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Junge Wilde

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Tagungsdokumentation<br />

Fachtagung<br />

Neue Klientel • Neue Herausforderungen an die<br />

Hilfesysteme!?<br />

Gemeinsame Veranstaltung von<br />

Landkreis Börde<br />

Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft (PSAG) Landkreis Börde<br />

AWO-Landesverband Sachsen-Anhalt e. V.<br />

DER PARITÄTISCHE Sachsen-Anhalt<br />

DER PARITÄTISCHE PSW-GmbH<br />

Sozialwerk Kinder- und Jugendhilfe<br />

30. März 2011<br />

Landesjugendbildungsstätte Peseckendorf<br />

DER PARITÄTISCHE Sachsen-Anhalt<br />

Kastanienallee 32<br />

39398 Peseckendorf<br />

2


Tagungsprogramm<br />

Die Praxis der Sozialen Arbeit verzeichnet seit einigen Jahren eine Zunahme junger<br />

Erwachsener, die sich in schier endlosen Konflikten verstricken, Strukturen in<br />

bestehenden Hilfesystemen sprengen und irgendwie noch nicht »so richtig« im<br />

Leben angekommen sind. Oftmals werden sie von Institution zu Institution<br />

weitergereicht oder gelten gar als hilferesistent. Gemein ist diesen jungen<br />

Menschen zumeist ein ungestilltes Bedürfnis nach Freundschaft, Anerkennung,<br />

Erfolg und Bestätigung. Doch ihre Verhaltensweisen, die sie sich<br />

aufgrundunterschiedlichster Rahmenbedingungen als eine Art »Überlebensstrategie«<br />

angeeignet haben, bewirken oftmals ablehnende Reaktionen ihrer Gegenüber,<br />

worauf sie ihrerseits mit Aggressionen, Resignation, Flucht oder Selbstverletzungen<br />

reagieren.<br />

Die Initiatoren der Veranstaltung wollen diese »neue« Klientengruppe aus<br />

unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten und gemeinsam überlegen, wie man<br />

ihnen durch Kooperation und Zusammenarbeit bessere Unterstützungsangebote<br />

machen kann. In unserer Fachtagung wollen wir Fragestellungen wie:<br />

� Was fehlt? Wo könnte man ggf. früher ansetzen?<br />

oder<br />

� Wo sind Schnittstellen zwischen den Systemen?<br />

eingehender diskutieren.<br />

Diese Veranstaltung soll ein erster Aufschlag zur Thematik sein, und vielleicht gibt<br />

sie wichtige Impulse, um im Berufsalltag bessere Lösungen für die Klientengruppe<br />

zu finden.<br />

1. Grußwort / Eröffnung ...................................................................5<br />

Landrat Thomas Webel (Schirmherr)<br />

2. "<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>" aus klinischer Sicht...............................................7<br />

Angela Beilecke<br />

Anke Kasner<br />

AMEOS Klinikum Haldenslebenn<br />

3. "<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>" aus Sicht der Jugendhilfe ..................................18<br />

Mirko Günther<br />

Geschäftsführer PARITÄTISCHES Sozialwerk<br />

Kinder- und Jugendhilfe Magdeburg<br />

4. "<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>" aus Sicht der Eingliederungshilfe .....................24<br />

Nicole Strauß, Leiterin / Christine Lempke, stellv. Leiterin<br />

Betreutes Wohnen "Kontra"<br />

DRK KV Börde e. V.<br />

3


5. "<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>" im Wirrwarr des (Sozial)Rechts........................29<br />

Prof. Dr. Peter Schruth<br />

Prof. für Rechtswissenschaftent<br />

an der Hochschule Magdeburg-Stendal<br />

6. <strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>" und kooperative Hilfeplanung...........................36<br />

Prof. Dr. Titus Simon,<br />

Prof. für Jugendarbeit und Jugendhilfeplanung,<br />

Hochschule Magdeburg-Stendal<br />

7. Beiträge und Diskussionen in Zusammenfassung ..................45<br />

Zusammenfassung der Podiumsdiskussion<br />

René Grummt<br />

Psychiatriekoordinator Landkreis Börde<br />

8. Anlage Presse Bessere Hilfe für <strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>..........................49<br />

René Grummt<br />

Psychiatriekoordinator Landkreis Börde<br />

Ralf Hattermann<br />

Grundsatzreferent Behindertenhilfe<br />

9. Anlage Volksstimme Oschersleben 07.04.2011 ......................50<br />

10. Fotoimpressionen zur Tagung „<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“ .........................51<br />

4


1. Grußwort / Eröffnung<br />

Landrat Thomas Webel (Schirmherr)<br />

Auszug aus der Eröffnungsrede des<br />

Landrates:<br />

Anrede: „Die Anregung zur heutigen Fachtagung<br />

wurde im Rahmen der praktizierten Netzwerksarbeit<br />

für hilfebedürftige Jugendliche, die bereits gezielt<br />

betrieben und Stück für Stück weiter verbessert wird,<br />

gegeben. Deshalb habe ich die Schirmherrschaft gern<br />

übernommen. Als kompetente und bewährte Partner, wenn ich mal auf die<br />

vorangegangene Fachtagung zum persönlichen Budget zurückschaue, sind erneut der<br />

AWO Landesverband Sachsen-Anhalt und Der PARITÄTISCHE Landesverband Sachsen-<br />

Anhalt mit im Boot. Sie haben sich, gemeinsam mit unserem Psychiatriekoordinator, Herrn<br />

Grummt, sehr gezielt mit den Inhalten und Zielstellungen der Tagung auseinandergesetzt<br />

und Zielstellungen für die Zukunft formuliert. Und, Ihre Arbeit scheint eine breite<br />

Anerkennung zu finden, denn immerhin haben sich für die 80 zur Verfügung stehenden<br />

Plätze auf die Bekanntmachung hin über 200 Personen angemeldet. Ich sage schon mal<br />

an dieser Stelle herzlichen Dank für Ihren Einsatz und für Ihren Beitrag, speziell natürlich<br />

Ihnen, sehr geehrte Frau Steuer und sehr geehrte Herren Günther und Hattermann.<br />

Was hat es nun aber mit diesen „<strong>Junge</strong>n <strong>Wilde</strong>n“ auf sich?<br />

Ich weiß selbst, und deshalb kann ich auch den Fachleuten aus unserem Landkreis<br />

Glauben schenken, wenn mir berichtet wird, dass es offensichtlich immer mehr junge<br />

Menschen gibt, die zunehmend Schwierigkeiten haben, sich in der komplizierter und<br />

komplexer werdenden Gesellschaft zurecht zu finden. Verschiedene Statistiken und<br />

sozialwissenschaftliche Analysen zeichnen ein recht deutliches Bild.<br />

Relativ hohe Schulabbrecherquoten, brüchige Berufsbiografien, die Zunahme der<br />

Fallzahlen oder der Intensität der Hilfebedürftigkeit in der Jugend- und der<br />

Eingliederungshilfe, der Hilfen für Arbeitssuchende oder auch der klinischen Hilfen<br />

dokumentieren, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene mit den alltäglichen<br />

Anforderungen scheinbar überfordert sind und deshalb unsere, die Hilfe der Gesellschaft,<br />

brauchen.<br />

Die jungen Menschen, die heute im Fokus der Veranstaltung stehen sollen, sind, wie man<br />

es auch der Einladung entnehmen kann: „noch nicht so richtig im Leben angekommen“.<br />

Sie verstricken sich in zahllosen Konflikten und bringen die Hilfesysteme und damit auch<br />

uns an Grenzen. Sie sprengen normative Rahmen und Systeme, erscheinen mitunter<br />

aufsässig, kriminell, psychisch krank, hilferesistent, ja manchmal gänzlich unerreichbar für<br />

alles, was wir ihnen wohlmeinend angedeihen lassen möchten.<br />

Gibt es denn dafür überhaupt Lösungsansätze, um diesem Problem wirkungsvoll zu<br />

begegnen? Ich meine ja. Bisher ist es oft so, dass jede Einrichtung für sich an den jungen<br />

Menschen nach eigenen Vorstellungen versucht, ich sage es mal mit dem Wort<br />

„herumzudoktern“. Dadurch werden aus meiner Sicht vorhandene Kräfte zerklüftet. Es<br />

erscheint mir, allein auf der Basis des gesunden Menschenverstandes, eher sinnvoll zu<br />

sein, wenn für einen jungen Menschen, der massive Probleme hat oder vielleicht auch<br />

5


macht und für den bisher eigentlich vier bis fünf Institutionen, jede für sich, zuständig sind,<br />

diese Kräfte zu bündeln, um gezielt und übergreifend Hilfen abzusprechen und zum<br />

Wohle des Klienten einzusetzen.<br />

Ohne Menschen mit Maschinen zu vergleichen, wenn ich ein funktionsfähiges<br />

Kraftfahrzeug bauen möchte, dann muss dafür Sorge getragen werden, dass sich<br />

Ingenieure, Designer, Techniker, Kaufleute und viele andere Fachleute absprechen, damit<br />

ein Auto entsteht, das optimal fahren und im Idealfall lange halten soll. Deshalb bin ich<br />

froh, dass es in unserem Landkreis Börde bereits erste Feldversuche der Zusammenarbeit<br />

zwischen einigen relevanten Institutionen, exemplarisch meine ich hier das Sozial- und das<br />

Jugendamt, das Jobcenter und die freien Träger der Jugendhilfe, gibt. Genauso freue ich<br />

mich darüber, dass wir auch mit der heutigen Fachtagung einen Blick über den Tellerrand<br />

wagen, indem wir die „neuen“ Klienten aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten und<br />

gemeinsam überlegen, wie man ihnen durch Kooperation und Zusammenarbeit bessere<br />

Unterstützungsangebote machen kann. Auf die Dauer, und da bin ich mir glaube ich mit<br />

Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren einig, können sinnvolle Kooperationen und<br />

Abstimmungen die Sozialkassen entlasten oder zumindest einen weiteren Ausgabenanstieg<br />

verhindern.<br />

Ganz abgesehen von unserer moralischen Verantwortung und den vielen Rechtsnormen<br />

auf europäischer, Bundes- und Landesebene, die uns dafür in die Pflicht nehmen, ist es<br />

auch mit Blick auf den künftig zu erwartenden Arbeitskräftebedarf auch aus ganz<br />

pragmatischen Gründen geboten, allen jungen Menschen bei ihrem Weg ins Leben und<br />

damit auch ins Berufsleben die erforderliche Unterstützung zuteil werden zu lassen.<br />

Die heutige Veranstaltung soll ein Auftakt sein. Die Organisatoren haben mich wissen<br />

lassen, dass sie an der Thematik „dranbleiben“ wollen und gemeinsam mit Ihnen, liebe<br />

