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Dr. Dr. Jacob Emmanuel Mabe Philosoph und Politikwissenschaftler ...

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http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0402/20040225.shtml<br />

Sendung vom 25.02.2004, 20.15 Uhr<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Jacob</strong> <strong>Emmanuel</strong> <strong>Mabe</strong><br />

<strong>Philosoph</strong> <strong>und</strong> <strong>Politikwissenschaftler</strong><br />

im Gespräch mit <strong>Dr</strong>. Franz Stark<br />

Stark: Willkommen, verehrte Zuschauer, bei Alpha-Forum. Unser Gast ist heute<br />

<strong>Jacob</strong> <strong>Emmanuel</strong> <strong>Mabe</strong>, Professor für <strong>Philosoph</strong>ie <strong>und</strong> Politikwissenschaft<br />

an drei Berliner Universitäten <strong>und</strong> vor allem auch Herausgeber <strong>und</strong> Mitautor<br />

eines Lexikons über Afrika. Es ist das erste Lexikon in deutscher Sprache in<br />

dieser Art. Professor <strong>Mabe</strong>, Sie haben von Anfang an in Deutschland<br />

studiert <strong>und</strong> hier auch zwei Doktortitel erworben. Seit einiger Zeit sind Sie,<br />

wie gesagt, Professor an mehreren Universitäten. Was war denn das Motiv<br />

für Sie, Deutschland quasi für Ihre Karriere zu wählen?<br />

<strong>Mabe</strong>: Karriere zu machen ist leicht gesagt, denn das war gar nicht mein Ziel<br />

gewesen. Ich bin mit Deutschland alleine schon wegen der Sprache<br />

irgendwie verb<strong>und</strong>en gewesen. Ich war nämlich in Kamerun sogar einmal<br />

Preisträger als bester Schüler des Landes im Fach Deutsch. Daraufhin<br />

wurde ich nach Deutschland eingeladen, um das Land kennen zu lernen,<br />

dessen Sprache ich bereits konnte. Dies war mein erster Kontakt mit<br />

Deutschland <strong>und</strong> daraufhin habe ich mich dann dazu entschlossen, in<br />

Deutschland zu studieren.<br />

Stark: Denn an sich hätte es für Sie als Kameruner nahe gelegen, in Frankreich<br />

oder in England zu studieren, weil das zuletzt die beiden Kolonialmächte<br />

gewesen sind, die Kamerun verwaltet hatten.<br />

<strong>Mabe</strong>: Ja, aber wenn man vom Kolonialismus spricht, dann könnte man natürlich<br />

auch sagen, dass die Deutschen vor den Engländern <strong>und</strong> Franzosen in<br />

Kamerun gewesen sind. Das heißt, die koloniale Verb<strong>und</strong>enheit mit<br />

Deutschland ist viel älter als diejenige mit Frankreich oder England.<br />

Stark: Die Deutschen waren jedoch nur sehr kurz Kolonialmacht in Kamerun.<br />

<strong>Mabe</strong>: Sie waren es gut 30 Jahre lang – <strong>und</strong> das ist auch in Kamerun keine kurze<br />

Zeit.<br />

Stark: Wie sieht denn der heutige Kameruner diese deutsche<br />

Kolonialvergangenheit? Ist es ein Vorteil für Deutschland, dass sie so bald<br />

endete <strong>und</strong> man dadurch sozusagen weniger schuldig wurde?<br />

<strong>Mabe</strong>: Kolonialismus ist immer eine schlimme Sache: Ein fremdes Land zu<br />

besetzen <strong>und</strong> dann zu besitzen ist nicht schön. Man sieht das ja auch an<br />

der Reaktion der Iraker heute: Kann man da wirklich Dankbarkeit für die<br />

Befreiung von Saddam erwarten? Tatsache ist jedenfalls, wenn eine fremde<br />

Macht das eigene Land beherrscht, dann will das kein Mensch haben. Aus<br />

diesem Gr<strong>und</strong> war eben auch die deutsche Kolonialzeit keine angenehme<br />

Sache für die Kameruner. Wenn die Leute in Kamerun heute jedoch<br />

reflektieren <strong>und</strong> sich fragen, was die Franzosen <strong>und</strong> die Engländer bis zum<br />

Jahr 1960, dem Jahr der Unabhängigkeit, geleistet haben im Vergleich zu<br />

dem, was die Deutschen in der Zeit davor in nur 30 Jahren geleistet haben,<br />

dann kommen die Menschen in Kamerun heute sehr wohl zu folgendem


Schluss: Trotz all der Grausamkeiten, die auch die Deutschen in Kamerun<br />

verübt haben, war das, was sie gemacht haben, doch viel interessanter <strong>und</strong><br />

für die Entwicklung förderlicher als das, was die Franzosen später in 60, 70<br />

Jahren gemacht haben. Von daher ist zwar selbstverständlich keine<br />

Sehnsucht nach der Kolonialzeit vorhanden in Kamerun, aber man stellt<br />

doch immerhin fest, dass mit den Deutschen eine ganze andere<br />

Fre<strong>und</strong>schaft möglich gewesen war als mit den Franzosen.<br />

Stark: Tatsächlich? Ist das ein allgemein verbreitetes Bewusstsein in Kamerun?<br />

<strong>Mabe</strong>: Dies ist ein Empfinden, das vor allem auch in den letzten Jahren immer<br />

wieder anzutreffen ist. Sie werden selten einen Kameruner finden, der sagt,<br />

er würde die Deutschen hassen. Dafür spricht alleine schon z. B. die<br />

Tatsache, dass man heute in Kamerun einen Deutschen als Trainer der<br />

Fußballnationalmannschaft hat. Er ist freilich nicht der erste Europäer, der<br />

das macht. Der erste Europäer, der überhaupt Trainer der<br />

Fußballnationalmannschaft gewesen ist, war Peter Schnittger. Die Leute<br />

sagen heute noch, er sei der Beste gewesen – obwohl er eigentlich gar<br />

nichts getan habe. Dass Winfried Schäfer also heute so beliebt ist in<br />

Kamerun, hat eben auch mit dieser historischen Erinnerung der Menschen<br />

dort an die Deutschen zu tun.<br />

Stark: Der Kolonialismus ist sicherlich ein Unrecht, das ist heutzutage wohl jedem<br />

Menschen in den ehemaligen Kolonialmächten klar. Einen kleinen Nachteil<br />

hatte diese nur kurze Kolonialzeit für die Deutschen aber vielleicht doch: Sie<br />

können möglicherweise deswegen weniger selbstverständlich mit<br />

Afrikanern oder auch Asiaten umgehen als Briten oder Franzosen, die eben<br />

z. T. mehr als ein Jahrh<strong>und</strong>ert Bürger bzw. Menschen aus diesen Ländern<br />

bei sich hatten, sie also sozusagen gewöhnter waren. Ist das richtig? Das ist<br />

nur so eine Vermutung von mir.<br />

<strong>Mabe</strong>: Nein. Man darf die Deutschen einfach nicht immer entschuldigen. Ich<br />

spreche hier natürlich als neutraler Gelehrter, aber mir scheint es so zu sein,<br />

dass die einfachen Menschen aus anderen Ländern, die hier leben – seien<br />

das nun Türken oder Franzosen –, über die Deutschen folgendermaßen<br />

denken: Die Deutschen sind in ihrem Charakter verschlossener als andere<br />

<strong>und</strong> sie tun sich immer schwer damit, andere zu akzeptieren. Die<br />

