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Zur Innenpolitik Polens S. 3-8 - Deutsch-Polnische Gesellschaft der ...

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<strong>Zur</strong> <strong>Innenpolitik</strong> <strong>Polens</strong><br />

S. 3-8<br />

„<strong>Polnische</strong>“ statt „<strong>Deutsch</strong>e“ KZs - Ein Briefwechsel<br />

S. 17-19<br />

Ein deutsch-polnisches Fotografieprojekt<br />

S. 25


EDITORIAL/IMPRESSUM<br />

Liebe Leserin, lieber Leser!<br />

Polen ist im Umbruch, die neue nationalkonservative Min<strong>der</strong>heitsregierung möchte<br />

ein an<strong>der</strong>es Polen schaffen. Dazu will sie die bestehende III. Republik in eine neue,<br />

von allem Übergangs-Übel <strong>der</strong> Zeit von 1989-2005, „<strong>der</strong> Zeit des Paktierens von<br />

Solidarnoœæ-Aktivisten mit den Postkommunisten“, befreite patriotische und christlich-katholische<br />

IV. Republik überführen. Welche Gedanken damit verbunden sind,<br />

kann man in den Interviewauszügen mit dem Vorsitzenden des polnischen Epsikopats,<br />

Erzbischof Józef Michalik lesen, <strong>der</strong> die letzten Wahlen ausdrücklich als reinigend<br />

charakterisierte. Vorher wird in einem allgemeinen Beitrag die Regierungsarbeit<br />

skizziert und in einem zweiten Beitrag beispielhaft aufgezeigt, wie man von Seiten<br />

<strong>der</strong> neuen patriotischen Kräfte die gereinigte patriotische Demokratie versteht. Deutlich<br />

wird aber auch, dass diese angestrebten Än<strong>der</strong>ungen in Polen nicht wi<strong>der</strong>spruchslos<br />

hingenommen werden, son<strong>der</strong>n aktiv versucht wird, sie zu verhin<strong>der</strong>n. Die<br />

Zivilgesellschaft wi<strong>der</strong>spricht.<br />

Die Transformierung <strong>der</strong> Republik bringt bedenkliche, grundsätzliche Verän<strong>der</strong>ungen<br />

mit sich, die zumindestens teilweise zu Stellungnahmen zwingen. Parteilichkeit ist<br />

dann gefragt, wenn Min<strong>der</strong>heitenrechte sowie grundlegende demokratische Rechte<br />

für aus Regierungssicht an<strong>der</strong>slautende und kritische Stimmen eingeschränkt o<strong>der</strong><br />

sogar unterbunden werden sollen. Weil das auch für die deutsch-polnischen Beziehungen<br />

eine große Bedeutung hat, wird POLEN und wir diese Entwicklung aufmerksam<br />

verfolgen und gegebenenfalls kritisch kommentieren.<br />

Zu kritisieren ist weiterhin das Festhalten von deutscher Seite am Zentrum gegen Vertreibungen.<br />

Wie dieses Zentrum inhaltlich gestaltet sein soll, damit setzt sich ein ausführlicher<br />

Beitrag auseinan<strong>der</strong>. Soll die deutsche Geschichte relativiert o<strong>der</strong> sogar<br />

neu gewertet werden, ist auch in <strong>der</strong> Dokumentierung und Kommentierung eines<br />

Briefwechsels zwischen dem stellvertretenden Vorsitzenden <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n<br />

<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> BRD und <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung über die Frage: Heißt es „polnische"<br />

o<strong>der</strong> "deutsche" KZs? die Frage.<br />

Wenn auch das politische Moment in dieser Ausgabe deutlich überwiegt, lassen Sie<br />

sich nicht davon abhalten, die an<strong>der</strong>en sehr interessanten Beiträge zu lesen.<br />

Mit vielen Grüßen aus Bochum<br />

Ihr Wulf Schade<br />

Aus dem Inhalt Seite<br />

Alles auf eine Karte 3<br />

Niech nas zobacz¹ - Schaut uns an! 5-6<br />

Bewahrung <strong>der</strong> katholischen und nationalen Identität 7- 8<br />

Streit um Vertreibungszentrum geht weiter 9-11<br />

Preußische Treuhand floppt 12<br />

Ich sah den Namen Bosch 13-14<br />

Treibgut in <strong>der</strong> Europäischen Union? 15-16<br />

Am Scheideweg-Stiftung „Polnisch-<strong>Deutsch</strong> Aussöhnung“ 16<br />

Nicht nur für Polen kämpfend - Claus Weyrosta 20<br />

„Ein Teil meines Herzens“ von Wanda Przybylska 21-22<br />

Kann ich Helfen? - Freiwilligenjahr in Polen 23-24<br />

Das Galizienmuseum in Kazimierz 27<br />

Wichtige Adressen:<br />

Geschäftsführung <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> BRD: Manfred Feustel,<br />

Im Freihof 3, 46569 Hünxe, T: 02858/ 7137, Fax: 02858/ 7945<br />

Unsere <strong>Gesellschaft</strong> im Internet: http://www.polen-news.de, e-Mail: dpgbrd@polen-news.de<br />

Redaktion POLEN und wir: Wulf Schade, Wielandstraße 111, 44791 Bochum, T:<br />

0234/ 51 23 84, e-Mail: w.schade@cityweb.de<br />

<strong>Gesellschaft</strong> für gute Nachbarschaft zu Polen: c/o Klaus-Ulrich Göttner, Moldaustr.<br />

21, 10319 Berlin, Fax: 01212-5-305-70-560, e-mail: vorstand@guteNachbarn.de<br />

<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong> Bielefeld e.V./Jugendforum: Postfach 101 590, 33515<br />

Bielefeld, Tel: 0179-36 11 968; Vorsitzen<strong>der</strong>: Christian Hörnlein, Tel.: 0521/ 87 32 11;<br />

e-mail: info@dpg-bielefeld.de; im Internet: www.dpg-bielefeld.de<br />

2 POLEN und wir 2/2006<br />

DEUTSCH-POLNISCHE GESELLSCHAFT<br />

DER<br />

BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND E.V.<br />

1. Vorsitzen<strong>der</strong>: Prof. Dr. Christoph Koch,<br />

Sprachwissenschaftler, Berlin - Stellv. Vorsitzen<strong>der</strong>:<br />

Dr. Friedrich Leidinger, Psychiater,<br />

Hürth - Vorstand: Henryk Dechnik, Lehrer,<br />

Düsseldorf - Manfred Feustel, Steuerberater,<br />

Hünxe - Karl Forster, Journalist, Berlin - Dr.<br />

Egon Knapp, Arzt, Schwetzingen - Susanne<br />

Kramer-Dru¿ycka, Germanistin, Bad<br />

Marienberg - Dr. Holger Politt, <strong>Gesellschaft</strong>swissenschaftler,<br />

Warschau - Wulf Schade,<br />

Slawist, Bochum<br />

Beirat: Dr. Günther Berndt - Armin Clauss -<br />

Horst Eisel - Prof. Dr. sc. Heinrich Fink -<br />

Prof. Dr. Gerhard Fischer - Dr. Franz von<br />

Hammerstein - Christoph Heubner - Witold<br />

Kaminski - Dr. Piotr £ysakowski - Hans-<br />

Richard Nevermann - Eckart Spoo<br />

Anschrift: <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land e.V., c/o<br />

Manfred Feustel, Im Freihof 3, 46569 Hünxe,<br />

Tel.: 02858/7137, Fax: 02858/7945<br />

IMPRESSUM<br />

POLEN und wir, Zeitschrift für deutsch-polnische<br />

Verständigung<br />

ISSN 0930-4584 - K 6045<br />

Heft 2/2006, 23. Jahrgang (Nr. 77)<br />

Verlag und Herausgeber: <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land<br />

e.V.<br />

Redaktion: Karl Forster, Dr. Friedrich Leidinger,<br />

Wulf Schade (V.i.S.d.P.), Prof. Dr. Eva<br />

Seeber, Werner Stenzel<br />

Redaktionsbüro: POLEN und wir, Wulf<br />

Schade, Wielandstraße 111, 44791 Bochum,<br />

Tel.: 0234/ 512384, e-mail: w.schade@<br />

online.de<br />

Lay-out: Wulf Schade, Bochum<br />

Druck und Vertrieb: Stattwerk, Essen<br />

Abonenntenverwaltung: Manfred Feustel, Im<br />

Freihof 3, 46569 Hünxe, Fax: 02858/7945<br />

Bezugspreis: Einzelheft 3,00 €, Jahres-Abonnement<br />

12 €. Inkl. Versand, Auslands-Abos<br />

10,00 € zzgl. Versandkosten, Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

<strong>Deutsch</strong>land e.V. und <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<br />

<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> Bielefeld e.V. erhalten<br />

"Polen und wir" im Rahmen ihrer Mitgliedschaft<br />

Postbank Essen, Konto 342 56-430, BLZ 360<br />

100 43<br />

Namentlich gekennzeichnete Beiträge stimmen<br />

nicht immer mit <strong>der</strong> Meinung <strong>der</strong><br />

Redaktion o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Herausgeberin überein.<br />

Für unverlangt eingesandte Manusskripte<br />

o<strong>der</strong> Fotos wird keine Haftung übernommen.<br />

Redaktionsschluss <strong>der</strong> nächsten Ausgabe:<br />

15. Mai 2006<br />

Titelfoto: Aus <strong>der</strong> Serie "tropical islands"<br />

über ein deutsches Vergnügungszentrum zwischen<br />

Berlin und <strong>der</strong> Grenze zu Polen. Foto:<br />

Kai Ziegner, OSTKREUZ Schule für Fotografie<br />

(s.a. S. 23)


Alles auf eine Karte!<br />

Für die Sicherung einer parlamentarischen<br />

Mehrheit zahlte <strong>der</strong> PiS-Vorsitzende einen<br />

kleinen Preis - die Aussicht, keine Neuwahlen<br />

auszuschreiben. Im Bunde mit seinem<br />

Präsidentenbru<strong>der</strong> gelang es ihm am<br />

letzten Tag <strong>der</strong> verfassungsmäßigen Frist<br />

noch einmal, den Preis zu drücken. Die<br />

Drohung, <strong>der</strong> Präsident könnte das Parlament<br />

auflösen, zwang die kleinen Stabilitätspartner<br />

auf die Knie. Sie unterschrieben<br />

einen Blankoscheck, worauf sie im Prinzip<br />

erklärten, im Rahmen des Paktes keine Gesetzesän<strong>der</strong>ungsvorschläge<br />

gegen den PiS-<br />

Willen vorzunehmen. Das reicht einstweilen<br />

den Kaczyñski-Brü<strong>der</strong>n Jaros³aw (Vorsitzen<strong>der</strong>)<br />

und Lech (Präsident). Ob sie die<br />

Rechnung ohne Wirt gemacht haben, wird<br />

sich zeigen. Wollen sie tatsächlich ihre<br />

vierte Republik erreichen, müssten sie von<br />

jetzt an alles auf eine Karte setzen.<br />

Der Stabilitätspakt nämlich, so meinen die<br />

meisten Beobachter an <strong>der</strong> Weichsel einhellig,<br />

werde das Jahr nicht überleben.<br />

LPR und Samoobrona haben das, was sie<br />

zu bieten hatten, veräußert. Ab jetzt werden<br />

sie nur noch Klotz am Bein sein. Da das<br />

Parlament sich von nun an für geraume<br />

Zeit (bis zur Haushaltsrunde in einem Jahr)<br />

nur noch selber auflösen kann (mit einfacher<br />

Mehrheit), sind sie im strategischen<br />

Spiel <strong>der</strong> PiS-Oberen ab sofort unbrauchbar<br />

geworden, da sie einer Selbstauflösung<br />

des Parlaments bei Gefahr des eigenen<br />

Untergangs nicht zustimmen können. Eine<br />

Selbstauflösung des Parlaments - genau<br />

das wäre die gewünschte Initialzündung<br />

für die vierte Republik - ist ab sofort nur<br />

noch mit Einwilligung <strong>der</strong> PO (Bürgerplattform)<br />

möglich. Bevor es dazu kommen<br />

könnte, müsste PiS seine Hausaufgaben<br />

machen - einen national-katholischen<br />

Block schaffen. Erstes Opfer wäre die<br />

LPR, die beinahe organisch in <strong>der</strong> übermächtig<br />

gewordenen Konkurrentin aufgehen<br />

könnte. Der Samoobrona müsste <strong>der</strong><br />

Von Holger Politt<br />

Die ersten drei Monate unter neuer Regierung und die ersten Wochen unter dem<br />

neuen Präsidenten haben an und für sich wenig Überraschendes gebracht und doch<br />

ist die Verwirrung selten so groß gewesen. Das Regieren aus <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heitsposition<br />

fällt <strong>der</strong> PiS-Regierung unter Kazimierz Marcinkiewicz schwerer als vielleicht<br />

erwartet, weshalb <strong>Polens</strong> neuer Präsident frühzeitig zu erkennen gab, dass er die<br />

Option einer vorzeitigen Parlamentsauflösung, die ihm im Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />

Haushaltsverabschiedung verfassungsrechtlich ohne vorherigen Mehrheitsbeschluss<br />

des Parlaments zusteht, ernsthaft in Erwägung zog. Bis zum späten Nachmittag<br />

des 13. Februar - dann obsiegte die Option seines Zwillingsbru<strong>der</strong>s, <strong>der</strong> als<br />

