Intervall - Prof. Dr. Horst-Peter Hesse
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<strong>Horst</strong>-<strong>Peter</strong> <strong>Hesse</strong>: „<strong>Intervall</strong>“ | Erschienen in: „Musik in Geschichte und Gegenwart“, 2. Ausgabe | Verlag: Bärenreiter.<br />
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.<br />
<strong>Intervall</strong><br />
<strong>Horst</strong>-<strong>Peter</strong> <strong>Hesse</strong><br />
III. Historisch (neuere Zeit) und systematisch<br />
1. Erfahrungswissenschaftliche <strong>Intervall</strong>bestimmung.<br />
2. Systematik der <strong>Intervall</strong>eigenschaften.<br />
3. Ekmelische und Kleinstintervalle (Mikrotöne)<br />
1. Erfahrungswissenschaftliche <strong>Intervall</strong>bestimmung<br />
Die Musiktheorie der Neuzeit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nach und nach<br />
von spekulativen Traditionen abwendet und stattdessen erfahrungswissenschaftliche<br />
Begründungen anstrebt. Die Komponisten der franko-flämischen Schule hatten in ihrer<br />
Vokalmusik den Terzen allmählich Positionen eingeräumt, in denen gute Sänger sie<br />
zweifellos dem in der Obertonreihe gegebenen Naturintervall (5:4) entsprechend, nicht aber<br />
pythagoreisch (81:64) intoniert haben, denn von Walter Odington bis Franchinus Gaffurius<br />
mussten Theoretiker immer wieder zugeben, dass Terzen und Sexten in der Praxis wie<br />
Konsonanzen klängen (→ <strong>Intervall</strong>. Historisch b. z. 16. Jh.). Dennoch konnte sich – solange<br />
niemand die Diskrepanzen nachzumessen imstande war – die alte pythagoreische Theorie<br />
noch lange neben der neuen Praxis behaupten. Die Entwicklung der Musik für Lauten- und<br />
Clavier-Instrumente seit Mitte des 15. Jh. aber forderte wegen deren fester Stimmung<br />
Entscheidungen hinsichtlich der Intonation. Sie führten zur unausweichlichen Konfrontation<br />
mit der Tatsache, dass Quint- und Terzverwandtschaft zu unterschiedlichen <strong>Intervall</strong>größen<br />
führen, die um das syntonische Komma voneinander abweichen. Die Lösung dieses Problems<br />
wurde auf zwei verschiedenen Wegen versucht: Einer bestand darin, die Anzahl der<br />
Tonstufen innerhalb der Oktave zu erhöhen und dadurch eine Materialleiter zu bilden, aus der<br />
je nach dem Zusammenhang die geeigneten Stufen ausgewählt werden. Für diese Lösung<br />
entschied sich u.a. Nicola Vicentino (1555), der mit seinem Archicembalo und dem<br />
Arciorgano Instrumente mit 31 Tasten pro Oktave entwarf. Der Nachteil dieser Instrumente<br />
besteht in ihrer Kompliziertheit. Der zweite Weg ist das Verfahren der Temperatur (→<br />
Temperatur und Stimmung): Die bisherige zwölfstufige Tastatur wird beibehalten, mehrere<br />
Quinten werden jedoch gegenüber der Reinstimmung um Bruchteile des Kommas so<br />
verkleinert, dass sie aneinandergefügt reine oder annähernd reine Terzen ergeben. Aber selbst<br />
diejenigen Theoretiker, die praktische Anweisungen für die Temperierung von<br />
Tasteninstrumenten veröffentlichten, blieben in ihren theoretischen Schriften dem<br />
pythagoreischen System mit seinem Bezug auf allgemeingültige mathematische<br />
Gesetzmäßigkeiten treu (Aron 1516).<br />
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In der Vokalmusik des 16. Jh. hatte das Bemühen um verständliche Textdeklamation<br />
zugenommen. In gleichem Maße gewann der contrapunctus simplex, der Satz Note gegen<br />
Note, an Bedeutung. Der akkordische Satz, für den sich gegen Ende des 18. Jh. der Begriff<br />
Homophonie einbürgerte (KochL: Homophonische Setzart), fand seinen Widerhall in der<br />
Revision der Musiktheorie, die Lodovico Fogliano (1529) und Gioseffo Zarlino (1558)<br />
schließlich durchsetzten, indem sie die großen und kleinen Terzen zu Konsonanzen<br />
aufwerteten und durch die Verhältnisse 5:4 und 6:5 bestimmten, anstatt sie wie in der bis<br />
dahin gültigen Theorie aus der Quintenreihe abzuleiten. Die Diatonik wurde nun nicht mehr<br />
auf die Reihe F-C-G-D-A-E-H zurückgeführt sondern ihr wurde die Terz-Quint-Progression<br />
F-a-C-e-G-h-D zugrundegelegt. In dieser Darstellung sind – der Bezeichnungsweise Moritz<br />
Hauptmanns (1853) folgend – die durch Quintverwandtschaft bestimmten Töne als<br />
Großbuchstaben, die durch Terzverwandtschaft bestimmten als Kleinbuchstaben dargestellt.<br />
Ordnet man sie in Sekundfortschreitung an, so ergeben diese Töne die Durtonleiter C-D-e-F-<br />
G-a-h-C. Die Buchstabensymbolik spiegelt die Struktur der Leiter, in der nicht mehr – wie im<br />
pythagoreischen System – zwei gleichgroße Ganztonintervalle einen Ditonus (81:64) bilden,<br />
sondern in welcher sich über C, F und G jeweils ein großer (9:8) und ein kleiner<br />
Ganztonschritt (10:9) zu einer reinen großen Terz zusammenfügen.<br />
⎛ 9 9 81<br />
⋅ =<br />
⎞<br />
⎝ 8 8 64⎠<br />
gegenüber<br />
9<br />
8 ⋅10<br />
⎛ 5<br />
=<br />
⎞<br />
⎝ 9 4⎠<br />
Neben der musikgeschichtlichen Entwicklung führte auch das Aufblühen der<br />
Naturwissenschaften zu kritischer Überprüfung traditioneller Lehren und brachte Grundlagen<br />
für neue <strong>Intervall</strong>theorien, von denen nun auch erwartet wurde, dass sie naturwissenschaftlich<br />
fundierte Erklärungen dafür liefern, warum und auf welche Weise das menschliche Gehör die<br />
in der Musik in Erscheinung tretende Ordnung der Klänge erfassen könne. Vom Geiste des<br />
Aufklärungszeitalters getrieben, untersuchten viele Gelehrte Struktur und Fortpflanzung des<br />
Schalles und gewannen dabei zahlreiche neue Erkenntnisse. Johannes Kepler (1619) führte<br />
Irrtümer der traditionellen mathematischen Musiktheorie – insbesondere den Ausschluss der<br />
Primzahl 5 – darauf zurück, dass die Alten sich nicht eng genug an die empirische Realität, an<br />
das Urteil des Ohres, gehalten sondern stattdessen die Begründung der Konsonanzen in<br />
abstrakten Zahlen gesucht hätten. Seit der Antike hatte man die Zahlenverhältnisse, die bei<br />
der Saitenteilung am Monochord in Erscheinung treten, für allgemeingültig gehalten und sie<br />
auch auf die Saitenspannung, auf die Größe von Glocken und auf das Gewicht der<br />
Schmiedehämmer in der Pythagoras-Legende übertragen. Diese Vorstellung wurde noch um<br />
die Wende zum 16. Jh. in voller Überzeugung von Gaffurius vertreten und findet sich partiell<br />
sogar noch in Athanasius Kirchers Phonurgia nova (1673). Bereits Vincenzo Galilei (1589)<br />
hatte jedoch die Schmiede-Legende experimentell widerlegt und die Gültigkeit der<br />
überlieferten Zahlenverhältnisse auf den Sonderfall der Saitenlänge eingeschränkt. Sein Sohn<br />
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Galileo Galilei (1638) erkannte, dass die Saitenspannung auf das Vierfache erhöht werden<br />
muss, damit eine Saite den Ton der höheren Oktave erzeugt, dass die musikalischen <strong>Intervall</strong>e<br />
also durchaus auch mit anderen als den traditionellen Proportionen in Beziehung stehen.<br />
Schon 1614 hatte der holländische Physiker und Naturphilosoph Isaac Beeckman in<br />
seinem Tagebuch Gedanken zu einer revolutionären Theorie der Schallschwingungen<br />
aufgezeichnet, wonach die Bewegung einer schwingenden Saite periodische Anstöße der Luft<br />
erzeugt, die unser Ohr als Ton wahrnimmt. Die seit alters her bekannten<br />