Deutschen glauben auch, das Fremde sei ihnen immer fremd. Ich merke<br />

das an der Universität auch selbst: Am Anfang sind die Studenten eher<br />

abgeneigt. Das ist an sich sogar richtig, denn der <strong>Philosoph</strong> Rousseau hat<br />

ja auch gesagt, dass jeder Patriot "hostile aux étrangers" sei. Damit meint er<br />

nicht, dass der Patriot dem Fremden gegenüber feindlich eingestellt ist:<br />

Nein, er hat nur eine gewisse Abgeneigtheit gegenüber Fremden. Wenn<br />

dann erst einmal ein Kontakt zustande kommt, dann ist es natürlich auch in<br />

Deutschland so, dass die Menschen sagen: "Was? Ich habe noch nie<br />

Probleme mit Schwarzen gehabt! Ich hatte nie ein Problem mit Afrikanern!"<br />

Plötzlich behauptet jeder, das sei selbstverständlich für ihn – obwohl das<br />

zuvor natürlich nicht selbstverständlich gewesen ist. Von daher kann man<br />

also nicht sagen, dass...<br />

Stark: ... es die fehlende Welterfahrung der Deutschen ausmacht.<br />

<strong>Mabe</strong>: Die Deutschen hatten ja auch in der Tat genügend Erfahrungen mit<br />

anderen Menschen wie z. B. Juden oder anderen Fremden usw. Wir<br />

werden in unserem Gespräch vermutlich auch noch über einen<br />

afrikanischen <strong>Philosoph</strong>en sprechen, der hier in Deutschland im 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert gelebt <strong>und</strong> auch ganz bittere Erfahrungen gemacht hat. Im<br />

Großen <strong>und</strong> Ganzen kann man aber sagen, dass die Deutschen im Laufe<br />

der Zeit schon auch viel gelernt haben. Als ich damals in München anfing zu<br />

studieren, haben wir immer Feste gefeiert innerhalb der "Union afrikanischer<br />

Studenten" in München. Ich kann mich daran erinnern, dass damals<br />

lediglich ein paar deutsche Fre<strong>und</strong>e mit dabei gewesen sind. Das waren


höchstens 25 <strong>und</strong> um sie herum waren 200 Afrikaner. Nach zwei, drei<br />

Jahren waren bei diesen Festen 10000 Deutsche <strong>und</strong> gerade mal 100, 200<br />

Afrikaner. Als ich gestern hier in München angekommen bin, hat sich<br />

niemand mehr umgedreht, um mir nachzustarren. Als ich damals jedoch<br />

zehn Jahre lang hier in München gelebt habe, war es durchaus üblich, dass<br />

sich selbst die Leute, die mich jeden Tag gesehen haben, nach mir<br />

umgedreht <strong>und</strong> mir nachgesehen haben. Es hat sich also schon einiges<br />

verändert. Das Ganze wird einfach nur dann besser, wenn die Deutschen<br />

noch mehr Kontakt mit Menschen aus anderen Ländern haben. Das ist<br />

wichtig für die Offenheit.<br />

Stark: Welche Gefühle hatten Sie denn persönlich zu Beginn der neunziger Jahre<br />

– da waren Sie ja schon lange in Deutschland –, als nach der<br />

Wiedervereinigung doch erhebliche Ausbrüche von Gewalt speziell gegen<br />

Schwarzafrikaner auftraten? Was haben Sie damals empf<strong>und</strong>en?<br />

<strong>Mabe</strong>: Dazu kann ich Ihnen zwei Anekdoten erzählen. Ich war Ende 1989 auf<br />

einer Tagung in Weimar. Dazu fuhr ich mit dem Zug nach Weimar: Ich kam<br />

in Weimar am Bahnhof an, stieg aus <strong>und</strong> fragte ein paar junge Männer<br />

nach dem Weg, solche jungen Männer, die man später Rechtsradikale<br />

genannt hat. Sie haben mich fre<strong>und</strong>lich empfangen <strong>und</strong> mir genau erklärt,<br />

wohin ich gehen müsse, nachdem ich ihnen gesagt hatte, dass ich zu einer<br />

Tagung in Buchenwald müsse. Sie erzählten mir, dass das ein ehemaliges<br />

Konzentrationslager sei usw. Wir haben uns also unterhalten <strong>und</strong> ich habe<br />

mich dann sogar mit ihnen für den Abend verabredet. Als um zehn Uhr<br />

abends der erste Tag der Tagung zu Ende ging, kehrte ich wieder nach<br />

Weimar zurück <strong>und</strong> sie zeigten mir ihre Stadt. Dort lebte Goethe, dort ist das<br />

Denkmal von Goethe <strong>und</strong> Schiller usw. Wir haben sogar gemeinsam etwas<br />

getrunken. Das war überhaupt kein Problem. Es gab einfach keine Ängste<br />

von ihrer Seite, keinerlei Berührungsängste. Ein Jahr später habe ich jedoch<br />

gehört: Wenn ich erneut dorthin fahren sollte, dann würden sie mich<br />

umbringen. Gut, diese zweite Erfahrung habe ich nicht gemacht, denn ich<br />

bin nicht mehr dorthin gefahren.<br />

Stark: Sie meinen also diesen Unterschied zwischen der Zeit vor <strong>und</strong> der Zeit<br />

nach der Einheit?<br />

<strong>Mabe</strong>: Nein, nein, mein Besuch war nach dem Fall der Mauer. Aber es hat damals<br />

natürlich noch nicht die offizielle Einheit gegeben, denn die kam ja erst<br />

1990. Als ich dort gewesen bin, wurden also immerhin bereits<br />

Begrüßungsgelder verteilt usw. Der Kontakt war also bereits vorhanden <strong>und</strong><br />

diese Leute haben meine Person keineswegs als Bedrohung empf<strong>und</strong>en.<br />

Innerhalb kürzester Zeit haben sie dann jedoch gelernt, dass ein<br />

ausländischer Mensch für sie eine Katastrophe ist. Ebenfalls zu Beginn der<br />

neunziger Jahre habe ich damals für eine bestimmte Zeit am Starnberger<br />

See hier in der Nähe von München gewohnt: Ich wohnte dort bei einem<br />

befre<strong>und</strong>eten Professor. Eines Tages fuhr ich mit der S-Bahn von Starnberg<br />

nach München. In der S-Bahn las ich die "Süddeutsche Zeitung". Ich habe<br />

schon gemerkt, dass irgendetwas los war um mich herum, aber ich war<br />

ansonsten völlig auf die Lektüre der Zeitung konzentriert. Es waren nämlich<br />

drei, vier gewaltbereite Männer ebenfalls in der S-Bahn. Sie haben sich<br />

dann vor mir aufgebaut, waren voller Aggressivität <strong>und</strong> warfen mir diese<br />

allgemein bekannten Schimpfwörter für Afrikaner an den Kopf. Ich habe<br />

dann die Zeitung auf die Seite gelegt <strong>und</strong> gesagt: "Was ist denn los, junge<br />

Löwen?" Daraufhin hat einer von ihnen, der weiter hinten stand, gemeint:<br />

"Hey, der ist ja gar nicht blöd, er ist nicht blöd!" Und daraufhin haben sie<br />

mich in Ruhe gelassen. Sie sehen also, man schafft es gesellschaftlich<br />

durchaus, bestimmte Menschen zu kriminalisieren, die eigentlich gar nicht<br />

kriminell sind. Der Mensch ist nämlich einfach anfällig für bestimmte<br />

Ideologien. Die Medien haben hierbei eine ganz große Verantwortung.<br />

Denn in den Medien wird doch immer wieder vom "Ausländerproblem in


Deutschland" gesprochen. Wenn das immer wieder gesagt wird, dann wird<br />

das wirklich zu einem Problem. Wenn aber die Menschen hier in<br />

Deutschland mit Menschen aus Afrika ganz normalen Kontakt haben, wenn<br />

Sie meinetwegen Professoren oder Manager aus Afrika treffen, dann ist<br />

auch der Kontakt selbstverständlich <strong>und</strong> normal. Deshalb tragen die Medien<br />

eben eine so große Verantwortung für eine gute "Propaganda" in ihrem<br />

Land.<br />

Stark: Kann man sagen, dass es dabei für die Fremden ganz wichtig ist, die<br />

Sprache zu beherrschen, also Deutsch zu können? Man wird sofort nicht<br />

mehr als Fremder eingeschätzt, wenn man in der Sprache des anderen<br />

sprechen kann.<br />

<strong>Mabe</strong>: Wahrscheinlich hat das auch etwas mit dem Benehmen zu tun.<br />