PiS-Vorsitzen<strong>der</strong> mittlerweile zum starken Mann in <strong>der</strong> Politik <strong>Polens</strong> aufgestiegen<br />

ist. Ihm gelang mittels eines Stabilitätspakts, die kleineren Parteien LPR (Liga <strong>der</strong><br />

polnischen Familien) und Samoobrona ins Boot <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heitsregierung zu holen.<br />

soziale Schneid abgekauft werden, denn<br />

alleine aus dieser Positionierung heraus<br />

zieht sie noch ihre Stärke, die ihr aktuell<br />

laut Umfragen sogar ein parlamentarisches<br />

Überleben verheißen könnte. Aber die prononcierte<br />

soziale Rhetorik <strong>der</strong> Marcinkiewicz-Regierung<br />

könnte sich als stark<br />

genug erweisen, auch wenn mit Ablauf <strong>der</strong><br />

Zeit bei nüchterner Betrachtung sich herumsprechen<br />

könnte, auf welch dünnen<br />

Sand das alles gebaut wurde.<br />

Der Ministerpräsident selbst kann ab sofort<br />

nicht mehr als ein bloßer Verlegenheitskandidat<br />

gelten, als <strong>der</strong> er bei Amtsantritt nicht<br />

nur in Oppositionskreisen angesehen<br />

wurde. Einerseits ist er laut Umfragen zum<br />

beliebtesten PiS-Politiker aufgestiegen,<br />

an<strong>der</strong>erseits kann eine Auflösung des Parlaments<br />

über seinen Kopf hinweg eben<br />

auch nur noch erfolgen, wenn PiS und PO<br />

zusammengehen sollten. Für die nächsten<br />

Monate allerdings ein nicht zu erwarten<strong>der</strong><br />

Fall. Gelänge es ihm im Kabinett, seine<br />

Popularität in gefällige Politik umzumünzen,<br />

wäre er aus Sicht des national-katholischen<br />

Lagers einer <strong>der</strong> wichtigsten Garanten<br />

für die Aufrechterhaltung und den<br />

erhofften Ausbau des aktuellen Wählerhochs.<br />

Erfor<strong>der</strong>lich wären bis zum Ende<br />

des Jahres 30% +x und möglichst ein kleiner<br />

Vorsprung vor <strong>der</strong> PO-Konkurrenz.<br />

Kleiner Vorsprung, weil die zusammengenommenen<br />

60% <strong>der</strong> Wählerstimmen ausreichen<br />

könnten, um im Parlament die für<br />

Verfassungsän<strong>der</strong>ungen erfor<strong>der</strong>liche<br />

Zweidrittelmehrheit zu bekommen. Erst in<br />

einem solchen Fall, das wissen alle Akteure<br />

auf <strong>der</strong> rechten Seite nur zu gut, wäre <strong>der</strong><br />

Weg zur vierten Republik im geltenden<br />

gesetzlichen Rahmen überhaupt möglich.<br />

Sogar mehr: er wäre dann möglich und das<br />

dürfte Verlockung genug sein - nicht nur in<br />

den Köpfen <strong>der</strong> PiS-Strategen.<br />

Vierte Republik hieße formal Aufbau einer<br />

Präsidialrepublik und Einführung des<br />

POLITIK<br />

Mehrheitswahlrechts. Anstelle <strong>der</strong> heute<br />

im Parlament („verwirrenden“) existierenden<br />

Parteienvielfalt hätte es <strong>der</strong> Wähler<br />

(„<strong>der</strong> Einfachheit halber“) nur noch mit<br />

zwei großen (einzig aussichtsreichen)<br />

Wahlblöcken zu tun - einem nationalkatholischen<br />

Block (um PiS herum) und<br />

einem liberal-konservativen Block (um die<br />

PO herum). Eine Aussicht, die beim<br />

Durchschnittswähler augenblicklich gar<br />

nicht einmal so unbeliebt ist!<br />

Noch vor Jahresfrist galten PiS und PO als<br />

unzertrennbare Partner im konservativen<br />

Lager. PiS gab sich national-katholischer<br />

und erhielt kräftigen Aufwind nach dem<br />

Papsttod, die PO positionierte sich als<br />

„mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftspartei“, die an liberalen<br />

Werten nicht gänzlich vorbeikommt.<br />

Gemeinsamer Hauptfeind <strong>der</strong> beiden Gruppierungen<br />

waren die „Postkommunisten“,<br />

die ein für alle Male von den Hebeln <strong>der</strong><br />

Macht entfernt werden sollten. Und genau<br />

hier tauchte die Idee einer an<strong>der</strong>en Republik<br />

mit an<strong>der</strong>en Spielregeln auf, sollte<br />

doch eine Wie<strong>der</strong>holung von 1993 und<br />

2001, als die Linke aus <strong>der</strong> Opposition heraus<br />

an die Regierungshebel gelangte, verhin<strong>der</strong>t<br />

werden.<br />

Die Parlamentswahlen 2005 brachten so<br />

gesehen eine Enttäuschung, wurde doch<br />

die beabsichtigte Zweidrittelmehrheit deutlich<br />

verfehlt. Seitdem beherrscht ein Spiel<br />

die politische Szene, wie es vor den Wahlen<br />

kaum jemand für möglich gehalten<br />

hätte. PiS und PO stilisieren sich seit<br />

Wochen und eindrucksvoll, weil in aller<br />

Öffentlichkeit, also ungeniert zu gegenseitigen<br />

Hauptfeinden hoch. Die Inszenierung<br />

einer unglaublichen Polarisierung beginnt<br />

zu wirken. Nutznießer sind - wen sollte es<br />

wun<strong>der</strong>n - beide Gruppierungen. Hinter<br />

dem Ganzen steht aber nichts weiter als <strong>der</strong><br />

erstrebte Weg zur vierten Republik, den nur<br />

beide gemeinsam gehen können.<br />

Wie beim Kartenspiel auch besteht freilich<br />

die Gefahr des Überreizens. Etwa wenn <strong>der</strong><br />

PiS-Vorsitzende und Präsidenten-Bru<strong>der</strong><br />

die PO-Führung über <strong>Polens</strong> meistgelesenes<br />

Blatt „Gazeta Wyborcza“ des „antistaatlichen<br />

(also staatsfeindlichen) Abenteurertums“<br />

bezichtigt. Viele Beobachter<br />

meinen mittlerweile, dass sich PiS und PO<br />

(bzw. <strong>der</strong>en Führungen) nach Schlammschlachten<br />

dieses Stils in absehbarer Zeit<br />

nicht mehr auf gemeinsame politische Projekte<br />

einigen werden können. Sie geben<br />

Entwarnung und halten <strong>der</strong> Kaczyñski-<br />

Brü<strong>der</strong> vierte Republik mittlerweile eher<br />

für einen großen Bluff aus Wahlkampfzeiten.<br />

Sie übersehen nur, dass <strong>der</strong> gegenwärtig<br />

wichtigste politische Akteur <strong>Polens</strong> -<br />

das PiS-Lager - jezt alles auf eine Karte<br />

setzt. Und die Versuchung ist groß. ��<br />

POLEN und wir 2/2006 3


AUS DER „DOKUMENTATION POLEN-INFORMATION“<br />

Was geschah im April 1971?<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> neuen deutsch-polnischen<br />

Beziehungen nach dem Warschauer Vertrag<br />

vom 7. Dezember 1970 kann man hier<br />

die zunehmenden Kontakte zwischen den<br />

Län<strong>der</strong>n bzw. ihren Institutionen nachvollziehen.<br />

So findet man beispielsweise den<br />

Kulturaustausch zwischen den Städten<br />

Oberhausen und Krakau mit <strong>der</strong> erstmaligen<br />

Vorstellung preisgekrönter Filme <strong>der</strong> in<br />

beiden Städten in früheren Jahren durchgeführten<br />

Kurzfilm-Wochen als Son<strong>der</strong>programm<br />

[1971 041505.KK], wie auch die<br />

zunehmende Nutzung von Reiseangeboten<br />

nach Warschau [1971 043003.DZ]. Ebenso<br />

interessant sind die Fundstellen über den<br />

Beginn <strong>der</strong> kontroversen Ratifizierungsdebatten,<br />

die sich noch bis zum 17. Mai 1972<br />

hinzogen - das reichte bis zu Attentatsversuchen<br />

auf Politiker: "...Die Motive gleichen<br />

sich fatal: <strong>der</strong> 20jährige Gärtner Carsten<br />

Eggert, <strong>der</strong> mit einem feststehenden<br />

Messer den Bundespräsidenten umbringen<br />

wollte, <strong>der</strong> 21jährige Krankenpfleger<br />

Ekkehard Weil, <strong>der</strong> einen russischen Wachsoldaten<br />

am sowjetischen Ehrenmal<br />

anschoß, <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> in La Paz mit den<br />

Fäusten auf Außenminister Scheel losging<br />

- sie alle wollten auf ihre Weise ‚politischen<br />

Wi<strong>der</strong>stand' leisten..." [1971 041601.<br />

DZ]<br />

Parallel dazu werden die Realitäten <strong>der</strong><br />

Familienzusammenführung bzw. deutschstämmigen<br />

Aussiedler aus Polen dokumentiert.<br />

Eifrig wurde gezählt, wie viele im<br />

"Grenzdurchgangslager Friedland" ankamen.<br />

"Vor 25 Jahren [1945/46] stießen in<br />

<strong>der</strong> Nähe des kleinen Dorfes Friedland die<br />

britische, amerikanische und sowjetische<br />

Besatzungszone zusammen. Diese geographische<br />

und politische Mittelpunktslage<br />

veranlaßte damals die britische Besatzungsmacht,<br />

in diesem Dörfchen die Ställe<br />

eines Versuchsgutes <strong>der</strong> Universität Göttingen<br />

in ein Lager umzuwandeln, das ‚zur<br />

Erfassung, Verpflegung, vorläufigen<br />

Unterbringung und Weiterleitung von Vertriebenen,<br />

Flüchtlingen, Evakuierten und<br />

Heimkehrern dienen sollte'. Seitdem haben<br />

4 POLEN und wir 2/2006<br />

Von Udo Kühn<br />

Die Dokumentation Polen-Informtion besteht mittlerweile seit 36 Jahren. Sie ist ein<br />

wertvolles Findmittel für die geschichtliche wie auch politische Arbeit über die<br />

deutsch-polnischen Bezeihungen ab den 70er Jahren. Ein Griff in die "Zeitgeschichtskiste"<br />

des Monats April vor 35 Jahren för<strong>der</strong>t eine Reihe von interessanten<br />

Informationen zum deutsch-polnischen Verhältnis und über das damalige Polen zu<br />

Tage. Insgesamt 50 Artikel und Meldungen unterschiedlicher Art und Quellen liegen<br />

in <strong>der</strong> "Dokumentation Polen-Information" ausgewählt, kommentiert und archiviert<br />

vor, die damals bereits ein halbes Jahr bestand.<br />

mehr als 2,5 Millionen Menschen das Provisorium<br />

passiert..." [1971 043007.PUB].<br />

Ebenso interessant sind dann da auch<br />

Dokumente über die Heimatvertriebenen-<br />

Problematik zu finden, die scheints bis<br />

heute noch immer nicht völlig gelöst<br />

wurde. Hierzu nur eine Episode aus dem<br />

April 1971: "Der nie<strong>der</strong>sächsische Minister<br />

für Bundesangelegenheiten hat dem Lagerpersonal<br />

des Grenzdurchgangslagers Friedland<br />

verboten, unter den neuankommenden<br />

Polen-Aussiedlern Mitglie<strong>der</strong>werbung für<br />

Vertriebenenverbände zu betreiben... Der<br />

offen eingestandene Beweggrund dieser<br />

Maßnahme ist es zu verhin<strong>der</strong>n, daß die<br />

Neuankömmlinge gegen die Ostpolitik <strong>der</strong><br />

Bundesregierung indoktriniert werden..."<br />

[1971 042301.DZ].<br />

Die Informationen aus den ausgewerteten<br />

Zeitschriften finden sich so gut sortiert in<br />

knapp 30 Themenbereichen: Antisemitismus,<br />

<strong>Deutsch</strong>landpolitik <strong>Polens</strong>, Familienzusammenführung,<br />

Aussiedler, Literatur,<br />

Ostpolitik <strong>der</strong> BRD, Polen im Ausland,<br />

Wirtschaftsbeziehungen, Zentralkomitee<br />

<strong>der</strong> PVAP, Politbüro usw. usw.<br />

Aber nicht nur für Sach- son<strong>der</strong>n auch Personalinformationen<br />

ist die "DOKUMEN-<br />

TATION POLEN-INFORMATION" eine<br />

wichtige Quelle. So findet man beispielsweise<br />

zu folgenden Personen Informationen:<br />

HANS BERGER, ehemaliger deutscher<br />

Botschafter, wurde "in die Wüste<br />

geschickt", weil er gegen die Ostpolitik <strong>der</strong><br />

Bundesregierung Stimmung gemacht habe;<br />

so berichtete <strong>der</strong> "Bayernkurier", das<br />

Sprachrohr von Franz Josef Strauß (1915-<br />

1988), in einem ausführlichen Artikel<br />

[1971 040301.BAY]. Ein Presseorgan <strong>der</strong><br />

Vertriebenen setzte Anfang 1972, in <strong>der</strong><br />

heißen Phase <strong>der</strong> Ratifizierungsdebatte,<br />

noch eins drauf: "Mit Erschrecken könne<br />

man feststellen, daß die Lösung, die nach<br />

den Verträgen von Moskau und Warschau<br />

dem deutschen Volk angeboten werde, alle<br />

Ungerechtigkeiten des Versailler Vertrages<br />

weit in den Schatten stelle... ...dies erklärte<br />

<strong>der</strong> ehemalige Botschafter <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