<strong>Intervall</strong>proportionen führte er nicht mehr unmittelbar auf die Saitenlängen zurück sondern<br />
auf einfache Rhythmen, die sich aus zwei kommensurablen Luftstoßfolgen ergeben können.<br />
Beeckman, der mit den bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit in Verbindung stand, regte<br />
sowohl René Descartes (1650) als auch Marin Mersenne zur Weiterentwicklung des<br />
Gedankens an, dass die eigentliche Ursache der Tonempfindung die Schwingungsfrequenz<br />
sei. In seiner Harmonie universelle (1636/37) legte Mersenne Beeckmans Hypothese<br />
eingehend dar und schuf damit die Basis des neuzeitlichen akustischen Denkens. Fast<br />
gleichzeitig diskutierte auch Galileo Galilei (1638) diese Gedankengänge und deutete die<br />
Gesetze der Saitenschwingung als analog zu denen, die für das Pendel gelten. Außerdem<br />
beschrieb er u.a. eine Apparatur zur Registrierung der absoluten Schwingungszahlen. Die<br />
neuen Erklärungen aber forderten immer neue Fragen heraus. Warum, fragte Mersenne in der<br />
Harmonie universelle, entstehen beim Überblasen der Trompete die Oktave, die Duodezime,<br />
Quintadezime usw., und warum überblasen gedackte Orgelpfeifen, wenn der Anblasdruck<br />
erhöht wird, in die Duodezime? Warum kann man bei schwingenden Saiten neben dem<br />
Grundton höhere Nebentöne hören, die der gleichen <strong>Intervall</strong>progression folgen wie die Töne<br />
der Trompete? Der französische Physiker Joseph Sauveur (1701) prägte schließlich die<br />
Vorstellung, dass ein musikalischer Ton grundsätzlich aus einem Grundton und harmonisch<br />
angeordneten Obertönen zusammengesetzt sei. Wir wissen zwar inzwischen, dass z.B. bei<br />
massiven Stäben oder Glocken nur wenige Obertöne Harmonische sind; bei schwingenden<br />
Saiten, deren Durchmesser gering gegenüber der Länge ist, entspricht jedoch die Reihenfolge<br />
der Obertöne der bei Trompeteninstrumenten durch Überblasen erzielbaren Naturtonreihe.<br />
Das Notenbeispiel zeigt die ersten sechs Töne der Reihe. Ton 1 ist der Grundton, die<br />
Töne ab Nummer 2 sind Obertöne, die den Grundton in unterschiedlicher Stärke begleiten.<br />
Ihr Stärkeverhältnis wirkt sich auf die Klangfarbe aus. Es hat sich als zweckmäßig erwiesen,<br />
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Grundton und Obertöne unter dem Oberbegriff Partialtöne (= Teiltöne) zusammenzufassen,<br />
der Grundton wird also als erster Partialton gezählt. Bei dieser Zählung bilden die<br />
Ordnungszahlen der Partialtöne die Frequenzverhältnisse ab. Die Tatsache, dass diese Töne<br />
einen über zweieinhalb Oktaven ausgebreiteten Durdreiklang bilden, diente dem<br />
französischen Komponisten und Musiktheoretiker Jean-Philippe Rameau (1722) als Basis für<br />
seine "auf Naturprinzipien gegründete" Theorie der musikalischen Harmonik. Durch den<br />
Bezug auf die Naturtonreihe begründete er die Lehre von der Umkehrbarkeit der Akkorde,<br />
wonach Sextakkord und Quartsextakkord als Umkehrungen eines Grundakkordes gelten,<br />
dessen tiefster Ton der Grundton, das allen drei Akkordvarianten gemeinsame centre<br />
harmonique, ist. Nach und nach setzte sich nun im musikalischen Denken ein Wandel<br />
dahingehend durch, dass man Töne und Zusammenklänge nicht mehr auf die real erklingende<br />
Stimme des basso continuo bezog sondern sie als <strong>Intervall</strong>e über einem ideellen basse<br />
fondamentale auffasste, der aus den Grundtönen derjenigen Akkorde besteht, deren<br />
Bestandteile die jeweils erklingenden Töne des Tonsatzes sind.<br />
Einen wesentlichen Beitrag zu den Versuchen, die Eigenschaften der <strong>Intervall</strong>e<br />
naturwissenschaftlich zu erklären, schuf der große Mathematiker Leonhard Euler (1739).<br />
Zusammengefasst lautet seine Argumentation: Töne sind Vibrationen der Luft. Das Ohr<br />
registriert sie als Folge von Anstößen, deren Aufeinanderfolge in bestimmter Weise zeitlich<br />
geordnet ist. Wir finden ein Objekt angenehm, in welchem sich eine Ordnung kundtut; und<br />
zwar erscheint es um so einfacher und vollkommener, je leichter die Ordnung zu erfassen ist.<br />
Wenn die Frequenzen mehrerer gleichzeitig erklingender Töne rational verwandt sind, so<br />
können sie durch einen konstanten Faktor dividiert und als ganze Zahlen dargestellt werden.<br />
Bei der Zusammenfügung von Tönen bilden die in der Luft erzeugten Stöße übergeordnete<br />
Perioden, deren Binnenstruktur allein von der Frequenzproportion der <strong>Intervall</strong>e abhängt.<br />
Daraus ergibt sich die Transponierbarkeit der <strong>Intervall</strong>e.<br />
Frequenz 2: o o o o o o o o o<br />
Frequenz 3: o o o o o o o o o o o o o<br />
Die Ordnung der Sequenz wird um so komplizierter und damit schwerer zu erfassen, je<br />
größer die am Ausdruck des Frequenzverhältnisses beteiligten Primzahlen sind. Den Grad der<br />
Komplexität bezeichnete Euler als exponens consonatiae (E). Er definierte ihn als das<br />
kleinste gemeinsame Vielfache der die Töne repräsentierenden ganzen Zahlen. Der exponens<br />
wird in Primfaktoren zerlegt und in der Form E = pm . qn ... dargestellt. Dem Ausdruck<br />
ordnete er einen Konsonanzgrad, einen gradus suavitatis s(E) zu, der wie folgt berechnet<br />
wird:<br />
s(E) = m . (p–1) + n . (q–1) + ... +1<br />
Die Berechnung ergibt für die einfachste Ordnung, den Einklang, den Wert 1, für die<br />
Oktave 2, Duodezime 3, Quinte 4, Quarte 5, gr. Dezime 6, gr.Terz und gr.Sexte 7, kl. Terz<br />
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und kl. Sexte 8 usw. Alle späteren Theorien stufen die Konsonanzgrade im wesentlichen in<br />
identischer Reihenfolge ein.<br />
Der exponens E enthält aber noch weitere Information; die Primfaktoren geben<br />
Aufschluss über die Verwandtschaft zwischen den Tönen, aus deren Proportionszahlen E<br />
gebildet wurde. Jede Art von Tonverwandtschaft ist durch eine bestimmte Primzahl zu<br />
bezeichnen, die der jeweiligen Ordnungszahl innerhalb der Naturtonreihe entspricht: Der<br />
Faktor 2 bezeichnet demnach die Oktavverwandtschaft, der Faktor 3 die Quint- und der<br />
Faktor 5 die Terzverwandtschaft. Ein Tonsystem kann durch die Basiszahlen und deren<br />
Exponenten bestimmt werden: Jede als Basis auftretende Primzahl bezeichnet ein<br />
bestimmtes, Verwandtschaft begründendes <strong>Intervall</strong>. Die Exponenten geben an, wie oft das<br />
gleiche <strong>Intervall</strong> aneinandergereiht wird. Das pythagoreische Sytem ist durch den Ausdruck<br />
3 12 zu beschreiben, denn das System wird durch eine Reihe von zwölf Quinten gebildet. Wird<br />
eine neue Primzahl eingeführt, indem man die Naturterz (5:4) in das System einbezieht, so<br />
können die Tonverwandtschaften in einem zweidimensionalen Netz abgebildet werden.<br />
3-4.53 3-3. 53 3-2.53 3-1.53 30.53 31.53 32.53 33.53 34.53 3-4.52 3-3.52 3-2.52 3-1.52 30.52 31.52 32.52 33.52 34.52 3-4.51 3-3.51 3-2.51 3-1.51 30.51 31.51 32.51 33.51 34.51 3-4.50 3-3.50 3-2.50 3-1.50 30.50 31.50 32.50 33.50 34.50 3-4.5-1 3-3.5-1 3-2.5-1 3-1.5-1 30.5-1 31.5-1 32.5-1 33.5-1 34.5-1 3-4.5-2 3-3.5-2 3-2.5-2 3-1.5-2 30.5-2 31.5-2 32.5-2 33.5-2 34.5-2 3-4.5-3 3-3.5-3 3-2.5-3 3-1.5-3 30.5-3 31.5-3 32.5-3 33.5-3 34.5-3 Eulers Potenzennetz<br />