Stark: Also eine gewisse Anpassung an die hiesigen Sitten.<br />

<strong>Mabe</strong>: Kann sein, aber es geht vor allem darum, dass man immer als Mensch<br />

auftritt. Das wird allgemein verstanden. Und dann, wenn man sich als<br />

Mensch zu erkennen gegeben hat, sagen einem auch die Deutschen: "Ach,<br />

dieser Schwarzafrikaner ist mir sympathisch!" Es gab damals in meiner<br />

Studienzeit einen Kommilitonen, der immerzu dieses blöde Wort für die<br />

Schwarzen benutzt hat. Ich saß dann eines Tages mal in einer Vorlesung in<br />

Völkerrecht <strong>und</strong> der Professor – ich will hier seinen Namen nicht nennen –<br />

gebrauchte ebenfalls dieses dumme Wort. Daraufhin stand ich auf <strong>und</strong><br />

sagte: "Dafür würde ich Sie jetzt am liebsten zusammenschlagen!" Dieser<br />

Professor hatte wohl noch nie einen so wütenden Menschen gesehen. Er<br />

hat Angst bekommen <strong>und</strong> sich dann vor allen Leuten entschuldigt. Viele<br />

Kommilitonen haben dadurch gelernt, dass dieses Wort eben nicht gut ist.<br />

Eine Woche später kam dann dieser gut befre<strong>und</strong>ete Kommilitone zu mir:<br />

er hatte dieses Wort allerdings nie in meiner Anwesenheit benutzt – <strong>und</strong><br />

sagte: "<strong>Jacob</strong>, bitte, es tut mir Leid. Ich habe immer dieses Wort benutzt!<br />

Wenn ich das in Zukunft noch aus Versehen verwenden sollte, dann bitte<br />

ich dich dafür jetzt schon um Entschuldigung. Ich versuche das nie mehr zu<br />

machen <strong>und</strong> ich werde auch meinen Kindern beibringen, dass das wirklich<br />

keine schöne Sache ist." Sie sehen also, dass der Auftritt eines Menschen,<br />

dass die Art <strong>und</strong> Weise, wie er sich selbst definiert, für die Verständigung<br />

mit anderen sehr wichtig <strong>und</strong> entscheidend ist.<br />

Stark: Wenn man schon mal das Glück hat, einen afrikanischen Professor hier zu<br />

haben, dann sollte man doch auch ein bisschen über den Postkolonialismus<br />

sprechen, also über die Zeit seit 1960 bis 1964, als die meisten<br />

afrikanischen Staaten politisch unabhängig wurden – nicht unbedingt jedoch<br />

wirtschaftlich. Später wurden dann auch noch die ehemaligen<br />

portugiesischen Kolonien unabhängig. Aus dieser Kolonialzeit ist natürlich<br />

ein Erbe zurückgeblieben. Über die positiven Aspekte dieses Erbes<br />

brauchen wir hier wohl nicht zu sprechen, denn die sind sicherlich evident.<br />

Aber wir sollten über die negativen Aspekte dieses Erbes sprechen. Wie ist<br />

das eigentlich, haben die ehemaligen Kolonialmächte den Fehler gemacht,<br />

die Wirtschaft dieser Länder sozusagen so zu strukturieren, wie es zwar<br />

ihnen selbst als ehemaligen Kolonialherren gut tut, wie es aber den<br />

betreffenden Ex-Kolonien durchaus schadet?<br />

<strong>Mabe</strong>: Ich gebe Ihnen eine Antwort als denkender Mensch. Wenn ich das<br />

analysiere, dann kann ich zunächst einmal nur sagen, dass Ihre Frage<br />

falsch gestellt ist. Ich meine damit natürlich nicht Sie als Person, sondern ich<br />

meine damit die Tatsache, dass immer so gesprochen wird. Das ist aber<br />

nicht richtig. Was machen denn die deutschen Politiker heute in<br />

Deutschland? Sie probieren die verschiedensten Sachen aus! Sie machen<br />

eine Ges<strong>und</strong>heitsreform, eine Polizeireform, eine Verkehrsreform usw.<br />

Jeder, der an die Macht kommt, versucht sich darin: Er probiert das einige<br />

Jahre lang, aber es geht einfach nicht. Das Gleiche gilt natürlich auch für


Afrika. Man kann also nicht sagen, dass man in Afrika in den letzten 40<br />

Jahren nichts getan hätte. Nein, vermutlich hat man auch in Afrika immer<br />

wieder die verschiedensten Dinge ausprobiert. Aber es ist eben auch dort<br />

misslungen. Auch die Russen haben doch z. B. gemeint, ihr System wäre<br />

hervorragend: Aus diesem Gr<strong>und</strong> haben sie versucht, ihr System nach<br />

Kuba <strong>und</strong> Angola zu exportieren. Sie dachten, die Situation in diesen<br />

Ländern würde gut werden, wann man das sowjetische System auf diese<br />

Länder überträgt. Aber auch das ist gescheitert. Ich kann mir jedoch nicht<br />

vorstellen, dass dort jeweils die Leute ihr Land in den Ruin treiben wollen.<br />

Nein, sie wollten vermutlich schon ihr Bestes tun...<br />

Stark: Nein, das nicht. Aber es könnte ja sein, dass man als ehemalige<br />

Kolonialmacht sagt: "Wir würden gerne die wirtschaftlichen Vorteile, die wir<br />

bisher hatten, auch noch nach der Unabhängigkeit dieser Länder behalten.<br />

Wir machen das, indem wir deren Wirtschaft so ausrichten, dass sie<br />

unseren Bedürfnissen nützt <strong>und</strong> nicht unbedingt den Bedürfnissen der<br />

dortigen Bevölkerung."<br />

<strong>Mabe</strong>: Genau das ist das Thema, über das wir heute sprechen müssen. Vor 40<br />

Jahren war das jedoch noch kein Thema gewesen. Sie müssen nämlich<br />

bedenken, dass vor 40 Jahren, dass meinetwegen im Jahr 1960 in<br />

Kamerun 95 Prozent der Bevölkerung in Dörfern lebten. Sie lebten dort vom<br />

Ackerbau. Nur fünf Prozent der Menschen lebten in der Stadt oder<br />

hauptsächlich am Rande der Stadt. Das heißt, sie haben ab <strong>und</strong> zu einmal<br />

gesehen, was elektrischer Strom oder Leitungswasser ist. Damals<br />

herrschte also noch eine ganz andere Situation. Ich kann mich daran<br />

erinnern, dass damals jeder Lehrer seinen eigenen Bungalow hatte. Mein<br />

eigener Cousin hatte sogar eine Dienstvilla im noblen Viertel von Duala: Er<br />

war Volksschullehrer. Ein anderer Verwandter von mir war ein kleiner<br />

Polizeibeamter mit vielen Kindern. Es hieß damals nämlich: Je mehr Kinder<br />

man hat, desto mehr Gehalt bekommt man. Und aus diesem Gr<strong>und</strong> hat er<br />

immer mehr Frauen geheiratet. Pro Kind hat man damals 1000 Francs<br />

bekommen. Wenn jemand z. B. 70 Kinder hatte, dann bezog er das<br />

Vierfache des normalen Gehalts. Sie sehen also, das war damals eine ganz<br />

andere Situation. In den Schulen haben die Kinder damals noch Bücher<br />

bekommen. Als ich jedoch in die Schule kam, war die Situation plötzlich<br />

anders: Die Schüler mussten die Bücher selbst kaufen. Wenn deren Eltern<br />

dazu nicht in der Lage waren, dann konnte man nicht mehr regelmäßig in<br />

die Schule gehen. Die Situation gegen Ende der sechziger <strong>und</strong> zu Beginn<br />

der siebziger Jahre war eine ganz andere als heute. Ich will hier keinesfalls<br />

sagen, dass damals alles gut war <strong>und</strong> heute alles schlecht ist. Aber die<br />

Diskussion war in den sechziger <strong>und</strong> zu Beginn der siebziger Jahre eine<br />

ganz andere als heute. Heute noch gibt es mehr kritische Afrikaner, die an<br />

der Entwicklung der ganzen letzten 40 Jahre überhaupt nichts Positives<br />

sehen. Das ist der Punkt <strong>und</strong> deswegen kann man eben nicht sagen, was<br />

gut war am Kolonialismus. Man sieht heute nichts davon. Weil es aber<br />

andererseits überall in Afrika Hochhäuser gibt wie z. B. in Abidjan, in Dakar,<br />

in Duala, in Lagos, in Ibadan, sagen viele Menschen: "Seht, das ist doch<br />

modern!" Ob die Menschen, die dort leben, diese Hochhäuser jedoch<br />

genießen, ist eine andere Frage. Wenn ein Europäer sagt, er hätte in Afrika<br />