<strong>Deutsch</strong>land beim Vatikan, Dr. Hans<br />

Berger..." [1972 011306.BBB].<br />

ANDRZEJ CZECHOWICZ sorgte für Irritationen.<br />

"...Die Demarchen folgen auf eine<br />

Periode vehementer Propaganda, die<br />

Anfang März [1971] einsetzte. Damals<br />

wurde ein polnischer Spion, Andrzej Czechowicz,<br />

tagelang benutzt, um Rolle und<br />

Funktion von Radio Free Europe in den<br />

schwärzesten Farben zu schil<strong>der</strong>n..." [1971<br />

060202.NZZ]. Das schweizer "Zeitbild"<br />

versucht zu klären, "Warum ein unentdeckter<br />

Auftrag abgebrochen wurde" [1971<br />

040701.ZB].<br />

BOLESLAW KOMINEK, Erzbischof in<br />

Breslau hat eine Einladung <strong>der</strong> Katholischen<br />

Akademie Trier angenommen, auf<br />

einer Tagung im Mai über die Situation <strong>der</strong><br />

Katholischen Kirche in Polen zu sprechen<br />

[1971 043006.PUB].<br />

GOTTHOLD RHODE (1916-1990), Professor<br />

in Mainz, wurde im damaligen Polen<br />

sehr kritisch betrachtet, hat er doch seine<br />

wissenschaftliche Tätigkeit auf dem Gebiet<br />

<strong>der</strong> Osteuropa-Forschung bereits im "Dritten<br />

Reich" begonnen. So war es 1971<br />

bemerkenswert, daß die polnische<br />

Wochenzeitung "Wiadomoœci" ein Interview<br />

mit Professor Rhode brachte [1971<br />

041507.KK]. Er gehörte dann auch <strong>der</strong><br />

gemischten Kommission von Historikern<br />

und Geographen aus Polen und <strong>der</strong> BRD<br />

an, die 1972 zwecks <strong>der</strong> Schulbuchrevision<br />

gebildet worden war [1977 0300101.<br />

POW].<br />

Als Informations- und Dokumentationsquellen<br />

wurden damals bereits folgende<br />

Zeitungen ausgewertet: Bayernkurier<br />

[BAY], Bielitz-Bialaer Beskidenbriefe<br />

(Unser Oberschlesien) [BBB], Darmstädter<br />

Echo [DE], Der Spiegel [SPI], Die Kommenden<br />

[KOM], Die Zeit [DZ], Kulturpolitische<br />

Korrespondenz [KK], Neue Zürcher<br />

Zeitung (Schweiz) [NZZ], <strong>Polnische</strong><br />

Wochenschau (Polen) [POW], Publik<br />

[PUB], Stern [ST], werk und leben [W&L],<br />

Zeitbild (Schweiz) [ZB], bis heute sind<br />

noch viel an<strong>der</strong>e dazugekommen, z.B. auch<br />

POLEN und wir.<br />

Das Originalquellenmaterial wurde dem<br />

"<strong>Deutsch</strong>en Polen-Institut" in Darmstadt<br />

als Leihgabe von <strong>der</strong> "Dokumentation<br />

Polen-Information" zur Verfügung gestellt,<br />

kann dort recherchiert und eingesehen werden.<br />

Für das "<strong>Deutsch</strong>e Polen-Institut"<br />

siehe auch im Internet unter: www.deutsches-polen-institut.de.<br />

Die Archivierung<br />

wurde im Status eines Bandkatalogs im<br />

Übergang zu einzelnen Tagesmappen vorgenommen.<br />

Für die "Dokumentation<br />

Polen-Information" siehe auch im Internet<br />

unter: www.dok-pol-inf.de. ��


POLITIK<br />

Niech nas zobacz¹!<br />

(Schaut uns an!)<br />

Trotz neuer Gesetze kein Ende <strong>der</strong> alten Vorurteile<br />

gegenüber sexuellen Min<strong>der</strong>heiten<br />

Auch Polen gehört zu den osteuropäischen<br />

Län<strong>der</strong>n, die Homosexualität als Straftatbestand<br />

aus dem Gesetzbuch gestrichen<br />

haben. Im Zuge <strong>der</strong> Regierungsneubildung<br />

im letzten Jahr in Polen hat sich jedoch die<br />

Situation für Lesben, Schwule und Transgen<strong>der</strong>s<br />

immens verschärft. Der neue Präsident,<br />

Lech Kaczynski (PiS), sprach nach<br />

seiner Wahl von einer vierten Republik,<br />

von einer neuen Zeit, die jetzt beginne.<br />

Kein Klima für „An<strong>der</strong>e“<br />

Das Wahlergebnis in Polen scheint ein Sieg<br />

für die Rechten und eine Nie<strong>der</strong>lage für das<br />

Demokratieverständnis zu sein: Durch ein<br />

stilles Bündnis <strong>der</strong> nationalkonservativen<br />

Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) mit<br />

<strong>der</strong> Samoobrona und <strong>der</strong> "Liga <strong>der</strong> polnischen<br />

Familien" (LPR) regiert nun eine<br />

Min<strong>der</strong>heitsregierung. Mit 40 Prozent verzeichnete<br />

das Land die schwächste Wahlbeteiligung<br />

seit 1989.<br />

Laut einer Meinungsumfrage betrachten<br />

fast neunzig Prozent <strong>der</strong> Polen und Polin-<br />

Von Christiane Thoms<br />

Polen gehört seit dem 1.Mai 2004 zur EU. Um dazu zugehören, musste das Land, wie<br />

alle an<strong>der</strong>en Mitgliedsstaaten auch, die Europäische Menschenrechtskonvention<br />

unterzeichnen. Mit <strong>der</strong> Umsetzung dieses Abkommens scheint es aber zu hapern.<br />

Auf Druck <strong>der</strong> Europäischen Union haben mehrere osteuropäische Beitrittskandidaten<br />

Gesetze abgeschafft, die Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminieren.<br />

Doch selbst in den Län<strong>der</strong>n, in denen gleichgeschlechtliche Liebe nicht<br />

mehr unter Strafe gestellt ist, sehen sich Homosexuelle oft mit Hass, Gewalt und<br />

Unverständnis konfrontiert. Organisationen, die sich für die Rechte von nicht-heterosexuellen<br />

Menschen einsetzen, entwickeln sich nur langsam und werden vielfach<br />

von staatlicher Seite behin<strong>der</strong>t.<br />

nen Homosexualität als etwas Unnatürliches.<br />

Menschen, die sich zu ihrer gleichgeschlechtlichen<br />

Liebe bekennen, werden als<br />

Angriff auf fundamentale Werte betrachtet.<br />

Aus Angst vor Repressalien verschweigen<br />

viele deshalb ihre sexuelle Orientierung.<br />

Die Berliner Zeitung titelte: "Es war nie<br />

einfach, in Polen schwul zu sein. Seitdem<br />

"ZOMO! Gestapo!" riefen<br />

die TeilnehmerInnen am<br />

Toleranzmarsch <strong>der</strong> brutal<br />

einschreitenden Polizei entgegen.<br />

Zuerst bewarfen<br />

Zuschauer, die Allpolnische<br />

Jugend - eine rechtsextreme<br />

Jugendorganisation, die <strong>der</strong><br />

PiS nahesteht - und Neofaschisten,<br />

die DemonstrantInnenen<br />

mit Eiern, dann schritt<br />

die Polizei gegen letztere (!)<br />

ein. 65 Personen wurden<br />

festgenommen.<br />

„Ich unterstütze Gleichheit, Freiheit und Demokratie“ - eine auf <strong>der</strong> Demonstration<br />

am 19.11.2005 in Poznañ getragene Losung - Foto: www.foto.rozbrat.org<br />

das Land einen neuen Präsidenten hat, ist<br />

es noch viel schwieriger geworden". In diesem<br />

Zeitungsartikel kommt <strong>der</strong> Chef des<br />

polnischen Schwulenverbandes, Szymon<br />

Niemiec, zu Wort: "Es geht nicht nur um<br />

die Rechte <strong>der</strong> Homosexuellen, son<strong>der</strong>n<br />

um die Demokratie an sich".<br />

Es stellt sich an dieser Stelle unweigerlich<br />

die Frage, inwiefern Organisationen, Debatten<br />

und Wertorientierungen im Stande<br />

sind, die Demokratie zu festigen. Eine<br />

große Teilhabe am Demokratisierungsprozess<br />

würde in diesem Fall bedeuten, dass<br />

die formelle Demokratie und eine aktive<br />

Zivilgesellschaft als Ort gesellschaftlicher<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzungen keinen Gegensatz<br />

bilden, son<strong>der</strong>n aufeinan<strong>der</strong> angewiesen<br />

sind. Die Interessenformulierung und das<br />

politische Handeln sind dabei als Faktoren<br />

für genau diese Festigung <strong>der</strong> Demokratisierung<br />

zu sehen. Wie die in <strong>der</strong> polnischen<br />

Zivilgesellschaft formulierten Partizipationsansprüche<br />

einer sexuellen Min<strong>der</strong>heit<br />

bewertet und von <strong>der</strong> politischen <strong>Gesellschaft</strong><br />

aufgenommen und verarbeitet werden,<br />

zeigt beispielsweise die am "Toleranzmarsch"<br />

entfachte Debatte.<br />

Wie den polnischen Medien im November<br />

2005 zu entnehmen war, wurde <strong>der</strong> am<br />

internationalen Tag <strong>der</strong> Toleranz geplante<br />

"Toleranzmarsch" von offizieller Seite in<br />

Poznañ verboten. Der ordnungsgemäß<br />

angemeldete und zuerst genehmigte "Toleranzmarsch"<br />

wurde erst nach massivem<br />

Druck von Vertretern <strong>der</strong> regierenden konservativ-populistischen<br />

PiS (Recht und<br />

Gerechtigkeit) und <strong>der</strong> rechtsnationalistischen<br />

LPR (Liga <strong>der</strong> <strong>Polnische</strong>n Familien)<br />

verboten. Als Gründe für das Verbot waren<br />

die "Bedrohung <strong>der</strong> Werte" sowie die<br />

"Gefahr <strong>der</strong> öffentlichen Sicherheit" zu<br />

hören und zu lesen.<br />

Dennoch fand am 19.11.2005 eine <strong>der</strong><br />

Toleranz, Solidarität und Antidiskriminierung<br />

gewidmeten Demonstration statt, zu<br />

<strong>der</strong> die polnischen Grünen, feministische<br />

sowie lesbisch-schwule Organisationen<br />

aufgerufen hatten. Es bleiben Bil<strong>der</strong> einer<br />

von <strong>der</strong> Polizei gewaltsam aufgelösten<br />

Demonstration mit rund 65 Festgenommenen.<br />

Diese festgenommenen TeilnehmerInnen<br />

des Toleranzmarsches sind inzwischen<br />

durch ein bemerkenswertes Gerichtsurteil<br />

straffrei wie<strong>der</strong> freigelassen worden.<br />

Sowohl Polen als auch <strong>Deutsch</strong>land, Österreich,<br />

Italien und die Schweiz haben auf<br />

die durch den Toleranzmarsch entfachte<br />

Debatte entsprechend reagiert.<br />

Amnesty International (AI) zeigt sich über<br />

das intolerante Klima in Polen gegenüber<br />

Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trangen<strong>der</strong>s<br />

besorgt. In einem entsprechenden<br />

Statement spricht AI nicht nur die in Warschau<br />

verbotenen Demonstrationen in den<br />

Jahren 2004 und 2005 an, son<strong>der</strong>n gibt<br />

auch die offen homophobe Sprache <strong>der</strong><br />

polnischen PolitikerInnen, den homophoben<br />

Hass sowie die homophobe Gewalt<br />

von rechten Gruppierungen in Polen zu<br />

bedenken. Außerdem zeigt sich AI sehr<br />

besorgt über die Abschaffung <strong>der</strong> "staatlichen<br />

Behörde für Gleichbehandlung und<br />

sexuelle Min<strong>der</strong>heiten".<br />

Der vertretende Botschafter <strong>Polens</strong> in <strong>der</strong><br />

