br />
werden ganz spezifische Bereiche der sozialen<br />
Bildung und der Persönlichkeitsbildung entwickelt<br />
und gefördert, nicht zuletzt so etwas wie Management-<br />
oder Leitungskompetenzen. Und die dort erworbenen<br />
Kompetenzen werden als „extrafunktionale<br />
Fertigkeiten“ überall genutzt, sind gewissermaßen<br />
multifunktional einsetzbar: in der Schule, in der Familie<br />
und im Freundeskreis ebenso, wie in der Arbeitswelt<br />
und im Beruf.<br />
(2) Zunahme des sozialen Kapitals durch das <strong>Engagement</strong>:<br />
Neben der Erweiterung des Wissens und<br />
Könnens im Bereich der sozialen und personalen<br />
Kompetenzen spielt der Erwerb sozialen Kapitals,<br />
d. h. der Aufbau (neuer) persönlicher Kontakte und<br />
Beziehungen, in allen Settings des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s<br />
eine große Rolle. Wie zahlreiche Aussagen<br />
in den Interviews nahe legen, lassen sich<br />
im Rahmen des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s Erfahrungen<br />
sozialer Zugehörigkeit machen, die weit<br />
über den sozialen Nahraum der Familie hinausgehen<br />
und den Handlungsspielraum sowie das Beziehungsnetz<br />
Heranwachsender zum Teil erheblich<br />
erweitern.<br />
(3) Engagierte und Nicht-Engagierte im Vergleich: Es<br />
zeigt sich, dass die in ihrer Jugend Engagierten durchgängig<br />
über ein breiteres Spektrum an Erfahrungen<br />
und damit offenbar auch über mehr Kompetenzen<br />
verfügen als Nicht-Engagierte. Besonders groß sind<br />
die Differenzen zwischen diesen beiden Gruppen mit<br />
Blick auf bestimmte Aspekte sozialer und kultureller<br />
Kompetenzen, vor allem bei organisatorischen Aufgaben,<br />
Gremienarbeit, rhetorischen Fähigkeiten, pädagogischen<br />
Aktivitäten (Gruppenleitung und Training)<br />
sowie Teamerfahrungen, der Publikation eigener<br />
Texte sowie den Leitungskompetenzen.
Besonders schwach sind Unterschiede hingegen zwischen<br />
den früher Engagierten und Nicht-Engagierten<br />
vor allem in Bereichen, die eher alltagspraktische,<br />
soziale oder instrumentelle Kompetenzen berühren,<br />
die überall vorkommen können, sei es die Betreuung<br />
kleiner Kinder, kranker oder alter Menschen, sei es<br />
die Beratung in Beziehungskonflikten oder sei es die<br />
Reparatur eines technischen Gerätes. Aber auch bei<br />
jenen kulturellen Kompetenzen, die man insbesondere<br />
in der Schule oder in der Berufsausbildung erwirbt,<br />
z. B. musikalische Fertigkeiten, des Erlernen einer<br />
Fremdsprache oder die Erstellung einer Finanzabrechnung,<br />
sind die Differenzen zwischen den einst<br />
Engagierten und Nicht-Engagierten relativ gering.<br />
(4) Freiwilliges <strong>Engagement</strong> <strong>–</strong> ein wichtiger Lernort für<br />
demokratische Bildung: Die von Wissenschaft, Politik<br />
und Verbänden vertretene Annahme, dass das <strong>Engagement</strong><br />
Jugendlicher ein wichtiger gesellschaftlicher<br />
Lernort für den Erwerb und die Förderung sozialer Eigenschaften<br />
und Fähigkeiten ist, wird im quantitativen<br />
wie qualitativen Teil der Studie bestätigt. Allerdings lassen<br />
sich in der standardisierten Erhebung keine Hinweise<br />
dafür finden, dass das freiwillige <strong>Engagement</strong> in<br />
der Jugendarbeit hierfür ein exklusiver Lernort wäre.<br />
Beide Befragungen liefern jedoch hinreichend Indizien,<br />
die die allgemeine Annahme einer verbesserten<br />
Entwicklung und Einübung demokratischer<br />
Fähigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen durch<br />
Verantwortungsübernahme im Rahmen eines ehrenamtlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s unterstreichen. Für die für<br />
Mitbestimmung und Mitgestaltung einer demokratischen<br />
Zivilgesellschaft wichtigen Kompetenzen wie<br />
Interessenvertretung und „Gremienkompetenz“, also<br />
die Kenntnis und Anwendung formal-demokratischer<br />
Verfahrensweisen und Spielregeln, scheint das freiwillige<br />
<strong>Engagement</strong> für Jugendliche allerdings vorerst<br />
ein nahezu exklusiver Lernort zu sein.<br />
(5) Reflexionsvermögen und Handlungswirksamkeit:<br />
In der <strong>Engagement</strong>-Studie bestätigen sich darüber<br />
hinaus Befunde amerikanischer Untersuchungen<br />
zum sozialen <strong>Engagement</strong> Heranwachsender, wonach<br />
Jugendliche dabei mit Inhalten, Normen und<br />
Werten konfrontiert werden, die ihre Reflexion über<br />
gesellschaftspolitische Bedingungen und ihre eigene<br />
Rolle innerhalb der Gesellschaft hin zu mehr sozialem<br />
und politischem Bewusstsein anregen können.<br />
Zugleich erhalten sie hier die Möglichkeit, durch ihr<br />
eigenes freiwilliges, aktives <strong>Engagement</strong> sich selbst<br />
als Handelnde zu erleben, die durch ihre Mitwirkung<br />
in gemeinnützigen Organisationen kleine oder größere<br />
Veränderungen herbeiführen können.<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
(6) Erfahrung gesellschaftlicher Nützlichkeit: Durch<br />
die lange Schulphase werden Heranwachsende in<br />
Deutschland weitgehend von sozialer und gesellschaftlicher<br />
Verantwortungsübernahme ferngehalten.<br />
Die qualitativen Interviews liefern Hinweise dafür,<br />
dass das freiwillige <strong>Engagement</strong> jungen Menschen<br />
demgegenüber bereits im Jugendalter die Möglichkeit<br />
eröffnet, in einem geschützten Rahmen nach und<br />
nach soziale und gesellschaftliche Aufgaben sowie<br />
Verantwortung für andere zu übernehmen. Auf diese<br />
Weise können sie die für Heranwachsende wichtige<br />
Erfahrung konkreter Nützlichkeit sowie gesellschaftlicher<br />
Relevanz ihres eigenen Tuns machen.<br />
(7) <strong>Engagement</strong>spezifische Lernchancen und -formen:<br />
Die organisatorischen Formen des <strong>Engagement</strong>s<br />
unterscheiden sich von vielen anderen<br />
Lernorten vor allem dadurch, dass hier bereits im Kindes-<br />
und Jugendalter durch die aktive, partielle Übernahme<br />
von Verantwortung in der konkreten Praxis in<br />
Ernstsituationen gelernt wird. Gemäß den Befunden<br />
der qualitativen Erhebung scheinen die Lernprozesse<br />
in Settings des freiwilligen <strong>Engagement</strong>s <strong>–</strong> im<br />
Unterschied zur Schule <strong>–</strong> in der Regel den eigenen<br />
Interessen der Jugendlichen weitaus mehr zu entsprechen,<br />
zumal sie in einem Umfeld in häufig selbstbestimmter<br />
Form und mit selbst gewählten Inhalten<br />
stattfinden.<br />
Die Kombination von hoher Motivation durch frei<br />
gewählte Verantwortungsbereiche und einem gemeinsamen<br />
Handeln in der Gleichaltrigengruppe,<br />
verbunden mit den Herausforderungen durch die<br />
übernommene Verantwortung sowie der Unterstützung<br />
durch Erwachsene, bietet spezifische lern- und<br />
entwicklungsförderliche Bedingungen, die die Settings<br />
des ehrenamtlichen <strong>Engagement</strong>s zu besonderen<br />
Lernfeldern und „Ermöglichungsräumen“ für Heranwachsende<br />
machen. In der Freiwilligkeit, Vielfalt und<br />
Selbstbestimmtheit des Lernens liegen die Chancen<br />
und Stärken dieses außerschulischen Lernfeldes.<br />
(8) „Learning by doing“: Obwohl Fortbildungsveranstaltungen<br />
wichtig und auch in der Jugendarbeit für<br />
eine Reihe von Aufgaben nahezu unerlässlich sind<br />
<strong>–</strong> insbesondere in den Hilfs- und Rettungsorganisationen<br />
sowie für die eigene Arbeit mit Kindern und<br />
Jugendlichen <strong>–</strong>, zeigt sich doch zugleich, dass für<br />
die Aneignung vieler Kompetenzen das „learning<br />
by doing“, also das lernende Handeln unter Realbedingungen,<br />
das Sammeln von eigenen Erfahrungen<br />
ohne die handlungsentlastenden Als-Ob-Situationen<br />
typischer schulischer Lernsettings, in der Praxis des<br />
<strong>Engagement</strong>s eine erhebliche Bedeutung hat.<br />
81
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Insgesamt zeigen die Befunde der Studie, dass nur<br />
wenige der Engagierten, die angeben, ihre Kompetenzen<br />
überwiegend im ehrenamtlichen <strong>Engagement</strong><br />
erworben zu haben, hierfür ausschließlich Kurse und<br />
Schulungen der Organisationen nennen. Die Mehrheit<br />
schreibt den Erwerb der Kompetenzen sowohl<br />
den offenen Bildungsprozessen in non-formalen Kontexten<br />
als auch den informellen Lernpotenzialen in<br />
den Formen des praktischen <strong>Engagement</strong>s zu. Dieser<br />
Befund lässt sich anhand der qualitativen Befragung<br />
bestätigen, bei der an vielen Beispielen deutlich wird,<br />
dass im <strong>Engagement</strong> informelle und non-formale<br />
Lernmöglichkeiten und -angebote ineinander greifen<br />
und sich gegenseitig verstärken.<br />
Die Studie scheint somit im Kern den Befund zu belegen,<br />
dass in den aktivierenden Formen jugendlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s zumindest für die ehrenamtlich aktiven<br />
Personen erhebliche Bildungspotenziale enthalten<br />
sind und nach Einschätzung der Betroffenen diese bei<br />
ihnen auch wiederholt zum Tragen kamen. Dennoch<br />
muss in den nächsten Jahren die diesbezügliche Forschung<br />