Teerstraßen gesehen, dann meint er damit, dass das doch toll sei. Als ich in<br />

Aachen dozierte, hatte ich einmal eine ungefähr achtzigjährige Studentin.<br />

Als sie in den Vorlesungsraum kam, war sie ganz ruhig <strong>und</strong> hat kein Wort<br />

gesagt. Nach etwa 40 Minuten meinte sie dann aber: "Entschuldigung, ich<br />

habe eine Frage." Ich antwortete: "Ja, bitte, welche Frage möchten Sie<br />

denn stellen?" Ich merkte sehr wohl, dass die anderen Studenten nicht<br />

wollten, dass diese Frau zu Wort kam. Ich jedoch meinte, dass man sie auf<br />

alle Fälle reden lassen muss. Sie meinte: "Ich wollte nur sagen, dass der<br />

Kolonialismus in Wirklichkeit gar nicht so schlecht gewesen sein kann, wenn<br />

man sieht, wie gut Sie reden können!" Sie sehen also, welche Werte die


Europäer an die Afrikaner herantragen. Der Afrikaner hat an sich natürlich<br />

andere Maßstäbe. Natürlich geht es auch ihm darum, dass alle genug Geld<br />

verdienen, dass sie Zugang zu öffentlichen Infrastrukturen bekommen usw.<br />

Wenn das jedoch nicht der Fall ist, dann sagt man von Europa aus, alles sei<br />

gescheitert in Afrika.<br />

Stark: Gehen wir das doch mal ein wenig konkreter an. Nach dem Abzug der<br />

Kolonialmächte stand in Afrika z. B. die Frage im Raum, wer sich um das<br />

Schulsystem, um das Ges<strong>und</strong>heitssystem <strong>und</strong> überhaupt um die<br />

staatlichen Strukturen kümmert. Beim Schulsystem ist natürlich in allen<br />

Ländern das europäische Schulsystem als Vorbild geblieben. In allen<br />

Ländern mit Ausnahme Tansanias ist auch die Sprache der jeweils letzten<br />

Kolonialherren geblieben. Nur in Tansania wird in Suaheli unterrichtet.<br />

Englisch ist dabei eine Hilfssprache.<br />

<strong>Mabe</strong>: Dort sprechen ja auch fast alle Englisch in der Schule.<br />

Stark: In den anderen Ländern ist es jedenfalls ausschließlich so geblieben. Damit<br />

war sicherlich so etwas wie eine Entwicklungsbremse vorhanden. Für den<br />

Kontakt nach Außen war das bestimmt förderlich, aber nach innen war eine<br />

Eigenentwicklung aus diesem Gr<strong>und</strong> nicht so leicht möglich. Oder sehe ich<br />

das falsch?<br />

<strong>Mabe</strong>: Ja <strong>und</strong> nein. Das stimmt schon irgendwie. Wenn eine Person immer nur in<br />

einer Fremdsprache denkt, dann hat er natürlich eine gespaltene Identität.<br />

Aber das kann auch ein Vorteil sein. Ich kann Ihnen auch dazu eine kleine<br />

Geschichte erzählen. Ich war vor kurzem auf einer Tagung <strong>und</strong> dort hat<br />

jemand aus Belgien einen Vortrag gehalten: Er wollte erklären, was es mit<br />

dem Wort "Gastfre<strong>und</strong>schaft" im Deutschen auf sich hat <strong>und</strong> wie das mit<br />

"Hostilität", also "Gastfeindschaft" zusammenhängt. Ich habe ihm aber<br />

hinterher gesagt, dass seine Übersetzung ins Französische jeweils nicht<br />

richtig war. Die Franzosen sagen "hostilité": Damit ist aber keine Feindschaft<br />

gemeint. Denn man kann doch niemanden hassen, den man gar nicht<br />

kennt! Auch im Deutschen ist ja das Wort "Gastfre<strong>und</strong>schaft" eigentlich ein<br />

falsches Wort: Dieses Substantiv ist eigentlich falsch, während nur das<br />

entsprechende Adjektiv richtig ist. Denn ein Deutscher spricht ja nicht von<br />

"gastfre<strong>und</strong>schaftlich", sondern von "gastfre<strong>und</strong>lich". Man sollte also auch<br />

beim Substantiv eigentlich das Wort "Gastfre<strong>und</strong>lichkeit" <strong>und</strong> nicht<br />

"Gastfre<strong>und</strong>schaft" sagen. Denn es ist ja unmöglich, dass man mit<br />

jemandem, nur weil er ein Gast ist, eine Fre<strong>und</strong>schaft pflegt.<br />

Stark: So schnell geht es in der Tat nicht.<br />

<strong>Mabe</strong>: Man ist zu einem Gast zunächst einmal fre<strong>und</strong>lich. Wenn er geht, dann ist<br />

er auch wirklich wieder weg. Sie sehen also, dass es durchaus von Vorteil<br />

sein kann, wenn man in verschiedenen sprachlichen Ebenen denken kann.<br />

Dadurch kann man die eigene Kultur <strong>und</strong> Denkweise in der Tat besser<br />

reflektieren. Aus diesem Gr<strong>und</strong> kann ich Ihnen als Antwort nur ein Ja <strong>und</strong><br />

gleichzeitig ein Nein geben. Aber in Afrika ist es natürlich schon so, dass<br />

viele Menschen darunter leiden – insbesondere die Machthaber –, dass sie<br />

eine fremde Sprache sprechen müssen. Das liegt natürlich nicht daran,<br />

dass diese Sprache an sich schlecht wäre. Das Problem ist jedoch<br />

Folgendes: Wenn hier in Deutschland der Ministerpräsident von Bayern,<br />

Edm<strong>und</strong> Stoiber, meinetwegen zu Weihnachten eine Ansprache hält, dann<br />

spricht auch Edm<strong>und</strong> Stoiber Hochdeutsch. Ich kann mir nicht vorstellen,<br />

dass wirklich jeder Bürger in Bayern diese Sprache perfekt versteht. Dieses<br />

Problem gibt es also auch hier.<br />

Stark: Na, ich hoffe doch, dass man ihn versteht.<br />

<strong>Mabe</strong>: Nein, nein, das ist nicht richtig, verteidigen Sie das nicht. Ich gebe Ihnen ein<br />

Beispiel. Gehen Sie auf den Marienplatz <strong>und</strong> fragen Sie die Leute, was das<br />

Wort "Zahlungsbilanz" bedeutet. Wer versteht dieses Wort in Deutschland


wirklich? Das sind nur wenige Menschen!<br />

Stark: Das sind einfach politische Spezialtermini.<br />

<strong>Mabe</strong>: Das heißt doch, dass hier in der Politik eine Sprache gesprochen wird, die<br />

nur wenige Menschen wirklich verstehen. Genauso <strong>und</strong> noch schlimmer ist<br />

es in Afrika. Dort ist die offizielle Sprache so abstrakt, dass nur gut gebildete<br />

Menschen sie verstehen können. Als Lehrender an der Universität in<br />

Aachen habe ich z. B. einmal 200 Studenten des Fachs politische<br />

<strong>Philosoph</strong>ie – sie sollten Lehrer werden – gefragt, wer denn weiß, was<br />

"Staatsgewalt" bedeutet. Ein Student antwortete: "Das ist z. B. die Polizei!"<br />

Nach einer Weile hat dann einer der Studenten endlich die richtige Antwort<br />

gewusst: "Das ist die Legislative, die Judikative <strong>und</strong> die Exekutive." Dann<br />

habe ich gefragt, wer oder was in einem B<strong>und</strong>esland wie Nordrhein-<br />