Aus dem Potenzennetz kann das Frequenzverhältnis jedes durch Quint- oder<br />
Terzverwandtschaft zu bestimmenden <strong>Intervall</strong>es abgelesen werden. Martin Vogel (1975) hat<br />
zur Bezeichnung der <strong>Intervall</strong>e folgende <strong>Intervall</strong>sigel vorgeschlagen: Oberquinte Q,<br />
Unterquinte -Q, gr. Oberterz T, gr. Unterterz -T. Man findet das Frequenzverhältnis eines<br />
<strong>Intervall</strong>es, indem man den Ausgangston dem schraffierten Feld zuordnet und von dort aus in<br />
Quint- und Terzschritten zum Zielton geht. Für jeden Quintschritt aufwärts (Q) rückt man ein<br />
Feld nach rechts, für -Q nach links; für T nach oben, für -T nach unten. Die gefundenen<br />
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Potenzen liest man als Bruch [(3 x . 5 y ) : 1]. Da die Multiplikation mit dem Faktor 2 eine<br />
Oktavtransposition zur Folge hat, können Zähler und Nenner des Bruchs durch den Faktor 2<br />
so umgeformt werden, dass der Zielton in der gewünschten Oktave – z.B. im Oktavraum über<br />
dem Ausgangston – liegt.<br />
(Beispiele: Q = 3:2, -Q = 4:3, 2Q = 9:8, 4Q = 81:64, T = 5:4, -T = 8:5, -QT = 5:3, Q-T = 6:5,<br />
-Q-T = 16:15).<br />
Ungeklärt blieb allerdings bei Euler, wie der Gehörsinn eine komplexe Schallwelle<br />
analysiert und verschiedene gleichzeitig erklingende Töne zu unterscheiden vermag. Ein<br />
entscheidender Impuls zur Klärung dieses Problems und damit zur weiteren<br />
wissenschaftlichen Durchdringung des Hörprozesses ging im 19. Jh. von dem Physiker Georg<br />
Simon Ohm (1843) aus. Er führte ein mathematisches Verfahren des Franzosen Joseph<br />
Fourier in die Akustik ein, durch das beliebige periodische Funktionen als Summe einfacher<br />
Sinusfunktionen dargestellt werden können. Ohm verstand komplexe Schallschwingungen als<br />
Summe von Sinusschwingungen, deren Frequenzen ganzzahlige Vielfache einer<br />
Grundfrequenz sind, und ordnete jeder Komponente als empfindungsmäßiges Äquivalent<br />
einen Partialton zu: der Grundfrequenz den Grundton, den übrigen Frequenzen die Obertöne.<br />
Hermann von Helmholtz (1863) fand in vielfältigen Experimenten mit Resonatoren die<br />
Ohmsche Hypothese bestätigt und schuf mit seiner Resonanztheorie das physiologische<br />
Erklärungsmodell für eine dem Fourierprinzip entsprechende Gehöranalyse. Er entwickelte<br />
die erste umfassende Theorie des Hörens, die alle damals bekannten physikalischen,<br />
anatomischen, psychologischen und musiktheoretischen Fakten einschloss.<br />
Mit seiner Erklärung der Dissonanz fügte er den Bestrebungen, die Theorie der Musik<br />
auf naturwissenschaftliche Grundlagen zurückzuführen, eine neue Facette hinzu. Bei<br />
nacheinander erklingenden Tönen vermag das Gehör minimale Unterschiede zu erkennen und<br />
zu identifizieren, bei gleichzeitigen aber ist sein Auflösungsvermögen eingeschränkt. Treffen<br />
Schallwellen mit geringem Frequenzunterschied gleichzeitig auf das Ohr, so hört man<br />
bekanntlich nicht mehr Töne von verschiedener Höhe und konstanter Stärke, sondern einen<br />
einzigen Ton, dessen Stärke sich periodisch ändert, man hört sogenannte Schwebungen. Die<br />
Schwebungsfrequenz ist gleich der Differenz der beiden beteiligten Schallfrequenzen. Mit der<br />
Schwebungsfrequenz ändert sich auch der Charakter der Schwebungen: Liegt sie unter 10 Hz,<br />
so werden die Schwebungen als Lautstärkeschwankungen wahrgenommen; man hört einen<br />
Ton mit einer dem Mittel beider Schallfrequenzen entsprechenden Tonhöhe, dessen<br />
Lautstärke im Rhythmus der Schwebungsfrequenz schwankt. Steigt die Schwebungsfrequenz,<br />
so geht die Wahrnehmung in den Eindruck einer schnellen Folge von Tonstößen über, die<br />
oberhalb von 15 Hz allmählich zu einer einheitlichen Tonempfindung verschmelzen: Es<br />
entsteht ein Ton von konstanter Lautstärke mit einem rauhen Klangcharakter. Diese<br />
Phänomene führte Helmholtz darauf zurück, dass die durch die Töne im Innenohr ausgelösten<br />
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mechanischen Erregungen sich gegenseitig beeinflussen. Die Dissonanz von<br />
Zusammenklängen entsteht demnach dadurch, dass stetige Tonempfindungen durch schnelle<br />
Schwebungen bzw. Rauhigkeit gestört werden.<br />
Schwebungen können nicht nur von eng benachbarten Grundtönen herrühren, sondern in<br />
entsprechender Weise durch annähernd zusammenfallende Obertöne erzeugt werden. Die<br />
Oktave ist neben dem Einklang das einzige <strong>Intervall</strong>, bei dem keine Schwebungen entstehen,<br />
da alle Partialtöne des höheren mit solchen des tieferen Tones zusammenfallen. Alle anderen<br />
<strong>Intervall</strong>e haben eine geringere Anzahl von Partialtönen gemeinsam. Ist das<br />
Frequenzverhältnis p : q (p < q), so stimmt jeder q-te Partialton des tieferen mit jedem p-ten<br />
Partialton des höheren Tones überein. Weicht das Frequenzverhältnis eines <strong>Intervall</strong>es etwas<br />
von den kleinen Proportionszahlen ab, so entstehen Schwebungen zwischen den nun nicht<br />
mehr genau zusammentreffenden Partialtönen. Die relative Stärke der Obertöne nimmt bei<br />
Tönen natürlicher Musikinstrumente im allgemeinen mit steigender Ordnungszahl nach und<br />
nach ab. Dementsprechend verringert sich die durch sie erzeugte Rauhigkeit. Ihr Einfluss<br />
wird darüber hinaus abgeschwächt durch den Verdeckungseffekt, den tiefere Töne auf höhere<br />
ausüben. Grundton-Schwebungen treten deshalb generell stärker hervor als Oberton-<br />
Schwebungen, deren Anteil an der entstehenden Gesamtrauhigkeit mit steigender<br />
Ordnungszahl der Partialtöne zurückgeht. Mit wachsender Größe der Verhältniszahlen wird<br />
der Einfluss dieser bei Verstimmung erzeugten Schwebungen auch dadurch geringer, dass bei<br />
höheren Proportionszahlen gemäß obiger Formel immer weniger Partialtöne mit entsprechend<br />
geringerer Wirkung zusammentreffen und Störungen erzeugen können. Die Empfindlichkeit<br />
gegenüber Verstimmung eines <strong>Intervall</strong>s nimmt daher mit der Größe der Verhältniszahlen,<br />
d.h. mit sinkendem Konsonanzgrad, ab. Nach dem Anteil übereinstimmender Partialtöne und<br />
der daraus resultierenden Möglichkeit, ihre Reinheit zu beurteilen, lassen sich die <strong>Intervall</strong>e<br />
in eine Rangordnung bringen, die der Eulerschen Reihe weitgehend ähnlich ist: Oktave (2:1)<br />
- Duodezime (3:1) - Quinte (3:2) - Quarte (4:3) - gr. Sexte (5:3) - gr. Terz (5:4) - kl. Terz<br />
(6:5) - kl. Sexte (8:5) usw. Der Punkt in der <strong>Intervall</strong>reihe, an dem die Grenze zwischen den<br />
beiden Kategorien Konsonanz und Dissonanz gezogen wird, ist für Helmholtz das Ergebnis<br />
freier menschlicher Entscheidung. Er schreibt ( 61913, S.386): "... daß das System der<br />
Tonleitern, Tonarten und deren Harmoniegewebe nicht bloß auf unveränderlichen<br />
Naturgesetzen beruht, sondern daß es zum Teil auch die Konsequenz ästhetischer Prinzipien<br />
ist, die mit fortschreitender Entwicklung der Menschheit einem Wechsel unterworfen gewesen<br />
sind und ferner noch sein werden."<br />
Auf den ersten Blick scheint es, als sei das Konsonanz-Dissonanz-Problem damit geklärt.<br />
Aber bereits mehrere Zeitgenossen Helmholtz' übten aufgrund von Experimenten und<br />