Schweiz erklärte, es gäbe keine Diskriminierung<br />

von Lesben und Schwulen in<br />

Polen. Die zuständige Behörde habe aus<br />

Rücksicht auf die Bevölkerung gehandelt,<br />

die die Grenze zwischen Pädophilie und<br />

POLEN und wir 2/2006 5


POLITIK<br />

Homosexualität nicht ziehen könne. Darauf<br />

zeigte sich die Berner Nationalrätin <strong>der</strong><br />

Sozialdemokratischen Partei (SP), Margret<br />

Kiener Nellen, entsetzt und wies darauf<br />

hin, dass in diesen Fällen <strong>der</strong> polnische<br />

Staat erst recht Aufklärungsarbeit zu leisten<br />

hätte.<br />

Eine Richtlinie des Vatikans<br />

Die rechtskonservativen Kräfte in Polen<br />

bekamen für ihren Kampf gegen „An<strong>der</strong>e“<br />

argumantative Schützenhilfe. Noch im<br />

gleichen Monat, als <strong>der</strong> „Toleranzmarsch“<br />

in Polen verboten<br />

wurde, hat <strong>der</strong> Vatikan ein<br />

umstrittenes Richtliniendokument<br />

über die Nicht-Zulassung<br />

von Homosexuellen zum Priestertum<br />

veröffentlicht, welches<br />

vom Präfekten <strong>der</strong> Kongregation<br />

für katholische Bildung, Kardinal<br />

Zenon Grocholewski,<br />

unterzeichnet wurde: "Es geht<br />

darum, ob Kandidaten, die tiefsitzende<br />

homosexuelle Tendenzen<br />

haben, für das Priesterseminar<br />

und zu den heiligen Weihen<br />

zugelassen werden sollen o<strong>der</strong><br />

nicht. (...) Der Katechismus<br />

unterscheidet zwischen homosexuellen<br />

Handlungen und<br />

homosexuellen Tendenzen.<br />

Bezüglich <strong>der</strong> homosexuellen<br />

Handlungen lehrt er, dass sie in<br />

<strong>der</strong> Heiligen Schrift als schwere<br />

Sünden bezeichnet werden. Die<br />

Überlieferung hat sie stets als in<br />

sich unsittlich und als Verstoß<br />

gegen das natürliche Gesetz betrachtet.<br />

Sie können daher in<br />

keinem Fall gebilligt werden.<br />

Die tief sitzenden homosexuellen<br />

Tendenzen, die bei einer<br />

gewissen Anzahl von Männern<br />

und Frauen vorkommen, sind<br />

ebenfalls objektiv ungeordnet<br />

und stellen oft auch für die<br />

betroffenen Personen selbst eine<br />

Prüfung dar. Diesen Personen<br />

ist mit Achtung und Takt zu<br />

begegnen; man hüte sich, sie in<br />

irgendeiner Weise ungerecht<br />

zurückzusetzen. (...)"<br />

Dieses Dokument erschien dem<br />

Vatikan scheinbar notwendig,<br />

nachdem Repräsentanten <strong>der</strong> Kirche in den<br />

USA, Brasilien, Österreich und Polen in<br />

sexuelle Skandale verwickelt waren sowie<br />

Studenten mit offensichtlich homosexuellen<br />

Neigungen als Priesteramtskandidaten<br />

in den Vereinigten Staaten akzeptiert wurden.<br />

Diese Praxis soll nach päpstlichem<br />

Willen damit aufhören.<br />

6 POLEN und wir 2/2006<br />

Die Weisungen des Vatikans blieben nicht<br />

ungehört. Scharfe Kritik erntete dieses<br />

Vatikan-Dokument beispielsweise von den<br />

italienischen ParlamentarierInnen <strong>der</strong> oppositionellen<br />

Linksdemokraten. Sie warnten<br />

vor einer "Verteufelung" <strong>der</strong> Homosexuellen.<br />

Der Präsident des italienischen<br />

Verbands für die Rechte <strong>der</strong> Homosexuellen,<br />

Grillini, gab zu bedenken, dass diese<br />

homosexuellenfeindliche Moral nicht einmal<br />

von <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> KatholikInnen<br />

geteilt werde. Die schweizer Bischofskon-<br />

Bürgerprotest gegen die Ereignisse in<br />

Poznañ am 19.11.2005<br />

Der Verlauf <strong>der</strong> Ereignisse anlässlich des (verhin<strong>der</strong>ten) Toleranzmarsches,<br />

<strong>der</strong> am 19. November 2005 in Poznañ zum Internationalen<br />

UNESCO-Tag <strong>der</strong> Toleranz stattfinden sollte, zeigt, dass in Polen<br />

sowohl das Menschenrecht wie auch die Grundlagen <strong>der</strong> Demokratie<br />

gebrochen werden. Eine <strong>der</strong> wichtigsten Grundlagen <strong>der</strong> Demokratie<br />

besteht darin, dass man keine friedlichen Demonstrationen verbieten<br />

darf, auf denen für die eigenen Ideen o<strong>der</strong> Einstellungen eingetreten<br />

wird. Der Gleichheitsmarsch hätte Bestätigung und Stütze für diese<br />

demokratischen Grundlagen sein können.<br />

Aus ideologischen Gründen hat aber die Stadtregierung den Marsch<br />

verboten. Offiziell berief sie sich auf die Sicherheit und Ordnung,<br />

aber das war nur ein Trick und Vorspiel, denn die Ordnungskräfte<br />

wurden in einer solch großen Zahl mobilisiert, dass die Demonstration<br />

ohne Schaden hätte stattfinden können. (…)<br />

Im Gegenteil: Es waren gerade die Teilnehmer des Marsches, die<br />

nicht nur von Seiten homofober und aggressiver Gegen-Demonstranten<br />

Attacken ausgesetzt waren, son<strong>der</strong>n auch - wie Zeugen aussagen -<br />

von Seiten <strong>der</strong> Polizei, die in den Polizeiautos Festgenommene schlugen.<br />

Halten wir auch fest, dass am 11. November die rechtsextreme<br />

Organisation ONR, antisemitische und rassistische Losungen schreiend,<br />

ungestört unter Begleitung <strong>der</strong> Polizei durch Czêstochowa marschierte,<br />

obwohl diese Demonstration mit Sicherheit keinen friedlichen<br />

Charakter hatte.<br />

Die Entscheidung über das Verbot des Marsches in Poznañ ist ein<br />

weiterer Schritt gegen das in <strong>der</strong> Verfassung <strong>der</strong> Republik Polen und<br />

<strong>der</strong> Europäischen Union garantierte Recht, das die Diskriminierung<br />

verbietet und allen Bürgern die Meinungs- und Versammlungsfreiheit<br />

garantiert.<br />

Wir wi<strong>der</strong>sprechen dem fortschreitenden Prozess <strong>der</strong> Beschneidung<br />

und des Bruchs <strong>der</strong> Menschenrechte in Polen ausdrücklich. Wir wollen<br />

in einem Staat leben, <strong>der</strong> die gleiche Behandlung aller Bürger<br />

ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Hautfarbe,<br />

religiöses Bekenntnis o<strong>der</strong> politische Ansichten garantiert - und<br />

diese Garantie wertschätzt. Polen ist ein Land <strong>der</strong> Diskriminierung.<br />

Damit finden wir uns nicht ab.<br />

(Dieser Protest wurde einen Tag nach <strong>der</strong> Demonstration von Hun<strong>der</strong>ten<br />

Polinnen und Polen unterschrieben und veröffentlicht;<br />

http://pl.indymedia.org/pl/2005/11/16997.shtml, 27.2.2006)<br />

ferenz hielt in ihrer Stellungnahme zum<br />

Vatikan-Dokument unter an<strong>der</strong>em fest: "Im<br />

Mittelpunkt unserer Abklärungen zur Zulassung<br />

zum Priesteramt steht nicht die<br />

sexuelle Orientierung, son<strong>der</strong>n die Bereitschaft<br />

zur konsequenten Christusnachfolge."<br />

Umberto Bossi von <strong>der</strong> rechtspopulistischen<br />

Regierungspartei Lega Nord dage-<br />

gen begrüßte den Inhalt des Dokuments<br />

und unterstrich die Schuld <strong>der</strong> Homosexuellen,<br />

die Institution <strong>der</strong> "natürlichen Familie"<br />

zu untergraben. Auch <strong>der</strong> Vorsitzende<br />

<strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en Bischofskonferenz, Kardinal<br />

Lehmann, hatte das Dokument sehr<br />

begrüßt.<br />

Diskriminierende Einstellungen<br />

in <strong>der</strong> Diskussion<br />

"Das Ende <strong>der</strong> normalen Familie", "Homo<br />

ist auch ein Mensch", "Der verachtete<br />

Homo" titelten die polnischen<br />

Zeitungen im letzten Sommer.<br />

Die Aktion "Sollen sie<br />

uns doch sehen" von <strong>der</strong><br />

Organisation "Kampagne<br />

gegen Homophobie" war<br />

wohl <strong>der</strong> erste Höhepunkt<br />

innerhalb einer Debatte, die<br />

ganz Polen beschäftigt. Auf<br />

Plakaten und in Galerien wurden<br />

Fotos lesbischer und<br />

schwuler Paare gezeigt, die<br />

sich mal scheu, mal offen in<br />

die Kamera lächelnd an den<br />

Händen hielten. Die Reaktionen<br />

waren vielsagend: In<br />

Krakau wurde eine Galerie<br />

kurz nach <strong>der</strong> Ausstellungseröffnung<br />

wie<strong>der</strong> geschlossen<br />

und Plakate mit Farbe übergossen.<br />

Zivilgesellschaftliche Akteure<br />

haben sich seit 1989 in<br />

Polen stark vermehrt und<br />

institutionalisiert. Öffentlichrechtliche<br />

sowie private<br />

Rundfunk- und Fernsehsen<strong>der</strong><br />

und einige Zeitungen<br />

sorgten bisher immer mehr<br />

für eine Spiegelung öffentlicher<br />

Debatten. Doch seit diesem<br />

Jahr hat Polen einen<br />

neuen Rundfunkrat. Mit einer<br />

Eilabstimmung im Parlament<br />

sägte die PiS die alte neunköpfige<br />

Medienaufsicht ab.<br />

Der neue fünfköpfige Rundfunkrat<br />

kontrolliert die<br />

gesamte Fernseh- und Hörfunklandschaft,<br />

vergibt Sendelizenzen<br />

an kommerzielle<br />

sowie gesellschaftliche, religiös<br />

orientierte Programme<br />

und kann in die Berichterstattung eingreifen.<br />

"Verfassungswidrig", urteilt Andzej<br />

Zoll und Verleger vieler großer Zeitungen<br />

warnen vor <strong>der</strong> Gefahr einer möglichen<br />

gelenkten Berichterstattung.<br />

Inwiefern die polnische Zivilgesellschaft<br />

frei und lebendig ist und inwiefern sie nun


zur demokratischen Konsolidierung beiträgt,<br />

zeigt beispielsweise <strong>der</strong> NGO-Sektor<br />

(NGO-Nicht-Regierungs-Organisation).<br />

Lambda, die erste Schwulen- und Lesben -<br />

organisation in Polen konstatiert in ihrem<br />

"Bericht zur Diskriminierung", dass "75<br />

Prozent <strong>der</strong> Homosexuellen in Polen ihre<br />

Neigung am Arbeitsplatz verheimlichen".<br />

Robert Biedron, <strong>der</strong> führende Aktivist <strong>der</strong><br />

Organisation und erste polnische Politiker,<br />

<strong>der</strong> sich öffentlich zu seiner sexuellen Orientierung<br />

bekannt hat, erklärte: "Das ist die<br />

Angst vor dem gesellschaftlichen Druck,<br />

dem Verlust von Anerkennung und dem,<br />

was es nach sich zieht, nämlich finanzielle<br />

Nachteile".<br />

Unter Berücksichtigung <strong>der</strong> Tatsache, dass<br />

sich innerhalb Europas verschiedene Formen<br />

<strong>der</strong> Demokratie historisch entwickelt<br />

haben, zeigt sich das Grundproblem <strong>der</strong><br />

Demokratie immer im Spannungsverhältnis<br />

zwischen Freiheit des Einzelnen und<br />

seiner Bindung an die Gesamtheit (Staat<br />

und <strong>Gesellschaft</strong>). Demokratie versteht<br />

sich somit nicht als eine Summe formaler<br />

Verfahrensvorschriften, son<strong>der</strong>n bestimmt<br />

sich von ihrem inhaltlichen Ziel her, unter<br />

den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen<br />

Bedingungen das größtmögliche<br />

Maß an Freiheit, Eigenverantwortung<br />

und sozialer Gerechtigkeit zu verwirklichen.<br />

Inwiefern besteht nun in Polen eine demokratisch<br />

politische Kultur, in <strong>der</strong> die Menschen<br />

am politischen Entscheidungsprozess<br />

teilnehmen? Sind dessen Prozeduren<br />

überhaupt durchlässig genug, um Partizipationsansprüche<br />

sozialer Gruppen und<br />

sexueller Min<strong>der</strong>heiten aufzunehmen?<br />

Polen hat mit dem Beitritt zur EU den europäischen<br />

Grundwerten von Nichtdiskriminierung,<br />

Gleichheit und <strong>der</strong> Versammlungsfreiheit<br />

zugestimmt. So verbietet<br />

Artikel 21 <strong>der</strong> Charta <strong>der</strong> Grundrechte <strong>der</strong><br />