weiter intensiviert werden, um das potenzielle<br />
Leistungsvermögen und die tatsächlich abgerufenen<br />
Leistungen der Kinder- und Jugendarbeit für die Kinder<br />
und Jugendlichen ebenso wie für die ehrenamtlich<br />
aktiven Personen differenzierter zu erfassen.<br />
2. Weitere Befunde aus empirischen Studien<br />
zur Verantwortungsübernahme und prosozialem<br />
Verhalten<br />
Die bereits erwähnten Studien wie die 13. und 14.<br />
Shell-Jugendstudie (vgl. Jugendwerk der Deutschen<br />
Shell 2000, 2002) weisen auf einen positiven Zusammenhang<br />
zwischen zivilgesellschaftlichem <strong>Engagement</strong><br />
und politischem Interesse, politischer Aktivität<br />
sowie Vertrauen in politische Institutionen hin. Die<br />
Studien von Reinders (2005, 2006) zeigen ganz ähnlich,<br />
dass zivilgesellschaftlich Engagierte sich stärker<br />
an politischen Wahlen beteiligen als Nichtengagierte.<br />
Die kausalen Zusammenhänge von Prosozialität<br />
und zivilgesellschaftlichem <strong>Engagement</strong> benötigen<br />
allerdings noch genauere Untersuchungen, wie eine<br />
aktueller Befund von Prein u.a . zeigt (vgl. Prein/Sass/<br />
Züchner 2009, S. 538f.).<br />
In Studien aus den USA, die entgegen den deutschen<br />
Studien zum Teil Längsschnittcharakter besitzen,<br />
zeigt sich bei sozial engagierten im Highschool-Alter,<br />
dass die Bereitschaft zu politischer Partizipation und<br />
die prosoziale Orientierung bei gemeinnützig Tätigen<br />
im Zeitverlauf zunimmt (vgl. Metz/McLellan/Youniss<br />
2003). Die Längsschnittstudien zeigen aber auch, dass<br />
die kausale Erklärung des politischen und sozialen In-<br />
82<br />
teresses nicht oder nur schwach über das soziale <strong>Engagement</strong><br />
im Community Service erfolgen kann, da<br />
das entsprechende Interesse bei diesen Jugendlichen<br />
bereits von Anfang an höher ist (vgl. Kerestes/Youniss/<br />
Metz 2004). Die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf<br />
Deutschland bleibt jedoch fraglich und bedarf vergleichender<br />
Studien (vgl. Reinders 2009, S. 21).<br />
Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch das aus dem<br />
amerikanischen stammende „Service learning“ (vgl.<br />
Sliwka/Frank 2004; Sliwka u. a. 2004). Service kann<br />
mit „Dienst am Gemeinwohl“ übersetzt werden,<br />
welches neben verbesserten Lernleistungen, so die<br />
Hoffnung, verantwortliche Persönlichkeiten und einen<br />
vertieften Lernerfolg <strong>ermöglichen</strong>. Es stellt ein<br />
Konzept des Lehrens und Lernens dar, welches Wissens-<br />
und Kompetenzerwerb integriert. Kern des<br />
Konzeptes ist der Gedanke, dass die Lernenden <strong>–</strong> in<br />
der Regel Schüler/innen oder Studierende <strong>–</strong> ihr Wissen<br />
in gemeinnützige Tätigkeiten einbringen, erweitern<br />
und sich zusätzliche Kompetenzen aneignen.<br />
Erste Hinweise zur Wirkung des Konzepts finden sich<br />
lediglich im Hinblick auf ein gesteigertes subjektives<br />
Wissen (vgl. Reinders 2009, S. 31). Weitergehende<br />
Forschungen stehen für Deutschland noch aus.<br />
Interessant und weiterführend ist im Kontext der hier<br />
anstehenden Forschungsfragen schließlich auch ein<br />
allerdings noch nicht empirisch überprüftes Modell<br />
zu Voraussetzungen, Gestalt und Auswirkungen gemeinnütziger<br />
Tätigkeit im Jugendalter von Reinders<br />
(vgl. Reinders 2009, S. 32). (s. Abb. 1)<br />
Kurze Erläuterung des Modells:<br />
• Zu beachten sind die Voraussetzungen für ehrenamtliches<br />
<strong>Engagement</strong>: ausgeprägte soziale Netzwerke,<br />
ein gehobener Bildungsstand, individuelle<br />
Motive (überschaubare Tätigkeit, kurz- bis mittelfristige<br />
Bindung, Spaß bei der Tätigkeit und Anknüpfungspunkte<br />
für eigene Interessen).<br />
• Tätigkeitsformen: Die Befunde von Youniss/Yates<br />
(1997) betonen die Bedeutung der direkten Interaktion<br />
für den Erwerb von sozialen und politischen<br />
Kompetenzen, Düx u. a. (2008) hingegen verweisen<br />
auf den persönlichen Einsatz in Organisationen<br />
und die Übernahme von Leitungstätigkeiten, die die<br />
Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich die personalen<br />
Kompetenzen erweitern (Düx u.a. 2008) im<br />
Sinne der Intensität als förderliche Variable.<br />
• Erfahrungen: Selbstwirksamkeit als möglicher Initiator<br />
für den Kompetenzerwerb.<br />
• Kompetenzen: Kernstück der Argumentation ist die<br />
Entfaltung sozialer Kompetenzen, die eine politisch<br />
mündige Akteursfähigkeit herstellen.
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Abb. 1: Theoretisches Modell zu Voraussetzungen, Gestalt und Auswirkungen gemeinnütziger Tätigkeit im Jugendalter<br />
Dieses Modell könnte dazu beitragen, die Forschungsperspektive<br />
zum Kompetenzerwerb innerhalb<br />
des zivilgesellschaftlichen <strong>Engagement</strong>s zu<br />
systematisieren.<br />
Anmerkungen<br />
1 Die nachfolgenden Teile basieren auf Passagen in<br />
anderen Texten und Veröffentlichungen (vgl. etwa<br />
Rauschenbach 2009c).<br />
2 Die zentralen Ergebnisse sind im Anhang (1) ausführlicher<br />
zu finden.<br />
3 Die zentralen Ergebnisse sind im Anhang (1) zusammengefasst.<br />
4 Weitere empirische Studien, die eine hohe Bedeutung<br />
des <strong>Engagement</strong>s für Verantwortungsübernahme<br />
und prosoziales Verhalten zum Gegenstand<br />
haben, sind kurz im Anhang (2) zusammengefasst.<br />
Literatur<br />
Soziale<br />
Netzwerke<br />
Bildungsstand<br />
Motiv<br />
Region<br />
Voraussetzungen Tätigkeitsformen Erfahrungen Kompetenzerwerb<br />
Quelle: Reinders 2009, S. 32<br />
Tätigkeitsinhalte<br />
Gemeinnützige<br />
Tätigkeit<br />
Tätigkeitsintensität<br />
• Alscher, Mareike/Dathe, Dietmar/Priller, Eckhard/<br />
Speth, Rudolf (2009): Bericht zur Lage und zu<br />
den Perspektiven des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
in Deutschland. Herausgegeben vom<br />
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung<br />
(WZB). Berlin.<br />
• Beher, Karin/Liebig, Reinhard/Rauschenbach,<br />
Thomas (2002): Das Ehrenamt in empirischen<br />
Handlungswirksamkeit<br />
Veränderung<br />
Selbstbild<br />
Personale<br />
Kompetenzen<br />
Soziale<br />
Kompetenzen<br />
Politische<br />
Partizipation<br />
Studien. Ein sekundäranalytischer Vergleich. In:<br />
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen<br />
und Jugend (Hg.), Schriftenreihe Band 163. 3. Aufl.<br />
Stuttgart.<br />
• Buhl, Monika/Kuhn, Hans-Peter (2005): Erweiterte<br />
Handlungsräume im Jugendalter: Identitätsentwicklung<br />
im Bereich gesellschaftlichen <strong>Engagement</strong>s.<br />
In: Schuster, Beate H./Kuhn, Hans-Peter/<br />
Uhlendorf, Harald (Hg.), Entwicklung in sozialen<br />
Beziehungen <strong>–</strong> Heranwachsende in ihrer Auseinandersetzung<br />
mit Familie, Freunden und Gesellschaft.<br />
Stuttgart. S. 217-237.<br />
• Bundesjugendkuratorium (BJK) (Hg.) (2001): Zukunftsfähigkeit<br />
sichern! Für ein neues Verhältnis<br />
von Bildung und Jugendhilfe. Eine Streitschrift des<br />
Bundesjugendkuratoriums. Berlin.<br />
• Bundesjugendkuratorium u. a. (Hg.) (2002): Bildung<br />
ist mehr als Schule. Leipziger Thesen zur aktuellen<br />
bildungspolitischen Debatte. (www.bundesjugendkuratorium.de/pdf/1999-2002/bjk_2002_bildung_<br />
ist_mehr_als_schule2002.pdf, Stand: 25.11.08).<br />
• Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen<br />
und Jugend (BMFSFJ) (Hg.) (2005): Zwölfter Kinder-<br />
und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation<br />
junger Menschen und die Leistungen der<br />
Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Bundestagsdrucksache<br />
15/6014. Berlin.<br />
• Corsa, Mike (1998): Jugendliche, das Ehrenamt und<br />
die gesellschaftspolitische Dimension. In: Recht<br />
der Jugend und des Bildungswesens, 46.Jg., Heft<br />
3. S. 322-334.<br />
83
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
• Corsa, Mike (2003): Jugendverbände und das Thema<br />
„Jugendarbeit und Schule“ <strong>–</strong> aufgezwungen,<br />
nebensächlich oder existenziell? In: deutsche jugend,<br />
51. Jg., Heft 9. S. 369-379.<br />
• Deutsches PISA-Konsortium (Hg.) (2001): PISA<br />
2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und<br />
Schülern im internationalen Vergleich. Opladen.<br />
• Düx, Wiebken (1999): Das Ehrenamt im Jugendverband.<br />
Ein Forschungsbericht. Frankfurt a. M.<br />
• Düx, Wiebken (2000): Das Ehrenamt in Jugendverbänden.<br />
In: Beher, Karin/Liebig, Reinhard/Rauschenbach,<br />
Thomas (Hg.), Strukturwandel des Ehrenamts.<br />
Weinheim/München. S. 99-142.<br />
• Düx, Wiebken/Prein, Gerald/Sass, Erich/Tully,<br />
Claus J. (2008): Kompetenzerwerb im freiwilligen<br />
<strong>Engagement</strong>. Wiesbaden.<br />
• Düx, Wiebken/Sass, Erich (2006): Lernen in informellen<br />
Settings. Ein Forschungsprojekt der Universität<br />
Dortmund und des DJI. In: Tully, Claus J.<br />
(Hg.): Lernen in flexibilisierten Welten. Wie sich<br />
das Lernen der Jugend verändert. Weinheim/München.<br />
S. 201-218.<br />
• Enquete-Kommission (2002): „Zukunft des Bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s“. Deutscher Bundestag.<br />