Westfalen die "Legislative" sei. Keiner wusste es. Als ich gesagt habe, dass<br />

dies der nordrhein-westfälische Landtag sei, haben sie gestutzt. Sie sehen<br />

also, dass auch hier Begriffe benutzt werden, die nur von wenigen<br />

Menschen verstanden werden. In Afrika ist diese Situation natürlich noch<br />

viel schlimmer, denn dort sprechen viele Menschen die offizielle Sprache<br />

nur ein bisschen. Wenn ein Staatspräsident, ein Minister oder ein Professor<br />

bestimmte Dinge erklären, dann versteht das kaum ein Mensch. Sie<br />

müssen sich vorstellen, dass in Zaire vor einiger Zeit der Finanzminister im<br />

Fernsehen – selbstverständlich auf Französisch – eine Rede gehalten hat,<br />

in der er einen bestimmten Terminus, nämlich "péréquation", gebrauchte.<br />

Selbst sein eigener Ministerpräsident Mobutu verstand diesen Terminus<br />

nicht. Wenn man diesen Terminus ins Deutsche übersetzt, dann ist damit<br />

der Lastenausgleich gemeint. Dieses Wort "péréquation" hatte Mobutu<br />

jedoch in seinem Leben noch nie gehört. Ihm war das Gr<strong>und</strong> genug, diesen<br />

Minister sofort zu entlassen. Es geht also hier nicht um die Fremdsprache<br />

als solche, sondern um Kommunikationsstörungen, die es natürlich auch in<br />

Deutschland gibt: Die Menschen verstehen nicht, was der Politiker erzählt.<br />

Stark: Gut, dann machen wir es doch mal anders herum, wenn die Sprache, die<br />

Kultur <strong>und</strong> die Wirtschaftsstrukturen, die vom Mutterland hinterlassen<br />

worden sind, nicht so entscheidend sind: Was sind denn die Gründe dafür,<br />

dass es so vielen Ländern in Afrika so schlecht geht?<br />

<strong>Mabe</strong>: Sie meinen wirtschaftlich gesehen?<br />

Stark: Ja, wirtschaftlich <strong>und</strong> auch sozial.<br />

<strong>Mabe</strong>: In sozialer Hinsicht gilt Ihre Aussage nur bedingt. Wir müssen hier zuerst<br />

einmal unsere Kategorien definieren. Wenn man sagt, dass es den<br />

Menschen in Afrika heute schlecht geht, dann heißt das nichts anderes, als<br />

dass wir europäische Kategorien der Weltentwicklung umstandslos auf<br />

Afrika übertragen. Wenn man das macht, dann kommt in der Tat Folgendes<br />

heraus: In Afrika haben nur die wenigsten Menschen Zugang zu fließendem<br />

Trinkwasser. Aber schauen wir uns doch mal das Wort "Trinkwasser"<br />

genauer an. Mit "Trinkwasser" meint man im Deutschen das Wasser, das<br />

man kauft, ob in Flaschen oder aus der Leitung in den Haushalten. In Paris<br />

hat einmal ein Afrikaner zu mir gesagt, dass er sich gew<strong>und</strong>ert hat, als er<br />

irgendwo um Wasser gebeten hatte. Er war nämlich in ein Lokal geschickt<br />

worden, damit er sich dort ein Glas Wasser kaufen sollte. In Afrika ist jedoch<br />

Trinkwasser dasjenige Wasser, das ein bisschen sauberer ist als das<br />

Wasser, von dem die Tiere trinken, <strong>und</strong> das dennoch nichts kostet.<br />

Stark: Trinkwasser ist Wasser, das aus der Leitung kommt.<br />

<strong>Mabe</strong>: Nein, fließendes Wasser ist etwas anderes. Die Isar hier in München wäre<br />

gemäß afrikanischer Sicht ein Trinkwasser – gut, sie fließt auch –, wenn<br />

nicht das ganze Abwasser in sie eingeleitet werden würde. Früher war es<br />

jedoch ganz eindeutig so: Früher haben auch die Leute hier das Wasser<br />

aus der Isar getrunken. Man muss also selbst bei solchen Begriffen wie


"Trinkwasser" vorsichtig sein. Das dieses Wort heute eine solche Definition<br />

hat, hat einfach damit zu tun, dass die Gewässer in der Vergangenheit so<br />

verschmutzt worden sind, dass sie nicht mehr als Trinkwasser taugen. Das<br />

zu ändern obliegt bzw. oblag der Verantwortung der Politiker <strong>und</strong> auch der<br />

Wissenschaftler. In meiner eigenen Muttersprache versteht man jedenfalls<br />

unter "Trinkwasser" etwas ganz anderes als hier in Deutschland. Wenn<br />

man darüber hinaus z. B. sagt, dass die Leute in Afrika kein Geld haben,<br />

um in ein Krankenhaus gehen oder sich teure Medikamente kaufen zu<br />

können, dann stimmt das schon. Aber das stimmt eigentlich nur aufgr<strong>und</strong><br />

der Angst, die ein Europäer davor hat, wenn er in Afrika krank werden<br />

würde. Er würde sofort zu einem Arzt gehen; er kann den Arzt ja auch<br />

bezahlen. Aber die Menschen, die in Afrika alle kein Geld haben, müssen<br />

nicht unbedingt zum Arzt gehen, denn es gibt in Afrika ja auch traditionelle<br />

Heiler, die das manchmal sogar besser können. Die Menschen in Afrika<br />

gehen aber immer weniger zu den Heilern. Wenn ich das einmal ganz<br />

kritisch ausdrücken darf, dann würde ich sagen, dass für die<br />

Ges<strong>und</strong>heitsversorgung in Afrika immer beide Punkte wichtig sind: die<br />

europäische Medizin <strong>und</strong> die quasi oral, traditionell überlieferte Heilk<strong>und</strong>e,<br />

bei der man zum Heiler oder zum Wahrsager geht. Wenn man zu so<br />

jemandem geht, dann wird man genau gefragt, was man eigentlich hat.<br />

Vielleicht stellt sich dann nach eingehender Befragung <strong>und</strong> Untersuchung<br />

heraus, dass das, was da als Symptom auftritt, gar nicht so schlimm ist. So<br />

kann es sein, dass der Heiler sagt: "Trinken Sie dieses Glas Wasser hier,<br />

dann gehen die Symptome wieder weg!" Es kann einem aber auch<br />

passieren, dass man zu einem Arzt geht, dort ein teures Medikament<br />

bekommt <strong>und</strong> nach zwei Jahren an seiner Krankheit doch stirbt.<br />

Stark: Aber es gibt doch eine Menge Krankheiten, die nur mit Antibiotika behandelt<br />

werden können.<br />

<strong>Mabe</strong>: Das ist richtig, aber man versucht heute einfach erst gar nicht mehr,<br />

bestimmte Dinge traditionell zu behandeln. Denn auch früher schon haben<br />

ja die Heiler versucht, diese Krankheiten zu bekämpfen. Ich will hier ja gar<br />

nicht sagen, welche von beiden medizinischen Richtungen besser oder<br />

schlechter wäre. Ich sage nur, dass auch die traditionelle Heilkunst in Afrika<br />

etwas bewirken kann. Wenn man aber in Europa mit Blick auf Afrika von<br />

"unzureichender Ges<strong>und</strong>heitsversorgung" spricht, dann betrachtet man das<br />

Ganze immer nur unter der Kategorie der heutigen westlichen Medizin. Ja,<br />

wenn man es so sieht, dann ist die medizinische Versorgung in Afrika<br />

wirklich eine Katastrophe.<br />

Stark: Wenn ich Sie also richtig verstehe, dann meinen Sie, dass das Gerede,<br />

dass Afrika sich nicht genügend entwickelt, dass es Afrika schlecht geht,<br />

dass Afrika nicht auf die Beine kommt, so nicht stimmt, dass man das so<br />

nicht sagen könne.<br />

<strong>Mabe</strong>: Die Vernachlässigung der Tradition, die Vernachlässigung der überlieferten<br />

Denkweisen, die Vernachlässigung der Reflexionsmethoden, die<br />

Vernachlässigung sogar der Wahrnehmung ist immer das erste Übel des<br />

Menschen. Man darf einfach nicht alles verdrängen, was man überliefert<br />

bekommen hat. Auch ein Deutscher denkt immer nur auf dem Boden seiner<br />

überlieferten Tradition. Nehmen wir als Beispiel die Musik. Wenn man fragt,<br />

was denn eigentlich traditionelle Musik ist, dann denken z. B. hier in Bayern<br />

viele Menschen an das Jodeln. Oder die Leute denken an Bach, an<br />

Beethoven usw. Erst auf dieser Basis der Tradition fingen <strong>und</strong> fangen die<br />