Europäischen Union Diskriminierungen<br />

aufgrund sexueller Orientierung. Fast zwei<br />

Jahre nach dem EU-Beitritt scheint momentan<br />

die Debatte <strong>der</strong> Diskriminierung<br />

von sexuellen Min<strong>der</strong>heiten zwar sichtbar,<br />

aber noch im Anfangssumpf stecken<br />

geblieben zu sein.<br />

Wie stark die Umsetzung eines Rechts<br />

gefor<strong>der</strong>t wird, ist ein Gradmesser für die<br />

jeweilige Festigung <strong>der</strong> Demokratie. Vielleicht<br />

sind ja Kursän<strong>der</strong>ungen sehr wesentlich,<br />

um autoritäre Einstellungen und die<br />

damit verbundenen Diskriminierungen<br />

wirksam zu verarbeiten? Die öffentliche<br />

Debatte und die Enttabuisierung von<br />

Homosexualität in Polen legt dieses jedenfalls<br />

nahe. ��<br />

POLITIK-DOKUMENTATION<br />

Bewahren wir unsere katholische<br />

und nationale Identität<br />

Mit dem Vorsitzenden <strong>der</strong> Konferenz des <strong>Polnische</strong>n Episkopats,<br />

Seine Exzellenz Erzbischof Józef Michalik, Metropolit von<br />

Przemyœl, spricht Mariusz Kamieniecki.<br />

Das vergangene Jahr war reich an vielen<br />

bedeutenden Ereignissen in Polen aber<br />

auch im Ausland. Auf welches würde Exzellenz<br />

eine bedeutende Aufmerksam lenken<br />

und warum?<br />

(.....) Ein wichtiges und gleichzeitig sehr<br />

schmerzhaftes Ereignis für uns Polen wie<br />

für die ganze Welt war <strong>der</strong> Tod des Papstes.<br />

(...) (In) Polen kann man bereits diesen<br />

guten und Hoffnung erzeugenden Prozess<br />

<strong>der</strong> Reinigung erkennen, <strong>der</strong> in den Parlaments-<br />

und Präsidentschaftswahlen seinen<br />

Ausdruck fand. Es ist ein Prozess <strong>der</strong> Reinigung<br />

durch die Demaskierung einer falschen<br />

Politik, von Strukturen und Ereignissen,<br />

die sich ständig verschlimmerten und<br />

skandalträchtiger wurden, ein Prozess, <strong>der</strong><br />

sichtbare Früchte in <strong>der</strong> Belebung und <strong>der</strong><br />

Übernahme von Verantwortung durch die<br />

<strong>Gesellschaft</strong> trug. Ich denke, dass durch<br />

das Wahlergebnis einerseits <strong>der</strong> Teil <strong>der</strong><br />

politischen Szene sichtbar wurde, <strong>der</strong> den<br />

Polen näher steht, an<strong>der</strong>erseits machte er<br />

die Unreife einiger politischer Eliten deutlich,<br />

die nicht durch das aufgrund <strong>der</strong> Wahl<br />

erstandene Prisma "Was ist gut für Polen?<br />

Für das Vaterland? Was für den einfachen<br />

Menschen?" schauen können. Die Schlussfolgerung<br />

daraus ist für mich sehr einfach.<br />

Die Demut und die täglich Tugend sind eng<br />

miteinan<strong>der</strong> verbunden. Das ist ein Wert,<br />

den es ständig zu för<strong>der</strong>n gilt und den man<br />

täglich von neuem lernen muss, ohne den<br />

von Kultur im täglichen Leben, sowohl im<br />

gesellschaftlichen wie im politischen,<br />

keine Rede sein kann. (.....)<br />

[Das Ende des Jahres 2005 war mit einem<br />

Besuch <strong>der</strong> polnischen Bischöfe "ad limina<br />

Apostulorum" im Vatikan verbunden.]<br />

Einen großen Raum widmete <strong>der</strong> Heilige<br />

Vater (Benedikt XVI.-d. Übers.) in seiner<br />

Botschaft den Laien im Leben <strong>der</strong> Kirche.<br />

Er sagte u.a., dass "eine <strong>der</strong> bedeutenden<br />

Aufgaben, die sich aus dem europäischen<br />

Integrationsprozess ergibt, darin besteht,<br />

sich mutig um die Bewahrung <strong>der</strong> katholischen<br />

und nationalen Identität <strong>der</strong> Polen zu<br />

sorgen". Bedeutet das, dass die durch die<br />

Jahrhun<strong>der</strong>te tief im Glauben verwurzelten<br />

und aufs Engste mit <strong>der</strong> Tradition und <strong>der</strong><br />

Kirche verbundenen Polen eine beson<strong>der</strong>e<br />

Rolle bei <strong>der</strong> Evangelisation des verweltlichten<br />

Europa spielen?<br />

Ich bin immer bemüht, nüchterner Beobachter<br />

des Lebens zu sein und ich fürchte<br />

mich vor einem Messianismus - auch in<br />

polnischer Ausgabe, <strong>der</strong> sich darin ausdrückt,<br />

dass gerade wir ein beson<strong>der</strong>es<br />

Volk sind, das eine bedeutende Mission zu<br />

erfüllen hat. Wir haben aber als Polen dieselbe<br />

Mission zu erfüllen wie alle Mensche<br />

auf <strong>der</strong> Erde, denn wir alle sind von Gott<br />

geschaffen. Diese Aufgabe besteht in <strong>der</strong><br />

Realisierung eines Ideals, das uns <strong>der</strong><br />

Schöpfer ins Herz pflanzte. Man muss sich<br />

dieser Aufgabe mehr aus dem Gefühl <strong>der</strong><br />

Verantwortung stellen und nicht aus einer<br />

höheren Warte gegenüber an<strong>der</strong>en. Dagegen<br />

verlangt, bittet und fleht das kranke<br />

Europa geradezu nach Bestätigung fester<br />

Werte und Grundsätze. Wenn man heute<br />

feststellt, dass in 17 europäischen Län<strong>der</strong>n<br />

ein demografisches Tief und ein Mangel an<br />

natürlichem Zuwachs besteht, dem eine<br />

Generation entspricht, heißt das praktisch,<br />

dass Europa ausstirbt. Und wenn man weiter<br />

feststellt, dass das Land auf dem Kontinent,<br />

das die höchste Geburtenrate besitzt,<br />

das islamische Albanien ist, so muss man<br />

ernsthaft darüber nachdenken, wohin das<br />

alles führt ....<br />

Schauen wir diesbezüglich auf Polen. Man<br />

muss nämlich ohne wenn und aber offen<br />

sagen: Polen stirbt aus! Weshalb erstarb die<br />

Liebe zum Kind? Wohin verflüchtete sich<br />

die Liebe zu Aufopferung und Mühe...?<br />

Das ist besorgniserregend, denn es erstarb<br />

nicht nur die Liebe zum empfangenen o<strong>der</strong><br />

noch nicht empfangenen Kind, son<strong>der</strong>n sie<br />

erstarb ebenso gegenüber jedem Kind und<br />

jedem Menschen. In Europa starb die Liebe<br />

zu den Kin<strong>der</strong>n, die in Afrika und an<strong>der</strong>en<br />

Kontinenten Hungers sterben. Hier gibt es<br />

Aufgaben, die es zu verwirklichen gilt. Auf<br />

dieses große menschliche Leid, das vor<br />

unseren Augen geschieht, kann man nicht<br />

gleichgültig schauen o<strong>der</strong> als Problem<br />

ignorieren, denn es existiert wirklich und<br />

berührt uns immer mehr. Der Heilige Vater,<br />

<strong>der</strong> ein Evangelium <strong>der</strong> Liebe verkündet,<br />

dient dieser Sache mit Liebe und lenkt die<br />

Aufmerksamkeit darauf, dass man über alle<br />

diese Probleme offen sprechen muss. Ich<br />

bin davon überzeugt, dass er darüber nicht<br />

nur mit uns, son<strong>der</strong>n auch mit allen Bischöfen<br />

<strong>der</strong> verschiedenen Län<strong>der</strong> spricht.<br />

POLEN und wir 2/2006 7


POLITIK-DOKUMENTATION<br />

Wie soll die Kirche in Polen diese Aufgabe<br />

in Angriff nehmen?<br />

Vor allem mit Verständnis und Vertrauen<br />

den Menschen gegenüber, durch Entwicklung<br />

ihres Verantwortungsgefühls in ihren<br />

Herzen, von Vertrauen in Gott, durch das<br />

Gebet, aber auch durch die Mühe <strong>der</strong> Verkündigung<br />

<strong>der</strong> Wahrheit darüber, was gut<br />

und was schlecht ist. Ich denke, dass die in<br />

<strong>der</strong> obigen Frage zitierten Äußerungen des<br />

Papstes, meiner Meinung nach, die interessantesten<br />

unter denen waren, die Benedikt<br />

XVI. gegenüber den polnischen Bischöfen<br />

bei ihrem Besuche "ad limina Apostolorum"<br />

sprach. Es ist von großer Bedeutung,<br />

dass <strong>der</strong> Papst mit Nachdruck auf die Sorge<br />

um die Bewahrung <strong>der</strong> katholischen und<br />

nationalen Identität <strong>der</strong> Pole hinwies.<br />

Heute herrscht ein ideologischer Krieg um<br />

die Gestalt Europas, wie wir es bauen wollen.<br />

Scheinbar gibt es bereits eine Europäische<br />

Union, das heißt eine Annäherung <strong>der</strong><br />

Län<strong>der</strong> unseres Kontinents, und das ist sehr<br />

gut, aber es dauert eine Diskussion an, ob<br />

sie ein durch eine Superregierung unifiziertes<br />

Europa sein soll, o<strong>der</strong> ein Europa, das<br />

aus <strong>der</strong> Identität <strong>der</strong> einzelnen Völker<br />

besteht. Und hier freue ich mich sehr, dass<br />

<strong>der</strong> Heilige Vater den Mut hat zu sagen:<br />

Schämt euch nicht Katholiken, Polen zu<br />

sein und bewahrt eure Identität im Glauben,<br />

weil <strong>der</strong> Katholik gegenüber jedem<br />

Menschen offen ist. Und als Katholiken<br />

müssen wir Menschen mit einem weiten<br />

Blick und großer Achtung gegenüber Gläubigen<br />

an<strong>der</strong>er Religionen und gegenüber<br />

Nichtgläubigen sein. Der Papst will uns<br />

sagen, dass wir uns als gläubige Menschen<br />

und ebenso als Polen nicht schämen müssen,<br />

dass wir dieses Volk sind. Mehr noch<br />

sind wir verpflichtet, diese Bürde auf uns<br />

zu laden, so wie Jesus sich nicht schämte,<br />

dass er Jude war und er die Bürde <strong>der</strong> Sünden<br />

dieses Volkes und unser aller auf sich<br />

lud. Auf diese Weise gab er ein Beispiel,<br />

dem wir zu folgen haben. Ja, wir haben<br />

viele Schwächen und verneinen das nicht,<br />

aber wir halten Verbindung mit unserer<br />

Erde, unserer Tradition, denn dorther<br />

stammt das Lebenselexier unserer Identität.<br />

Wenn wir das selbst zurückweisen und<br />

uns dem Willen an<strong>der</strong>er unterordnen,<br />

indem wir die "Früchte" <strong>der</strong> französischen<br />

Revolution o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>er Ideologien nutzen,<br />

die uns die verweltlichten Milieus des<br />

Westens o<strong>der</strong> Ostens anbieten, dann können<br />

wir unsere eigene Identität verlieren,<br />

die wir über Generationen entwickelt<br />

haben. Wir, die Polen, besitzen als Volk seit<br />

über Tausend Jahren bewährte Traditionen.<br />

Warum dann suchen, herumirren, wenn<br />

man in diesen schwierigen Zeiten einen<br />

festen Weg gehen kann, einen Weg, <strong>der</strong> uns<br />

8 POLEN und wir 2/2006<br />

fehlerfrei zum Ziel führt. Wenn man nun zu<br />

den Worten des Papstes, von Haus aus ein<br />

<strong>Deutsch</strong>er, zurückkehrt, kann man sie als<br />

ein Ehre für die gesamte Geschichte des<br />

polnischen Volkes und <strong>Polens</strong> verstehen.<br />

(...) (Der heilige Vater) sprach auch über<br />

die Verteidigung des menschlichen Lebens.<br />

Er dankte allen, die sich auf dem Gebiet<br />

<strong>der</strong> Erziehung und <strong>der</strong> Vorbereitung auf<br />

das Ehe- und Familienleben engagieren<br />

sowie sich für die Verteidigung des Lebens<br />

eines jeden menschlichen Wesens von<br />

Beginn <strong>der</strong> Empfängnis bis zum natürlichen<br />

Tod hin einetzen. Gleichzeitig gewinnt<br />

die "Zivilisation des Todes", auch in Polen<br />

immer mehr an Boden. Es reicht, nur an<br />

den Versuch zu erinnern, die Homosexualität<br />

zu för<strong>der</strong>n, beispielsweise durch die<br />

Organisierung so genannter Gleichheitsmärsche.<br />

Wie dringlich ist es, das menschliche<br />

Gewissen zu entwickeln - nicht nur in<br />

Polen, damit die Notwendigkeit zur ernsthaften,<br />

verantwortungsvollen und kompromisslosen<br />

Bewahrung einer Zivilisation<br />

des Lebens erkannt wird?<br />

In den letzten Monaten griff die italienische<br />

Presse, aber nicht nur sie, den Papst<br />

dafür scharf an, dass er zu Beginn <strong>der</strong><br />

Bischofssynode ausdrücklich über grundsätzliche<br />

Rechte sprach, die in <strong>der</strong> Natur<br />

des Menschen liegen, auf die man sich<br />

berufen muss und die über dem von <strong>der</strong><br />

weltlichen Gewalt festgelegte positiven<br />

Recht stehen. Der Papst sagte u.a., dass auf<br />

dieses Recht niemand Einfluss nehmen<br />

kann, denn es ist das Recht Gottes, eingeschrieben<br />

in die Natur des Menschen. Der<br />

Standpunkt des Papstes hat einigen Kreisen<br />

nicht sehr gefallen. Und hier besteht das<br />

Problem, ob <strong>der</strong> Staat o<strong>der</strong> irgendeine<br />

"fortschrittliche Gruppe", die auf die Massenmedien<br />

Einfluss haben, eine Ideologie<br />

lancieren dürfen, die danach strebt, das<br />

Naturrecht zu än<strong>der</strong>n. Kann man alle gleich<br />

stellen, kann man z.B. ein Kind einem<br />

Erwachsenen gleichstellen? ... Wenn man<br />

übe die gleiche Würde eines Kindes und<br />

eines Erwachsenen spricht, darf man nicht<br />

vergessen, dass ein Kind Schutz und Hilfe<br />

benötigt, um ein erwachsener, reifer<br />

Mensch zu werden. Heute, wo eine "kranke"<br />

Moralität auf dem Gebiet <strong>der</strong> sexuellen<br />

Ethik Mode ist, wo Europa stirbt, einzelne<br />

Län<strong>der</strong> aussterben, stellt sich die Frage <strong>der</strong><br />