Bericht. Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>:<br />
auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft,<br />
Schriftenreihe. Band 4. Opladen.<br />
• Fauser, Katrin/Fischer, Arthur/Münchmeier,<br />
Richard (2006): Jugendliche als Akteure im Verband.<br />
Ergebnisse einer empirischen Untersuchung<br />
der Evangelischen Jugend. Band 1. Opladen/Farmington<br />
Hills.<br />
• Gaiser, Wolfgang/de Rijke, Johann (2006): Gesellschaftliche<br />
und politische Beteiligung. In: Gille,<br />
Martina/Sardei-Biermann, Sabine/Gaiser, Wolfgang/de<br />
Rijke, Johann (Hg.), Jugendliche und junge<br />
Erwachsene in Deutschland. DJI-Jugendsurvey.<br />
Band 3. Wiesbaden. S. 213-275.<br />
• Gensicke, Thomas/Picot, Sibylle/Geiss, Sabine<br />
(2006): Freiwilliges <strong>Engagement</strong> in Deutschland<br />
1999-2004. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung<br />
zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und<br />
bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong>. Wiesbaden.<br />
• Gille, Martina/Sardei-Biermann, Sabine/Gaiser,<br />
Wolfgang/de Rijke, Johann (2006): Jugendliche<br />
und junge Erwachsene in Deutschland. Lebensverhältnisse,<br />
Werte und gesellschaftliche Beteiligung<br />
12- bis 29-Jähriger. DJI-Jugendsurvey. Band<br />
3. Wiesbaden.<br />
• Hofer, Manfred/Buhl, Monika (2000): Soziales<br />
<strong>Engagement</strong> Jugendlicher: Überlegungen zu einer<br />
technologischen Theorie der Programmgestaltung.<br />
In: Kuhn, Hans-Peter/Uhlendorf, Harald/<br />
Krappmann, Lothar (Hg.), Sozialisation zur Mitbürgerlichkeit.<br />
Opladen. S. 95-111.<br />
84<br />
• Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.) (2000): Jugend<br />
2000. 13. Shell Jugendstudie. Opladen.<br />
• Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.) (2002): Jugend<br />
2002. Zwischen pragmatischem Idealismus<br />
und robustem Materialismus. Frankfurt a. M.<br />
• Kerestes, Michael/Youniss, James/Metz, Edward<br />
(2004): Longitudinal patterns of religious perspective<br />
and civic integration. In: Applied Developmental<br />
Science. Nr. 8. S. 39-46.<br />
• Konsortium Bildungsberichterstattung (Hg.) (2006):<br />
Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter<br />
Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration.<br />
Bielefeld.<br />
• Lehmann, Tobias (2005): Jugendverbände, Kompetenzentwicklung<br />
und biografische Nachhaltigkeit.<br />
Eine neue Perspektive auf Jugendverbandsarbeit.<br />
In: Jugendpolitik, 4. Jg., Heft 2. S. 16-19.<br />
• Metz, Edward/McLellan, Jeffrey A./Youniss, James<br />
(2003): Types of voluntary service and adolescents<br />
civic development. In: Journal of Adolescent Research.<br />
Nr. 18. S. 188-203.<br />
• Münchmeier, Richard, Otto, Hans-Uwe/Rabe-Kleberg,<br />
Ursula (Hg.) (2002): Bildung und Lebenskompetenz.<br />
Opladen.<br />
• Otto, Hans-Uwe/Rauschenbach, Thomas (Hg.)<br />
(2004): Die andere Seite der Bildung. Zum Verhältnis<br />
von formellen und informellen Bildungsprozessen.<br />
Wiesbaden.<br />
• Picot, Sibylle (Hg.) (2001): Freiwilliges <strong>Engagement</strong> in<br />
Deutschland: Frauen und Männer, Jugend, Senioren<br />
und Sport. Bd. 3, 2. korr. Aufl. Stuttgart/Berlin/ Köln.<br />
• Prein, Gerald/Sass, Erich/Züchner, Ivo (2009): Lernen<br />
im freiwilligen <strong>Engagement</strong> und gesellschaftliche<br />
Partizipation. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft.<br />
Nr. 3. S. 529-547.<br />
• Rauschenbach, Thomas (1999): „Ehrenamt“ <strong>–</strong> eine<br />
Bekannte mit (zu) vielen Unbekannten. Randnotizen<br />
zu den Defiziten der Ehrenamtsforschung. In:<br />
Kistler, Ernst/Noll, Heinz-Herbert/Priller, Eckhard<br />
(Hg.): Perspektiven gesellschaftlichen Zusammenhalts.<br />
Empirische Befunde, Praxiserfahrungen,<br />
Messkonzepte. Berlin. S. 67-76.<br />
• Rauschenbach, Thomas (2007): Im Schatten der<br />
formalen Bildung <strong>–</strong> Alltagsbildung als Schlüsselfrage<br />
der Zukunft. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung.<br />
2. Jahrgang. S. 439-453.<br />
• Rauschenbach, Thomas (2007a): Jugendfreiwilligendienste.<br />
Lernorte zwischen Schule und Beruf.<br />
In: Deutsche Jugend. Zeitschrift für die Jugendarbeit,<br />
55 (2007), Heft 9. S. 385-394.<br />
• Rauschenbach, Thomas (2009a): Engagiert in der<br />
Zivilgesellschaft, in: Evangelische Kirche Deutschland<br />
(Hrsg.): Ehrenamtliches <strong>Engagement</strong> in Kirche<br />
und Gesellschaft. Kirchenamt der EKD. Hannover,<br />
S. 6-23.
• Rauschenbach, Thomas (2009b): Informelles Lernen.<br />
Möglichkeiten und Grenzen der Indikatorisierung.<br />
In: Tippelt, Rudolph (Hg.), Steuerung durch<br />
Indikatoren. Methodologische und theoretische<br />
Reflektionen zur deutschen und internationalen<br />
Bildungsberichterstattung. Leverkusen. S. 35-53.<br />
• Rauschenbach, Thomas (2009c): Zukunftschance<br />
Bildung. Familie, Jugendhilfe und Schule in neuer<br />
Allianz. Weinheim/München.<br />
• Rauschenbach, Thomas/Düx, Wiebken/Sass,<br />
Erich (2006): Informelles Lernen im Jugendalter.<br />
Vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte,<br />
Weinheim und München.<br />
• Rauschenbach, Thomas/Liebig, Reinhard (2002):<br />
Freiwilligendienste <strong>–</strong> Wege in die Zukunft. Gutachten<br />
zur Lage und Zukunft der Freiwilligendienste. Herausgegeben<br />
von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn.<br />
• Rauschenbach, Thomas/Müller, Siegfried/Otto,<br />
Ulrich (1992): Vom öffentlichen und privaten Nutzen<br />
des sozialen Ehrenamtes. In: Müller, Siegfried/<br />
Rauschenbach, Thomas (Hg.), Das soziale Ehrenamt.<br />
Nützliche Arbeit zum Nulltarif. 2. Aufl. Weinheim/München.<br />
S. 223-242.<br />
• Reinders, Heinz (2005): Jugend. Werte. Zukunft.<br />
Wertvorstellungen, Zukunftsperspektiven und soziales<br />
<strong>Engagement</strong> im Jugendalter. Herausgegeben<br />
von der Landesstiftung Baden-Württemberg.<br />
Schriftenreihe der Landesstiftung Baden-Württemberg.<br />
Stuttgart.<br />
• Reinders, Heinz (2006): Freiwilligenarbeit und politische<br />
<strong>Engagement</strong>bereitschaft in der Adoleszenz.<br />
Skizze und empirische Prüfung einer Theorie<br />
gemeinnütziger Tätigkeit. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft.<br />
Nr. 4, S. 599-616.<br />
• Reinders, Heinz (2009): Bildung und freiwilliges<br />
<strong>Engagement</strong> im Jugendalter. Expertise für die Bertelsmann<br />
Stiftung. Schriftenreihe Empirische Bildungsforschung.<br />
Band 10. Würzburg.<br />
• Richter, Helmut/Jung, Michael/Riekmann, Wibke<br />
(2006): Jugendverbandsarbeit in der Großstadt.<br />
Perspektiven für Mitgliedschaft und Ehrenamt am<br />
Beispiel der Jugendfeuerwehr Hamburg. Hamburg.<br />
• Rosenbladt, Bernhard v. (Hg.) (2001): Freiwilliges<br />
<strong>Engagement</strong> in Deutschland: Bd.1 der Repräsentativerhebung<br />
1999 zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit<br />
und bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong>. In:<br />
Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend, Band 194.1. 2.<br />
Aufl. Stuttgart/Berlin/Köln.<br />
• Santen, Erik v. (2005): Ehrenamt und Mitgliedschaften<br />
bei Kindern und Jugendlichen. Eine<br />
Übersicht repräsentativer empirischer Studien. In:<br />
Rauschenbach, Thomas/Schilling, Matthias (Hg.),<br />
Kinder- und Jugendhilfereport II. Weinheim/München.<br />
S. 175-202.<br />
Dialogforum Bildung und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
• Schwab, Jürgen (2006): Bildungseffekte ehrenamtlicher<br />
Tätigkeit in der Jugendarbeit. In: deutsche<br />
jugend, 54. Jg., Heft 7/8. S. 320-328.<br />
• Shell Deutschland Holding (Hg.) (2006): Jugend<br />
2006. Eine pragmatische Generation unter Druck.<br />
Frankfurt a. M.<br />
• Sliwka, Anne/Frank, Susanne. (2004): Service<br />
Learning <strong>–</strong> Verantwortung Lernen in Schule und<br />
Gemeinde. Weinheim.<br />
• Sliwka, Anne/Petry, Christian/Kalb, Peter E. (Hg.)<br />
(2004): Durch Verantwortung lernen. Service learning:<br />
Etwas für andere tun. Weinheim/Basel.<br />
• Thole, Werner/Hoppe, Jörg (Hg.) (2003): Freiwilliges<br />
<strong>Engagement</strong> <strong>–</strong> ein Bildungsfaktor. Berichte<br />
und Reflexionen zur ehrenamtlichen Tätigkeit von<br />