scharfsinnigen Überlegungen Kritik an seiner Theorie und wiesen nach, dass das Negativ-<br />
Kriterium "Störungen des Zusammenklanges" bzw. deren Fehlen zur Erklärung des<br />
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Konsonanzphänomens nicht ausreicht. Felix Krueger (1903) sah die positive Ursache in den<br />
sogenannten Kombinationstönen. Wenn zwei Töne gleichzeitig erklingen, entstehen im<br />
Verlaufe der Übertragung der Schallschwingungen ins Innenohr aus der Kombination der<br />
beiden Frequenzen f1 und f2 Kombinationsfrequenzen, die als Kombinationstöne hörbar<br />
werden (Husmann 1953). Unter ihnen sind insbesondere zwei Arten häufig zu beobachten,<br />
deren Frequenzen aus Differenzen der Primärfrequenzen zu berechnen sind. Man nennt sie<br />
daher Differenztöne erster und zweiter Ordnung. Der erste entspricht der Differenz beider<br />
Primärfrequenzen (f2 – f1), man bezeichnet ihn nach Husmann als D11. Der zweite entspricht<br />
der Differenz zwischen der Frequenz des unteren <strong>Intervall</strong>tones und der des Differenztons<br />
erster Ordnung (2 . f1 – f2), seine Kurzbezeichnung ist D21. Diese Differenztöne wurden schon<br />
im 18. Jh. beschrieben. Der Organist Georg Andreas Sorge (1745) hatte sie an Orgelklängen<br />
und der Geiger Giuseppe Tartini (1754) beim Doppelgriffspiel auf der Violine beobachtet.<br />
Bei einem konsonanten <strong>Intervall</strong> bilden die Differenztöne einen stabilen Unterbau; sie<br />
ergänzen das <strong>Intervall</strong> zur Tiefe hin wie eine natürliche Partialtonreihe (Gr. Terz 5:4: �D11=1,<br />
D21=3); die Proportionszahl 1 repräsentiert den <strong>Intervall</strong>grundton. Weichen die Frequenzen<br />
dagegen von den einfachen Verhältnissen ab, so wird der Unterbau labil. Auf dieses<br />
naturgegebene Phänomen gründete Paul Hindemith (1940) seine Theorie der Harmonik. Er<br />
ordnete die musikalischen <strong>Intervall</strong>e in einer von ihm Reihe 2 genannten Folge, in der er von<br />
links nach rechts von der einfachsten zur kompliziertesten Anordnung der Differenztöne<br />
fortschritt. Ihrem einfachen, stabilen Unterbau entsprechend haben die links liegenden<br />
<strong>Intervall</strong>e den engsten Bezug zum <strong>Intervall</strong>grundton und demgemäß ist bei ihnen die<br />
harmonische Kraft am stärksten ausgeprägt. Bei den weiter rechts liegenden <strong>Intervall</strong>en steigt<br />
– komplementär zur Abnahme der harmonischen – die melodische Kraft.<br />
Die Tatsache, dass Töne im Prozess der akustischen Wahrnehmung unter bestimmten<br />
Bedingungen zu einer prägnanten Gestalt zusammenwachsen, die als Einheit mit spezifischen<br />
Qualitäten für unser Gehör unverkennbar ist, bildete ein wesentliches Argument, das<br />
Christian von Ehrenfels (1890), der Begründer der Gestaltpsychologie, gegen die Vertreter<br />
der älteren Elementenpsychologie erhob. Ehrenfels bewies die Existenz der durch die<br />
Gestaltbildung neu entstandenen Qualitäten durch das Kriterium der Transponierbarkeit. In<br />
gleicher Weise wie optische Figuren, die man aus verschiedenen Elementen zusammensetzen<br />
kann, sind auch akustische Gestalten nicht an bestimmte Töne gebunden, sondern lassen sich<br />
transponieren, wobei jeder Ton durch einen anderen ersetzt wird. <strong>Intervall</strong>e, Akkorde und<br />
Melodien können transponiert werden, ohne ihre charakteristische Qualität zu verlieren.<br />
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Diejenigen Eigenschaften des Ganzen, die trotz Transposition unverändert erhalten bleiben,<br />
werden nach Ehrenfels Gestaltqualitäten genannt.<br />
Zwischen den einzelnen Gliedern einer Gestalt bestehen Wechselwirkungen, die<br />
einerseits die der Ganzheit zukommenden Gestaltqualitäten entstehen lassen und andererseits<br />
auch die Wahrnehmung der Eigenschaften jedes Einzelgliedes beeinflussen. Dieser<br />
Sachverhalt ist an den sog. optischen Täuschungen, wo Linien oder Figuren je nach ihrer<br />
Umgebung unterschiedlich aufgefasst werden, vielfach demonstriert worden. Dies gilt in<br />
entsprechender Weise für die akustische Wahrnehmung. Vergegenwärtigt man sich, dass ein<br />
Ton in der mehrstimmigen Musik gleichzeitig Element einer Zeitgestalt – der Melodie – und<br />
einer Simultangestalt – der Harmonie – ist, so wird deutlich, dass jede seiner Eigenschaften<br />
sich innerhalb eines Netzes von Wechselwirkungen mit den Eigenschaften anderer Töne<br />
entfaltet. Die Tatsache als solche wird von niemandem bezweifelt, wohl aber gibt es<br />
unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob bzw. in welchem Umfange die gestaltbildenden<br />
Tendenzen angeboren oder von Traditionen und Lernprozessen abhängig und durch Lenkung<br />
der Aufmerksamkeit willentlich zu beeinflussen sind. Ist beispielsweise das<br />
Grundtonempfinden bei Zusammenklängen naturgegeben oder durch Gewöhnung entstanden,<br />
liegen die Kriterien für Konsonanz in der klingenden Materie oder in Struktur und<br />
Arbeitsweise des Nervensystems, oder spielen hier Konventionen eine entscheidende Rolle?<br />
Bereits Carl Stumpf (1890) vermutete, dass – unabhängig von Ober- oder Differenztönen<br />
– auch zwischen den Vorgängen im Nervensystem physiologische Wechselwirkungen<br />
bestehen. Sie würden für die Wahrnehmung als Verschmelzung der Töne in Erscheinung<br />
treten; Oktaven, Quinten, Quarten, Terzen usw. verschmelzen in abnehmendem Grade zu<br />
einheitlichen Empfindungsganzheiten. Stumpf meint mit dem Begriff Verschmelzung nicht,<br />
dass die Töne zusammenfließen und im Verschmelzungsprodukt aufgehen wie zwei<br />
gemischte Farben – denn geschulte Ohren vermögen sie nach wie vor auseinanderzuhalten –,<br />
sondern dass die Töne zu einer strukturierten Einheit verbunden werden. Dies führte er darauf<br />
zurück, dass die durch die Töne ausgelösten Hirnprozesse durch ihr Zusammentreffen<br />
psychische Energien höherer Ordnung entstehen lassen, die er spezifische Synergien nannte.<br />
Diese Idee wurde durch Theodor Lipps (1899) in seiner Mikrorhythmentheorie konkretisiert.<br />
Er hielt es für möglich, dass die durch Töne ausgelösten Nervenimpulsketten in den zentralen<br />
Bahnen des Hörnervensystems den Rhythmus der physikalischen Schwingungen<br />
widerspiegeln. "Konsonanz", sagt Lipps, "besteht, sofern nach Ablauf eines Zeitintervalles z<br />
immer wieder dieselben zeitlichen Zusammenordnungen eintreten." Je kürzer das<br />
Zeitintervall z ist, desto fester ist der Zusammenhang; er ist demgemäß bei der Oktave am<br />
größten. Dieses Bild entspricht dem Modell Eulers. Es kann auch im Falle leicht verstimmter<br />
Konsonanzen gelten und das sog. Zurechthören erklären. Auch wenn nämlich die<br />
Periodendauern zweier Impulssequenzen nur annähernd übereinstimmen, könnte dies<br />
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innerhalb bestimmter Grenzen wie eine völlige Übereinstimmung wirken, so wie im<br />
optischen etwa ein nahezu kreisförmiges oder quadratisches Gebilde wie die regelmäßige<br />
Form aufgefasst werden kann, sofern die Annäherung genügend groß ist. Diese<br />
Gedankengänge wurden von Erich Moritz von Hornbostel (1926) übernommen, der das Bild<br />