Zukunft <strong>der</strong> Zivilisation. Hervorragend<br />

beschreibt dieses Problem Patrick J.<br />

Buchanan in seinem Buch "Der Tod des<br />

Westens", in dem er darlegt, wie die westliche<br />

Kultur erstirbt und mit ihr bestimmte<br />

Werte. Die Welt wurde auf den Kopf<br />

gestellt, das Falsche ersetzt das Richtige<br />

und das, was noch vor Kurzem als richtig<br />

und wahrhaftig anerkannt wurde, wird<br />

heute als erlogen bezeichnet und einige tun<br />

so, als ob sie das nicht sähen. Gleichzeitig<br />

wird die Propaganda gegen die grundlegenden<br />

Werte wie Familie, Heirat von<br />

Mann und Frau immer stärker angekurbelt.<br />

Diesem dem Menschsein und <strong>der</strong> Natur<br />

feindlichen Verständnis muss man sich mit<br />

großer Standhaftigkeit entgegenstellen.<br />

Hören wir auf uns bei den "Gleichheitsmärschen"<br />

aufzuhalten, denn dieses Spiel<br />

hat uns schon zu viel gekostet. (......) ��<br />

(Zachowajmy to¿samoœæ katolick¹ i narodow¹.<br />

Z przewodnicz¹cym Konferencji<br />

Episkopatu Poslki JE ks. abp. Józefem<br />

Michalikiem, metropolit¹ przemyskim,<br />

rozmawia Mariusz Kamieniecki, Nasz<br />

Dziennik, 7./8. Januar 2006, Nr. 6 (2416);<br />

Übersetzung: Wulf Schade, Bochum)<br />

Prof. Dr. Rita Süssmuth<br />

zur Präsidentin des <strong>Deutsch</strong>en<br />

Polen-Instituts<br />

Darmstadt gewählt<br />

Am 5. Dezember 2005 wurde Bundestagspräsidentin<br />

a.D. Prof. Dr. Rita Süssmuth<br />

zur Präsidentin des <strong>Deutsch</strong>en<br />

Polen-Instituts gewählt. Sie tritt die Nachfolge<br />

von Bürgermeister a.D. Hans<br />

Koschnick an, <strong>der</strong> nach sechsjähriger<br />

Amtszeit aus seinem Amt als Präsident<br />

des DPI ausscheidet.<br />

Als neuer zweiter Vizepräsident wurde<br />

Gotthard Romberg, vormals Geschäftsführer<br />

<strong>der</strong> Robert Bosch GmbH, Berater<br />

<strong>der</strong> Geschäftsführung, gewählt. Er folgt<br />

Dr. Peter Payer nach, <strong>der</strong> nach 15jähriger<br />

Amtszeit ebenfalls aus gesundheitlichen<br />

Gründen aus seinem Amt als Vizepräsident<br />

ausscheidet .<br />

Die Kuratoriumssitzung leitete erstmals<br />

Darmstadts Oberbürgermeister Walter<br />

Hoffmann, <strong>der</strong> als Stadtoberhaupt satzungsgemäß<br />

den Vorsitz des DPI-Kuratoriums<br />

einnimmt. Der Magistrat <strong>der</strong> Wissenschaftsstadt<br />

Darmstadt hat beschlossen,<br />

den bisherigen DPI-Präsidenten<br />

Koschnick mit <strong>der</strong> Silbernen Verdienstplakette<br />

und den bisherigen Vizepräsidenten<br />

Dr. Payer mit <strong>der</strong> Bronzenen Verdienstplakette<br />

auszuzeichnen.<br />

Gleichzeitig wurde für den Zeitraum<br />

2006-2008 ein Wissenschaftlicher Beirat<br />

am <strong>Deutsch</strong>en Polen-Institut eingerichtet,<br />

dem drei führende Historiker angehören:<br />

Prof. Dr. W³odzimierz Borodziej (Universität<br />

Warschau), Prof. Dr. Martin Schulze<br />

Wessel (Universität München) und Prof.<br />

Dr. Klaus Ziemer (Direktor des <strong>Deutsch</strong>en<br />

Historischen Instituts Warschau).<br />

www.deutsches-polen-institut.de


Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD spricht<br />

von „Unrecht <strong>der</strong> Vertreibung“<br />

Streit um Vertreibungszentrum<br />

geht weiter<br />

Die Bundeskanzlerin hat die Durchsetzung<br />

des Zentrums entgegen polnischer (und<br />

tschechischer) Proteste zur Chefsache<br />

gemacht. Wenige Tage vor ihrer Wahl erklärte<br />

sie auf einer Versammlung <strong>der</strong> „Ostund<br />

Mitteldeutschen Vereinigung“ (OMV)<br />

<strong>der</strong> Unionsparteien in Berlin: „Wenn ich<br />

zur Bundeskanzlerin gewählt werden sollte,<br />

dann werde ich mich auch ganz persönlich<br />

dieser Aufgabe verpflichtet fühlen.“<br />

(ARD-Tagesschau, 18.11.2005)<br />

Ihr Vertrauen in dieser Angelegenheit hat<br />

allerdings nicht <strong>der</strong> neue Außenminister<br />

Frank-Walter Steinmeier (SPD), <strong>der</strong> das<br />

Zentrum in <strong>der</strong> Version des BdV ablehnt. In<br />

Warschau durfte er schweigend daneben<br />

stehen, während seine Chefin mit dem polnischen<br />

Ministerpräsidenten Kazimierz<br />

Marcinkiewicz Gespräche zur Fortsetzung<br />

des „Dialogs“ über dieses Thema vereinbarte:<br />

zwischen dem deutschen „Kulturstaatsminister“<br />

Bernd Neumann (CDU) -<br />

über ihn wird berichtet, dass er 1977 als<br />

CDU-Fraktionsvorsitzen<strong>der</strong> in Bremen ein<br />

Gedicht von Erich Fried lieber verbrannt<br />

als in einer Schule behandelt wissen wollte<br />

- und dem polnischen Kulturminister Kazimierz<br />

Ujazdowski.<br />

Schwarz-rote Koalition will an<br />

das „Unrecht <strong>der</strong> Vertreibung“<br />

erinnern<br />

Schon bei den Koalitionsverhandlungen<br />

zwischen CDU/CSU und SPD war das<br />

Thema Vertreibungszentrum <strong>der</strong> Arbeitsgruppe<br />

Außenpolitik entzogen und <strong>der</strong><br />

Arbeitsgruppe Kultur zugeschoben worden,<br />

die von Bundestagspräsident Norbert<br />

Lammert (CDU) geleitet wurde. Dort<br />

einigte man sich auf eine Formulierung, die<br />

alles möglich macht: „Die Koalition<br />

bekennt sich zur gesellschaftlichen wie<br />

historischen Aufarbeitung von Zwangsmi-<br />

Von Renate Hennecke<br />

Das „Zentrum gegen Vertreibungen“, für dessen Errichtung <strong>der</strong> Bund <strong>der</strong> Vertriebenen<br />

(BdV) den politischen Segen <strong>der</strong> Bundesregierung und großzügige finanzielle<br />

Unterstützungen aus Steuermitteln for<strong>der</strong>t, habe „nichts mit einer Relativierung <strong>der</strong><br />

Geschichte zu tun“, erklärte Angela Merkel bei ihrem Antrittsbesuch in Polen am 2.<br />

Dezember 2005. Sie hat das schon früher behauptet - aber wer soll das glauben?<br />

gration, Flucht und Vertreibung“, heißt es<br />

im schwarz-roten Koalitionsvertrag. „Wir<br />

wollen im Geiste <strong>der</strong> Versöhnung auch in<br />

Berlin ein sichtbares Zeichen setzen, um -<br />

in Verbindung mit dem „Europäischen<br />

Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ über<br />

die bisher beteiligten Län<strong>der</strong> Polen,<br />

Ungarn und Slowakei hinaus - an das<br />

Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und<br />

Vertreibung für immer zu ächten.“<br />

Damit ist nun ausdrücklich formuliert, wie<br />

sehr sich das BdV-Vertreibungszentrum<br />

und das von <strong>der</strong> rot-grünen Koalition ins<br />

Leben gerufene „Europäische Netzwerk<br />

Erinnerung und Solidarität“ (dem bislang<br />

neben <strong>Deutsch</strong>land und Polen nur die Slowakische<br />

Republik und Ungarn angehören)<br />

in ihren Grundaussagen ähneln: Beide sollen<br />

die Auffassung verbreiten und durchsetzen,<br />

die zum Schutz <strong>der</strong> Nachbarlän<strong>der</strong><br />

vor erneuter Destabilisierung durch eine<br />

expansive deutsche Volkstumspolitik erfolgte<br />

Umsiedlung <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en 1945/46<br />

sei Unrecht gewesen. Nicht ohne Grund<br />

jubelte die BdV-Präsidentin Erika Steinbach<br />

schon am 16. Mai 2002, als im Bundestag<br />

<strong>der</strong> rot-grüne Antrag „Für ein europäisch<br />

ausgerichtetes Zentrum gegen Vertreibungen“<br />

(die Grundlage für das spätere<br />

„Netzwerk“ verabschiedet und ihr eigener<br />

Antrag „Zentrum gegen Vertreibungen“<br />

abgelehnt wurde: „Heute ist ein guter Tag.“<br />

Und Norbert Lammert, damals Mitinitiator<br />

des CDU/CSU-Antrags und heute Befürworter<br />

einer neuen Leitkulturdebatte, freute<br />

sich: „So viel Übereinstimmung gab es<br />

selten.“<br />

Von SPD-Politikern wie z.B. Markus Mekkel,<br />

Bundestagsabgeordneter und Vorsitzen<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> deutsch-polnischen Parlamentariergruppe<br />

und Vorkämpfer für ein „europäisches<br />

Zentrum gegen Vertreibungen“,<br />

wurde <strong>der</strong> oben zitierte Abschnitt des<br />

Koalitionsvertrages als Absage an das<br />

ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN<br />

BdV-Projekt interpretiert. Schon bald<br />

sahen sich die sozialdemokratischen Koalitionäre<br />

allerdings genötigt, vor „missverständlichen<br />

Äußerungen“ und einer<br />

„Uminterpretation des Koalitionsvertrages“<br />

zu warnen. Was soll aber missverständlich<br />

gewesen sein, wenn Angela Merkel<br />

bei <strong>der</strong> oben genanten OMV-Versammlung<br />

ganz offen erklärte: „Wir wollen im<br />

Geiste <strong>der</strong> Versöhnung mit einem Zentrum<br />

gegen Vertreibungen in Berlin ein Zeichen<br />

setzen“?<br />

Markus Meckel will mittlerweile das<br />

„sichtbare Zeichen“ in Berlin setzen,<br />

indem die Ausstellung "Flucht, Vertreibung,<br />

Integration“, die am Tage von Angela<br />

Merkels Polen-Besuch im Haus <strong>der</strong><br />

Geschichte <strong>der</strong> BRD in Bonn eröffnet<br />

wurde und im nächsten Jahr in Berlin und<br />

Leipzig gezeigt werden soll, fest in <strong>der</strong><br />

Hauptstadt installiert wird. An <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

dieser Ausstellung sollen „renommierte<br />

Wissenschaftler aus Polen und<br />

Tschechien ebenso wie <strong>der</strong> Bund <strong>der</strong> Vertriebenen“<br />

beteiligt gewesen sein. Dem<br />

Katalog <strong>der</strong> Ausstellung ist zu entnehmen,<br />

dass sich diese in den Konsens „Unrecht<br />

<strong>der</strong> Vertreibung“ nahtlos einordnet. Alles<br />

an<strong>der</strong>e wäre auch erstaunlich, denn Prof.<br />

Dr. Hermann Schäfer, bislang Präsident <strong>der</strong><br />

Stiftung „Haus <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> BRD“<br />