Teilnehmerinnen und Teilnehmer, überlegen werden, wie man das Ziel weiter verfolgen<br />

kann. Im Landkreis Börde jedenfalls werden wir die begonnene Zusammenarbeit fortsetzen<br />

und Kooperationsstrukturen mit Partnern, die mitarbeiten möchten, weiter ausbauen.“<br />

6


2. "<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>" aus klinischer Sicht<br />

Angela Beilecke, Anke Kasnert, AMEOS Klinikum Haldenslebenn<br />

7


Angela Beilecke Anke Kasner<br />

17


3. "<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>" aus Sicht der Jugendhilfe<br />

Mirko Günther<br />

Geschäftsführer PARITÄTISCHES Sozialwerk<br />

Kinder- und Jugendhilfe Magdeburg, Spindler<br />

18


4. "<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>" aus Sicht der Eingliederungshilfe<br />

Nicole Strauß<br />

Leiterin<br />

Christine Lempke<br />

stellv. Leiterin<br />

Betreutes Wohnen„Kontra“<br />

DRK KV Börde e. V.<br />

Nicole Strauß Christine Lempke<br />

„<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“ – Neue Herausforderungen an die bestehenden<br />

Hilfesysteme<br />

<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong> – aus Sicht der Eingliederungshilfe – FT am 30.03.2011<br />

Gliederung:<br />

1. Vorstellung und Einleitung (Strauß<br />

� Einrichtung BW DRK KV Börde e.V.<br />

� Bedarfe und Entwicklung<br />

2. Eingliederungshilfe im Bereich Wohnen – Bedingungen (Strauß)<br />

� rechtliche (Wunsch & Wahlrecht, Einzelfallentscheidung,<br />

Mehrbedarfe, Stundenumfang, Leistungserbringung d. KT,<br />

Personalschlüssel, Diskrepanz Bundesrecht SGB XII zu<br />

Landesrecht RV)<br />

� sächliche (Therapeuten, Ärzte, Jugendangebote,<br />

Kriseninterventionsinstrumente, Wohnstrukturen,<br />

Arbeitsmaterialien)<br />

� infrastrukturelle (Erreichbarkeit von Angeboten,<br />

demographische Altersstrukturen, Peer-Groups,<br />

Mobilitätsvoraussetzungen)<br />

3. Vernetzungsarbeit der Eingliederungshilfe (Strauß)<br />

� Gutachten (differenziert)<br />

� Hilfeplanung (differenziert)<br />

� Herauslassen der Leistungserbringer<br />

� losgelöste Leistungssysteme „Jeder betreut für sich“<br />

4. Fallbeispiel (Lempke)<br />

� Vorbereitung zur Aufnahme<br />

� Probewohnen<br />

� Wohnen Kontext, Beschäftigung, Beziehungen, psychische<br />

Einschränkung<br />

� Gestaffelte Betreuung nach stark wechselnden Bedarfen<br />

� Endergebnis<br />

� Fazit: aus Sicht des Betroffenen (bestehende<br />

Sozialstrukturen zu behalten)<br />

24


5. Fazit (Strauß/ Lempke)<br />

� Fachleistungsstundenmodelle<br />

� flexible Betreuungsschüssel<br />

� Netzwerke zur Jugendbetreuung/ Kontaktstellen mit Fachpersonal<br />

� Krisenunterbringungsmöglichkeiten/ Rufbereitschaft und<br />

Notbetreuung im Milieu<br />

� Tagesklinische Betreuungsangebote<br />

� kostenloser Zugang zu kulturellen Angeboten/ öffentliche<br />

Verkehrsmittel/ Sportvereine<br />

� Freie Beschäftigungsfelder Kooperation mit Firmen vor Ort/<br />

Begleitung durch Assistenz<br />

� Zugang zu fachlichen Angeboten z.B. Psychotherapie<br />

� Selbsthilfegruppen zur Problematik in altershomogener Form<br />

� Kooperationsmodelle mit Kliniken und stationären Hilfeformen<br />

im Vorfeld<br />

� Kooperaitionsmodell zum Netzwerkaufbau im Trialog vor<br />

Aufnahme<br />

� Leistungstypen Modelle abschaffen/ Bedarfe ganzheitliche<br />

Betrachtungsweise<br />

O ganzheitliche Gutachten und Hilfeplanung/ vernetzte<br />

Leistungssysteme/ ganzheitliche Leistungserbringung<br />

(Bsp.)/ zeitnahe Bescheide und Bearbeitung<br />

Fallbeispiel<br />

Zur Person:<br />

� 20 jährige junge Frau<br />

� Psychiatrische Diagnose: Borderline-Persönlichkeitsstörung,<br />

Verhaltensstörung (keine Medikamente)<br />

� 12. – 20. Lebensjahr im Kinderheim<br />

� 2 abgebrochene stationäre Langzeittherapien (letzte mit 16J.)<br />

� Erfahrungen im Kindesalter mit elterlicher Gewalt und Missbrauch<br />

� Im Heim 24-std. Betreuung, familiäre feste Strukturen,<br />

therapeutische Unterstützung<br />

� Beschäftigung in WfbM – Ausbildungsbereich<br />

� mehrere Abgänge im Kinderheim- Flucht zur Herkunftsfamilie,<br />

Diebstähle, Gewalttaten, Handyschulden<br />

� starkes Verlangen Kontakt mit der Familie zu haben, speziell zu<br />

Geschwistern und zur Mutter – ungeklärtes Verhältnis zur Mutter<br />

(Zurückweisung durch die Mutter<br />

� selbstverletzendes Verhalten<br />

Probewohnen im BW für eine Woche in WG, Wunsch in ABW nach<br />

Oschersleben zu ziehen (WfbM in OC, Freunde in OC) – Antragstellung<br />

erfolgt, Infogespräch mit Bewerberin, gesetzl. Betreuerin, Kinderheim über<br />

Anforderungen und Strukturen im ABW.<br />

25


� Kosten über Jugendamt zu Bedingungen der EGH –<br />

Einzelfallentscheidung MB (6,6h/Woche), da Intensität der<br />

Betreuung durch Probewohnen abschätzbar (Vorteil vom<br />

Probewohnen – allerdings ohne Betreuungskosten)<br />

Mai 2010 – Einzug in WG mit gemischter Alterstruktur (23-52 Jahre,<br />

M/W gemischt, klassischen psychiatrischen Erkrankungen)<br />

� gemeinsam mit Klientin Erarbeitung von Absprachen und<br />

strukturgebenden Maßnahmen (Wochenplan, Einbindung in<br />

Sportkoordination, Freizeitaktivitäten – Ausflüge/Urlaub, Boxverein,<br />

WfbM-Beschäftigung, feste Einzel- und Wohngruppengespräche)<br />

� zunächst bemüht, sich in Strukturen einzufügen, genießt neue<br />

Freiheiten in WG, arbeitet gut mit.<br />

Schnell wird klar: - Bedarf an Kontakt mit allen Betreuern im BW sehr hoch,<br />

tägliche Gespräche, Mitteilung von teils widersprüchlichen Informationen,<br />

Suche nach Anerkennung/Aufmerksamkeit über Geschichten, teilweise<br />

erdacht.<br />

� Unsicherheit bei Mitbewohnern<br />

� Bezugsbetreuer wird zu Aktionen der jungen <strong>Wilde</strong>n von<br />

verschiednen Seiten angesprochen, es gilt Sachverhalte zu klären,<br />

Informationen einzuholen bzw. weiterzugeben, Gespräche mit<br />

Klientin und Involvierten zu führen, WICHTIG: feste Absprachen<br />

zu treffen!<br />

� das bestehende und vom BW geschaffene Netzwerk will bedient<br />

werden! Durch wechselnde Freundeskreis, wechselnde Partner,<br />

unterschiedliche Verhaltensweisen, ständig wechselnde Aktivitäten<br />

kommt Unruhe auf…schlägt sich nieder in Unzufriedenheit mit<br />

Mitbewohnern, Konflikte im Beschäftigungsbereich, mit der<br />

gesetzlichen Betreuerin, der Polizei, Freunden, Trainer, Nachbarn etc.<br />

� Mitteilung wichtiger Infos gelangen an uns über Bewohner,<br />

WfbM, Freunde, andere Institutionen (Polizei, Wohnheime,<br />

gesetzl. Betreuer) und Betreuter selbst – Fülle an Infos,<br />

Maßnahmen, Absprachen innerhalb des Netzwerkes sprengt<br />

Betreuungszeiten,<br />

� Handlungsbedarf und Maßnahmen schwer planbar,<br />

(Betreuungsbedarf nicht abschätzbar- immer neue<br />

Überraschungen auf die reagiert werden muß; Mitarbeit<br />

bei Klientin dabei schwankend)<br />

� Mitarbeit Klientin: versucht Grenzen auszutesten- wer ist der<br />

Stärkere (typisch, dass Gespräche unterbrochen werden, weil<br />

sie raus rennt, aggressiv wird – kommt immer wieder zurück –<br />

Absprachen aushandeln, Konsequenzen besprechen, Lösungen<br />

finden braucht viel Zeit!)<br />

26


möchte Anerkennung und Zuneigung, Betreuer loben, geben<br />

ihr Verantwortung, gleichzeitig<br />

� Wunsch an die WG als Familie zu fungieren – stellt schnell<br />

Vertrautheit her, spricht über ihre Probleme in der Gruppe –<br />

Gruppe ist mit den schwerwiegenden Problemen (Vergewaltigung,<br />

wechselnde Partnerschaften, Konflikte auf Arbeit und mit Freunden)<br />

überfordert, Bewohner grenzen sich ab.<br />

� Konflikte mit WG, fühlt sich unverstanden, verbal aggressiv<br />

(daraus folgten Gruppengespräche, Einzelgespräche, neue<br />

Absprachen)<br />

� im Laufe der Betreuung immer neue Probleme in WG – ist den<br />

Erwachsenen nicht gewachsen, dazu kommt Übernahme in den<br />

„Erwachsenbereich“ der WfbM – Konflikte mit Anleiter.<br />

� Schwänzen, krank machen, sich in OC rumtreiben, neue<br />

Konflikte in BW, Flucht.<br />

Zu dieser Zeit geplante Übernahme in die Eingliederungshilfe – wir sind<br />

skeptisch, ob AWB geeignet (kann Anforderungen nicht erfüllen, braucht<br />

zuviel Kontrolle, festere Struktur und Begleitung) – Begutachtung durch<br />

Amtsärztin – Feststellung: Unbedingt stationäre Therapie, das will Klientin<br />

auch, dann schwankt sie, weil das bedeutet, dass sie aus OC für mindestens<br />

3 Monate weg muß, ihre sozialen Kontakte aufgeben muß – auch hier<br />

Motivationsgespräche, Begleitung zu möglichen Kliniken, inzwischen neue<br />

Konflikte, sodass aus Absprachen, Abmahnungen und aus Abmahnungen<br />

eine Kündigung wird. Wir stellen ihr in Aussicht, wieder ins BW zu kommen,<br />

wenn die Therapie gut läuft – sie tritt Therapie an, aber hat Heimweh,<br />

möchte sich der Therapie nicht stellen.<br />

� Zuflucht bei einem Freund, Angebot übergangsweise ins BW zu kommen<br />

schlägt sie aus, auf einmal doch wieder alles anders, Wiederaufnahme bis<br />

Platz in stationärer Einrichtung frei ist.<br />

Fazit:<br />

� das war Anfang diesem Jahres, seit 1.3. ist die junge Frau in<br />

einem Wohnheim für seelisch behinderte Menschen untergebracht,<br />

ihre Beschäftigung in der WfbM hat sie aufgrund hoher Fehlzeiten<br />

verloren, sie ist froh in der Nähe von OC zu sein, im Moment<br />

gefällt es ihr, wie es weitergeht bleibt abzuwarten. Auch der<br />

Kontakt zu uns besteht nach wie vor.<br />

Alles in Allem haben wir versucht ein so individuell wie möglich gestricktes<br />