Jugendlichen in Schule und Jugendarbeit. Frankfurt<br />
a. M.<br />
• Youniss, James/Yates, Miranda (1997): Community<br />
service and social responsibility in youth. Chicago.<br />
• Züchner, Ivo (2006): Mitwirkung und Bildungseffekte<br />
in Jugendverbänden <strong>–</strong> ein empirischer Blick.<br />
In: deutsche jugend. 54. Jg., Heft 5. S. 201-209.<br />
85
• Dr. Selma Aposkitis, Deutscher Bundestag, Büro<br />
Heinz Golombeck, MdB<br />
• Dr. Karl Birkhölzer, Technische Universität Berlin<br />
• Dr. Claire Bortfeldt, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
• Margot Bähnisch, Staatskanzlei des Landes<br />
Brandenburg<br />
• Dr. Eugen Baldas, Deutscher Caritasverband<br />
• Tobias Baur, Humanistische Union Deutschland<br />
• Henny Engels, Deutscher Frauenrat<br />
• Herbert Fuchs, Ministerium für Arbeit, Soziales,<br />
Frauen und Familie des Landes Brandenburg<br />
• Dr. Christian Groni, Büro des Beauftragten der<br />
Bundesregierung für Kultur und Medien<br />
• Christoph Hahn, Deutscher Gewerkschaftsbund<br />
• PD Dr. Ansgar Klein, Bundesnetzwerk<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
• Dr. Eckhard Priller, Wissenschaftszentrum Berlin<br />
für Sozialforschung<br />
• Jonathan Przybylski, Phineo gGmbH<br />
• Dieter Rehwinkel, Centrum für Corporate Citizenship<br />
Deutschland<br />
• Gerold Reichenbach, MdB<br />
Dialogforum<br />
„Arbeitsmarktpolitik und<br />
bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong>“<br />
Teilnehmerinnen und Teilnehmer des<br />
Dialogforums am 22. April 2010 und des<br />
vorbereitenden Workshops am 25. März 2010<br />
• Susanne Rindt, Institut für Sozialarbeit und<br />
Sozialpädagogik<br />
• Sabine Rüger, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend<br />
• Dr. Marlene Schubert, Zentralverband des<br />
Deutschen Handwerks<br />
• Inga Schulenburg, Büro des Beauftragten der<br />
Bundesregierung für Kultur und Medien<br />
• Viola Seeger, Robert Bosch Stiftung<br />
• Manfred Spangenberg, Bundesnetzwerk<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
• Stefan Sträßer, Bundesvereinigung der Deutschen<br />
Arbeitgeberverbände<br />
• Matthias Thorns, Bundesvereinigung der<br />
Deutschen Arbeitgeberverbände<br />
• Dr. Johannes Warmbrunn, Ministerium für Arbeit<br />
und Sozialordnung, Familie und Senioren des<br />
Landes Baden-Württemberg<br />
• Hans-Peter Wilka, Arbeitsgemeinschaft der<br />
Beiräte für Migration und Integration in Rheinland-<br />
Pfalz<br />
• Alexander Zachrau, Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend
Dialogforum Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Erwerbsarbeit und <strong>Engagement</strong> aufeinander abstimmen;<br />
Chancen, Hindernisse, Gefahren<br />
Bericht über das Dialogforum „Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>“ am<br />
22. April 2010 in der Landesvertretung Niedersachsen, Berlin<br />
Im Dialogforum <strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit wurde,<br />
ähnlich wie im Dialogforum „Freiwilligendienste“,<br />
sehr kontrovers diskutiert. Dies ist sicherlich nicht zuletzt<br />
darauf zurückzuführen, dass hier verschiedene<br />
Grundsatzfragen aufgeworfen wurden, die bereits<br />
seit längerem die Debatte beherrschen. Inwieweit<br />
besteht die Gefahr, dass der vermehrte Einsatz von<br />
Engagierten reguläre Arbeitsplätze verdrängt? Sind<br />
Pauschalen der richtige Anreiz fürs <strong>Engagement</strong>? Inwieweit<br />
sollten die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik<br />
auf Zwang basieren? Besteht nicht das Risiko, dass<br />
die Förderung des <strong>Engagement</strong>s im Zusammenhang<br />
mit Erwerbsarbeit auf seine arbeitsmarktqualifizierende<br />
Dimension reduziert wird? Schließlich wurde auch<br />
die brisante Frage nach der Lückenbüßerfunktion des<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s für staatliches Handeln<br />
erneut aufgeworfen. Dieser Ausschnitt von Fragen<br />
weist bereits darauf hin, dass in diesem Bereich<br />
noch viel Diskussionsbedarf besteht.<br />
Einig waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer,<br />
zu denen sowohl Vertreter der Zivilgesellschaft<br />
als auch Vertreter der Arbeitgeberverbände und<br />
Gewerkschaften gehörten, darin, dass zwischen<br />
den Politikfeldern Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik<br />
einerseits und <strong>Engagement</strong>politik andererseits<br />
wichtige Zusammenhänge bestehen und<br />
sie daher besser aufeinander abgestimmt werden<br />
sollten. Vor allem wurde deutlich, dass es bei der<br />
Debatte nicht darum geht, die Integration in den<br />
Arbeitsmarkt dem bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong><br />
unterzuordnen. Vielmehr sollen <strong>–</strong> und hier besteht<br />
Nachholbedarf - die Potentiale des <strong>Engagement</strong>s<br />
für die Integration in den Arbeitsmarkt aufgezeigt<br />
werden. In diesem Zusammenhang spielen vor<br />
allem die Kompetenzen, die durch bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> vermittelt werden, eine wichtige<br />
Rolle. Diese Kompetenzen sollen, so die einhellige<br />
Meinung, künftig besser sichtbar gemacht<br />
werden. Neben der Bedeutung des <strong>Engagement</strong>s<br />
für die Integration in den Arbeitsmarkt wurden auch<br />
Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitsmarkt- und<br />
Beschäftigungspolitik für andere Übergangsphasen<br />
und Lebenssituationen diskutiert. Dabei geht<br />
es darum, wie das bürgerschaftliche <strong>Engagement</strong><br />
so in die individuelle Biographie integriert werden<br />
kann, dass damit Komplementäreffekte in Bezug<br />
auf andere Lebensphasen verbunden sind.<br />
Zudem stellten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />
des Dialogforums die Chancen des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s in ökonomischen Zusammenhängen<br />
heraus. Hier wurde insbesondere die Bedeutung<br />
der Sozialwirtschaft und des Dritten Sektors<br />
hervorgehoben. Die in diesen Bereichen aktiven Organisationen<br />
und Unternehmen (Sozialunternehmen,<br />
Wohlfahrtsverbände, etc.) gehen oftmals aus bürgerschaftlichem<br />
<strong>Engagement</strong> hervor und übernehmen<br />
zahlreiche wichtige gesellschaftliche Aufgaben, denen<br />
sich weder die staatliche Seite noch gewinnorientierte<br />
Unternehmen widmen. Vor diesem Hintergrund<br />
wurde diskutiert, wie diese Akteure der sozialen Ökonomie<br />
systematisch unterstützt werden können.<br />
Neben den Chancen, die im Bereich von <strong>Engagement</strong><br />
und Erwerbsarbeit bestehen, wurden auch die<br />
Risiken thematisiert, insbesondere die Tendenz zur<br />
Bezahlung in verschiedenen <strong>Engagement</strong>bereichen.<br />
Besonders kritisch wurde die Gewährung von Pauschalen<br />
beleuchtet. Zwar seien diese einerseits als<br />
Anreiz für bestimmte Tätigkeiten nötig, andererseits<br />
liege hier die Gefahr, wie z. B. die Entstehung eines<br />
nicht gewünschten Niedriglohnsektors sowie die Instrumentalisierung<br />
des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
für Erwerbszwecke.<br />
Abschließend wurde angesichts der Feststellung,<br />
dass in diesem Themenfeld wissenschaftliche Erkenntnisse<br />
weitestgehend fehlen, der Forschungsbedarf<br />
formuliert.<br />
87
Dialogforum Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Ergebnisse<br />
Viele Erwerbsbiographien (vor allem von Frauen,<br />
aber zunehmend auch von Männern) sind gekennzeichnet<br />
von Phasen wechselnder Beschäftigungsintensität<br />
(Vollzeit-, Teilzeit-, prekäre Beschäftigung,<br />
Arbeitslosigkeit, Elternzeit usw.). Im Zuge dieser<br />
Entwicklung entstehen <strong>–</strong> teils freiwillig, teils unfreiwillig<br />
<strong>–</strong> auch neue Tätigkeitsformen zwischen <strong>Engagement</strong><br />
und Erwerbsarbeit. Eine klare Trennung<br />
lässt sich dabei häufig nicht mehr ausmachen. Arbeitsmarkt-<br />
und <strong>Engagement</strong>politik müssen daher<br />
aufeinander abgestimmt werden. Dabei sollte der<br />
Eigensinn des <strong>Engagement</strong>s berücksichtigt werden.<br />
Die Integrationseffekte des <strong>Engagement</strong>s sollten<br />
gestärkt werden, ohne dass reguläre Erwerbsarbeit<br />
verdrängt wird.<br />
1. <strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit in Übergangsphasen<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