und verantwortlich für die Gestaltung <strong>der</strong><br />

dortigen Ausstellung, ist gleichzeitig Mitglied<br />

des Wissenschaftlichen Beirats <strong>der</strong><br />

BdV-Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“.<br />

Am 1. Februar 2006 wurde er zudem<br />

Leiter <strong>der</strong> Abteilung Kultur und Medien<br />

bei Minister Neumann (siehe oben), eine<br />

Berufung, die in <strong>der</strong> Sudetendeutschen Zeitung<br />

nachdrücklich begrüßt wurde.<br />

Für die oberste „Vertriebene“ Erika Steinbach,<br />

die als Tochter eines Besatzungssoldaten<br />

im damaligen „Westpreußen“ geboren<br />

wurde, war dagegen rasch klar, was die<br />

Formulierung im Koalitionsvertrag bedeutete.<br />

Nach dem Wahltag hatte sie zunächst<br />

befürchten müssen, dass die CDU/CSU um<br />

Abstriche an ihrem Wahlprogramm in<br />

puncto Vertreibungszentrum nicht herumkommen<br />

werde. Dort hatte es geheißen:<br />

„Wir wollen im Geiste <strong>der</strong> Versöhnung mit<br />

einem Zentrum gegen Vertreibungen in<br />

Berlin ein Zeichen setzen, um an das<br />

Unrecht von Vertreibung zu erinnern und<br />

gleichzeitig Vertreibung für immer zu ächten.“<br />

Die - fast gleich lautende - Formulierung<br />

in <strong>der</strong> Koalitionsvereinbarung verstand<br />

sie sofort als „ein klares Bekenntnis<br />

für unser Projekt“ und lobte sie als „ein<br />

Meisterstück <strong>der</strong> Psychologie“. Als Merkel<br />

in ihrer Regierungserklärung am 1. Dezember<br />

2005 die Formulierung wie<strong>der</strong>holte,<br />

erklärte Steinbach gegenüber <strong>der</strong> WELT:<br />

POLEN und wir 2/2006 9


ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN<br />

„Das war eine wun<strong>der</strong>bare Beschreibung<br />

von Frau Merkel, mit <strong>der</strong> ich gut leben<br />

kann.“<br />

Im ARD-Morgenmagazin for<strong>der</strong>te Steinbach<br />

polnische Historiker und Historikerinnen<br />

auf, an ihrem Vertreibungszentrum<br />

mitzuarbeiten. Seit langem bemüht sie<br />

sich, dem Projekt eine „europäische“ Fassade<br />

zu geben. Das hin<strong>der</strong>t sie allerdings<br />

nicht daran, hin und wie<strong>der</strong> klarzustellen,<br />

wie das gemeint ist. Als <strong>der</strong> designierte<br />

polnische Präsident Lech Kaczyñski in<br />

einem Interview in <strong>der</strong> BILD-Zeitung vom<br />

23. Oktober 2005 erklärte, „es wäre für die<br />

Beziehung unserer Län<strong>der</strong> das Beste, wenn<br />

das Vertriebenenzentrum niemals gebaut<br />

würde“, putzte ihn Steinbach rüde herunter.<br />

Kaczyñski sei nicht in <strong>Deutsch</strong>land zum<br />

Präsidenten gewählt worden, erklärte sie.<br />

Und sie mische sich ja auch nicht in polnische<br />

Angelegenheiten ein, bei <strong>der</strong> Frage<br />

des Zentrums handele es sich um eine<br />

„innerdeutsche Angelegenheit“ und „diese<br />

überzogenen nationalistischen Töne“ würden<br />

den Polen in <strong>der</strong> EU „auch nicht helfen“.<br />

Wie die Dauerausstellung im<br />

Zentrum aussehen soll<br />

Während über das Vertreibungszentrum<br />

gestritten wird, wird seltsamerweise über<br />

die konkreten Vorstellungen des BdV zu<br />

seiner inhaltlichen Gestaltung kaum ein<br />

Wort verloren. Dabei hat die „Stiftung Zentrum<br />

gegen Vertreibungen“ schon vor Jahren<br />

an alle Bundestagsabgeordneten ein<br />

Exposé für die Ständige Ausstellung verschickt,<br />

die - neben einer „Gedenkrotunde“<br />

- das Kernstück des Zentrums bilden soll.<br />

Dieses Exposé ist auch im Internet<br />

(www.z-g-v.de) abrufbar.<br />

Die vier Hauptkapitel (Teil I) befassen sich<br />

ausschließlich mit dem „Schicksalsweg <strong>der</strong><br />

deutschen Heimatvertriebenen“. Das erste<br />

Kapitel ist überschrieben „Heimatland“<br />

und umfasst die Abschnitte „Heimat in<br />

<strong>Deutsch</strong>land“ und „Heimat außerhalb von<br />

<strong>Deutsch</strong>land“. Vorgestellt werden „Städte<br />

wie Breslau, Danzig o<strong>der</strong> Königsberg<br />

ebenso wie die Weite <strong>der</strong> masurischen<br />

Landschaft, die Idylle des Riesengebirges<br />

und die soziale Ordnung <strong>der</strong> Gutswirtschaft“.<br />

Erzählt werden soll „vom alltäglichen<br />

Leben in Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg<br />

und Schlesien: von Hochzeit<br />

und Geburt, vom ersten Schultag, von<br />

Königsberger Klopsen und Thorner<br />

Kathrinchen, dem kulturellen Leben <strong>der</strong><br />

Städte, dem Leben im schlesischen Industrierevier“.<br />

Idylle <strong>der</strong> „alten Heimat“, in<br />

<strong>der</strong> alle glücklich waren und je<strong>der</strong> seinen<br />

angestammten Platz hatte, vom ostelbi-<br />

10 POLEN und wir 2/2006<br />

schen Junker bis zum polnischen Pferdeknecht.<br />

O<strong>der</strong> - im zweiten Teil - vom<br />

„Nebeneinan<strong>der</strong> und Miteinan<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Volksgruppen in den von <strong>Deutsch</strong>en<br />

bewohnten Gebieten außerhalb <strong>der</strong> deutschen<br />

Staatsgrenzen von 1937“. Auch hier<br />

soll „das alltägliche Leben in den Beziehungen<br />

zwischen <strong>der</strong> deutschen Min<strong>der</strong>heit<br />

und <strong>der</strong> herrschenden Mehrheitsgesellschaft<br />

<strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>der</strong> Darstellung“<br />

sein. Geherrscht wird offenbar nur<br />

außerhalb <strong>der</strong> deutschen Grenzen: da herrschen<br />

die slawischen Landarbeiter über die<br />

deutsch-baltischen Barone (während deutsche<br />

Gutshöfe eine soziale Ordnung aufweisen),<br />

da bedrohen tschechische Chauvinisten<br />

redliche großdeutsche Patrioten ...<br />

Dazu soll man - passen<strong>der</strong>weise - „erzählte<br />

Märchen und Geschichten“ aus <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Region im Originaldialekt hören.<br />

Emotionale Überwältigung<br />

statt Aufarbeitung<br />

<strong>der</strong> Zusammenhänge<br />

Das zweite Hauptkapitel heißt „Vogelfrei<br />

und rechtlos“. Dieser Teil soll so gestaltet<br />

werden, dass kritisches Nachdenken über<br />

die historischen Zusammenhänge gar nicht<br />

erst aufkommt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Besucher sich<br />

emotional vollständig mit den deutschen<br />

Opfern identifizieren muss. „Die Gestaltung<br />

dieses Ausstellungsteils empfindet das<br />

Entwurzeltsein und den Verlust <strong>der</strong> Menschenwürde<br />

nach. Der Besucher läuft<br />

neben einer lebensgroßen Projektion von<br />

Flüchtlings- und Vertreibungstrecks entlang.<br />

Sein Weg ist gesäumt von Gepäckstücken,<br />

die von den Flüchtlingen zurückgelassen<br />

wurden. An mehreren Stellen hat<br />

er die Möglichkeit, in einen Raum hinter<br />

<strong>der</strong> Leinwand zu treten und dort anhand<br />

von Fotos, Dokumenten und Objekten die<br />

näheren Umstände von Flucht und Vertreibung<br />

in sich aufzunehmen. Auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden<br />

Seite des Weges wird in<br />

eigenen Räumen das Ausmaß <strong>der</strong> Grausamkeit<br />

dargestellt, dem die Menschen in<br />

den Lagern, bei <strong>der</strong> Vertreibung und an<br />

ihren Heimatorten ausgesetzt waren. Auf<br />

einer Abzweigung wird das Schicksal und<br />

die Lage <strong>der</strong> Russlanddeutschen plastisch<br />

dargestellt.“<br />

Schließlich folgen die beiden Kapitel<br />

„Zuflucht“ und „Neue Wurzeln“ über die<br />

Ankunft in „West- und Mitteldeutschland“,<br />

die erlittene Not und die Gefahr <strong>der</strong> Assimilierung<br />

bzw. über die Zeit nach dem<br />

Krieg, einschließlich Lager Friedland und<br />

„Charta <strong>der</strong> Heimatvertriebenen“. Da die<br />

Beschreibung dieser beiden Kapitel in <strong>der</strong><br />

Vorlage <strong>der</strong> Stiftung zusammen weniger<br />

Platz einnimmt als das zweite Kapitel<br />

allein, sollen sie auch hier nur erwähnt<br />

werden.<br />

Auch auf Teil II des Exposés - Überschrift:<br />

„Vertreibungen europäischer Völker im 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t" - haben die Planer <strong>der</strong> Ausstellung<br />

nicht viel Mühe verwendet. Fünfeinhalb<br />

Jahre nach <strong>der</strong> ersten Veröffentlichung<br />

des Exposés besteht dieser Teil noch<br />

immer im Wesentlichen aus einer wahllos<br />

zusammengewürfelten Tabelle mit verschiedensten<br />

historischen Ereignissen und<br />

<strong>der</strong> lapidaren Ankündigung: „Anhand <strong>der</strong><br />

folgenden tabellarischen Übersicht wird<br />

mit mo<strong>der</strong>nen musealen Mitteln die<br />

Geschichte <strong>der</strong> europäischen Völkervertreibungen<br />

dargestellt. Das Konzept für<br />

diesen Teil <strong>der</strong> Dauerausstellung ist in<br />

Bearbeitung.“<br />

Das Böse ist immer und überall<br />

Bleiben noch Einleitung und Schluss. Der<br />

„Prolog“ beginnt mit <strong>der</strong> Frage: „Warum<br />

Vertreibungen?“ Wer erwartet, Konkretes<br />

über die Umstände, die zu Grunde liegenden<br />

Konflikte, die Ziele, kurz die Vorgeschichte<br />

und Zusammenhänge konkreter<br />

Vertreibungen zu erfahren, sieht sich<br />

getäuscht. In dem Konzept <strong>der</strong> Stiftung<br />

„Zentrum gegen Vertreibungen“ für ihre<br />

Dauerausstellung wird ein Grund gleichermaßen<br />

für alle Vertreibungen seit 1848 verantwortlich<br />

gemacht.<br />

Anfang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, heißt es da,<br />

sei <strong>der</strong> Nationalismus entstanden und <strong>der</strong><br />

habe in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

dazu geführt, dass sich bei Politikern<br />

und Bevölkerung mehr und mehr die Auffassung<br />

verfestigte, Frieden sei nur in<br />

einem ethnisch homogenen Nationalstaat<br />

möglich. „Von dieser Überzeugung zur<br />

Vertreibung war es nur ein kleiner Schritt.<br />

In gemischt besiedelten Gebieten und bei<br />

kriegerischen Grenzverschiebungen wurden<br />

Vertreibungen nun als das geeignete<br />

Mittel angesehen, ein zukünftig friedliches<br />

Zusammenleben zu gewährleisten.“ Dazu<br />

seien eine „Radikalisierung <strong>der</strong> Ideologien“<br />

und die „gewachsenen technischen<br />

Möglichkeiten“ gekommen. Das Ende vom<br />

Lied: „Allein 20 Millionen <strong>Deutsch</strong>e wurden<br />

zwischen 1918 und 1950 entwurzelt“ -<br />

angeblich nur deshalb, weil sie die falsche<br />

Nationalität besaßen.<br />

Haben also Hitler, die deutsche Wehrmacht,<br />

die SS, SA und Einsatzgruppen nur<br />

zu radikal den Frieden geliebt, als sie<br />

Europa unterwarfen, um „Lebensraum“ für<br />

die deutsche Nation zu schaffen? War es<br />

übermäßige Friedensliebe, die zum Holocaust<br />

führte und die Fe<strong>der</strong> beim Nie<strong>der</strong>schreiben<br />

<strong>der</strong> monströsen Germanisierungspläne<br />

<strong>der</strong> Nazis führte?