von der Struktur der zentral-physiologischen Prozesse in Feldstruktur und Teilstrukturen<br />
differenzierte. Alle Strukturen gelten – wie bei Euler – als um so näher verwandt, je niedriger<br />
die Primzahlen sind, auf die sie sich gründen. Der durch die Gliederung nach 2 n zu<br />
beschreibende Strukturzusammenhang begründet die Tonalität. Diese Auffassung deckt sich<br />
mit Max F. Meyers Theorie der Melodik (1901). Die <strong>Intervall</strong>e werden hier durch ihre<br />
Frequenzverhältnisse repräsentiert, und das von Meyer sogenannte Lipps-Meyer-Gesetz<br />
besagt, dass der Entspannung ausdrückende Grundton einer Melodie in dieser Darstellung<br />
stets eine Potenz von 2 ist.<br />
Diese und ähnliche Theorien setzen voraus, dass die Periodizität des Schalles in der<br />
Nervenaktion erhalten bleibt. Dies wurde bis Mitte des 20. Jahrhunderts grundsätzlich<br />
bestritten. Seitdem aber wurden im Rahmen der neurophysiologischen Forschung immer<br />
mehr Beweise dafür gefunden, dass die Zeitstruktur der Schallschwingung in Gestalt<br />
reizsynchroner Nervenimpulse im unteren Teil des Hörnervensystems repräsentiert bleibt und<br />
mit Sicherheit von bestimmten Tieren als Informationsquelle genutzt wird (→ �Gehör). Damit<br />
hat sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass eine im zeitlichen Muster verschlüsselte<br />
Information auch für die menschliche Hörwahrnehmung von Bedeutung ist, was u.a. von<br />
Lothar Cremer (1951) und <strong>Horst</strong>-<strong>Peter</strong> <strong>Hesse</strong> (1972) postuliert wurde. Es gibt eine Reihe von<br />
Nachweisen dafür, dass zentrale neurale Prozesse bei der <strong>Intervall</strong>erkennung eine wichtige<br />
Rolle spielen. Leitet man z.B. über Kopfhörer einen der beiden Töne eines dissonanten<br />
<strong>Intervall</strong>s an das eine, den anderen an das andere Ohr, so verschwindet die Rauhigkeit, da die<br />
beiden Schallwellen bei dieser binauralen Darbietung keine Schwebungen erzeugen können.<br />
Dennoch zeigt sich bei kontinuierlicher Veränderung des <strong>Intervall</strong>es, dass die bei normalem<br />
Hören als konsonant bezeichneten <strong>Intervall</strong>e erkennbar bleiben und sich durch eine besondere<br />
Qualität aus dem Kontinuum der Tonhöhen herausheben (Reinecke 1964).<br />
Seit Wissenschaftler im 19. Jh. versuchten, die Hypothesen des 17. und 18. Jh. zu in sich<br />
geschlossenen naturwissenschaftlich fundierten Theorien des musikalischen Hörens<br />
weiterzuentwickeln, wurden diese Bestrebungen von anderen mit zunehmender Leidenschaft<br />
bekämpft. Natürliche Grundlagen der Musik schienen der vielbeschworenen Freiheit des<br />
menschlichen Geistes zu widersprechen. Während Moritz Hauptmann (1853) darlegte, "wie<br />
das musikalisch-Gesetzliche im Menschen begründet ist; wie der musikalisch richtige<br />
Ausdruck eben nur ein menschlich natürlicher, ein vernünftiger und darum ein<br />
allgemeinverständlicher ist," konterte Eduard Hanslick (1854): "Hat jemand in der Natur<br />
einen <strong>Dr</strong>eiklang gehört, einen Sext- oder Septimakkord? Wie die Melodie, so war auch die<br />
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Harmonie ein Erzeugnis menschlichen Geistes." Als Argument gegen die Berufung auf<br />
natürliche Prinzipien der Harmonik wurde die gleichstufig temperierte Stimmung<br />
herangezogen, die wegen der Abweichung von den reinen Proportionen die aus<br />
"Naturgesetzen" abgeleiteten Folgerungen ad absurdum zu führen schien, da sie trotz ihrer<br />
"Unnatürlichkeit" die Entstehung und Aufführung großartiger Musik zuließ. Raphael Georg<br />
Kiesewetter (1846) zog daher gegen "das Irrige der musikalischen Arithmetik" zu Felde.<br />
Ein weiteres wesentliches Argument bilden die Auffassungsdissonanzen, <strong>Intervall</strong>e und<br />
Akkorde, die zwar konsonante Proportionen aufweisen, die aber aufgrund des musikalischen<br />
Zusammenhanges als Dissonanzen empfunden werden (z.B. die Quarte oder der<br />
Quartsextakkord, die Vorhaltsfunktion haben und in die Terz bzw. in die Grundstellung des<br />
<strong>Dr</strong>eiklangs aufgelöst werden müssen, oder die übermäßige Sekunde, die in die große Terz<br />
geführt werden muss). Hugo Riemann stellte daher die Tonvorstellungen als eigentliche<br />
musikalische Elemente den Helmholtzschen Tonempfindungen entgegen (1916). Sein<br />
Leitgedanke ist – so drückt er sich aus –, "daß das Musikhören nicht nur ein passives<br />
Erleiden von Schallwirkungen im Hörorgan, sondern vielmehr eine hochgradig entwickelte<br />
Betätigung von logischen Funktionen des menschlichen Geistes ist," und "daß nicht die<br />
wirklich erklingende Musik, sondern vielmehr die [ ... ] Vorstellung der Tonverhältnisse das<br />
Alpha und das Omega der Tonkunst ist." In unserem Tonbewusstsein aber gäbe es weder ein<br />
pythagoreisches noch ein syntonisches Komma, das gleiche e könne als Terz zu c oder als<br />
Quinte zu a gedacht werden. Die Erklärung für die Tatsache, dass musikalische<br />
Tonvorstellungen in Widerspruch zur akustischen Theorie stehen können, gab Jacques<br />
Handschin (1948), indem er die eigentliche musikalische Qualität des Tones als<br />
Beziehungserlebnis erklärte, das – unabhängig von der absoluten Tonhöhe – durch seinen<br />
Platz in der vorgestellten Quintenreihe zustande kommt. Diese durch die Einordnung in eine<br />
Gesellschaft von Tönen geschaffene Beleuchtung des Tones bezeichnet er als Toncharakter.<br />
Zwei Töne gleicher Tonhöhe repräsentieren innerhalb verschiedener Bezugssysteme<br />
unterschiedliche Toncharaktere – z.B. das h in G-dur oder h in E-dur. Aus dem gleichen<br />
Grunde tritt auch die Oktavenähnlichkeit völlig in den Hintergrund, wenn d1 im Bezugssytem<br />
D-dur und d2 im System B-dur steht.<br />
Diese Beobachtungen sind ohne Zweifel richtig, aber sie dürfen nicht dazu verleiten, die<br />
Herkunft dieser Ordnungssysteme aus dem Blickfeld zu verlieren. Es gibt musikalische<br />
Phänomene, die auf natürliche Gesetzmäßigkeiten des Hörens zurückzuführen sind. Unter<br />
den möglichen <strong>Intervall</strong>en und Akkorden ragen einige durch Prägnanz hervor, sie sind leicht<br />
erkennbar und lassen sich im Hören sehr genau kontrollieren, im Singen treffen und im<br />
Gedächtnis bewahren. Dies gilt für alle Kulturen der Welt, auch für die schriftlosen, und hat<br />
wahrscheinlich schon im Paläolithikum gegolten, lange bevor man <strong>Intervall</strong>e durch<br />
Längenmaße an Saiteninstrumenten definiert hat. Walter Wiora (1962) hat eine Fülle an<br />
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Material vorgelegt, das diese These stützt. Er schreibt: "Wo immer in echter Naturvolkmusik<br />
bestimmte <strong>Intervall</strong>e intendiert und wie Bräuche oder Normen eingehalten werden, da sind<br />
Konsonanzen vorherrschend oder mindestens beteiligt. Kein anderes <strong>Intervall</strong> hat auch nur<br />
entfernt so große Bedeutung wie sie."<br />
2. Systematik der <strong>Intervall</strong>eigenschaften<br />
Setzt man zwei in ihrer Tonhöhe verschiedene Töne zueinander in Beziehung, so entsteht<br />
die kleinstmögliche Tongestalt, ein <strong>Intervall</strong>. Dieser Ausdruck wird sowohl auf gleichzeitig<br />
(simultan) als auch auf nacheinander (sukzessiv) erklingende Töne angewandt. Man<br />