Angebot zu machen, dass die Stärken fördert, und die enorme Energie der<br />

Klientin auffängt. Dennoch sind wir an dem für das ABW viel zu hohen<br />

Hilfebedarf gescheitert. Wir hatten nicht nur bei der Klientin selbst einen<br />

sehr hohen Hilfebedarf sondern auch im Zusammenhang mit den<br />

27


Mitbewohnern, Freunden, Institutionen, Ärzten und Therapeuten einen<br />

erhöhten Betreuungsbedarf. Die junge <strong>Wilde</strong> wollte nicht recht zu den<br />

Erwachsenen Mitbewohnern passen, die kein Verständnis für sie aufbringen<br />

konnten, weil sie mit sich und ihrer psychischen Erkrankung genug zu tun<br />

hatten. Die Mitbewohner konnten ihr nicht geben, was sie suchte –<br />

Anerkennung und Verständnis. Wir konnten ihr ebenfalls eine Familie nicht<br />

ersetzen, hatten trotz unserer Bemühungen zu wenig Zeit und Möglichkeiten<br />

die Betreuung gelingen zu lassen. Wir mussten Kontakte zur Arbeitsstelle,<br />

gesetzlichen Betreuerin, Polizei, Freunden, benachbarten Wohneinrichtungen<br />

etc. halten um Sachverhalte zu klären und auf den Status quo zu kommen.<br />

Meist mehrmals in der Woche und wir hatten unsere täglichen Gespräche<br />

mit der Klientin selbst, die immer für eine Überraschung gut war. Trotzdem<br />

wir diesen Aufwand betrieben, musste es scheitern, weil Therapeuten,<br />

Pädagogen und Zeitressourcen fehlten.<br />

Der Umzug in eine stationäre Einrichtung der Eingliederungshilfe ist eine<br />

Notlösung. Unsere junge <strong>Wilde</strong> wollte auf keinen Fall aus OC weg und<br />

drohte in ihrer Verzweiflung sogar damit wegzulaufen. Auch die<br />

Selbstverletzungen nahmen wieder zu. Und dabei ist das Ziel der jungen<br />

<strong>Wilde</strong>n doch eigentlich nur ein ganz normales Leben, mit Anerkennung<br />

durch Freunde, verlässliche Partner im Beruf und im sozialen Umfeld,<br />

ernst genommen werden. Der Weg dahin ist individuell, wie bei uns allen –<br />

genau so sollte sie also auch auf dem Weg begleitet werden können.<br />

28


5. "<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>" im Wirrwarr des (Sozial)Rechts<br />

Prof. Dr. Peter Schruth<br />

Prof. für Rechtswissenschaftent<br />

an der Hochschule Magdeburg-Stendal<br />

„<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“ als neue Klientel<br />

� Ein „neues Klientel“ entsteht wodurch?<br />

- durch Fachtagungen wie dieser?<br />

- durch Problemdruck in der sozialarbeiterischen Praxis?<br />

- durch normative Rechtsetzung?<br />

� „<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“ sind kein neues Klientel, sie sind<br />

junge Menschen mit offensichtlich komplexem<br />

Hilfebedarf und unerfüllten persönlichen wie<br />

sozialen Unterstützungen.<br />

....im Wirrwarr des Sozial(Rechts)<br />

� Nicht das Wort „Recht“, sondern das Wort<br />

„Sozial“ gehört eingeklammert.<br />

� Es gibt nicht die eindeutige Sozialrechtsnorm,<br />

die öffentlich ausreichend Hilfebedarfsgerechtigkeit<br />

für „junge <strong>Wilde</strong>“ gewährleistet.<br />

� Sozialrecht bewegt sich im Viereck:<br />

Lebenslage – Geld – Recht – Verfahren.<br />

Lebenslagen: „<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“<br />

Sind in der Regel junge Volljährige bis ca. 30 Jahre,<br />

die<br />

� ...sich in endlosen Konflikten verstricken (z.B. Schulden,<br />

Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit, Alkohol,<br />

Spielsüchte),<br />

29


� ...die Strukturen in bestehenden Hilfesystemen<br />

sprengen (..notfalls „psychiatrische Diagnosen“),<br />

� ...irgendwie noch nicht „so richtig“ im Leben<br />

angekommen sind,<br />

� ...als hilferesistent von Institution zu Institution<br />

weitergereicht werden.<br />

Anspruch des Sozialrechts<br />

� § 17 SGB I: Leistungsträger sind zu Sozialleistungen verpflichtet,<br />

- die jeder Berechtigte zeitgemäß, umfassend und zügig erhält und<br />

- für die rechtzeitig und ausreichend die erforderlichen Dienste und<br />

Einrichtungen zur Verfügung stehen.<br />

� Aber: Konterkarierungen durch<br />

- Rechtsanwendungspraxis (z.B. Auslegung unbestimmter<br />

Rechtsbegriffe und der Mitwirkungspflichten zu Lasten junger<br />

Menschen),<br />

- Primat einer ungeschriebenen Rechtsfolgenklausel:<br />

Was darf die Hilfe kosten?,<br />

- Leistungskonkurrenzen als Verschiebebahnhöfe.<br />

Zuordnungen im Sozialrecht<br />

� §§ 41, 13 SGB VIII:<br />

Weil es um junge Menschen mit einem besonderen<br />

persönlichen Förderbedarf geht<br />

� §§ 53 ff. SGB XII:<br />

Weil es um junge Menschen mit einer körperlichen<br />

und/oder geistigen Behinderung geht (keine<br />

Anwendung des § 35a SGB VIII)<br />

� §§ 3 Abs.2, 14 ff. SGB II:<br />

Weil es um arbeitslose junge Menschen geht, die der<br />

Eingliederungshilfe auf dem Arbeitsmarkt bedürfen<br />

30


Anwendungsbereich<br />

der Verselbständigungshilfe des 41 SGB VIII<br />

für junge Volljährige<br />

� Soll – Leistung (!)<br />

� Vorrang von Leistungen nach dem SGB II, wenn es (nur) um Eingliederung<br />

in den Arbeitsmarkt als Ziel der Hilfe geht. Nachrang der Leistungen nach<br />

dem SGB XII, weil es im SGB XII um altersunspezifische Überwindung<br />

sozialer Schwierigkeiten geht, die durch besondere Lebensverhältnisse<br />

bedingt sind.<br />

� Gründe des Gesetzgebers:<br />

Insbesondere wegen längerer Schul- und Ausbildungszeiten und schwieriger<br />

Ablösungsprozesse bedürfen junge Menschen wegen spezifischer sozialer<br />

Belastungen über die Volljährigkeitsgrenze hinaus weiterer pädagogischer<br />

Unterstützungen.<br />

� Deshalb: Erstmalige Gewährung nach Vollendung des 18. Lebensjahres<br />

(statt Hilfebeendigung mit 18), Schlussalter: 21 Jahre (Regelfall),<br />

27 Jahre (Ausnahmefall)<br />

� Nicht an eine bereits begonnene Ausbildung gebunden (wie vordem beim<br />

JWG).<br />

Leistungsvoraussetzungen<br />

von § 41 SGB VIII<br />

Leistungsvoraussetzung:<br />

Einschränkungen in der Persönlichkeitsentwicklung und in der Fähigkeit,<br />

ein eigenständiges Leben zu führen.<br />

+<br />

Ungeschriebene Leistungskriterien:<br />

Strittig ist, ob sich die Erfolgsaussicht auf die tatsächliche Eignung der Hilfe<br />

für die Persönlichkeitsentwicklung oder nur auf die Notwendigkeit der Hilfe<br />

beziehen darf<br />

(Gilt letzteres, dann ist die Hilfe immer zu gewähren, wenn sie notwendig<br />

ist).<br />

+<br />

Mitwirkungsbereitschaft als grundsätzliche Voraussetzung für jede<br />

Sozialpädagogische Interaktion<br />

� Der Gesetzgeber verwendet bewusst eine weite Begrifflichkeit<br />

� Fehlende Autonomie und Selbständigkeit und unzureichende<br />

Persönlichkeitsentwicklung lassen sich für einen jungen Volljährigen<br />

31


nur beschränkt pauschalierend beschreiben: z.B. die altersgemäße<br />

übliche individuelle Entwicklung und gesellschaftliche Integration ist<br />

unzureichend bzw. unterdurchschnittlich gelungen (?).<br />

� Oder Bildung von Fallgruppen:<br />

Schulische, berufliche und sonstige Abbrüche; Obdachlosigkeit,<br />

Suchtkrankheit; brüchige Lebenswege wegen Strafhaft bzw. länger<br />

in Einrichtungen gelebt; Kumulation von Defiziten wie fehlende<br />

Wohnung, fehlende berufliche Ausbildung, erhebliche Schulden,<br />

keine Zugänge zu Sozialleistungen<br />

� Dagegen steht die Fachkommentierung: <strong>Junge</strong> Volljährige, die<br />

bewusst eigensinnig nach eigenen Lebensentwürfen leben wollen,<br />

zählen nicht zum Kreis der Anspruchsberechtigten gemäß § 41 SGB<br />

VIII. Unterste Grenze des § 41 ist zumindest ein „gewisser<br />

Veränderungswunsch“.<br />

Hilfe nach § 41 SGB VIII für seelisch behinderte junge<br />

Menschen ?<br />

� § 41 ist eigenständige Hilfe:<br />

- Lediglich bei den Rechtsfolgen des § 41 Verweis auf die Typen der<br />

Hilfe zur Erziehung, also ein Hinweis auf Ausgestaltung der Hilfen;<br />

- Hypothese: eine Verselbständigung ist – wenn auch mit zeitlicher<br />

Verzögerung – erreichbar.<br />

� Konstruktion als „Auslaufhilfe“ und Bedeutung der Erfolgsprognose<br />

vor dem Hintergrund der „lebenslangen“ Gewährung von<br />

Eingliederungshilfe.<br />

Anwendungsprobleme des § 41 SGB VIII<br />

� Es sind Vereinbarungen zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe über den<br />

Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels erforderlich.<br />

� Gleichwohl: Es kommt in Deutschland darauf an, wo man wohnt, um<br />

eine Chance auf Leistungen nach § 41 SGB VIII zu haben.<br />

� Die reduzierten Anwendungen und Verschiebungen in das SGB II führen<br />

oft dazu, dass bestenfalls nur noch eine engagierte JGH Jugendhilfeleistungen<br />

für junge Volljährige realisieren kann.<br />

� Was ist aber bei fehlender Bereitschaft junger Volljähriger zur Mitwirkung<br />

an der Verselbständigung in absehbarer Zeit?<br />

32


Anwendungsbereich<br />

der sozialpädagogischen Hilfen des § 13 Abs.1 SGB VIII<br />

für sozial Benachteiligte und/oder individuell<br />

Beeinträchtigte<br />

� Tatbestand und Rechtsfolge<br />

- Offen zu definierende sozialpädagogische Hilfen (als Soll-Leistung)<br />

für junge Menschen mit erhöhtem sozialpädagogischem<br />

Unterstützungsbedarf<br />

- Hier: „Individuelle Beeinträchtigungen“ ?<br />

= „alle psychischen, physischen oder sonstigen persönlichen<br />

Beeinträchtigungen individueller Art (z.B. Abhängigkeit,<br />

Überschuldung, Delinquenz, Behinderung, aber auch<br />

wirtschaftliche Benachteiligung)“<br />

(Münder LPK § 13 Rz.12)<br />

� Anwendungsprobleme<br />

- Norm könnte passen (bis 27 Jahre), aber Anwendungsverweigerung<br />

der Jugendämter, weil angeblicher Vorrang des SGB II bzw. angeblich<br />

kein subjektiver harter Rechtsanspruch.<br />

Anwendungsbereich des SGB XII<br />

� Das Vorrang – Nachrang – Verhältnis zum<br />

SGB VIII (§ 10 SGB VIII)<br />

� Der etikettierende Behinderungsbegriff der<br />

(zu) kleinen Lösung<br />

� Der etwas andere Hilfeansatz des SGB XII<br />

Anwendungsbereich<br />

der Eingliederungshilfen der §§ 53 ff. SGB XII<br />

Hier gibt es offensichtlich eine neue Praxis der „psychiatrischen<br />

Diagnose“, der Unterbringung in Einrichtungen der Eingliederungs-<br />

hilfe/WfbMs und unzureichenden Versorgung dieser jungen <strong>Wilde</strong>n:<br />

� Vorrang der Eingliederungsleistungen des SGB XII<br />

(gegenüber SGB VIII) nur für junge Menschen, die<br />

körperlich oder geistig behindert oder von einer<br />

33


solchen Behinderung bedroht sind (vgl. § 10 Abs.4<br />

S.2 SGB VIII)<br />

� Problem Behinderungsbegriff:<br />

Wesentliche Beeinträchtigung der gesellschaftlichen<br />

Teilhabefähigkeit (Problem: als dauerhafter Status)<br />

� Problem:<br />

Integrationsmängel der Hilfen, insbesondere geringe<br />

Bis keine sozialen Integrationshilfen, eben keine<br />

Maßgeschneiderten Jugendhilfen.<br />

� Frage an die Praxis:<br />

Hilfen „von der Stange“ und deshalb oft nicht<br />

bedarfsgerecht?<br />

Anwendungsbereich<br />

der Eingliederungshilfen auf dem Arbeitsmarkt nach<br />

den §§ 3, 14 ff. SGB II<br />

� Problem:<br />

Debatte um Leistungskonkurrenz<br />

� Gilt die aliud-Theorie oder die Sozialpädagogisierung des SGB II<br />

� Im Ergebnis:<br />

Wo der spezielle sozialpädagogische Bedarf des jungen Menschen<br />

festgestellt wird, hört die Zuständigkeit des SGB II auf.<br />

� Zuständig ist das SGB II eindeutig als Fachbehörde für Vermittlung<br />

in Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit.<br />

� Wegen fehlender eindeutiger sachlicher Abgrenzungen in der<br />

Zuständigkeit braucht es wirksame gemeinsame Clearingverfahren<br />

zwischen Jobcenter/ARGEn/Jugend- und Sozialämtern.<br />

� Klar sollte insbesondere bezüglich der besonders schwierigen<br />

jungen Menschen sein, dass junge Menschen besonders nach<br />

existenzgefährdenden Sondersanktionierungen der Jobcenter/<br />

ARGEn die persönliche und materielle Unterstützung der Jugend-<br />

und Sozialämter benötigen.<br />

34


Hat sich das Sozialrecht etwas entwirrt?<br />

� Das Sozialrecht bieten immer noch ausreichende Ansatzpunkte,<br />

um hilfebedarfsgerechte und ausfinanzierte Angebote für junge<br />

Menschen mit besonderen persönlichen und sozialen Schwierigkeiten<br />

zu machen.<br />

� Allerdings fehlt es an klaren Zuständigkeiten, hier insbesondere,<br />

weil es<br />

- weil es oftmals nicht um bedarfsgerechte Hilfen geht, sondern um<br />

die übergesetzliche Frage:<br />

Was darf eine Hilfe kosten?<br />

- weil das SGB II die Jugendsozialarbeit zu Lasten junger Menschen<br />

„untergepflügt“ hat,<br />

- weil es keine „große Lösung“ im Kontext des § 35a SGB VIII gibt,<br />

- weil es ein Abschieben junger Menschen in das SGB XII gibt.<br />

� Das SGB II erschwert die Arbeit mit unangepassten jungen Menschen<br />

durch das Sondersanktionsrecht des § 31 Abs.5 SGB II erheblich und<br />

gehört abgeschafft.<br />

� <strong>Junge</strong>n Menschen wäre erheblich im Umgang mit den „Unzuständig-<br />

keiten der Sozialleistungsträger“ durch eindeutige Erstzuständigkeiten<br />

der Jugendhilfe für diejenigen jungen Menschen geholfen, die aus<br />

dem SGB II „rausfallen“, die eigentlich nicht ins SGB XII gehören.<br />

� Es braucht gerade für besonders schwierige junge Menschen ein<br />

qualitatives Hilfeverbundverfahren:<br />

Rechtzeitige Beteiligung der Fachkräfte der Jugendhilfe an der<br />

Erstellung von Eingliederungsvereinbarungen sowie der Fachkräfte<br />

der ARGEn an der Hilfeplanung der Jugendhilfe.<br />

� Und es braucht die weitere Entwicklung von ombudschaftlichen<br />

Verfahren in der Jugendhilfe, um zu mehr Partizipation junger<br />

Menschen, zur Stärkung von Betroffenenrechten und zur Entwicklung<br />

hilfebedarfsgerechter Projektansätze zu kommen.<br />

35


6. <strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>" und kooperative Hilfeplanung<br />

Prof. Dr. Titus Simon,<br />

Prof. für Jugendarbeit und Jugendhilfeplanung,<br />

Hochschule Magdeburg-Stendal<br />

Vortrag Tagung Peseckendorf 30.03.2011<br />

Zwei Vorbemerkungen:<br />

1. Dieser Vortrag bewegt sich im Rahmen des<br />

geltenden Rechts. Dennoch muss es aus fachlichen,<br />

berufsethischen und politischen Gründen ein Ziel<br />

unseres Handelns sein, Hartz IV zugunsten eines<br />

modernen Grundsicherungsrechtes abzulösen.<br />

2. Wie an anderer Stelle noch zu zeigen sein wird, sollte,<br />

wenn es nicht zu umfangreichen Reformen kommt, für<br />

die Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen<br />

wieder zu einer Vorrangumkehr kommen:<br />

Jugendhilfe geht vor.<br />

20 Jahre nach Verabschiedung des SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfegesetzes<br />

(KJHG) steht die Jugendhilfe vor umfassenden neuen Herausforderungen. Diese<br />

Feststellung gilt sowohl für die alten als auch die neuen Bundesländer. Die neuen<br />

Finanzierungsregeln in der sozialen Arbeit (Leistungsvereinbarungen statt Kostendeckungsprinzip<br />

oder wie es die Ökonomen nennen:<br />

von der retrospektiven zur prospektiven Finanzierung) und auch die Pflicht zur<br />

Qualitätssicherung bzw. Qualitätsentwicklung haben die soziale Landschaft und<br />

die alte partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und freien<br />

Trägern ein gutes Stück umgepflügt.<br />

Der demographische Wandel, die Abwanderung jüngerer Altersgruppen aus<br />

Ostdeutschland sowie ein größer werdender Anteil an Kindern und Jugendlichen<br />

mit Migrationshintergrund stellen neue Anforderungen an die Gesellschaft, die<br />

Jugendhilfe und darauf bezogene Planungen dar.<br />

Kinder- und Jugendhilfe erweist sich dennoch als ein System, das im Lauf der<br />

Zeit durchaus in der Lage war, auf neue Problemlagen zu reagieren. Dies zeigt<br />

sich etwa an der Entwicklung von brauchbaren Handlungsroutinen im Umgang<br />

mit sexuellem Missbrauch.<br />

Auf der anderen Seite kommen immer wieder Debatten um sogenannte „Problemjugendliche“<br />

auf, die „maßnahme- oder am Ende sogar erziehungsresistent seien.<br />

Die Gestalt dieser Problemjugendlichen ist diffus (Witte/Sander 2006, S. 7).<br />

Unstrittig ist, dass es Jugendliche gibt, bei denen die verschiedenartigen Formen<br />

professioneller Hilfe versagen, die rastlos zwischen Familie, prekären Orten<br />

und Institutionen pendeln. Im Rahmen von Begleitforschungen zu Modell-<br />

projekten für Schulverweigerer sind mir Jugendliche begegnet, die sich im<br />

Verlauf ihrer „Karriere“ in zwanzig und mehr verschiedenartigen Maßnahmen<br />

36


efunden haben.<br />

Ein fatales Produkt einer immer differenzierter werdenden Spezialisierung –<br />

die ich nicht generell kritisieren möchte, mit deren Folgen man sich an anderer<br />