a. Im bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong> können Kompetenzen<br />
erworben, aufrecht erhalten und vertieft<br />
werden, die für das Arbeitsleben immer wichtiger<br />
werden. Dieser Kompetenzerwerb wird jedoch oft<br />
nicht anerkannt, weder bei Arbeitgebern noch bei<br />
Arbeitsagenturen.<br />
b. Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> gewinnt für unterschiedliche<br />
Gruppen an Bedeutung. Älteren bietet<br />
es z. B. die Möglichkeit, den Ausstieg aus dem Erwerbsleben<br />
sinnstiftend zu <strong>gestalten</strong>. Jungen Menschen<br />
und Erwerbslosen kann es den Einstieg oder<br />
Wiedereinstieg in das Berufsleben erleichtern. Diese<br />
Übergangsphasen gilt es zu <strong>gestalten</strong>.<br />
c. Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit<br />
stehen nicht in Konkurrenz, sondern verhalten<br />
sich komplementär zueinander. <strong>Engagement</strong><br />
ist auch eine Art „Frühwarnsystem“, das gesellschaftliche<br />
Probleme aufzeigt und in dem sich in-<br />
88<br />
novative Lösungen erproben lassen. Daraus entstehen<br />
oft längerfristig auch neue Chancen für das<br />
Erwerbsleben.<br />
Lösungsvorschläge<br />
a. Die Arbeitsvermittlung sollte (z. B. beim Profiling) so<br />
ausgestaltet werden, dass sie die im bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong> erworbenen Kompetenzen<br />
und Fähigkeiten angemessen berücksichtigt. Qualifizierungsmaßnahmen<br />
der Arbeitsagentur sollten<br />
stärker an die im bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong><br />
erworbenen Kompetenzen anschließen.<br />
Zudem sollten Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung<br />
Kompetenzerwerb im bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong> im Rahmen ihrer Qualifizierungsangebote<br />
fördern. Die Aufnahme einer Tätigkeit im<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong> sollte als Eigenbeitrag<br />
zur Entwicklung einer Erwerbsarbeitsperspektive<br />
anerkannt und unterstützt werden.<br />
Der Wert des informellen Lernens im bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong> sollte anerkannt und durch<br />
Kompetenznachweise sichtbar gemacht werden.<br />
Arbeitsmarkt- und engagementpolitische Akteure<br />
der verschiedenen Ebenen sollten dazu systematisch<br />
zusammenarbeiten.<br />
b. Um unterschiedliche Gruppen (z. B. ältere Menschen,<br />
Erwerbslose etc.) für bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> zu gewinnen, bedarf es gezielter<br />
Förderangebote, damit sich das soziale Integrationspotential<br />
des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
entfalten kann.<br />
c. Um den Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktpolitik<br />
und <strong>Engagement</strong> besser zu <strong>gestalten</strong>,<br />
bedarf es einer Berichterstattung über die Entwicklungen<br />
im <strong>Engagement</strong> auf allen föderalen<br />
Ebenen.
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
(Lösungswege)<br />
a. Die Bundesregierung wird gebeten zu prüfen, auf<br />
welchem Wege es Erwerbslosen ermöglicht werden<br />
kann, ihr bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> mit<br />
Qualifizierungs- und Fördermaßnahmen zu verbinden.<br />
Dazu sollten durch Modellprojekte Kooperationsmöglichkeiten<br />
zwischen Arbeitsagenturen<br />
und Infrastruktureinrichtungen der <strong>Engagement</strong>förderung<br />
entwickelt werden. Es sollte außerdem<br />
geprüft werden, inwieweit und aus welchen Quellen<br />
Erwerbslosen Mittel für ihr <strong>Engagement</strong> gewährt<br />
werden können (z. B. laut SGB II).<br />
Die Ressorts der Bundesregierung werden gebeten,<br />
in Abstimmung mit Ländern, Wirtschaft<br />
und Wissenschaft Mindeststandards für Kompetenznachweise<br />
zu entwickeln, die für Arbeitgeber<br />
aussagekräftig sind. Dazu sollten die bestehenden<br />
Aktivitäten zwischen den Ressorts gebündelt und<br />
koordiniert werden.<br />
b. Die Bundesregierung sollte die Sozialpartner<br />
durch Modellprojekte dazu motivieren, gemeinsam<br />
mit zivilgesellschaftlichen Trägern <strong>Engagement</strong>formen<br />
für den Übergang in das Nacherwerbsleben<br />
bzw. für die Zeiten zwischen verschiedenen<br />
Erwerbsphasen zu entwickeln.<br />
c. Es bedarf zusätzlicher Programme, mit denen<br />
Mischformen zur Beschäftigung von engagierten<br />
Erwerbslosen gefördert werden. Öffentliche und<br />
neue gemeinwohlorientierte Dienstleistungen sollen<br />
auf diese Weise ermöglicht werden.<br />
2. <strong>Engagement</strong>verträglichkeit der Arbeitsmarktpolitik<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
a. Einige arbeitsmarktpolitische Regelungen erschweren<br />
das <strong>Engagement</strong> von Erwerbslosen.<br />
Insbesondere die ständige Verfügbarkeit für den<br />
Arbeitsmarkt ist dabei ein Hemmnis. Die entsprechende<br />
gesetzliche Regelung, die Erwerbslosen<br />
<strong>Engagement</strong> ermöglicht, ist der Arbeitsverwaltung<br />
vor Ort oftmals nicht hinreichend bekannt.<br />
b. Die Anrechnung von Aufwandspauschalen auf<br />
Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II führt<br />
für Erwerbslose häufig zu Problemen, die die<br />
Bereitschaft zum <strong>Engagement</strong> hemmen können.<br />
Problematisch ist dabei insbesondere die Ungleichbehandlung<br />
von Aufwandspauschalen bei<br />
Erwerbstätigen gegenüber Erwerbslosen.<br />
Dialogforum Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
c. Für zahlreiche Formen des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s sind Qualifikationen erforderlich,<br />
die in der Freizeit oder durch Inanspruchnahme<br />
des tariflichen Urlaubs nicht erworben werden<br />
können.<br />
Lösungsvorschlag<br />
a. Um Arbeitsmarktpolitik engagementverträglich zu<br />
<strong>gestalten</strong>, sollte eine <strong>Engagement</strong>verträglichkeitsprüfung<br />
in Zusammenarbeit mit Organisationen<br />
der Zivilgesellschaft für arbeitsmarktpolitische<br />
Maßnahmen eingeführt werden.<br />
b. Die Rahmenbedingungen für Aufwandsentschädigungen<br />
aus dem <strong>Engagement</strong> sollten so gestaltet<br />
werden, dass das <strong>Engagement</strong> von Erwerbslosen<br />
nicht anders behandelt wird als das von Erwerbstätigen.<br />
Zudem sollten unterschiedliche Formen<br />
der Aufwandsentschädigung zu einer vergleichbaren<br />
Anrechnung auf die Sozialleistungen führen.<br />
c. Durch die Gestaltung arbeitsrechtlicher Regelungen<br />
sollte Engagierten die Möglichkeit eingeräumt<br />
werden, für Fortbildungen mit dem Ziel des<br />
Qualifikationserwerbs für die Ausübung des bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s eine Freistellung zu<br />
erhalten.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
a. Die Bundesregierung wird gebeten zu prüfen, wie<br />
am Beispiel der Kulturverträglichkeitsprüfung Kriterien<br />
für eine <strong>Engagement</strong>verträglichkeitsprüfung<br />
in Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft<br />
gewonnen werden können.<br />
b. Die Bundesregierung wird gebeten, Möglichkeiten<br />
einer Harmonisierung der Anrechnung der<br />
Aufwandspauschalen zu prüfen. Dabei sollte der<br />
anrechnungsfreie Freibetrag für Erwerbslose an<br />
die Höhe der Übungsleiterpauschale angeglichen<br />
werden, sodass Erwerbslose gegenüber Erwerbstätigen<br />
nicht schlechter gestellt werden.<br />
c. Bund und Länder werden gebeten, die arbeitsrechtliche<br />
Freistellung für den Zweck der Qualifizierung<br />
zum bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong> in<br />
die Bildungsurlaubsgesetze des Bundes und der<br />
Länder bzw. in die jeweiligen Sonderurlaubsgesetze<br />
aufzunehmen.<br />
3. Zivilgesellschaftliche Organisationen stärken<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Zivilgesellschaftliche Organisationen erbringen wichtige<br />
Leistungen für die Gesellschaft. Dabei sind sie<br />
89
Dialogforum Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
häufig auf freiwillig Engagierte angewiesen. Daher<br />
bedarf es einer beständigen Fortentwicklung der Organisationen<br />
und einer produktiven Zusammenarbeit<br />
zwischen Hauptamtlichen und freiwillig Engagierten.<br />
Die Notwendigkeit, diese Kooperation zu entwickeln<br />