Menschen hier an, quasi nach außen zu gehen. Wenn man nämlich z. B.<br />

sagen würde, dass alle Musik, die bisher in Deutschland gemacht worden<br />

ist, schlecht sei, dass sie eigentlich gar keine Musik sei <strong>und</strong> dass man<br />

stattdessen ausschließlich die Musik aus den USA hören müsse, dann<br />

würde ein Aufschrei losbrechen. Glauben Sie, so ein Ansinnen würde<br />

wirklich funktionieren? Man muss sich also, wenn man einigermaßen


vernünftig ist, mit seiner eigenen Vergangenheit auseinander setzen: Man<br />

muss sie sich wieder aneignen, man muss die Tradition wieder lebendig<br />

werden lassen, man muss dasjenige Wissen pflegen, das bereits die<br />

Generationen davor gewusst haben. Was heißt das für Afrika? Man muss<br />

sich überlegen, wie vorangegangene Generationen mit den<br />

Wüstenbildungen, mit den Dürrekatastrophen umgegangen sind, um heute<br />

überleben zu können. Denn es ist ja nicht das erste Mal heute, dass es in<br />

Äthiopien nicht regnet: Auch in der Vergangenheit hat es doch schon<br />

Phasen gegeben, in denen es meinetwegen zehn Jahre lang nicht geregnet<br />

hat. Aber in der Vergangenheit haben die Leute immer auch darüber<br />

reflektiert, wie die Vorfahren mit diesem Problem umgegangen sind. All<br />

dieses Wissen müssen wir heute als Afrikaner wirklich wieder herausfinden.<br />

Natürlich sollen die Menschen in Afrika auch die Methoden aus dem<br />

Westen übernehmen können: Aber dieses Wissen des Westens besteht<br />

eben nicht nur aus dem, was man gemeinhin als Wissenschaft kennt,<br />

sondern ebenfalls aus der Tradition. Vom Westen zu lernen heißt also, dass<br />

man auch von den Bauern meinetwegen im Allgäu etwas lernen kann. Dies<br />

sollte man dann mit dem Wissen kombinieren, das man an den<br />

Universitäten im Westen unterrichtet. Das zusammen mit den eigenen<br />

Traditionen sollte dazu beitragen, die Selbsterhaltungsfähigkeiten in Afrika<br />

wieder zu stärken.<br />

Stark: Das heißt, es kann in der Regel keine große Hilfe sein, wenn Afrika immer<br />

nur Ratschläge von außen bekommt. Es müssen also im Gr<strong>und</strong>e<br />

genommen eigene Führungspersönlichkeiten sein, die das vermitteln,<br />

Führungspersönlichkeiten, die sowohl in der afrikanischen Tradition<br />

aufgewachsen sind, die aber auch genügend modern denken können. Nun<br />

haben aber die afrikanischen Länder seit einigen Jahrzehnten diese<br />

Führungspersönlichkeiten. Was hat sich da aber für ein Problem mit den<br />

Eliten in Afrika aufgetan? Denn man stellt doch immer wieder fest, dass es<br />

in Afrika unter den Eliten ein höheres Maß an Korruption gibt als bei den<br />

Eliten hier.<br />

<strong>Mabe</strong>: Schauen Sie, das Wort "Eliten" ist immer ein schlechtes Wort. Obwohl es<br />

an sich ja schön wäre, wenn es Eliten gäbe. Denn die Eliten sind ja<br />

eigentlich die "Auserwählten". In der Bibel heißt es, die Auserwählten<br />

werden von Jesus irgendwann ins Paradies gebracht. Die Schlechten<br />

kommen stattdessen in die Hölle. Was heißt aber alleine für Deutschland<br />

"Eliten"? An wen denken Sie dabei? Sie werden mir nun vermutlich ein paar<br />

Namen nennen können. Ich selbst bin ein deutschsprachiger Denker: Wen<br />

respektiere ich in Deutschland, respektieren im Sinne von Wissen? Wenn<br />

ich Ihnen wiederum hier ein paar Namen nenne, dann kann es sein, dass<br />

Sie die gar nicht kennen. Sehen Sie, deswegen ist das Wort "Elite" immer<br />

relativ. Die Menschen, die in der Politik sind, sind doch nicht immer alle<br />

Vorbilder. Wie steht es mit den Leuten, die an den Universitäten lehren?<br />

Glauben Sie wirklich, dass sie so gut sind? Sie wissen doch, wie man auch<br />

hier in Deutschland Karriere machen kann. Das ist nicht schlimm, denn<br />

Gerechtigkeit in diesem Sinne hat es zweifellos noch nie gegeben. Die<br />

Leute, die heute oder auch schon vor Jahren an der Macht sind bzw.<br />

waren, sind halt irgendwie schlauer als die anderen. Sie sind auch schlauer<br />

als ich – sonst würde ich hier nicht sitzen.<br />

Stark: Deshalb sind Sie "nur" Professor geworden.<br />

<strong>Mabe</strong>: Na gut, wenn man so will. Aber ich bin im engeren Sinne noch kein so<br />

etablierter Professor. Gut, wenn Sie mich so bezeichnen wollen, dann ist<br />

das schon richtig so. Aber mein persönliches Ziel z. B. ist ein anderes. Ich<br />

würde nämlich gerne ein philanthropischer Universalist sein: jemand, der in<br />

China genauso gut zurecht kommt wie in Deutschland, in Russland, in<br />

Angola oder in Nigeria. Das wäre mein Ziel.<br />

Stark: Kennen Sie jemanden, der dafür unter den großen Zeitgenossen ein


Beispiel wäre?<br />

<strong>Mabe</strong>: Ich kenne niemanden, aber ich würde gerne selbst ein Beispiel dafür<br />

werden. Ich will das auf jeden Fall probieren.<br />

Stark: Bleiben wir noch einen Moment bei den Eliten. Gut, das ist in der Tat ein<br />

unterschiedlicher Begriff, denn bei uns würde man ja auch nicht von Eliten<br />

sprechen. Man bezieht das eigentlich mehr auf die Oberschicht oder die<br />

Universitätsgebildeten in Afrika, während man bei uns vermutlich speziellere<br />

Gruppen benennen würde. Aber das ist ja auch egal, wir müssen das ja<br />

auch gar nicht vergleichen. Es gibt jedenfalls in Afrika eine westlich<br />

erzogene <strong>und</strong> auch nach Westen orientierte Schicht, die sich wohl in<br />

stärkerem Maße bereichert hat oder an eigene Interessen denkt, als das<br />

hier bei uns der Fall ist bzw. war. Gut, hier bei uns denken auch sehr viele<br />

Menschen nur an ihr eigenes Interesse, das ist schon klar. Man kann ja<br />

auch entlastend sagen, dass diese Situation in Afrika vom Westen mit<br />

herbeigeführt worden ist. Natürlich hatten die ehemaligen Kolonialmächte<br />

ein Interesse daran, ihre Vertrauensleute dort zu haben, dort also<br />

Menschen zu haben, die genau das machen, was sie wollen, vor allem in<br />

ökonomischer Hinsicht.<br />

<strong>Mabe</strong>: Das haben Sie ganz richtig gesagt. Die Kolonialmächte, genauer gesagt,<br />

die Machthaber in Deutschland, in Frankreich, in Belgien usw. hatten<br />

bestimmte Fre<strong>und</strong>e in den Kolonien. Glauben Sie wirklich, dass der<br />

deutsche B<strong>und</strong>eskanzler jemanden zum Minister ernennen würde, den er<br />

nicht kennt? Glauben Sie, dass der bayerische Ministerpräsident wirklich<br />

jemanden aus der Menge der CSU herausholt, den er nicht kennt, <strong>und</strong> zu<br />