Stelle systematischer befassen sollte – ist der Trend zu beschleunigter Weiter-<br />

vermittlung. Auch aus dem Durchlaufen dieser „Angebotskette“ resultieren<br />

kritische Hilfeverläufe. Aus verschiedenen Fallstudien konnte herausgearbeitet<br />

werden, dass vor allem zwei Dynamiken beim Aufeinandertreffen negative<br />

Wirkungen entfalten können:<br />

1. spezifische Schlüsselsituationen in den Lebens- und Familiengeschichten<br />

junger Menschen;<br />

2. die negativen Folgen der Summe aller Ereignisse, Bewertungen und<br />

Dynamiken die von den Prozessbeteiligten produziert werden.<br />

Zu diesen gehören auch die Professionellen.<br />

Jugendliche im „Bermudadreieck“ zwischen Jugendhilfe,<br />

SGB II und SGB XII<br />

Armut hat in jeder historischen Epoche Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen<br />

hervorgebracht, und dies meist auch in einer Weise, die den öffentlichen<br />

Raum berührt hat. Angesichts der anhaltenden und steigenden Arbeitslosigkeit<br />

wird auch Obdachlosigkeit ein Problem für die Gesellschaft bleiben.<br />

Die Problemlagen sind in der Regel komplex:<br />

Arbeitslosigkeit, Überschuldung, Drogen-/ Alkoholprobleme, biographische<br />

Brüche, psychische Beeinträchtigungen, Flucht aus Elternhäusern und Pflegefamilien,<br />

von Großeltern und Heimen. Es muss davon ausgegangen werden,<br />

dass die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die in Armutsverhältnissen<br />

aufwachsen, auch künftig weiter steigt. Wie wir wissen, sind arme Kinder in<br />

der Bildung und an kultureller Teilhabe benachteiligt. Kinder aus Armutsfamilien<br />

machen seltener Abitur. In einzelnen Bundesländern haben nur Eltern mit Job<br />

Anspruch auf einen ganztägigen Kita-Platz. Arme Kinder werden öfter krank.<br />

Obwohl sich arbeitslose Eltern öfter zu Hause aufhalten, werden insbesondere<br />

die <strong>Junge</strong>n in ihrer Entwicklung beeinträchtigt, da sie die Arbeitslosigkeit des<br />

Vaters als Autoritätsverlust erleben.<br />

Die vielerorts unverändert existierenden Abstimmungsprobleme zwischen<br />

SGB II, VIII und XII verhindern bislang sowohl generell als auch mit Blick auf<br />

die Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen größere Erfolge<br />

bei der schulischen und beruflichen Bildung und Qualifizierung sowie bei<br />

der Einmündung in den ersten Arbeitsmarkt.<br />

37


Dies hat erst einmal damit zu tun, dass sich diese Zielgruppe im<br />

„Bermudadreieck“ verschiedener Handlungsrationalitäten befindet 1 :<br />

SGB VIII SGB II/III SGB XII<br />

Kontext Sozialpolitik Arbeitsmarktpolitik Sozialpolitik<br />

Inhalte � Erziehung � Arbeitsmarktpoli- � Nachrangige<br />

� Entwicklung tische Maßnahmen Sicherung<br />

� Erziehungs- und � Fordern und � Hilfe zur Teilnahme<br />

Familienhilfe Fördern<br />

am Leben in der<br />

Gemeinschaft<br />

Hand- � Kindeswohl � Beschäftigungs- � Besondere soziale<br />

lungs � Erzieherischer orientierung<br />

Schwierigkeiten<br />

orientie Bedarf<br />

� Wirtschaftlicher<br />

rungen<br />

Bedarf<br />

Steue- Hilfeplan Eingliederungs- Hilfeplan<br />

rungsinstrumentvereinbarung<br />

Wahl- Gegebenenfalls Eingeschränkt durch Eingeschränkt durch<br />

recht der eingeschränkt durch ArbeitsWohnungsmarktbeBetrof-<br />

die Höhe der Kosten marktbedingungendingungen und den<br />

fenen<br />

und geplante Nachrang der Hilfen nach<br />

Maßnahmen<br />

§ 67 ff SGB XII<br />

Integra- Eigenständiges Leben Einmündung in den � Teilhabe<br />

tionsver<br />

Arbeitsmarkt<br />

� Elementarversorgung<br />

ständnis<br />

� Vermeidung von<br />

Verschlimmerung<br />

(Simon 2011 in nochmaliger Erweiterung von Simon 2010 und Michel-Schwartze 2007)<br />

Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen kleinen argumentativen Ausflug zur<br />

Weiterentwicklung der Jugendhilfe:<br />

� Trotz günstiger Arbeitsmarktprognosen gibt es unverändert eine<br />

erhebliche Zahl Jugendlicher und junger Erwachsener, deren<br />

berufliche und gesellschaftliche Integration dauerhaft gefährdet ist.<br />

Zahlreiche Forschungen belegen:<br />

Von jenen, die bis zum 25. Lebensjahr noch kein Beschäftigungsverhältnis<br />

am ersten Arbeitsmarkt erlangt haben (ausgenommen:<br />

HochschulabsolventInnen), gelingt dies später nur wenigen. Daraus<br />

folgen langfristige Kosten und oftmals eine Bündelung sozialer<br />

Schwierigkeiten. Aus den Erfahrungen, dass sich die Vorrangstellung<br />

des SGB II („Hartz IV“) für Jugendliche und junge Erwachsene in<br />

nunmehr 6 Jahren nicht bewährt hat, soll das Verhältnis von Arbeitsförderung<br />

und Jugendhilfe für besonderes gefährdete Jugendliche<br />

neu bestimmt werden. Die Angebote der Jugendsozialarbeit nach<br />

1 Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde der schul- und bildungspolitische Kontext hier nicht<br />

berücksichtigt, der mit der noch bestehenden Schulpflicht für die jüngeren wohnungslosen<br />

Jugendlichen relevant wird.<br />

38


SGB VIII sollen für diese jungen Menschen den Eingliederungs-<br />

leistungen des SGB II bzw. des SGB III vorgehen. Hierzu hat der<br />

Gesamtverband des Paritätischen im September ein<br />

hervorragendes Positionspapier veröffentlicht, in dem er die bis<br />

ins Detail die notwendigen Gesetzesänderungen ausformuliert.<br />

Es wäre in diesem Fall wünschenswert, dass die Politik nicht nur<br />

den Lobbyisten aus dem Banken-, Gesundheits- und Energiesektor<br />

erlaubt, dem zuständigen Ministerium gleich die Gesetzes-<br />

vorhaben in die Feder zu diktieren.<br />

� Da absehbar ist, dass die für Jugendhilfe zuständigen Kommunen<br />

eine derart veränderte Aufgabenstellung nicht eigenständig<br />

finanzieren können, müssen sich die Bundesagentur für Arbeit<br />

und die Träger der Grundsicherung an den Kosten beteiligen.<br />

Die Kalamitäten der kommunalen Haushalte haben immer mehr dazu<br />

geführt, dass die fachlichen Entscheidungen der Fachkräfte in die Richtung<br />

gedrängt werden, teure, z.B. stationäre Hilfen zu vermeiden und selbst<br />

ambulante Formen verzögert einzusetzen. Unabhängige Jugendberatung,<br />

die, wie von Schruth, Urban-Stahl und anderen gefordert, Funktionen eines<br />

sozialen Verbraucherschutzes übernimmt, bekommt meines Erachtens in<br />

Zukunft eine wichtige Funktion.<br />

Anforderungen an die Hilfeplanung<br />

Die Praxis hat gezeigt, dass sich das Hilfenetz als anfällig für Prozesse des<br />

Verlegens und Abschiebens erweist. Gelegentlich befinden sich Hilfesuchende<br />