(ggfs. auch über Mittlerorganisationen), findet bei der<br />
Förderung aus öffentlichen Mitteln nicht ausreichend<br />
Beachtung.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Zivilgesellschaftliche Organisationen sollten darin unterstützt<br />
werden, professionell und kontinuierlich zu<br />
arbeiten. Insbesondere sollten Organisationsentwicklung<br />
und Etablierung eines Freiwilligenmanagements<br />
unter Berücksichtigung der Partizipationsbedürfnisse<br />
der Engagierten gefördert werden.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Die Ressorts der Bundesregierung sollten im Rahmen<br />
der Zuwendungspraxis darauf hinwirken, dass<br />
Kosten für Freiwilligenmanagement und Organisationsentwicklung<br />
als zuwendungsfähige Ausgaben<br />
anerkannt werden.<br />
4. Professionalisierung, Innovation und<br />
<strong>Engagement</strong><br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
a Aus dem <strong>Engagement</strong> heraus ergibt sich ein Potential<br />
für reguläre Arbeitsplätze (insbesondere für<br />
Frauen). Diese entstehen sowohl in bestehenden<br />
Einrichtungen als auch in neu gegründeten, innovativen<br />
Unternehmen. Dieses Potential sollte genutzt<br />
werden.<br />
b. Viele gesellschaftliche Aufgaben, insbesondere im<br />
Sozialbereich, werden durch Engagierte erledigt.<br />
Dabei kommt es darauf an, die Engagierten durch<br />
Fachkräfte anzuleiten, sodass sie die Aufgaben<br />
fachlich angemessen erfüllen können. Dabei dürfen<br />
reguläre Beschäftigungsverhältnisse jedoch<br />
nicht aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen<br />
verdrängt werden.<br />
Lösungsvorschläge<br />
a. Erwerbslose Engagierte sollten darin unterstützt<br />
werden, ihr freiwilliges <strong>Engagement</strong> in eine reguläre<br />
Beschäftigung zu überführen.<br />
90<br />
Der Sektor der Sozialwirtschaft, welcher Gemeinwohlorientierung<br />
mit unternehmerischem Handeln<br />
verbindet, sollte systematisch unterstützt und gefördert<br />
werden.<br />
b. Engagierte sollten durch Fachkräfte angeleitet und<br />
kontinuierlich begleitet werden, damit sie die Aufgaben<br />
fachlich angemessen erfüllen können.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
a. Die Bundesregierung sollte prüfen, durch welche<br />
Instrumente die Entwicklung des Sozialwirtschaftssektors<br />
systematisch unterstützt und gefördert<br />
werden kann.<br />
b. Die mittelbaren Träger der Staatsverwaltung sollten<br />
in die fachliche Anleitung eingebunden werden.<br />
5. <strong>Engagement</strong> und Aufwandsentschädigungen<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Die Zahlung von Aufwandspauschalen über tatsächlich<br />
entstandene Kosten hinaus ist in vielen <strong>Engagement</strong>bereichen<br />
gängige Praxis. Diese Praxis ist<br />
jedoch gesetzlich nicht hinreichend geregelt und begrifflich<br />
nicht klar umschrieben. Dies führt einerseits<br />
dazu, dass in bestimmten <strong>Engagement</strong>bereichen<br />
die Rechtssicherheit fehlt, Aufwandspauschalen zu<br />
gewähren. Zum anderen resultiert daraus eine mangelhafte<br />
Differenzierung zwischen <strong>Engagement</strong> und<br />
Erwerbsarbeit. Letztere ist sozialversicherungs- und<br />
steuerpflichtig.<br />
Lösungsvorschläge<br />
Die gesetzliche Grundlage für die Gewährung von<br />
Aufwandspauschalen im <strong>Engagement</strong> sollte analog<br />
zur Übungsleiterpauschale bedarfsgerecht erweitert<br />
werden.<br />
Es sollte auf der Basis einer Legaldefinition zwischen<br />
bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong> und anderen gemeinwohlorientierten<br />
Tätigkeiten differenziert werden,<br />
um Aufwandspauschalen zahlen zu können, wo<br />
sie notwendig sind, zugleich aber zu verhindern, dass<br />
<strong>Engagement</strong> für Erwerbszwecke instrumentalisiert<br />
wird.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Es sollte geprüft werden, inwieweit erfolgreiche<br />
Länderregelungen (z. B. in Baden-Württemberg) zur<br />
Differenzierung zwischen bürgerschaftlichem <strong>Engagement</strong><br />
und anderen gemeinwohlorientierten Tätigkeiten<br />
auf die Bundesebene übertragen werden<br />
können.
6. Forschung<br />
Konkreter Handlungsbedarf (Problemstellung)<br />
Über die Zusammenhänge zwischen <strong>Engagement</strong><br />
und Erwerbsarbeit fehlen wissenschaftliche Erkenntnisse,<br />
insbesondere zu den Übergängen, der Entgrenzung<br />
und den wechselseitigen Beeinflussungen.<br />
Lösungsvorschlag<br />
Die Kenntnisse über die Zusammenhänge zwischen<br />
<strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit sollten systematisch<br />
durch Grundlagen- und anwendungsbezogene Forschung<br />
verbessert werden.<br />
Schritte zur Implementierung des Vorhabens<br />
Durch eine adäquate Forschungsagenda sind die Aktivitäten<br />
und Projekte unterschiedlicher wissenschaftlicher<br />
Einrichtungen und Institutionen zu bündeln und<br />
zu koordinieren. In diesem Rahmen sollte u. a. eine<br />
Bestandsaufnahme darüber gemacht werden, welche<br />
Instrumente staatliche Akteure sowie die Sozialpartner<br />
bereits geschaffen haben, um Übergänge<br />
zwischen <strong>Engagement</strong>, Erwerbsarbeit und Erwerbslosigkeit<br />
zu <strong>gestalten</strong>.<br />
Dialogforum Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
91
Dialogforum Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V.<br />
Expertise: „<strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit“<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>, Erwerbsarbeit,Arbeitsmarktpolitik und neue Rahmenbedingungen:<br />
Herausforderungen und Wechselwirkungen<br />
1. Einführung<br />
Erwerbsarbeit und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
standen lange Zeit in einem komplementären Verhältnis<br />
zueinander. Dies ist nicht zuletzt auf die traditionell<br />
verstetigte Teilung von Erwerbsarbeit und Freizeitbereich<br />
zurückzuführen. Erst seit den 1970er und 1980er<br />
Jahren wird diese Trennlinie zunehmend durchbrochen.<br />
Das Arbeitszeitvolumen verkürzt sich bei gleichzeitiger<br />
Zunahme der Arbeitszeitproduktivität und bietet<br />
hiermit zusätzlichen Raum für Freizeitaktivitäten.<br />
Mehr und mehr wird die kulturelle und soziale Dominanz<br />
der Erwerbsarbeit in Frage gestellt. „Neue“ Formen<br />
von Arbeit, gekennzeichnet durch Teilzeit, kurzfristige<br />
Beschäftigungsverhältnisse oder den Wechsel<br />
zwischen Erwerbsarbeit und Phasen der Erwerbslosigkeit,<br />
prägen zunehmend das Bild. Gleichzeitig<br />
verändert sich das klassische Ehrenamt zusehends.<br />
Aufwandsentschädigungen und auf ein berufliches Vorankommen<br />
ausgerichtete <strong>Engagement</strong>motive lassen<br />
<strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit ein Stück weit zusammenrücken.<br />
Ein weiterer Berührungspunkt ergibt sich<br />
aus einer systematischen Verschiebung sozialstaatlicher<br />
Aufgaben vom Staat hin zur Gesellschaft. Die<br />
Zusammenarbeit Hauptamtlicher und Ehrenamtlicher<br />
ist in diesem Zusammenhang unter sich verändernden<br />
Bedingungen zu betrachten. Dieser kurze Abriss sich<br />
wandelnder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen<br />
macht deutlich, dass das Verhältnis von freiwilligem,<br />
gemeinwohlorientiertem <strong>Engagement</strong>, Existenzsicherung<br />
und marktrationalem Handeln eines der aktuell<br />
spannendsten Diskussionsfelder für Theorie, Praxis<br />
und Politik zum bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong> ist.<br />
Das vorliegende Kurzgutachten soll die Wechselwirkungen<br />
und Spannungsverhältnisse zwischen<br />
den Feldern <strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit schlaglichtartig<br />
und aus unterschiedlichen Perspektiven<br />
beschreiben. Wesentliches Ziel ist es, die aktuelle<br />
wissenschaftliche Debatte zum Thema „Bürger-<br />
92<br />
schaftliches <strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit“ so aufzubereiten,<br />
dass eine fundierte Grundlage für die weitere<br />
Arbeit des Nationalen Forums für <strong>Engagement</strong><br />
und Partizipation geschaffen ist.<br />
Entsprechend dieser Zielstellung werden im ersten Teil<br />
des Papiers die Systeme „Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong>“<br />