ihm sagt, "Ich ernenne dich zum Minister"? Das ist einfach so: Man muss<br />

irgendjemandem vertrauen.<br />

Stark: Gut, er muss ihn kennen, aber er würde das nicht machen, damit dann<br />

diese Person heimlich Geld auf das eigene Konto schafft.<br />

<strong>Mabe</strong>: So ist es. Ich kritisiere das aber gar nicht. Ich meine einfach, dass man<br />

immer irgendjemanden braucht, dem man vertraut. Und genauso haben<br />

damals eben die Kolonialmächte jemanden gekannt: vielleicht bei der Mafia,<br />

in der Politik oder in der Armee usw. Dann wurde gesagt: "Du bist<br />

zuverlässig, wir wollen, dass du uns dort vertrittst!" Genauso ist es gemacht<br />

worden. Aber wenn Sie sagen, dass es Afrika ökonomisch schlecht geht,<br />

dann ist doch die Frage, wer dafür die Verantwortung trägt. Ich darf ja heute<br />

als Afrikaner schon nicht mehr sagen, dass der Westen mitschuldig ist.<br />

Heute dürfen wir nur noch sagen, dass die Eliten in Afrika schuld sind. Das<br />

ist doch verlogen. Das ist das, was die Leute in Deutschland <strong>und</strong> überhaupt<br />

in Europa hören wollen, aber das ist verlogen: Es geht nur noch um solche<br />

Figuren wie den "korrupten Mugabe". Aber wer hat denn Mugabe groß<br />

gemacht? Darüber will aber niemand mehr sprechen. Er war ein Zögling<br />

des Westens!<br />

Stark: Das stimmt natürlich. Und für Mobutu gilt ja das Gleiche.<br />

<strong>Mabe</strong>: Ja, wer hat Mobutu groß gemacht? Darüber will man hier nicht mehr<br />

sprechen.<br />

Stark: Kommen wir im letzten <strong>Dr</strong>ittel der Zeit, die wir noch haben, zu etwas ganz<br />

anderem, zu etwas, das die Menschen in Deutschland wirklich überrascht:<br />

nämlich zu der Tatsache, dass es in Afrika wirklich eine afrikanische<br />

<strong>Philosoph</strong>ie gibt. Ich muss ehrlicherweise sagen, dass ich das in diesem<br />

Maße auch nicht gewusst habe, obwohl ich doch selbst dieses Fach<br />

<strong>Philosoph</strong>ie studiert habe. Sie haben u. a. in diesem schon<br />

angesprochenen Lexikon auch den Artikel über <strong>Philosoph</strong>ie selbst verfasst.<br />

Wenn man zunächst einmal ganz global fragt: Was unterscheidet denn<br />

afrikanische <strong>Philosoph</strong>ie von der europäischen <strong>Philosoph</strong>ie? Oder<br />

unterscheidet sie sich gar nicht davon?


<strong>Mabe</strong>: Sehen Sie, Sie stellen wieder eine Frage, die mich immer wieder<br />

überrascht. Ich meine natürlich nicht Sie als Person, sondern diese Fragen<br />

stellen mir ja auch meinetwegen die Kollegen an der Universität. Gut, ich bin<br />

einer der wenigen – an vielen Universitäten in Deutschland bin ich der Erste<br />

<strong>und</strong> Einzige –, der überhaupt das Wort "afrikanische <strong>Philosoph</strong>ie" bzw.<br />

"<strong>Philosoph</strong>ie in Afrika" in die Debatte geworfen <strong>und</strong> gelehrt hat. Bis heute<br />

gab es <strong>und</strong> gibt es unter meinen deutschen Kollegen eine Neugier dieser<br />

Sache gegenüber.<br />

Stark: Dass es <strong>Philosoph</strong>ie in Afrika gibt <strong>und</strong> dass an den afrikanischen<br />

Universitäten auch <strong>Philosoph</strong>ie gelehrt wird, glauben die Leute schon. Aber<br />

dass es eine spezielle afrikanische <strong>Philosoph</strong>ie gibt, das überrascht die<br />

Menschen.<br />

<strong>Mabe</strong>: Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Genau aus diesem Gr<strong>und</strong>e<br />

frage ich dann nämlich immer zurück: Was ist eigentlich speziell deutsche<br />

<strong>Philosoph</strong>ie? Diese Frage ist zunächst leicht zu beantworten: Das, was<br />

<strong>Philosoph</strong>en wie Hegel, Kant, Marx, Schelling usw. geschrieben haben, ist<br />

deutsche <strong>Philosoph</strong>ie. Aber sie haben doch nicht nur deutsch gedacht! Sie<br />

haben stattdessen ganz einfach Menschheitsfragen reflektiert: Sie haben<br />

diese Menschheitsfragen lediglich in ihrer Muttersprache reflektiert. Sie<br />

werden doch nicht sagen können, dass Thomas von Aquin oder Nikolaus<br />

von Kues keine Deutschen, sondern "nur" lateinische <strong>Philosoph</strong>en sind, weil<br />

sie in Latein gedacht <strong>und</strong> geschrieben haben. Nein, die <strong>Philosoph</strong>ie ist quasi<br />

eine universale Sprache, in der Menschheitsfragen reflektiert werden. Und<br />

genau so reflektieren auch die afrikanischen <strong>Philosoph</strong>en. Der Unterschied<br />

– weil man hier immer <strong>und</strong> unbedingt auf den Unterschied hinaus will –<br />

besteht darin, dass der afrikanische Denker heute immer parallel denkt. Es<br />

gibt auf diesem Gebiet in Afrika wirklich einen Parallelismus, denn es gibt<br />

das orale Denken, also quasi das Sprech-Denken, <strong>und</strong> die Literalität, also<br />

das geschriebene Denken. Es gibt das "Schrift-Denken" <strong>und</strong> das "M<strong>und</strong>-<br />

Denken". Beide gehören zusammen. Denn man kann ja nicht sagen, dass<br />

nur derjenige über Moral reflektieren kann, der auch schreiben kann. Es gibt<br />

nun einmal in Afrika auch Menschen, die in moralischer, ethischer oder<br />

metaphysischer Hinsicht kritisch denken können, ohne dass sie schreiben<br />

könnten. Mein Schwerpunkt besteht darin, dass diese Art von <strong>Philosoph</strong>ie<br />

unbedingt erhalten werden muss. Das ist vielleicht das Spezifikum von<br />

Afrika: dass neben dem "Schrift-Denken" auch ein "M<strong>und</strong>-Denken", ein<br />

orales Denken existiert.<br />

Stark: Ist denn die orale <strong>Philosoph</strong>ie inhaltlich anders als die geschriebene<br />

<strong>Philosoph</strong>ie, wenn man mal vom Stil absieht?<br />

<strong>Mabe</strong>: Nein, es sind nur die Methoden <strong>und</strong> der Stil verschieden. Das, was wir hier<br />

beide soeben machen, ist "orales Denken" <strong>und</strong> nicht "literales Denken".<br />

Genau aus diesem Gr<strong>und</strong> ist unser Gespräch für die Zuschauer vermutlich<br />

auch spannender, als wenn ich mich darauf konzentrieren würde, ganz<br />

abstrakt <strong>und</strong> akrobatisch bestimmte Begriffe zu benützen, die nur ganz in<br />

diese Materie Eingeübte verstehen könnten. In der Mündlichkeit ist also<br />

eine ganz andere Kommunikation möglich. Die Methoden, die es in der<br />

Mündlichkeit gibt, sind natürlich andere: Da gibt es z. B. die Initiation. So<br />

etwas hat es früher auch in Europa gegeben: Man versucht das hier auch<br />

heutzutage immer wieder, aber man nennt das nicht mehr Initiation. Ein<br />

anderes Beispiel ist die Mediation: Mir kommt immer wieder in den Sinn,<br />

dass das, was Sie hier in den Medien machen, etwas mit Mediation zu tun<br />

hat. Man kann sagen, dass hier in Europa die Rolle der Seele materialisiert<br />

wird. In den Medien wird heute das materialisiert, was früher die Seele<br />

gemacht hat. Platon hatte doch z. B. auch schon gesagt: Bevor die Seele in<br />

den menschlichen Körper eindringt, lebte sie in der Welt der Ideen. Das<br />

heißt, wenn der Mensch reflektiert, erinnert sich seine Seele nur an das,<br />

was sie vorher gesehen hat. Dies hat etwas mit Mediation zu tun. Das heißt,


die orale Methode trägt dazu bei, dass der Mensch die Kraft der Seele<br />

mobilisieren kann, um seine Phantasiefähigkeit zu verstärken. Dadurch<br />

kann er als Mensch bestimmte Dinge realisieren. Heute gibt es Computer,<br />

heute kann man mit ganz kleinen Handys überall hin in die Welt telefonieren<br />

usw. Das alles sind Ergebnisse der Phantasie. In Afrika hat die orale<br />

Phantasie in rituellen Traditionen jedoch anders funktioniert als heute. Wenn<br />

man also auch in Afrika diese Phantasie materialisieren würde, wie das in<br />

der so genannten westlichen Zivilisation der Fall ist, dann würde man auch<br />

in Afrika unglaubliche Resultate erhalten.<br />

Stark: Sie sprachen gerade von der westlichen Zivilisation: Ich glaube, ein<br />