in einer Sphäre „organisierter Unzuständigkeit“.<br />

Aufschlussreich sind die Ergebnisse der Forschungsarbeiten von Ader und<br />

Schrapper (2002), die Hilfeplanverfahren sogenannter „schwieriger Fälle“<br />

untersucht haben:<br />

� Hoch belastete Lebenssituationen alleine erklären noch keinen<br />

„schwierigen Fall“.<br />

� Das Hilfesystem ist in die Dynamik verstrickt, weil<br />

� mit eigenen Kooperations- und Zuständigkeitsproblemen<br />

beschäftigt;<br />

� institutionell (zu sehr) zersplittert;<br />

� unflexibel;<br />

� (zu wenige, fachlich nicht immer qualifizierte) MitarbeiterInnen<br />

sind überlastet;<br />

� in Fällen der Eskalation funktionieren verabredete Kooperationen<br />

kaum.<br />

39


„Wer die Organisation nicht als Teil des Problems erkennt, kann auch die<br />

schwierigen Fälle nicht produktiv bearbeiten“ (ebenda, S. 33).<br />

Lösungsansätze<br />

Gerade im Umgang mit „schwierigen Fällen“ gibt es keine „sicheren<br />

Handlungstipps“. Von zentraler Bedeutung ist erst einmal die Bereitschaft<br />

der handelnden Akteure, sich dieser Fälle nachhaltig anzunehmen. Dann<br />

muss die Bereitschaft vorhanden sein, bestehende Handlungsroutinen zu<br />

modifizieren:<br />

� Flexibilisierung der Erziehungshilfen im Sinne des<br />

Konzeptes „Lernende Organisation“ Hierzu gehört, dass<br />

die Fachkräfte ein höheres Maß professionelle Entscheidungs-<br />

freiheit und Autonomie der Hilfegestaltung erhalten. Eine<br />

derartige Form der Flexibilisierung steht in einem deutlich<br />

entwickelten Sozialraumbezug.<br />

� Jugendliche wachsen an „schwierigen Orten“ auf, an denen ein<br />

nebeneinander vor gefährdenden Einflüssen und stabilisierenden<br />

Faktoren existiert. Soziale Arbeit hat die resilienzfördernden<br />

Faktoren aufzuspüren und zu stärken.<br />

� Das macht die Systematisierung von Netzwerkarbeit<br />

notwendig.<br />

� Und schließlich ist an eine „ganz alte Angelegenheit“ der<br />

Jugendhilfe“ zu erinnern: die hilfreiche Funktion<br />

nachhaltiger, verlässlicher Kontakte, die Krisen,<br />

Eskalationen und tiefgreifende Konflikte überdauern können.<br />

� Das führt uns<br />

zwangsläufig zur Frage nach der Fallverantwortung.<br />

Diese muss stärker als bislang unter Würdigung der Zugänge<br />

und der Belastbarkeit und Dauerhaftigkeit festgelegt werden.<br />

Im Zweifelsfall sollte diese z. B. auch einem Streetworker<br />

übertragen werden können, mit dem der Jugendliche den<br />

Kontakt noch nicht abgebrochen hat.<br />

Pädagogische Antworten<br />

auf die Lebenslagen „junger <strong>Wilde</strong>r“ –<br />

ein darstellender Versuch am Beispiel<br />

von „Straßenjugendlichen“<br />

Jugendhilfe weist trotz ihrer in den letzten Jahren gezeigten<br />

Innovationsbereitschaft immer noch das Problem auf, dass die meisten<br />

40


der bislang entwickelten Betreuungsformen ihre Hilfeangebote mit<br />

Normalitätsvorstellungen verknüpfen, die von den Jugendlichen nicht<br />

ohne weiteres gelebt werden können. Die primäre Frage ist daher nicht,<br />

wie sich die Betroffenen integrieren lassen, sondern wie man ihnen auf<br />

ihrem Weg erwachsen zu werden, helfen kann, der sich von den<br />

Normalformen des Aufwachsens unterscheidet. Auch Straßenjugendliche<br />

stehen vor der Aufgabe, kommunikative und handlungsstrategische<br />

Kompetenzen zur Bewältigung ihres Lebensalltags und soziale<br />

Beziehungen zu anderen Mitgliedern der „Szenen“ zu entwickeln, sich<br />

zu den „leib-seelischen“ Aspekten ihrer eigenen Existenz zu verhalten,<br />

sich Kulturfragmente aus den unterschiedlichsten Bereichen ihrer Umwelt<br />

anzueignen und sich mit dem Faktum des Älterwerdens irgendwann<br />

einmal zu arrangieren.<br />

(bereits: Müller 1999, S. 114 ff).<br />

Eine moderne, dem Gedanken des Empowerment verpflichtete<br />

Wohnungslosenhilfe hat somit verschiedene Funktionen und Reichweiten<br />

(hierzu vertiefend: Simon 2008):<br />

� Sie ist zunächst lebensraumbezogene Prävention, die<br />

geschlechtersensibel an der Wohnungsnotfallproblematik<br />

arbeitet.<br />

� Sie ist in erster Linie Fallarbeit auf der Basis der<br />

§§ 67 - 69 SGB XII, die sich an Menschen richtet, die<br />

unterschiedliche Straßenkarrieren aufweisen. Diese geschieht<br />

in ambulanten und in stationären Einrichtungen, als<br />

Rechtsdurchsetzung, als Notfallhilfe, als Grundversorgung,<br />

als Beratung und als Langzeithilfe.<br />

� Sie ist schließlich lebensraumbezogene Integration und<br />

arbeitet in vernetzten Strukturen des Gemeinwesens.<br />

(Lutz/Simon 2007, S. 203).<br />

Alltagspraktisch weist die Wohnungslosenhilfe eine höhere Kompetenz für<br />

den Umgang mit Straßenkarrieren auf, als dies in den örtlich vorhandenen<br />

Regelangeboten der Jugendhilfe der Fall ist. Daraus resultiert die fachliche<br />

Notwendigkeit, dass die Wohnungslosenhilfe eng mit jenen Angeboten der<br />

Jugendhilfe kooperiert, die für die Arbeit mit wohnungslosen Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen besonders qualifiziert sind. Bislang kann als<br />

bundesweites Defizit der Umstand benannt werden, dass diese Schnittstellen-<br />

problematik weder systematisch in Arbeitsgemeinschaften verhandelt noch<br />

zu einer präzisen Aufgabenstellung einer Abstimmung zwischen Jugendhilfe-<br />

planung und anderen Formen kommunaler Sozialplanung gemacht wurde.<br />

In einzelnen Sozialräumen wurde zumindest mit dem Aufbau „flexibler,<br />

sozialraumorientierter, individuell zugeschnittener Erziehungshilfen“ begonnen<br />

und schließlich flächendeckend in den Modelllandkreisen umgesetzt. Im<br />

Spektrum der erzieherischen Hilfen kooperieren nun in jedem der dortigen<br />

Sozialräume Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) des<br />

41


Jugendamtes mit Teams der freien Träger. Sie agieren partiell getrennt,<br />

bilden jedoch gemeinsame Jugendhilfestationen. Über diese sozialräumliche<br />

Orientierung können wohnungslose Jugendliche besser durch die Jugendhilfe<br />

erreicht werden. Dieser vorgeschlagene Perspektivenwechsel schließt eine auf<br />

die Kategorie Geschlecht bezogene Arbeit zwingend mit ein.<br />

Die Schwierigkeiten einer auf rechtlichen Bestimmungen beruhenden<br />

Jugend- und Wohnungslosenhilfe bestanden bereits in der Vergangenheit<br />

darin, Hilfeformen entwickeln und umsetzen zu können, die sich hochflexibel<br />

den individuellen Entwicklungswegen anpassen, auch wenn diese mitunter in<br />

Richtungen führen, die nur schwer mit dem Normalentwurf einer künftigen<br />

Erwachsenenexistenz in Einklang zu bringen sind.<br />

Straßenjugendliche halten sich vielfach in mittleren und größeren Gruppen<br />

auf, deren Wirkungen auf die Jugendlichen ambivalent sind. Zum einen bietet<br />

die Gruppe Schutz, fungiert als Überlebenshilfe, als Notgemeinschaft. Zum<br />

anderen beschleunigt und verstärkt die Gruppenzugehörigkeit Ausstiegs-<br />

tendenzen und subkulturelle Orientierungen und erschwert den Zugang von<br />

außen, was selbst von Streetworkern und Streetworkerinnen immer wieder als<br />

Problem beschrieben wird.<br />

„Zugang zu finden“ wird somit zur zentralen Kategorie, als Ausgangspunkt<br />

für eine weitere Interventionsberechtigung, die dem pädagogischen Personal<br />

von den Jugendlichen zugewiesen wird. Klassischerweise geschieht diese<br />

Kontaktaufnahme über Streetwork oder vorhandene Infrastruktur, etwa<br />

Notübernachtungen oder Tagestreffs. Vor dem Hintergrund dessen, dass<br />

Jugendliche auf der Straße auch der Sozialarbeit mit Misstrauen begegnen,<br />

kann es notwendig sein, dass jene, denen der Beziehungsaufbau gelungen<br />

ist, einzelne Jugendliche und junge Erwachsene länger begleiten, was die<br />

Leistungsfähigkeit traditioneller Streetwork vielfach übersteigt. Hier hat sich<br />

das Konzept der „Mobilen Jugendarbeit Stuttgarter Prägung“ bewährt,<br />

das neben der Streetwork auch die Säulen vertiefender Einzelfallhilfe, der<br />

Gruppen- und der Gemeinwesenarbeit aufweist. Hier ist es von der Team-<br />

struktur und -größe sowie vom Konzept her möglich, dass MitarbeiterInnen,<br />

denen über die Streetwork ein Beziehungsaufbau zu Einzelnen oder Gruppen<br />

gelungen ist, sich eine Zeitlang aus der aufsuchenden Arbeit zurücknehmen,<br />

um vorrangig mit den Personen weiter zu arbeiten, zu denen eine tragfähige<br />

Beziehung entwickelt werden konnte. Straßenkarrieren ziehen auch bei jungen<br />

Menschen psychische und körperliche Leiden nach sich. Hier erweisen sich<br />

medizinische Straßenambulanzen als hilfreich. Viele der Jugendlichen sind<br />

über ihre Eltern noch krankenversichert. Die in derartigen Projekten tätigen<br />

Ärztinnen und Ärzte haben gangbare Wege entwickelt, um eine medizinische<br />

Beratung und Versorgung gewähren zu können, ohne dass die Jugendlichen<br />

direkten Kontakt zu ihrem Elternhaus entwickeln müssen. Niedrigschwellige<br />

Wohn- und Übernachtungsangebote wie auch die Arbeit in den Tagestreffs<br />

stellen Grundversorgung bereit und dürfen zugleich nicht in dem Maße<br />

fordernd agieren, wie dies in konventionellen Jugendhilfeeinrichtungen meist<br />

der Fall ist. Es fällt Pädagoginnen und Pädagogen oftmals schwer, die Jugend-<br />

lichen so zu akzeptieren, wie sie sie antreffen: vordergründig untätig, ohne<br />

Bereitschaft, sich konventioneller schulischer und betrieblicher (Aus)Bildung<br />

42


zuzuwenden, den psychosozialen Problemen und Defiziten, dem oftmals<br />

erhöhten Suchtmittelgebrauch, der damit gelegentlich einhergehenden<br />

Beschaffungsprostitution und -kriminalität, den spröden, oftmals aggressiven<br />

oder aggressiv wirkenden Abgrenzungsritualen, der realen oder auch nur<br />

vermeintlichen Unfähigkeit, den Tag, den Monat, ja das Leben zu strukturieren.<br />

Der Versuch, diese unterschiedlichen Problemlagen zu zergliedern und in<br />

„einzelnen Häppchen“ durch SpezialistInnen anderer Dienste bearbeiten<br />

zu lassen, scheitert regelmäßig. Die adäquate pädagogische Antwort liegt<br />

häufig darin, einfach da zu sein, um die Impulse der Jugendlichen für<br />

Veränderung dann aufgreifen zu können, wenn sie von diesen selbst<br />

angedeutet werden. Das fällt einer unter Kostendruck agierenden, auf rasche<br />

Veränderung und Eingliederung ausgerichteten Sozialarbeit schwer, zumal<br />

dann, wenn die Erreichung einer dauerhaften Stabilisierung und selbständigen<br />