und „Erwerbsarbeit“ genauer betrachtet. Aktuelle<br />
Herausforderungen und gesellschaftliche Veränderungen<br />
werden beleuchtet, die Wechselwirkungen<br />
beider Bereiche beschrieben. Im zweiten Kapitel „Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> als Brücke in die Erwerbstätigkeit“<br />
werden die Chancen und besonderen Vorzüge<br />
freiwilligen <strong>Engagement</strong>s für die Erwerbstätigkeit in den<br />
Blick genommen. Ausgehend von einem kurzen Abriss<br />
zu Kompetenzerwerb und Qualifizierung im bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong> wird die aktuelle Arbeits- und<br />
Beschäftigungspolitik in Bezug auf den Eigensinn und<br />
die Eigenlogik freiwilliger Tätigkeiten untersucht. Gleichzeitig<br />
wird diskutiert, inwieweit einzelne <strong>Engagement</strong>gruppen<br />
bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> als Brücke in<br />
die Erwerbsarbeit nutzen (können). Kapitel drei „Bürgerschaftliches<br />
<strong>Engagement</strong> und Dritter Sektor“ betrachtet<br />
den benannten Themenbereich hinsichtlich seiner Organisationsperspektive.<br />
Ausgehend von einer Analyse<br />
der Zusammenarbeit haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeiter<br />
werden Mischformen in der Grauzone zwischen<br />
<strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit genauer untersucht.<br />
2. Die Entwicklung des Verhältnisses von bürgerschaftlichem<br />
<strong>Engagement</strong> und Erwerbsarbeit<br />
2.1 Entwicklung und Strukturwandel der<br />
Erwerbsarbeit<br />
Erosion des Normalarbeitsverhältnisses<br />
<strong>Engagement</strong>politik steht insgesamt vor der Herausforderung,<br />
mit den bereits angedeuteten Umbrüchen
im Feld der Erwerbsarbeit umzugehen. Für die Industriearbeitsgesellschaft<br />
war das Normalarbeitsverhältnis<br />
(Vollzeit, tageszeitlich begrenzt, regelmäßig,<br />
kontinuierlich und existenzsichernd) kennzeichnend<br />
und mit dem Versprechen einer Vollbeschäftigung<br />
ideologisch abgesichert. Die Bedingungen dieses<br />
„alten Gesellschaftsvertrages“ sind in der Wissensund<br />
Dienstleistungsgesellschaft im Wandel. Das so<br />
genannte Normalarbeitsverhältnis hat in den vergangenen<br />
zwei Jahrzehnten viel von seiner allgemeinen<br />
Geltung und gesellschaftlichen Stabilisierungskraft<br />
eingebüßt. Längst hat sich eine parallele<br />
arbeitsgesellschaftliche Realität etabliert, die in der<br />
Medienöffentlichkeit auch unter dem Schlagwort<br />
„Prekarisierung“ diskutiert wird. Insbesondere an den<br />
Rändern der Erwerbsgesellschaft sind unsichere, als<br />
atypisch bezeichnete Beschäftigungsformen entstanden.<br />
Im Jahr 2008 befanden sich 60,1 Prozent aller<br />
Beschäftigten im Alter zwischen 25 und 64 Jahren<br />
in einem Normalarbeitsverhältnis. Seit 2001 ist diese<br />
Form der traditionellen Beschäftigung um 4,6 Prozentpunkte<br />
zurückgegangen. Im internationalen Vergleich<br />
hatten nur Polen und die Niederlande sowie Luxemburg<br />
und Malta noch größere Rückgänge zu verzeichnen<br />
(vgl. Eichhorst/Kuhn/Thode/Zenker 2009).<br />
Pluralisierung und Entgrenzung der Erwerbsarbeit<br />
Ein „Ende der Arbeitsgesellschaft“, wie noch in den<br />
1980 und 1990er Jahren diskutiert (vgl. u. a. Offe<br />
1984, Rifkin 1995), ist jedoch eindeutig nicht zu erwarten.<br />
Arbeit ist weiterhin, wenn auch in immer unterschiedlicheren,<br />
immer ausdifferenzierteren Formen<br />
bestimmend für das Leben fast aller Menschen.<br />
Zwei eng miteinander verbundene Trends lassen<br />
sich identifizieren: Pluralisierung und Entgrenzung<br />
von Erwerbsarbeit. Selbstständige und freiberufliche<br />
Erwerbstätigkeit ist zunehmend von projektförmigen<br />
Arbeitsstrukturen, flexiblen Kooperationsnetzwerken,<br />
Mikro- und Einzelunternehmen gekennzeichnet.<br />
Diese Pluralisierung von Erwerbsformen ist mit Entgrenzungsprozessen<br />
der Erwerbsarbeit verbunden<br />
(vgl. Gottschall/Voß 2003; Kratzer 2003, Mutz 2002).<br />
Ein wichtiger Aspekt der Entgrenzung ist die seit den<br />
1980er Jahren beschleunigte Ausweitung der Erwerbsarbeitsförmigkeit<br />
auf Tätigkeiten v. a. der Erziehung,<br />
Pflege und Betreuung, die bislang überwiegend<br />
im privaten, häuslichen Bereich von Frauen geleistet<br />
wurden, zum anderen die Verberuflichung von vormaligen<br />
Tätigkeiten sozialen <strong>Engagement</strong>s. Der Ausbau<br />
öffentlicher und privater sozialer Dienste brachte<br />
einerseits eine Vielzahl neuer Erwerbsarbeitsplätze<br />
und einen großen Professionalisierungsschub mit<br />
sich, verdrängte aber andererseits freiwilliges, unentgeltliches<br />
<strong>Engagement</strong>. Umgekehrt wirken Prinzipien<br />
Dialogforum Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s auch in den Bereich<br />
der Erwerbsarbeit hinein, wie es die Leitwerte der<br />
Gemeinwohlorientierung und Partizipation bei den Organisationen<br />
des Dritten Sektors zeigen (vgl. Bericht<br />
der Enquete-Kommission 2002, Bd. 4).<br />
Debatten zur „Zukunft der Arbeit“ und zum „erweiterten<br />
Arbeitsbegriff“<br />
In den vergangenen etwa 30 Jahren haben eine ganze<br />
Reihe von Wissenschaftler/innen diese Tendenzen<br />
aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschrieben und<br />
analysiert. In Deutschland und Frankreich wurde in den<br />
1980er Jahren die Debatte zur „Dualwirtschaft“ (vgl. u.<br />
a. Huber 1979, Gorz 1983) geführt, in den 1990er Jahren<br />
ging es v.a. um die „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“<br />
(vgl. stellvertretend Dombois 1999, Mayer-<br />
Ahuja 2003) und die Herausbildung einer „pluralen<br />
Tätigkeitsgesellschaft“ (vgl. Beck 2000, Mutz 2001,<br />
Schäfers 2001). Feministische und ökologisch orientierte<br />
Wirtschaftswissenschafter/innen (vgl. stellvertretend<br />
Biesecker 2000) befassten sich zuerst mit der<br />
Entwicklung eines „erweiterten Arbeitsbegriffes“ und<br />
einer darauf basierenden umfassenden Analyse gesellschaftlicher<br />
Arbeit unter Einschluss der informellen und<br />
häuslichen Wirtschaft. Der folgende, breiter geführte<br />
Diskurs um einen erweiterten Arbeitsbegriff, wie ihn Hildebrandt<br />
(2007) zusammenfasst, stellt nicht nur auf die<br />
Anerkennung von anderen, gegenüber der Erwerbsarbeit<br />
historisch-systematisch klar abgegrenzten Formen<br />
gesellschaftlicher Arbeit ab. Sowohl im Konzept der<br />
„Mischarbeit“, wie es in einem interdisziplinären Projekt<br />
der Hans-Böckler-Stiftung entwickelt wurde (vgl. Verbundprojekt<br />
Arbeit und Ökologie 2000), als auch im von<br />
der Katholischen Arbeitnehmerbewegung inspirierten<br />
Konzept der „Triade der Arbeit“ (vgl. Schäfers 2001)<br />
wurde versucht, die Veränderungen der Grenzen und<br />
die Vielzahl der Übergänge zwischen den verschiedenen<br />
Arbeitsformen zu erfassen und analysieren. Das<br />
Forschungsprojekt „Agora“ schließlich kombinierte aktuelle<br />
mit historischen Analysen der Entwicklung der<br />
gesellschaftlichen Organisation von Arbeit in ihren unterschiedlichsten<br />
Formen (vgl. Kocka/Offe 2000).<br />
Erwerbsarbeit im Dritten Sektor<br />
In der jüngsten Zeit verstärkten sich Debatten und<br />
Forschungsaktivitäten zum Dritten Sektor, da dieser<br />
sowohl die gemeinnützigen Organisationen der<br />
Sozialwirtschaft versammelt als auch den überwältigenden<br />
Teil des organisierten freiwilligen <strong>Engagement</strong>s<br />
umfasst. Der Dritte Sektor ist einerseits ein Teil<br />
der Problematik der Pluralisierung und Entgrenzung<br />
der Erwerbsarbeit, atypische Beschäftigungsverhältnisse<br />
sind hier fast doppelt so häufig anzutreffen wie<br />
93
Dialogforum Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt, die Entlohnung<br />
liegt darunter (siehe dazu v. a. Zimmer/Priller<br />
2007 und Dathe/Priller 2010). In Ostdeutschland sind<br />
16 Prozent der Erwerbstätigen im Dritten Sektor in<br />
Ein-Euro-Jobs beschäftigt. Insgesamt droht eine weitere<br />
Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse und<br />
die Entwicklung zum Niedriglohnsektor (vgl. Dathe/<br />
Hohendanner/Priller 2009). Andererseits wird in der<br />
engagementpolitischen Debatte immer wieder vom<br />
Dritten Sektor bzw. den in ihm versammelten Organisationen<br />
erwartet, Erwerbsarbeit und <strong>Engagement</strong> in<br />