bezeichnet ein Sukzessivintervall auch als Tonschritt, ein Simultanintervall dagegen als<br />
Zweiklang. Die Fähigkeit, musikalische <strong>Intervall</strong>e zu erkennen und ihre Größe zu beurteilen,<br />
ist bei geübten Personen außerordentlich hoch entwickelt. Sie übersteigt hinsichtlich der<br />
Präzision alle vergleichbaren Sinnesleistungen (Burns / Ward 1978). Als objektiver<br />
Sachverhalt ist ein <strong>Intervall</strong> durch die absoluten Frequenzen und das daraus resultierende<br />
Frequenzverhältnis präzise bestimmt. Der subjektive Wahrnehmungsinhalt <strong>Intervall</strong> erfordert<br />
jedoch eine mehrseitige Beschreibung, die in quantitative und qualitative Aspekte zu<br />
untergliedern ist. Wörtlich bedeutet der Begriff <strong>Intervall</strong> den Abstand zwischen zwei Tönen.<br />
Dieser quantitative Aspekt, der besonders bei Tonschritten hervortritt, wird in der<br />
tonpsychologischen Literatur als Tondistanz bezeichnet (Abraham / Hornbostel 1926).<br />
Erklingen zwei Töne dagegen gleichzeitig, so tritt die Empfindung der Distanz – die in<br />
diesem Falle auch <strong>Intervall</strong>breite genannt wird – zurück gegenüber der qualitativen Eigenart<br />
des Zusammenklanges, die man Sonanz nennt (Wellek 1963). Der Begriff Sonanz bezieht<br />
sich auf die Tatsache, dass gleichzeitig erklingende Töne unter bestimmten Bedingungen als<br />
klare, gegliederte harmonische Einheiten wahrgenommen werden, während andere<br />
Zusammenklänge trüb, unruhig, rauh oder instabil wirken. Zwischen den Extremen sind<br />
beliebige graduelle Abstufungen möglich. Die Sonanz kann in einem zweidimensionalen<br />
Sonanzfeld näher spezifiziert werden. Die beiden Dimensionen des Feldes sind die Rauigkeit,<br />
d.h. die "Störungen des Zusammenklanges" im Sinne Helmholtz', und die Geschlossenheit,<br />
die Stumpf als Verschmelzung bezeichnet hatte (<strong>Hesse</strong> 1989). Wir verwenden anstelle der<br />
Stumpfschen Bezeichnung "Verschmelzung" den Begriff "Geschlossenheit", da nicht ein<br />
Ineinanderfließen der Töne gemeint ist sondern eine gefestigte Einheitlichkeit der Tongestalt<br />
bei klaren und durchhörbaren Konturen.<br />
Zur Kennzeichnung der auf zwei Komponenten beruhenden sensorischen Qualität eines<br />
Zusammenklanges werden gewöhnlich die Adjektive konsonant und dissonant benutzt. Sie<br />
bilden quasi die Endpunkte einer Diagonale des Sonanzfeldes. – In der Musiktheorie<br />
bezeichnet man mit Konsonanz und dem Gegenbegriff Dissonanz traditionsgemäß Klassen<br />
von Klängen, die bedeutungsmäßig Alternativen bilden. Diese sind zwar von der<br />
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unmittelbaren sensorischen Erfahrung abgeleitet, darüber hinaus aber Sache der Auffassung<br />
und des beziehenden Denkens. Dissonanz heißt hier ein als auflösungsbedürftig angesehener<br />
Übergangsklang. Dissonanz bedeutet Anspannung, die stabile Konsonanz dagegen<br />
Entspannung. Das musikalische Denken hat sich im Verlaufe der Geschichte gewandelt und<br />
die musikalische Funktion und mit ihr die Zugehörigkeit bestimmter Zusammenklänge zu<br />
einer der beiden Klassen verändert. Die Wirkung dieser zeitgebundenen Normen muss<br />
unterschieden werden von einem unveränderlichen Naturgesetz: Das Gehör hat die Fähigkeit,<br />
bestimmte <strong>Intervall</strong>e – vor allem Oktaven, Quinten und Quarten – aufgrund ihrer Sonanz mit<br />
großer Präzision einzuschätzen; sie heben sich als spezifische Qualitäten aus den unzähligen<br />
möglichen <strong>Intervall</strong>en heraus. In der altgriechischen Musiktheorie wurden daher die<br />
dissonanten <strong>Intervall</strong>e von den viel genauer intonierbaren konsonanten Quinten und Quarten<br />
abgeleitet (Handschin 1948). Distanz und Sonanz legen in komplementärem<br />
Zusammenwirken den <strong>Intervall</strong>charakter und die Verwandtschaft der in einem Tonsystem<br />
enthaltenen Töne fest. Manche Forscher halten beide für unabhängige, alternative Prinzipien<br />
und nehmen an, dass es Tonsysteme gäbe, bei denen die einzelnen Töne ausschließlich durch<br />
die Distanz, nicht aber durch die Sonanz aufeinander bezogen sind (als Beispiele werden die<br />
indonesischen Tonsysteme Sléndro und Pélog herangezogen). Neuere Forschungen sprechen<br />
jedoch dafür, dass die Sonanz auch in diesen Fällen als Maß beteiligt ist (Barbour 1963,<br />
<strong>Hesse</strong> 1993).<br />
Wenn man Mehrklänge nur vom Zahlenverhältnis her abstrakt betrachtet, so können ihre<br />
Merkmale nur partiell erfasst werden. Alle Tongestalten sind – sobald sie erklingen – an<br />
einen konkreten Klangkörper gebunden, dessen qualitative Eigenschaften nicht ignoriert<br />
werden dürfen. So sind in einer Hinsicht alle Durdreiklänge gleich, in anderer Hinsicht sind<br />
sie jedoch je nach Tonart und Oktavlage qualitativ verschieden. Dieser Tatsache wurde<br />
Albert Wellek (1935) gerecht, indem er Gestaltqualitäten im Sinne von Ehrenfels unter dem<br />
Begriff Gefügequalität von Niveauqualität unterschied. Gefügequalitäten sind durch die<br />
Relationen zwischen den beteiligten Einzeltönen bestimmt, sie bilden die transponierbaren<br />
Eigenschaften. Eine Quinte bleibt zwar eine Quinte in allen Tonhöhenlagen, gleichwohl aber<br />
klingt sie je nach dem absoluten Niveau der Töne verschieden. Die von alters her benutzten<br />
Proportionen bezeichnen also bestimmte Gefügequalitäten mit den Aspekten Sonanz und<br />
Distanz. Die <strong>Intervall</strong>rangordnungen von Euler bis Hindemith beziehen sich auf die Sonanz,<br />
die vom zugeordneten Frequenzverhältnis abhängt und sowohl in Beziehung zur absoluten<br />
Größe der Verhältniszahlen als auch zu deren Primfaktoren steht. Letztere bestimmen auch<br />
die Tonverwandtschaften, die den Tonvorstellungen im Sinne Riemanns bzw. den<br />
Beziehungsqualitäten im Sinne Handschins zugrundeliegen.<br />
Der quantitative Aspekt eines <strong>Intervall</strong>es, den wir als Tondistanz bezeichnen, ist in den<br />
Frequenzverhältnissen nur unanschaulich abgebildet. Pietro Mengoli (1670) und später<br />
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Leonhard Euler (1739) führten daher das Prinzip ein, anstelle von Frequenzverhältnissen mit<br />
deren Logarithmen zu rechnen. Die <strong>Intervall</strong>breite von Zweiklängen und die Distanz von<br />
Tonschritten sind (im mittleren Hörbereich) dem Logarithmus des zugehörigen<br />
Frequenzverhältnisses proportional. Ein logarithmischer Maßstab entspricht also unserem<br />
Distanzempfinden. Die Logarithmen kann man wie die Tonabstände einfach addieren anstatt<br />
die Frequenzverhältnisse zu multiplizieren. Nach Eulers Idee wurden im vergangenen<br />
Jahrhundert drei logarithmische Maßsysteme entwickelt (Reinecke 1970). Heute wird<br />
allgemein der Cent-Maßstab von Alexander John Ellis benutzt (→ Cent). In diesem System<br />
wird der gleichstufig temperierte Halbton in 100 C unterteilt, die Oktave umfasst demnach<br />
1200 C. Den Cent-Betrag, der einem Frequenzverhältnis entspricht, kann man einer Tabelle<br />
entnehmen oder mit dem Taschenrechner errechnen (→ Gehör).<br />
In dem abgebildeten Tonnetz sind die Töne nach dem Eulerschen Prinzip gemäß ihrer<br />