Lebensführung einen Prozess von mehreren Jahren zugrunde legt. Diese<br />

Kultur des „stabilisierenden Abwartens und Begleitens“ ist viel stärker<br />

in der Wohnungslosenhilfe entwickelt worden, auch wenn die seit 2005 gültigen<br />

rechtlichen Rahmenbedingungen das „Fordern“ auch hier in den Mittelpunkt<br />

stellen.<br />

Über diese niedrigschwelligen Versorgungs- und Beratungsangebote oder<br />

Einrichtungen, die Jugendliche für nur kurze Zeit aufnehmen, kann es zur<br />

Unterbringung in betreuten Wohngemeinschaften oder im betreuten<br />

Einzelwohnen kommen. Schruth wies schon des Öfteren darauf hin, dass<br />

insbesondere dann, wenn die sozial benachteiligten jungen Menschen (noch)<br />

nicht bereit sind, eine derartige, für die Jugendhilfe typische Form der<br />

Betreuung in Anspruch zu nehmen, kaum Chancen auf eine eigene Wohnung<br />

bestehen. Hier ist dann oftmals die Wohnungslosenhilfe gefragt, die zwar<br />

gut für den Umgang mit typischen sozialen Schwierigkeiten wohnungsloser<br />

Menschen qualifiziert ist und sich auch stärker als die Jugendhilfe einer<br />

Wohnraumversorgung ohne weitergehenden pädagogisch-therapeutischen<br />

Anspruch verpflichtet sieht. Die Wohnungslosenhilfe ist jedoch weit weniger<br />

dafür vorgesehen, eine jugendtypische Förderung der Entwicklung zu begleiten<br />

oder gar dem Erziehungsgedanken Rechnung zu tragen.<br />

Die Jugendhilfe muss stärker als bislang akzeptieren, dass bei Jugendlichen<br />

mit ausgeprägten Straßenkarrieren mit einer betreuten oder unbetreuten<br />

Unterbringung zwar eine notwendige Hilfe erbracht wird, damit jedoch nicht<br />

automatisch sofort weiter gehende Anpassungsleistungen erwartet werden<br />

können. Erst wenn Jugendliche bereit sind, sich vermehrt mit sich selbst und<br />

den Fragen einer möglichen Zukunft zu befassen, können mit einer gewissen<br />

Aussicht auf Erfolg weiter gehende Angebote unterbreitet werden, die tages-<br />

strukturierend wirken oder gar auf Bildung, Ausbildung oder Beschäftigung<br />

gerichtet sind. Auf die kontraproduktiv wirkende Problematik des Auszugs-<br />

verbotes nach § 22 Abs. 2a SGB II wurde schon vielfach verwiesen. Damit<br />

werden sowohl die Bemühungen der Wohnungslosenhilfe um eine möglichst<br />

rasche Vermittlung von jungen Erwachsenen in eigenen Wohnraum als auch<br />

der unverändert schlüssige Verselbständigungsgedanke der Jugendhilfe<br />

konterkariert.<br />

43


Das Beispiel Calw-Nagold<br />

Ausgehend von dem Dilemma, dass sich die Jugendhilfe in der Fläche<br />

zunehmend aus der Arbeit mit jungen Erwachsenen zurückzieht, hat die<br />

„Erlacher Höhe Calw-Nagold“ ihre traditionelle Arbeit mit wohnungslosen<br />

Menschen erweitert. Die Wohnungslosenhilfe organisiert zusätzlich<br />

Programme und Projekte für junge benachteiligte Menschen:<br />

AliSchwa: Internationales Austauschprojekt für junge arbeitslose<br />

Menschen, gefördert mit ESF- und Bundesmitteln, in Kooperation mit<br />

der Arbeitsagentur Nagold.<br />

Hilfen nach § 67 SGB XII für junge Menschen: stationäre und<br />

ambulante Hilfe.<br />

Aktiv in der Region: Konzept für aufsuchende Jugendsozialarbeit,<br />

gefördert mit ESF-Mitteln, und Mitteln des Bundesjugendministeriums,<br />

Teilprojekt für arbeitslose junge Menschen nach SGB II.<br />

BOSAQ: Berufliche Orientierung, soziale Arbeit und Qualifizierung<br />

für arbeitslose junge Menschen in AGH-Maßnahmen.<br />

Vertiefte Berufsorientierung: an Haupt- und Förderschulen,<br />

gefördert von der Arbeitsagentur nach § 33 SGB III.<br />

Europäischer Freiwilligendienst: Die Erlacher Höhe Calw-Nagold<br />

ist akkreditiert als aufnehmende, koordinierende und entsendende<br />

Organisation.<br />

Leonardo da Vinci: Berufspraktika für Sozialarbeitstudenten und<br />

arbeitslose Jugendliche im Ausland.<br />

Literatur<br />

Ader, S. /Schrapper, C., Wie aus Kindern in Schwierigkeiten „schwierige Fälle“ werden,<br />

in: Forum Erziehungshilfen, Heft 1/2002<br />

Lutz, R. /Simon, T., Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe. Eine Einführung in Praxis, Positionen<br />

und Perspektiven, Weinheim und München 2007<br />

Müller, H.-R., Straßenkinder im Integrationsdilemma. Paradoxien und Perspektiven der<br />

Jugendhilfe, in: Lutz, R. / Stickelmann, B. (Hrsg.), Weggelaufen und ohne Obdach.<br />

Kinder und Jugendliche in besonderen Lebenslagen, Weinheim und München 1999<br />

Simon, T., Empowerment-Ansätze in der Wohnungslosenhilfe, in: Forum Sozial, Heft 1/2008<br />

Thomas, S., Berliner Szenetreffpunkt Bahnhof Zoo. Alltag junger Menschen auf der Straße,<br />

Wiesbaden 2005<br />

Witte, M. / Sander, U. (Hrsg.), Erziehungsresistent? „Problemjugendliche“ als besondere<br />

Herausforderung für die Jugendhilfe, Baltmannsweiler 2006<br />

44


7. SGBeiträge und Diskussionen in Zusammenfassung<br />

Zusammenfassung der Podiumsdiskussion<br />

René Grummt<br />

Psychiatriekoordinator Landkreis Börde<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

werte Teilnehmerinnen und Teilnehmer,<br />

ich habe nun die schwierige Aufgabe, die Beiträge und Diskussionen der letzen sechs<br />

Stunden in 15 Minuten zusammenzufassen und Ihnen darüber hinaus möglichst konkrete<br />

Ausblicke zu geben, wie es mit dem Thema „<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“ weitergehen könnte.<br />

Ich will einmal versuchen, die aus meiner Sicht wichtigsten Eckpunkte nachzuzeichnen.<br />

Wir haben im ersten Teil der Veranstaltung den Versuch unternommen, das Phänomen<br />

„<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“ genauer zu fassen und gewissermaßen plastisch darzustellen. Denn es ist<br />

m.E. von ungemeiner Wichtigkeit, sich zunächst einmal darüber zu verständigen, worüber<br />

man eigentlich reden will, bevor man darüber redet. Hierbei ist den Referentinnen und<br />

Referenten mit der vielseitigen Rahmung der Klientel nach meinem Dafürhalten ein guter<br />

Wurf gelungen, obgleich man trefflich darüber streiten könnte, ob nicht noch andere<br />

Disziplinen (wie bspw. Schule oder die Justiz) hätten beteiligt werden müssen und ob wir<br />

jetzt alle nun tatsächlich dieselbe Klientel meinen, wenn wir von „<strong>Junge</strong>n <strong>Wilde</strong>n“ reden.<br />

Daneben muss es in der weiteren Diskussion natürlich auch um die Frage gehen, wie man<br />

die betreffende Klientel und ggf. deren Angehörige in angemessener Weise beteiligen<br />

kann. Herr Hattermann hatte zu Beginn der Tagung bereits ausgeführt, warum wir dieses<br />

partizipative Verfahren für die heutige Fachtagung nicht favorisiert haben.<br />

Im zweiten Teil der Veranstaltung haben die Herren Professoren Schruth und Simon<br />

aufgezeigt, wie es um die heute im Fokus stehenden jungen Menschen aus sozialwissenschaftlicher<br />

und juristischer Perspektive bestellt ist und wie man sich der Klientel auf<br />

der Ebene der Hilfeplanung und Hilfegestaltung nähern kann. Dabei ist beiden ein<br />

dienlicher Rundumschlag gelungen, auch wenn man den Eindruck hatte, dass sie noch<br />

sehr viel mehr hätten beitragen können und wollen, sofern es ihnen der zeitliche Rahmen<br />

erlaubt hätte.<br />

In der Diskussionsrunde im dritten Teil unserer Veranstaltung konnten einige Facetten der<br />

heutigen Thematik noch einmal aufgezeigt und erörtert werden. Es bleibt an uns allen,<br />

dafür Sorge zu tragen, dass die Diskussion fortgesetzt wird und dabei auch ganz praktische<br />

Ergebnisse herauskommen.<br />

Was bleibt vom heutigen Tag? Wenn man abstrahiert, bleibt zunächst eine Problembeschreibung<br />

auf zwei Ebenen und dann viele konstruktive Anregungen, wie man ihr<br />

begegnen kann.<br />

Die erste Dimension der Problembeschreibung bezieht sich auf die Mikroebene, ergo die<br />

Ebene der „<strong>Junge</strong>n <strong>Wilde</strong>n“ und des konkreten Umgangs mit ihnen vor Ort.<br />

Wir haben festgestellt, dass es offenbar eine vermehrte Zahl junger Menschen gibt, denen<br />

wir mit den konventionellen Angeboten und Hilfen innerhalb einzelner Systeme nicht<br />

gerecht werden können. Der Hilfebedarf dieser Menschen ist mehrdimensional und<br />

45


komplex, die Hilfeplanung und -leistung sollte deshalb zwischen allen beteiligten<br />

Kostenträgern und Leistungserbringern abgestimmt werden. Hier gilt es, regionale<br />

Kooperationen zu fördern und die Hilfegestaltung lokal und zentriert zu koordinieren und<br />

auch zu verantworten. Der junge Mensch darf nicht erst von Pontius zu Pilatus geschickt<br />

werden, er braucht einen – auch physisch – erreichbaren Ansprechpartner vor Ort, und das<br />

ganze administrative Gerangel muss hinter den Kulissen und möglichst unauffällig erfolgen.<br />

Die entsprechenden Schlagwörter der Fachdiskurse wären bspw. Personenzentrierung,<br />

Lebenswelt- und Sozialraumbezug, lokale Vernetzung usw.<br />

Die zweite Dimension der Problembeschreibung betrifft die strukturelle Ebene, und da wird<br />

die Geschichte schon weitaus komplizierter.<br />

Die heute hier beschriebenen „<strong>Junge</strong>n <strong>Wilde</strong>n“ könnten – allein sozialrechtlich – u.a. in die<br />

Bereiche der Sozialgesetzbücher II und III, V, VI, VIII, IX und XII und vieler weiterer noch<br />

nicht kodifizierter Sozialgesetze fallen. Daneben, wenn ich da nur an meinen<br />

Zuständigkeitsbereich des Öffentlichen Gesundheitswesens denke, auch in das PsychKG<br />

oder das ÖGD. Kostentechnisch können verschiedene Institutionen der kommunalen, der<br />

Landes- oder der Bundesebene für ein- und dieselbe Person zuständig sein und das<br />

nebeneinander oder sogar konkurrierend. Dabei wird die Hilfe dann noch zu 90% über<br />

den Einzelfall erbracht, obwohl es manchmal/meistens wichtiger wäre, nicht nur das<br />

Symptom in den Fokus zu nehmen, sondern auch oder gerade das „Drumherum“. Die<br />