ein produktives Verhältnis zu setzen.<br />
DGB-Konzept „Gute Arbeit“<br />
Einen weiteren, für die gegenwärtige Diskussion um<br />
die Entwicklung der Arbeit bedeutenden Strang markiert<br />
das vom DGB entwickelte Index-Konzept „Gute<br />
Arbeit“ (www.dgb-index-gute-arbeit.de). Hier wurden<br />
Qualitätskriterien formuliert, die zunächst vornehmlich<br />
auf die Beurteilung von Erwerbsarbeitsplätzen<br />
durch die Arbeitnehmer/innen selbst ausgerichtet<br />
waren, sich jedoch ebenfalls auf unbezahlte Arbeit<br />
im <strong>Engagement</strong>bereich anwenden lassen, wie es in<br />
einem Forschungsprojekt der Hans-Böckler-Stiftung<br />
„Die subjektive Dimension guter Arbeit“ aktuell geschieht.<br />
Eine wichtige Dimension des Konzepts „Gute<br />
Arbeit“ ist die Work-Life-Balance, so dass hier auch<br />
die arbeits(zeit)politischen Fragen der Vereinbarkeit<br />
von Beruf, Familie und <strong>Engagement</strong> angesprochen<br />
sind. Das Interesse der Arbeitnehmer/innen und der<br />
Gewerkschaften trifft sich zumindest für Höherqualifizierte<br />
mit den Personalentwicklungspolitiken von<br />
Unternehmen vieler Branchen, die gut ausgebildete,<br />
motivierte, eigenständig und im Team arbeitende,<br />
kreative Beschäftigte benötigen, um wirtschaftlich auf<br />
den Märkten der Informations- und Wissensgesellschaft<br />
bestehen zu können.<br />
2.2 Entwicklung und Strukturwandel des<br />
bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
Eine Vielzahl aktueller gesellschaftspolitischer Veränderungen<br />
und Herausforderungen, insbesondere<br />
die im vorigen Kapitel erläuterten Entwicklungen im<br />
Bereich der Erwerbsarbeit, bleibt nicht ohne Folgen<br />
für die Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft.<br />
Nachfolgend sollen schlaglichtartig und in aller Kürze<br />
die wichtigsten Entwicklungen diskutiert werden.<br />
Individualisierungs- und Flexibilisierungstendenzen<br />
Individualisierungs- und Flexibilisierungstendenzen<br />
aus dem System der Erwerbsarbeit mit unterschiedlichen<br />
Anforderungen an lebenslanges Lernen, fle-<br />
94<br />
xible Arbeitszeiten und <strong>–</strong>orte beeinflussen auch die<br />
Struktur bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s. Das traditionelle<br />
Ehrenamt, gekennzeichnet durch langjährige,<br />
kontinuierliche Aktivitäten und hierarchische <strong>Strukturen</strong>,<br />
wird immer mehr in den Hintergrund gedrängt<br />
(vgl. Kühnlein/Böhle 2002). Selbstorganisierte Zusammenschlüsse<br />
in Bürgerinitiativen oder Selbsthilfegruppen<br />
sind das Ergebnis eines Bedürfnisses der<br />
Engagierten nach Verwirklichung individueller Motive<br />
und Interessen. Gleichzeitig gibt es eine gestiegene<br />
Notwendigkeit des flexiblen Zeitmanagements,<br />
welches es ermöglicht, Erwerbsarbeit, Familienarbeit<br />
und Freizeit (bzw. freiwilliges <strong>Engagement</strong>) zu kombinieren.<br />
Häufigere Fluktuationen der Engagiertenzahlen<br />
durch Ein- und Austritte sind nicht ungewöhnlich<br />
(vgl. BMFSFJ 2009a). Es stellen sich verstärkt<br />
Herausforderungen an Organisationen des Dritten<br />
Sektors, solche Angebote bereitzuhalten, die eine<br />
kurzfristige oder auch kurzzeitige, zeitlich flexible<br />
Ausübung einer freiwilligen Tätigkeit <strong>ermöglichen</strong>. 1<br />
Professionalisierung<br />
Zivilgesellschaftliche Organisationen als zentrale<br />
Orte des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s 2 haben<br />
in den letzen Jahren umfassende Organisationsentwicklungsprozesse<br />
durchlaufen, sich zunehmend<br />
professionalisiert und ihre <strong>Strukturen</strong> und Arbeitsweise<br />
ökonomischen Faktoren unterworfen. Unterschiedliche<br />
Aufgaben des traditionellen Ehrenamtes<br />
sind im Zuge dieser Professionalisierungstendenzen<br />
vor allem im sozialen Bereich in die Entwicklung<br />
hauptamtlicher Stellen übergegangen (vgl. Kühnlein/<br />
Böhle 2002). Die zunehmende wirtschaftliche Orientierung<br />
und Übernahme ehemals staatlicher sozialpolitischer<br />
Aufgaben hat zu einem veränderten Verhältnis<br />
von Haupt- und Ehrenamtlichkeit geführt (vgl.<br />
BMFSFJ 2009a).<br />
Monetarisierung<br />
Bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> ist per Definition unentgeltlich.<br />
Ausnahmen hiervon bilden überschaubare<br />
Kostenerstattungen und Aufwandsentschädigungen<br />
bis hin zu geldwerten Leistungen wie z.B. kostenfreie<br />
Weiterbildungen oder Qualifizierungen. Obwohl der<br />
2. Freiwilligensurvey gezeigt hat, dass der Großteil<br />
der Freiwilligen (86 Prozent) keine materiellen Gratifikationen<br />
für seine Tätigkeiten erhält 3 , gibt es immer<br />
mehr Stimmen, die vor einer schleichenden Monetarisierung<br />
des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s warnen<br />
(vgl. Liebig/ Rauschenbach 2010). Insbesondere mit<br />
dem Blick auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse,<br />
nicht-existenzsichernde Transferleistungen oder Rentenzahlungen<br />
und längere Zeiten der Erwerbslosig-
keit erscheint ein bezahltes Ehrenamt an Attraktivität<br />
zu gewinnen. 4 Ausgehend von der Definition der Enquete-Kommission<br />
des Deutschen Bundestages zur<br />
„Zukunft des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s“ (vgl.<br />
Bericht der Enquete-Kommission 2002; Bd. 4, S. 73-<br />
90) widerspricht eine solche Entwicklung jedoch den<br />
Basisprinzipien der Freiwilligkeit, Selbstbestimmtheit<br />
und der Unabhängigkeit von einem Streben nach materiellen<br />
Gewinn im bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>.<br />
Motiv- und Wertewandel<br />
Bereits seit einiger Zeit wird ein Motiv- und Wertewandel<br />
im bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong> diagnostiziert.<br />
Auf dem Prüfstand steht in diesem Zusammenhang die<br />
das bürgerschaftliche <strong>Engagement</strong> charakterisierende<br />
Gemeinwohlorientierung. Die Erhebungen der letzten<br />
Jahre haben deutlich gemacht, dass diese weiterhin<br />
signifikant bleibt, jedoch interessanterweise vor allem<br />
bei Engagierten aus den ostdeutschen Bundesländern<br />
(alte Länder: 33 Prozent / neue Länder 40 Prozent), bei<br />
jungen Menschen (Gruppe der 14-30jährigen: 1999:<br />
38 Prozent; 2004: 47 Prozent) und Erwerbslosen (+<br />
9 Prozent) eine zunehmende Bedeutung der Interessenorientierung<br />
zu verzeichnen ist (vgl. Gensicke et al.<br />
2006, S. 91ff). Diese Gruppen möchten mit ihrer Tätigkeit<br />
auch eigene Interessen vertreten, Probleme lösen<br />
und ihr <strong>Engagement</strong> nutzen, um beruflich voran zu<br />
kommen. Junge Menschen stehen unter einem immer<br />
größer werdenden Druck hinsichtlich Schule, Ausbildung<br />
und erster Berufstätigkeit. Umgekehrt überprüfen<br />
deshalb auch sie ihre Aktivitäten hinsichtlich ihres<br />
Mehrwertes. Dieser neue „Typ“ Engagierter handelt<br />
sehr wohl gemeinwohlorientiert, versucht hierbei allerdings<br />
auch unterschiedliche Erwartungen zu kombinieren,<br />
zweckrational zu handeln und eigene Interessen<br />
im Blick zu behalten (vgl. Gensicke 2006, S. 213 ff). 5<br />
Demografischer Wandel<br />
Weiterhin in den Fokus zu nehmen bleibt der zunehmende<br />
gesamtgesellschaftliche Alterungsprozess<br />
und dessen Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft.<br />
Bei gleichzeitig sinkendem Erwerbsausstiegsalter<br />
und steigender Lebenserwartung 6 beherrschen Diskussionen<br />
zur Leistungsfähigkeit des Systems sozialer<br />
Sicherung und zur Generationengerechtigkeit<br />
die Öffentlichkeit. Kocka betont den Sinn zivilgesellschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong>s als Alternative zu marktbezogener<br />
Erwerbsarbeit nach der Verrentung/Pensionierung<br />
und untätigem Ruhestand im Alter (vgl.<br />
Kocka 2008, S. 228ff). Gemäß eines Gutachtens<br />
des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung wird<br />
im Zuge des demografischen Wandels die Rolle der<br />
älteren Menschen für die Zivilgesellschaft sogar im-<br />
Dialogforum Arbeitsmarktpolitik und bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong><br />
mer wichtiger, da die Zivilgesellschaft langfristig von<br />
einem Rückgang der <strong>Engagement</strong>zahlen betroffen<br />
ist. 7 Die höchsten Verluste im <strong>Engagement</strong> und Ehrenamt<br />