Quint-Terz-Verwandtschaft angeordnet, hier aber – anstatt durch Primzahlpotenzen – mit den<br />
anschaulichen Cent-Werten versehen. Von jedem Feld des Tonetzes aus findet man rechts<br />
und links die quintverwandten, darüber und darunter die terzverwandten Tonstufen. In den<br />
Diagonalen liegen die durch Quint- und Terzverwandtschaft bestimmten Töne. Alle durch<br />
Quintverwandtschaft miteinander verbundenen Töne – also die Töne des pythagoreischen<br />
Systems – sind in der Horizontalen angeordnet. Geht man nach rechts, so erreicht man nach<br />
zwei Schritten den Tonus, nach vier den Ditonus und nach sechs den Tritonus. Spiegelbildlich<br />
– sechs Schritte nach links – liegt der enharmonisch umgedeutete Ton. Zwischen beiden<br />
Tonhöhen besteht als Differenz das pythagoreische Komma (24 C). Zwischen der 5. Quinte<br />
und dem Ausgangston liegt der diatonische Halbton (Limma = 90 C), zwischen 7. Quinte und<br />
Ausgangston der chromatische Halbton (Apotome = 114 C).<br />
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Über jedem Feld ist die zugehörige Naturterz angeordnet; die Differenz zur Tonhöhe des<br />
gleichnamigen, durch Quintstimmung gewonnenen Tones ist das syntonische oder didymische<br />
Komma, das heute auch als Terzkomma bezeichnet wird (22 C). Nach drei übereinander<br />
geschichteten reinen Großterzen kommt man auf einen Ton, der um die kleine Diesis (42 C)<br />
unter der Oktave liegt; nach acht Quinten plus Terz erreicht man einen Ton, der (abzüglich<br />
der Oktaven) nur um das Schisma (2 C) über dem Ausgangston liegt, wodurch ein quasi<br />
geschlossener Quintenzirkel hergestellt werden kann. In entsprechender Weise können die<br />
Cent-Werte aller übrigen, durch Quint- und Terzverwandtschaft bestimmten Tonstufen<br />
abgelesen werden. Jede Tonleiter in einer gewählten Quint- oder Quint-Terz-Stimmung bildet<br />
einen entsprechenden Ausschnitt aus dem Tonnetz. In der Tabelle sind alle Cent-Werte aus<br />
Gründen der Übersichtlichkeit auf ganze Zahlen gerundet. Die Rundungsfehler liegen<br />
unterhalb der Hörgrenze.<br />
Die Möglichkeit, sich <strong>Intervall</strong>e vorzustellen, hängt ab vom Grad der harmonischen<br />
Verwandtschaft� der Töne. Diese spiegelt sich in der Anzahl der Schritte im Tonnetz, die<br />
notwendig sind, um vom einen zum anderen Ton des <strong>Intervall</strong>s zu gelangen. Dabei wiegen<br />
Terzschritte schwerer als Quintschritte. Die Fähigkeit der <strong>Intervall</strong>vorstellung ist von Übung<br />
abhängig, aber im allgemeinen erreicht die Vorstellungskraft bei tritonischen – nach drei<br />
Schritten, also über zwei Vermittlertöne zu erreichenden – <strong>Intervall</strong>en ihren Grenzwert.<br />
Ähnliches gilt für die hörende Auffassung von <strong>Intervall</strong>en. Bei nacheinander erklingenden<br />
Tönen bleibt der erste Ton – nachdem er real bereits beendet ist – noch eine Zeitlang als<br />
akustisches Nachbild im Bewusstsein lebendig und erlaubt die Beziehung des folgenden<br />
Tones. Nach wenigen Tönen wird im Bewusstsein ein harmonikales Feld – ein durch<br />
Hörerfahrung vertrauter Ausschnitt aus dem Tonnetz – aktiviert, auf das nun alle folgenden<br />
Töne bezogen und dementsprechend verstanden werden. Zur Bezeichnung der Töne des<br />
Tonnetzes hat Arthur von Oettingen (1866) eine Buchstabentonschrift eingeführt. Er<br />
bezeichnete die (gegenüber den in der Grundreihe stehenden) um ein Terzkomma vertieften<br />
Töne durch einen waagrechten Strich über dem Tonbuchstaben, die um ein Terzkomma<br />
erhöhten durch Unterstreichung.<br />
_ _ _ _ ___<br />
d a e h fis<br />
b f c g d<br />
ges des as es b<br />
Die weiteren, darüber bzw. darunter liegenden Tonreihen erhalten dementsprechend<br />
doppelte Über- bzw. Unterstreichungen. Diese Bezeichnungsweise übernahm Helmholtz<br />
(1863) in der 4. Auflage seines Werkes (1870); er vertauschte jedoch die Anordnung der<br />
Striche, so dass bei ihm die vertieften Töne unterstrichen und die erhöhten überstrichen sind.<br />
Andere Autoren übernahmen dann die Bezeichnungen entweder von Oettingen oder von<br />
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Helmholtz, wodurch es leider zu Verwechslungen kommen kann. Wir schlagen daher vor, für<br />
das um ein Terzkomma vertiefte c die Bezeichnung c -1 und für das entsprechend erhöhte die<br />
Bezeichnung c +1 zu verwenden.<br />
In Widerspruch zu der von der Musiktheorie angestrebten Genauigkeit steht die<br />
Tatsache, dass in der musikalischen Praxis erhebliche Abweichungen von den theoretischen<br />
Werten gemessen wurden (Fricke 1968). Insbesondere bei Tonschritten ist die Tendenz<br />
erkennbar, Leittonintervalle in Richtung des Zieltones zu verengen, Ganztonschritte dagegen<br />
zu vergrößern und außerdem kleine und große Terzen und Sexten durch Überhöhung ihres<br />
theoretischen Intonationsunterschiedes schärfer gegeneinander abzusetzen. Entscheidend ist<br />
dabei, dass diese Abweichungen von den theoretischen Werten nicht nur toleriert sondern<br />
vom Ohr sogar gefordert werden, um die ausdrucksbedingten Spannungsabläufe optimal<br />
darzustellen. <strong>Intervall</strong>e werden in melodischem Zusammenhang überwiegend pythagorisch<br />
intoniert, in harmonischer Einbettung sind sie dagegen an der Reinstimmung orientiert. Je<br />
nach dem musikalischen Kontext dominiert eine der beiden Tendenzen. Offenbar hängt die<br />
gewählte Intonation aber auch von der Klangfarbe der verwendeten Intrumente ab (Biock<br />
1975). Hans-Heinz <strong>Dr</strong>aeger (1962) gab den Hinweis, dass die vom Ohr geforderten<br />
Frequenzabweichungen durch die Natur von Prozessen zu erklären seien, die Wolfgang<br />
Köhler in seinem Buch Gestalt Psychology eingehend behandelt hat. Ernst Terhardt (1974,<br />
1976/77) führte die genannten Phänomene dagegen auf Verschiebungen der<br />
Erregungsmaxima im Innenohr zurück, die bei simultaner gegenüber sukzessiver Darbietung<br />
eines <strong>Intervall</strong>es auftreten.<br />
Sicher ist, dass die Intonationstoleranz bei Tonschritten relativ groß ist. Das gilt dagegen<br />
nicht für simultan erklingende <strong>Intervall</strong>e und Akkorde. Im Richter Herf – Institut für<br />
musikalische Grundlagenforschung am "Mozarteum" in Salzburg bestätigten zahlreiche<br />
Versuche, dass nicht nur stationäre <strong>Intervall</strong>e sondern selbst sechs- bis achtstimmige Akkorde<br />
von geübten Beobachtern centgenau eingestimmt werden. In bewegter Musik wird die<br />
zwölfstufig temperierte Stimmung fast immer als ausreichend genau empfunden, da in diesem<br />
Falle im Bewusstsein die durch die Klänge ausgelösten Tonvorstellungen dominieren; bei<br />
ruhenden Klängen kann die Aufmerksamkeit dagegen auf die Sonanz gelenkt werden und<br />
eine präzisere Intonation fordern.<br />
Im gleichstufig temperierten Tonsystem können anstelle der traditionellen, an der<br />
Diatonik ausgerichteten Bezeichnung der <strong>Intervall</strong>e als Prime, Sekunde Terz usw. folgende<br />
Kurzbezeichnungen verwendet werden: Die <strong>Intervall</strong>e werden benannt nach der Distanz ihrer<br />
Töne, gemessen als Anzahl der temperierten Halbtonschritte (100 C), die sie umfassen. (Kl.<br />