Kennzeichen der europäischen <strong>Philosoph</strong>ie besteht ja in dem, was man<br />

Aufklärung nennt. Gab es so etwas im afrikanischen Denken auch? Gut, als<br />

importiertes Denken wird es das dort sicherlich auch geben. Mich aber<br />

interessiert, ob es ein eigenständiges afrikanisches aufklärerisches Denken<br />

gegeben hat – in dem Sinne, in dem wir das in Europa verstehen.<br />

<strong>Mabe</strong>: Sie sprechen von Aufklärung: Heute gibt es z. B. auch Aids-Aufklärung.<br />

Stark: Nein, ich meine natürlich etwas anderes.<br />

<strong>Mabe</strong>: Ich habe Sie schon verstanden, ich will Sie ja nur provozieren. Denn ich will<br />

damit ausdrücken, dass oftmals ein Wort besonders herausgestellt wird,<br />

obwohl es das eigentlich immer schon gegeben hat. Die Franzosen z. B.<br />

sprechen gar nicht von Aufklärung, sie sprechen vielmehr von "la lumière",<br />

also vom "Licht".<br />

Stark: Ja, im Englischen heißt das "enlightment".<br />

<strong>Mabe</strong>: In meiner Muttersprache heißt das "mapowi". Wenn es z. B. bestimmte<br />

schwierige Phasen wie meinetwegen eine lang anhaltende Dürre gab <strong>und</strong><br />

die Menschen nach einer Lösung suchten, dann kommen die Alten <strong>und</strong><br />

suchen nach mapowi.<br />

Stark: Gemeint ist mit "Aufklärung" ja vor allem die Unabhängigkeit des Denkens<br />

von Religion, von Mythologie, Aberglauben usw.<br />

<strong>Mabe</strong>: Sie sehen ja, ich bin ein Afrikaner. Wie denke ich also? Das sage ich z. B.<br />

auch meinen Studenten <strong>und</strong> Kollegen. Sie sehen doch, dass meine Art zu<br />

reflektieren immer auch ein Verweis auf meine, wenn Sie so wollen,<br />

Identität ist. Man sieht an meiner Person also, dass ich durchaus denken<br />

kann wie jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist: Darüber hinaus<br />

aber bringe ich Dinge ins Spiel, die in Afrika vielleicht doch wirklich anders<br />

sind. Dieses Anders-Sein ist das afrikanische Denken.<br />

Stark: Ich reite deshalb so ein bisschen auf der Aufklärung herum, weil ich Sie<br />

etwas ganz Bestimmtes noch fragen möchte: Ist denn der islamische<br />

F<strong>und</strong>amentalismus, den man in verschiedenen Ländern Nordafrikas <strong>und</strong><br />

hinunter bis zum mittleren Gürtel Afrikas spürt - z. B. wird in Nordnigeria<br />

nach der Scharia Recht gesprochen – nicht vielleicht doch auch eine Gefahr<br />

für so eine weltlich aufklärte <strong>Philosoph</strong>ie, für ein aufgeklärtes Denken?<br />

<strong>Mabe</strong>: Schauen Sie, als dieser berühmte Prozess gegen diese Frau in Nordnigeria<br />

stattfand, war ich zufälligerweise gerade in Nigeria. Ich war jedoch in<br />

Südnigeria. Dort habe ich z. B. oft nur über das Radio davon gehört, dass in<br />

Nordnigeria etwas Bestimmtes passiert. Selbst in Lagos wusste kein<br />

Mensch etwas davon.<br />

Stark: Das ist doch schlecht, wenn man das selbst dort nicht weiß.<br />

<strong>Mabe</strong>: Ich will Ihnen damit nur zeigen, dass man manchmal ein Thema brisant<br />

macht, obwohl es eigentlich gar nicht so brisant ist. Ich selbst bin ja z. B.<br />

auch christlich erzogen, obwohl ich heute nicht mehr in die Kirche gehe. Es<br />

schadet natürlich nicht, wenn man in die Kirche geht, es schadet auch nicht,<br />

wenn man in die Moschee geht.


Stark: Nein, aber Steinigen schadet den Menschen.<br />

<strong>Mabe</strong>: Wenn sie glücklich dabei sind, dann sollen die Menschen ruhig in die Kirche<br />

oder in die Moschee gehen. Schaden richtet nur diese Borniertheit an, wenn<br />

man glaubt, es gäbe eine christliche Ethik, wenn man also behauptet, dass<br />

nur das, was das Christentum sagt, die einzige <strong>und</strong> wahre Ethik sei. Ich<br />

verstehe ja noch nicht einmal, was dabei das "Christentum" ist. Denn das<br />

Christentum ist doch mit schuld gewesen an dem, was in Afrika passiert ist.<br />

Das Christentum ist doch auch mit schuld daran, dass ein Teil des Islam so<br />

gewalttätig geworden ist. Auch darüber könnten wir mal sprechen. Der<br />

Islam wiederum ist auch mit schuld daran, dass das Christentum in Afrika<br />

so aggressiv geblieben ist. Sie sehen also, von beiden Religionen geht<br />

Schaden aus. Aber fragen Sie doch mal jemanden, der wie ich<br />

konfessionslos ist: So jemand ist es doch egal, was da passiert. So jemand<br />

sagt doch, was die Scharia sagt, geht mich nichts an. Wenn man sagt, dass<br />

islamische Gesetze einem bestimmten Land appliziert werden sollen, dann<br />

ist das nicht schlimm – wenn die Leute in diesem Land selbst davon<br />

überzeugt sind. Schlecht ist nur, wenn man von außen mit der Brille einer<br />

anderen Betrachtungsweise dieses Andere analysiert <strong>und</strong> beurteilt <strong>und</strong><br />

dann sagt, dass das schlimm ist. Wir als christlich erzogene Menschen in<br />

Deutschland haben ein Gr<strong>und</strong>gesetz, haben ein Verfassungsgericht, ein<br />

B<strong>und</strong>esverwaltungsgericht, Amtsgerichte usw. usf. Wenn man fordert, dass<br />

es das alles auch in Nordnigeria geben soll, dann ist das falsch. Es ist<br />

falsch, wenn man sagt, dass nur nach Einführung all dieser Instanzen der<br />

Irak zu einem Rechtsstaat werden würde. Ich sage also, dass das nicht<br />

richtig ist. Wir dürfen nicht permanent als Außenstehende andere Kulturen<br />

verurteilen.<br />

Stark: Gut, das war ein gutes Schlusswort, obwohl manche Ihrer Aussagen gegen<br />

Ende sicherlich diskussionswürdig wären, aber das können wir jetzt nicht<br />

mehr ausdiskutieren, weil unsere Sendezeit zu Ende ist. Ich bedanke mich<br />

ganz herzlich bei Ihnen auch für die Vielfalt der Meinungen <strong>und</strong><br />

Anschauungen, die Sie unseren Zuschauern heute vermittelt haben. Besten<br />

Dank. Verehrte Zuschauer, das war Professor <strong>Jacob</strong> <strong>Emmanuel</strong> <strong>Mabe</strong> aus<br />

Berlin. Schönen Dank für Ihr Interesse <strong>und</strong> auf Wiedersehen.<br />

© Bayerischer R<strong>und</strong>funk

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