Systemiker sagen, dass der Kontext wichtiger ist als der Text, und das trifft, glaube ich,<br />

insbesondere auf die Hilfen für „<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“ zu. Es geht bei unseren jungen Menschen<br />

also immer auch darum zu schauen, wie ihr sozialer Nahraum aussieht, ob es dort<br />

irgendwelche Benachteiligungen gibt (soziale Benachteiligung, Bildungsbenachteiligung<br />

usw.) und ob und wie man da ansetzen kann.<br />

Erschwerend in der Diskussion um die „<strong>Junge</strong>n <strong>Wilde</strong>n“ wirkt gerade die Tatsache, dass so<br />

viele für sie zuständig sind oder sein können und falsche Anreize gegeben werden. Die<br />

derzeitigen Finanzierungsmodelle reichen nicht aus oder sind sogar kontraproduktiv und<br />

führen damit zu einer Ressourcenvergeudung. Weshalb werden denn durchaus fortschrittliche<br />

gesetzliche Vorschriften in praxi nicht oder nur unzureichend umgesetzt? Ich denke da<br />

bspw. an die Soziotherapie oder das Persönliche Budget. Unter anderem auch deshalb,<br />

weil es sich betriebswirtschaftlich nicht rechnet.<br />

Um es zu resümieren: ich glaube, wir brauchen strukturelle Veränderungen. Hilfen müssen<br />

aus einer Hand kommen und nach Möglichkeit mit einem wie auch immer gestrickten<br />

Budget unterlegt sein. D.h. wir benötigen regionale Finanzierungs- und<br />

Steuerungsmodelle, die individuelle und bereichsübergreifende Hilfen ermöglichen. Es gibt<br />

Beispiele für solche Regionalbudgets. In der Jugendhilfe ist das bereits ein alter Hut, aber<br />

wie wir heute gelernt haben brauchen wir integrierte Regionalbudgets, wobei auch<br />

Krankenkassen, die Arbeitsförderung, andere Reha und Weitere beteiligt sein müssen,<br />

wenn es wirklich funktionieren soll. 2<br />

2 Erlauben Sie mir als die Randbemerkung, dass sich bspw. auch die empirische Wirtschaftswissenschaft seit längerem<br />

mit der Frage beschäftigt, wie solche komplexen Gebilde wie das deutsche Gesundheits- und Sozialsystem funktionieren<br />

und ob und wie man sie optimieren kann. Der bisherige Erkenntnisgewinn ist ernüchternd: das hier vorherrschende<br />

fraktionierte oder segmentierte System und das Prinzip Geld folgt Leistung führt id.R. zu Fehlanreizen und damit auch zu<br />

unsachgemäßen Mengenausweitungen, nicht aber zwangsläufig zur besten Hilfe.<br />

46


Zusammenfassung der Podiumsdiskussion<br />

Frau Dr. Draba berichtete zunächst von der Frühjahrssitzung des Psychiatrieausschusses<br />

LSA am 16.03.2011. Bei dieser Sitzung gab es ein fachliches Input zu den Schnittsellen<br />

Jugendhilfe-Sozialhilfe von Frau Dr. Rasch vom Deutschen Verein für öffentliche und<br />

private Fürsorge e.V. Darin wurde Folgendes problematisiert:<br />

� Die unterschiedlichen Zuständigkeiten (Örtlicher vs. Überörtlicher Träger)<br />

werden als problematisch erachtet; besser wäre ein Universalansprechpartner<br />

und solange dies nicht möglich ist, eine verbesserte Kommunikation und<br />

Kooperation zwischen Beiden.<br />

� Das SGB XII erfasst alle Behinderungsarten, das SGBB VIII nur die seelische<br />

Behinderung; diesem Problem widmet sich seit 2009 auch die Arbeits- und<br />

Sozialministerkonferenz (ASMK) � favorisiert wird die „große Lösung“, d.h. die<br />

Zuständigkeit der Jugendhilfe für alle jungen Menschen, demzufolge auch für<br />

Menschen mit körperlichen Behinderungen und Intelligenzminderungen<br />

(ehemals geistige Behinderung)<br />

� Wichtig wäre auch die Stärkung der Fachkompetenzen der Jugend- und<br />

Sozialämter sowie der Sozialpsychiatrischen Dienste der Landkreise in Bezug auf<br />

die sich verändernde Klientel<br />

Frau Dr. Draba erlebt in ihrer Praxis v.a. drei verschiedene Gruppen junger Klienten:<br />

� emotional-instabile, „unreife“ Klienten, die vordergründig sozialpädagogische<br />

Hilfe benötigen,<br />

� „auffällige“ junge Menschen, die später eine Psychose o.ä. entwickeln können;<br />

hier sind vornehmlich medizinische Hilfen vonnöten,<br />

� junge Menschen mit diversen Problemlagen (Arbeitslosigkeit, Schulden etc.)<br />

aber ohne aktuelle Hilfemotivation und erkennbare psychische Erkrankung; auch<br />

hier handelt es sich in erster Linie um ein (sozial)pädagogisches Problem.<br />

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Podiumsdiskussion sehen für die im Blickpunkt<br />

der Veranstaltung stehende Klientel vorrangig die Jugendhilfe in der Verantwortung,<br />

insbesondere im Rahmen der §§ 13 und 41 SGB VIII. Sie favorisieren mehrheitlich die sog.<br />

große Lösung, d.h. die Alleinzuständigkeit der Jugendhilfe für alle jungen Menschen<br />

unabhängig von Art und Schwere der Behinderung. Solange eine geteilte Zuständigkeit<br />

existiert, gälte es ganz besonders, dass sich die verschiedenen etwaig zuständigen<br />

Kostenträger absprechen und kreative Lösungen finden (eventuell im Sinne von<br />

Modellprojekten).<br />

Des Weiteren treffen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer folgende Empfehlungen:<br />

� die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen<br />

� die Etablierung regionaler Hilfeplanverbünde mit gemeinsamem Budget,<br />

� eine Verbindung psychiatrischer Diagnostik mit sozialpädagogischen Verfahren,<br />

� ein institutionell übergreifendes, personenbezogenes Mentoring /<br />

Fallmanagement<br />

� die Schaffung niedrigschwelliger, kreativer Angebote (z. B. jugendhilfebezogene<br />

gemeinnützige Jobbörsen)<br />

47


Die Expertinnen und Experten sehen dabei die besonderen Schwierigkeiten ländlich<br />

geprägter Gebietskörperschaften bei der Bereitstellung eines Netzes von Angeboten und<br />

Hilfen. Sie mahnen als Grundvoraussetzung eine hinreichende Finanzierung durch<br />

Landkreis und Land an.<br />

Weiterführende Informationen sowie Quellenangaben beim Verfasser.<br />

Kontaktdaten:<br />

Landkreis Börde<br />

Gesundheitsamt / Psychiatriekoordination<br />

René Grummt<br />

Gerikestraße 5<br />

39340 Haldensleben<br />

E-Mail: rene.grummt@boerdekreis.de<br />

48


8. Anlage Presse Bessere Hilfe für <strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong><br />

René Grummt<br />

Psychiatriekoordinator<br />

Landkreis Börde<br />

Ralf Hattermann<br />

Grundsatzreferent<br />

Behindertenhilfe<br />

PRESSE<br />

Bessere Hilfe für „<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“ – Fachleute diskutierten in Peseckendorf<br />

Die Zahl junger Erwachsener, die irgendwie noch nicht „so richtig“ im Leben angekommen sind,<br />

wächst dramatisch. Viele kommen aus Problemfamilien, haben keinen Schulabschluss, keine<br />

Ausbildung, keinen Job. Sie verstricken sich in zahllosen Konflikten und sprengen die Strukturen<br />

bestehender Hilfesysteme.<br />

Mit dieser Entwicklung ändern sich auch die Anforderungen an die Helfer. Oftmals werden die jungen<br />

Menschen von Amt zu Amt „weitergereicht“ oder bekommen erst gar keine Hilfe, weil sie als<br />

hilferesistent gelten. Sind sie psychisch krank und kann ihnen deshalb nur die Klinik helfen? Ist ihr<br />

Hilfebedarf pädagogischer Natur? Oder bleibt nichts anderes, als sie sich selbst zu überlassen?<br />

Mit diesen und vielen weiteren Fragestellungen beschäftigten sich am Mittwoch Vertreter der AWO,<br />

vom PARITÄTISCHEN Sachsen-Anhalt, das Sozialwerk Kinder- und Jugendhilfe, die Psychosoziale<br />

Arbeitsgemeinschaft Landkreis Börde und der Landkreis Börde. Im Auditorium saßen rund 100<br />

Teilnehmer, die in ihrer tägliches Praxis mit dieser Gruppe der „jungen <strong>Wilde</strong>n“ arbeiten und ihnen<br />

doch so oft nicht wirklich helfen können.<br />

„Es ging uns in dieser ersten Veranstaltung zunächst darum, diese ‚neuen‘ Klienten aus<br />

unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten und gemeinsam zu überlegen, wie man ihnen durch<br />

mehr Zusammenarbeit bessere Unterstützungsangebote machen kann“, erklärt René Grummt,<br />

Psychiatriekoordinator des Landkreises Börde. Eine abschließende Lösung zum Umgang mit den<br />

„jungen <strong>Wilde</strong>n“ könne zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht geben, so Grummt in seinem Resümee,<br />

doch sei ein guter Anfang gemacht, um wirksame Hilfesysteme für die Jugendlichen entwickeln zu<br />

können. Jetzt gelte es, alle Beteiligten aus der Kinder- und Jugendhilfe, der Eingliederungshilfe, der<br />

Kinder- und Jugendpsychiatrie, den Sozial- und Jugendämtern, der Krankenkassen, der Jobcenter<br />

und auch des Sozialministeriums – an einen Tisch zu holen, gemeinsame Hilfen zu organisieren und<br />

vorhandene Ressourcen und Zuständigkeiten im Sozialrecht (etwa im Bereich der<br />

Jugendsozialarbeit) optimaler zu nutzen, damit die „jungen <strong>Wilde</strong>n“ nicht weiterhin durch alle Raster<br />

fallen.<br />

BU 2: Dr. Steffi Draba vom Psychiatrieausschuss des Landes Sachsen-Anhalt und Prof. Dr. Titus<br />

Simon, Professor für Jugendarbeit und Jugendhilfeplanung an der Fachhochschule Magdeburg-<br />

Stendal waren zwei der Referenten der Tagung.<br />

BU3: Rund 100 Teilnehmer diskutierten in Peseckendorf über „<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“.<br />

Für Nachfragen rufen Sie gern an:<br />

René Grummt<br />

Psychiatriekoordinator Landkreis Börde<br />

Tel: 03904/7240-2561<br />

Funk: 02577/1528498<br />

E-Mail: rene.grummt@boerdekreis.de<br />

Ralf Hattermann<br />

Grundsatzreferent Behindertenhilfe<br />

Tel.: 0391 - 62 93 533<br />

Funk: 0151 - 16 26 67 35<br />

E-Mail: rhattermann@mdlv.paritaet.org<br />

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9. Anlage Volksstimme Oschersleben 07.04.2011<br />

50


10. Fotoimpressionen zur Tagung „<strong>Junge</strong> <strong>Wilde</strong>“<br />

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