Sekunde: �1, gr. Sek.: 2, kl. Terz: �3, gr. Terz: �4, Quarte: �5, Tritonus (überm. Quarte, verm.<br />
Quinte): �6, Quinte: �7, kl. Sexte: �8, gr. Sexte: �9, kl. Septime: 10, gr. Septime: �11, Oktave: �12).<br />
Diese <strong>Intervall</strong>zahlen lassen sich addieren. Die Struktur von Mehrklängen (Akkorden) kann<br />
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ebenfalls durch <strong>Intervall</strong>zahlen bezeichnet werden. Auf Akkorde angewandt bezeichnen sie<br />
die Abstände der Akkordtöne, ohne die Entstehung des Akkords durch Beziehung seiner<br />
Töne auf einen Bezugspunkt zu deuten. (Durdreiklang: �4.3, Molldreiklang: 3.4,<br />
Dominantseptakkord: �4.3.3, Tristanakkord: �6.4.5). In dieser Schreibweise wird die Struktur<br />
des Akkordes in Form der Binnendistanzen deutlich sichtbar.<br />
Im Akkord unterscheiden wir drei Arten von <strong>Intervall</strong>en (Frisius1970): Die von<br />
unmittelbar benachbarten Tönen gebildeten <strong>Intervall</strong>e werden Nachbarintervalle genannt. Die<br />
von nicht unmittelbar benachbarten Tönen gebildeten <strong>Intervall</strong>e nennen wir<br />
Kreuzungsintervalle 1.Ordnung (ein Zwischenton), 2. Ordnung (zwei Zwischentöne) usw.<br />
c-e-g-h-d c-e-g-h-d c-e-g-h-d c-e-g-h-d c-e-g-h-d<br />
| | | | | | | | | |<br />
Das zwischen dem tiefsten Ton (Basiston) und dem höchsten Ton (Spitzenton)<br />
bestehende <strong>Intervall</strong> nennen wir Ambitusintervall. Die <strong>Intervall</strong>zahlen der<br />
Kreuzungsintervalle und des Ambitusintervalls erhält man durch Addition der<br />
Nachbarintervallzahlen. Überschreitet ein <strong>Intervall</strong> eine oder mehrere Oktaven, so dass seine<br />
<strong>Intervall</strong>zahl (I) einen Wert über 12 erhält, so kann man sie in der Form (In) schreiben, das<br />
heißt: Das <strong>Intervall</strong> überschreitet n Oktaven um das <strong>Intervall</strong> I. Eine geeignete Anordnung der<br />
<strong>Intervall</strong>zahlen (<strong>Intervall</strong>schlüssel) ergibt eine Übersicht über die Binnenstruktur des<br />
Akkordes.<br />
Beispiel: g-h-d-f-a → 4.3.3.4<br />
21 Ambitusintervall (A)<br />
10 10 Kreuzungsintervalle 2. Ordnung (K2)<br />
7 6 7 Kreuzungsintervalle 1. Ordnung (K1)<br />
4 . 3 . 3 . 4 Nachbarintervalle (Ni)<br />
Die von links unten nach oben verlaufende Reihe gibt die Relation der Töne zum Basiston an.<br />
Die im <strong>Intervall</strong>schlüssel abgebildeten Relationen bilden die strukturelle Grundlage für den<br />
Klangcharakter des Akkordes.<br />
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3. Ekmelische und Kleinstintervalle (Mikrotöne)<br />
Im 20. Jh. Hat sich eine Reihe von Komponisten nicht mehr damit abfinden wollen, dass<br />
nur die ersten sechs Töne der Naturtonreihe als Modell für die Musiktheorie herangezogen<br />
werden (Busoni 1916, Hába 1927, Carrillo 1940, Partch 1949).<br />
Das Notenbeispiel zeigt die Töne 1-16 der Naturtonreihe, die eine regelmäßige Folge<br />
immer kleiner werdender <strong>Intervall</strong>e bildet. Einige Töne der Reihe weichen deutlich von den<br />
Tonhöhen ab, die in unserer modernen, gleichstufig temperierten Instrumentenstimmung<br />
darstellbar sind. Die im Beispiel eingezeichneten Intonationszeichen bezeichnen die Größe<br />
der Abweichung von der gleichstufig temperierten Stimmung. Sie haben folgende Bedeutung<br />
(<strong>Hesse</strong> 1993):<br />
bedeutet 1/12-Ton höher<br />
bedeutet 2/12-Ton höher<br />
bedeutet 3/12-Ton höher<br />
bedeutet 1/12-Ton tiefer<br />
bedeutet 2/12-Ton tiefer<br />
bedeutet 3/12-Ton tiefer<br />
Die Wahl des Zwölfteltons als Einheit ist an <strong>Intervall</strong>en der Naturtonreihe ausgerichtet,<br />
da man diese nach Gehör sehr genau intonieren kann. Die einzelnen Zeichen sind seit langem<br />
in der Praxis in Gebrauch. Die Schrägstriche wurden von Robert Holford Macdowall<br />
Bosanquet (1876) eingeführt, der halbe Pfeil (Haken) ist abgeleitet von dem Tartinischen<br />
Zeichen für das Septkomma (die Differenz zwischen den beiden kleinen Septimen 16:9 und<br />
7:4), der Pfeil wurde von vielen Komponisten (von Béla Bartók bis Ben Johnston) als<br />
Vierteltonzeichen verwendet. Für alle <strong>Intervall</strong>e, die kleiner als ein Halbtonschritt sind –<br />
ferner auch für solche, die sich aus der Addition eines Halbtons und eines kleineren <strong>Intervall</strong>s<br />
ergeben, wie z.B. der <strong>Dr</strong>eiviertelton – hat sich der aus dem angelsächsischen Sprachgebrauch<br />
kommende Begriff Mikroton eingebürgert. Manche nennen sie lieber Kleinstintervalle oder<br />
ekmelische <strong>Intervall</strong>e, die "außerhalb des Melos" liegen, das mit den üblichen zwölf<br />
Halbtonstufen zu realisieren ist (Maedel / Richter Herf 1977). Eine große Reihe von<br />
Komponisten schrieb seit Ende des 19. Jhs. Werke mit Mikrotönen, die sowohl die Melodik<br />
als auch die Harmonik bereichern können (Schneider 1975). – Die folgende Tabelle zeigt die<br />
Distanzen vom 1. bis zum 128. Naturton.<br />
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<strong>Horst</strong>-<strong>Peter</strong> <strong>Hesse</strong>: „<strong>Intervall</strong>“ | Erschienen in: „Musik in Geschichte und Gegenwart“, 2. Ausgabe | Verlag: Bärenreiter.<br />
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.<br />
cent Proportionszahlen cent<br />
1200 2 4 8 16 32 64 128 1200,00<br />
1186 127 1186,42<br />
1173 63 126 1172,74<br />
1159 125 1158,94<br />
1145 31 62 124 1145,04<br />
1131 123 1131,02<br />
1117 61 122 1116,88<br />
1103 121 1102,64<br />
1088 15 30 60 120 1088,27<br />
1074 119 1073,78<br />
1059 59 118 1059,17<br />
1044 117 1044,44<br />
1030 29 58 116 1029,58<br />
1015 115 1014,59<br />
999 57 114 999,47<br />
984 113 984,21<br />
969 7 14 28 56 112 968,83<br />
953 111 953,30<br />
938 55 110 937,63<br />
922 109 921,82<br />
906 27 54 108 905,87<br />
890 107 889,76<br />
874 53 106 873,50<br />
857 105 857,09<br />
841 13 26 52 104 840,53<br />
824 103 823,80<br />
807 51 102 806,91<br />
790 101 789,85<br />
773 25 50 100 772,63<br />
755 99 755,23<br />
738 49 98 737,65<br />
720 97 719,90<br />
702 3 6 12 24 48 96 701,96<br />
684 95 683,83<br />
666 47 94 665,51<br />
647 93 646,99<br />
628 23 46 92 628,27<br />
609 91 609,35<br />
590 45 90 590,22<br />
571 89 570,88<br />
551 11 22 44 88 551,32<br />
532 87 531,53<br />
512 43 86 511,52<br />
491 85 491,27<br />
471 21 42 84 470,78<br />
450 83 450,05<br />
429 41 82 429,06<br />
408 81 407,82<br />
386 5 10 20 40 80 386,31<br />
365 79 364,54<br />
342 39 78 342,48<br />
320 77 320,14<br />
298 19 38 76 297,51<br />
275 75 274,58<br />
251 37 74 251,34<br />
228 73 227,79<br />
204 9 18 36 72 203,91<br />
180 71 179,70<br />
155 35 70 155,14<br />
130 69 130,23<br />
105 17 34 68 104,96<br />
79 67 79,31<br />
53 33 66 53,27<br />
27 65 26,84<br />
0 1 2 4 8 16 32 64 0,00<br />
Proportionen und Distanzen<br />
über dem Grundton und seinen Oktaven<br />
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<strong>Horst</strong>-<strong>Peter</strong> <strong>Hesse</strong>: „<strong>Intervall</strong>“ | Erschienen in: „Musik in Geschichte und Gegenwart“, 2. Ausgabe | Verlag: Bärenreiter.<br />
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.<br />
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