War es umgekehrt ganz abwegig, wenn<br />

Polen, Tschechen, Ungarn und Jugoslawen<br />

glaubten, ohne die Einmischung <strong>der</strong> „Herrenrasse“<br />

und ihre Volkstumspolitik würden<br />

sie friedlicher leben können?<br />

Im „Zentrum gegen Vertreibungen“ soll<br />

man die Ursachen von Vertreibungen verstehen,<br />

indem man auf einer Europakarte<br />

am Fußboden - ohne Grenzen! - spazieren<br />

geht und dabei „Zitate aus <strong>der</strong> Entstehungszeit<br />

des Nationalismus über den<br />

Zusammenhang von Nationalität, Rasse<br />

und Sprache in jeweils <strong>der</strong> Sprache des<br />

Landes (hört), auf dem <strong>der</strong> Besucher gerade<br />

steht“.<br />

Das Ziel ist durchschaubar: Nationalismus<br />

gab und gibt es überall, soll <strong>der</strong> Besucher<br />

schließen, eine Seuche, die ganz Europa<br />

gleichermaßen befallen hatte. Wer hat da<br />

das Recht, den <strong>Deutsch</strong>en etwas vorzuwerfen?<br />

Das „Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong><br />

Vertreibungen“<br />

Nach <strong>der</strong> Absolution kommt <strong>der</strong> Aufbau<br />

<strong>der</strong> Opferrolle. In dem großen Raum, dessen<br />

Fußboden die begehbare Europakarte<br />

bildet, soll ein kleinerer Raum eingebaut<br />

werden. Darin befinden sich zwei Kartentische<br />

und eine große Europakarte an <strong>der</strong><br />

Wand. Auf <strong>der</strong> ersten Karte sind „Vertreibungen<br />

bis 1933“, auf <strong>der</strong> zweiten „Vertreibungen<br />

1933 - 1945“ und auf <strong>der</strong> dritten<br />

„Vertreibungen 1944 - 1950“ zu sehen. Da<br />

es sich um eine mo<strong>der</strong>ne Ausstellung handelt,<br />

soll auch alles interaktiv sein. Auf<br />

Knopfdruck kann man auf den Karten "die<br />

unterschiedlichen Bevölkerungsbewegungen,<br />

sortiert nach Volksgruppen" sehen.<br />

Auch for<strong>der</strong>t „die Größe und Anordnung<br />

<strong>der</strong> Karten die Besucher heraus, sie<br />

gemeinsam zu betrachten und sich darüber<br />

zu verständigen, was als nächstes zu sehen<br />

sein soll“<br />

Was aber gibt es zu sehen?<br />

Auf <strong>der</strong> ersten Karte („Vertreibungen bis<br />

1933“) sieht man z.B. gewaltsame Bevölkerungsverschiebungen<br />

auf <strong>der</strong> Grundlage<br />

von Verträgen zwischen Bulgarien, Griechenland<br />

und <strong>der</strong> Türkei 1913, den Völkermord<br />

an den Armeniern 1914/15, „Millionen<br />

Menschen, die durch den Russischen<br />

Bürgerkrieg (1918 - 1921) entwurzelt und<br />

in die Emigration getrieben wurden“ (Bürgerkrieg?<br />

Waren die Angehörigen <strong>der</strong> 18<br />

Interventionsarmeen alle russische Bürger?),<br />

die Zwangsumsiedlung von Griechen<br />

und Türken nach dem Vertrag von<br />

Lausanne 1923.<br />

Und: „Die mittelbaren Vertreibungen <strong>Deutsch</strong>er<br />

aus <strong>der</strong> II. <strong>Polnische</strong>n Republik als<br />

Folge <strong>der</strong> neuen Grenzen nach 1918 waren<br />

bereits Vorboten <strong>der</strong> Massenvertreibungen<br />

ab 1945.“ Damit wird angedeutet, dass die<br />

Umsiedlung 1945/46 nicht Folge <strong>der</strong> NS-<br />

Verbrechen, son<strong>der</strong>n schon lange vorher<br />

geplant gewesen sei.<br />

In <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> zweiten Karte<br />

heißt es: „Nicht nur als Mittel, son<strong>der</strong>n als<br />

Ziel <strong>der</strong> Politik verstand das nationalsozialistische<br />

<strong>Deutsch</strong>land die Vertreibung<br />

nicht-deutscher und die Ermordung ‚nichtarischer'<br />

Bevölkerung.“ Genannt werden:<br />

- die Entrechtung, Deportation und Vernichtung<br />

<strong>der</strong> europäischen Juden durch<br />

„das nationalsozialistische <strong>Deutsch</strong>land“<br />

- die Vertreibung von 450.000 Polen und<br />

Polinnen aus „Westpreußen“ und dem<br />

Ein Buch zum Thema: „Größte<br />

Härte...“, Verbrechen <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

in Polen, September/Oktober 1939,<br />

Osnabrück 2005<br />

(s.a. POLEN und wir, 1/2006, S. 7)<br />

„Wartheland“ in das besetzte "Generalgouvernement"<br />

- die Ermordung von Sinti und Roma<br />

- die Umsiedlung <strong>der</strong> Volksdeutschen unter<br />

dem Motto „Heim ins Reich“.<br />

Aus <strong>der</strong> Tschechoslowakei wurde demnach<br />

niemand vertrieben (das entspricht <strong>der</strong><br />

Darstellung <strong>der</strong> Sudetendeutschen Landsmannschaft).<br />

Und auf sowjetischem Gebiet<br />

hat offenbar nur Stalin sich Vertreibungen<br />

zuschulden kommen lassen: 900.000 Wolgadeutsche<br />

waren seine Opfer, und „1944<br />

(wurden) die kleinen islamischen Völker<br />

asiatischer Herkunft im Nordkaukasus und<br />

die Krimtataren von Stalin aus ihren Siedlungsgebieten<br />

deportiert“. Hat denn die<br />

ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN<br />

Wehrmacht überhaupt niemanden vertrieben,<br />

als sie 1941 über die Sowjetunion herfiel<br />

und eine Spur von Vernichtung und<br />

verbrannter Erde hinter sich her zog?<br />

Der Inhalt <strong>der</strong> dritten Karte (1944 - 1950)<br />

lässt sich sehr kurz zusammenfassen:<br />

„Mehr als 15 Millionen <strong>Deutsch</strong>e waren<br />

am Ende Opfer“ <strong>der</strong> territorialen Neuordnung<br />

Europas durch die Alliierten.<br />

Die Darstellung <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en als Opfer<br />

<strong>der</strong> „größten ethnischen Säuberung <strong>der</strong><br />

Menschheitsgeschichte“, wie es Vertriebenenpolitiker<br />

an an<strong>der</strong>er Stelle gern formulieren,<br />

ist <strong>der</strong> eine Inhalt dieser Inszenierung,<br />

die Nivellierung aller Unterschiede<br />

<strong>der</strong> zweite. Der Holocaust wird zu einer<br />

Episode unter vielen. Und die Umsiedlung<br />

<strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en hat keine an<strong>der</strong>e Vorgeschichte<br />

als alle an<strong>der</strong>en Vertreibungen.<br />

Mit <strong>der</strong> Vorgeschichte braucht man sich<br />

ohnehin nicht auseinan<strong>der</strong>zusetzen, denn<br />

das Motto <strong>der</strong> deutschen Opferdebatte lautet:<br />

„Vertreibungen sind immer Unrecht,<br />

egal was vorher geschah.“<br />

Dass es sich bei dem Zentrum um ein durch<br />

und durch deutschnationales Projekt handelt,<br />

zeigt schließlich auch <strong>der</strong> - in dem<br />

Exposé sehr kurz gehaltene - Epilog am<br />

Schluss. Noch einmal wird alles unter dem<br />

Etikett eines anonymen "Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>der</strong><br />

Vertreibung" in einen Topf zusammengerührt.<br />

Dann folgt die Rechtfertigung <strong>der</strong><br />

ganzen Angelegenheit als Veranstaltung<br />

zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Menschenrechte, speziell<br />

des "Rechtes auf die Heimat", das die<br />

Vertriebenenverbände seit Jahrzehnten zur<br />

Begründung ihrer Ansprüche an die von<br />

ihnen so genannten „Vertreiberstaaten“<br />

heranziehen. In <strong>der</strong> Ausstellung wollen sie<br />

dazu Video-Aufnahmen von „aktuellen<br />

Vertreibungen“ missbrauchen.<br />

"Es wäre das Beste ...<br />

wenn das Vertriebenenzentrum niemals<br />

gebaut würde.“ Das gilt nicht nur für die<br />

Beziehungen zu unseren Nachbarlän<strong>der</strong>n,<br />

son<strong>der</strong>n auch für das politische Klima in<br />

<strong>Deutsch</strong>land selbst. Der kritische Blick auf<br />

die geplante Ausführung <strong>der</strong> Dauerausstellung<br />

als Kernstück des Zentrums zeigt,<br />

dass hier sehr wohl Geschichte umgeschrieben<br />

werden soll, allen gegenteiligen<br />

Beteuerungen zum Trotz. ��<br />

Dies ist die aktualisierte Fassung eines<br />

Artikels, <strong>der</strong> zuerst in den <strong>Deutsch</strong>-Tschechischen<br />

Nachrichten Nr. 69 vom 18.<br />

November 2005 erschien (www.deutschtschechische-nachrichten.de;renate.hennecke@netsurf.de).<br />

POLEN und wir 2/2006 11


DEUTSCHE ANSPRÜCHE<br />

Prominente Anwälte ziehen sich zurück<br />

"Preußische Treuhand" floppt<br />

Die in Düsseldorf beheimatete „Preußische Treuhand“, eine Vorfeldorganisation<br />

mehrerer Vertriebenenverbände, die durch Klagen vor internationalen Gerichten<br />

die Rückgabe ehemaliger deutscher Besitztümer in Polen und an<strong>der</strong>en osteuropäischen<br />

Län<strong>der</strong>n erzwingen will, die 1945 als Kompensation für die deutschen Kriegsverbrechen<br />

enteignet worden waren, hat erneut eine ernsthafte Schlappe hinnehmen<br />

müssen: Die Anwälte laufen ihr davon. Aber die Kampagne soll weitergehen.<br />

Ende September 2005, kurz nach den Bundestagswahlen,<br />

hatte die „Treuhand“ angekündigt,<br />

sie habe jetzt eine "namhafte<br />

Kanzlei" gewonnen, um die Klagen ihrer<br />

Aktionäre vor polnischen und europäischen<br />

Gerichten zu vertreten (Berliner Zeitung,<br />

30.9.05). Mitte Oktober werde man<br />

Einzelheiten auf einer Pressekonferenz in<br />

Berlin mitteilen. Doch daraus wurde erst<br />

mal nichts. Die groß angekündigte Pressekonferenz<br />

wurde einen Tag vorher sangund<br />

klanglos abgesagt.<br />

Im Dezember 2000 hatten die Ostpreussische<br />

und die Schlesische Landsmannschaft<br />

des „Bundes <strong>der</strong> Vertriebenen“<br />

(BdV) die „Preußische Treuhand GmbH“<br />

gegründet, die ein Jahr später in eine Kommanditgesellschaft<br />

auf Aktien umgewandelt<br />

wurde, um durch Klagen vor Gerichten<br />

eine „Rückgabe des im Osten von den Vertreiberstaaten<br />

völkerrechtswidrig konfiszierten<br />

Eigentums“ von deutschen Junkern,<br />

Firmen usw. zu erzwingen.<br />

Zwar distanzierten sich nicht nur Vertreter<br />

<strong>der</strong> rot-grünen Bundesregierung und Bundespräsident<br />

Köhler von <strong>der</strong> „Treuhand“,<br />

auch die CDU/CSU und <strong>der</strong> BdV hielten<br />

nach außen hin Distanz zu den Aktivitäten<br />

<strong>der</strong> „Treuhand“. Tatsächlich aber kennt<br />

man sich und kooperiert bis heute insbeson<strong>der</strong>e<br />

mit <strong>der</strong> CDU/CSU und dem BdV<br />

bestens. So residiert die „Treuhand“ bis<br />

heute in <strong>der</strong> NRW-Filiale <strong>der</strong> ostpreussischen<br />

Landsmannschaft in Düsseldorf.<br />

„Treuhand“ Chef Pawelka ist CDU-Mitglied<br />

und erst vor einem Jahr, also lange<br />

nach Bekanntwerden <strong>der</strong> Aktivitäten <strong>der</strong><br />

„Treuhand“, erneut von seiner Partei aufgestelltes<br />

und auch direkt gewähltes Ratsmitglied<br />

in Leverkusen geworden. Im Aufsichtsrat<br />

<strong>der</strong> „Treuhand“ sitzt u.a. Hans-<br />

Günther Parplies, stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong><br />

des BdV. Entsprechend groß waren<br />

und sind die Sorgen in Polen und an<strong>der</strong>en<br />

Staaten, dass die Aktivitäten <strong>der</strong> „Treuhand“<br />

keineswegs Absichten einiger weniger<br />

Spinner sind, son<strong>der</strong>n eine Erpressungskampagne<br />

einflussreicher deutscher<br />

Kreise mit möglicherweise weit reichenden<br />

Folgen. Der damalige Warschauer Bürger-<br />

12 POLEN und wir 2/2006<br />

meister Lech Kaczyñski - inzwischen polnischer<br />

Staatspräsident - hatte ebenso wie<br />

das polnische Parlament nicht nur eine<br />

<strong>Zur</strong>ückweisung solcher Ansprüche verlangt,<br />

son<strong>der</strong>n im Gegenzug polnische Entschädigungsfor<strong>der</strong>ungen<br />

für die deutschen<br />

Kriegsverbrechen und Verwüstungen angekündigt.<br />

Allein für Warschau bezifferte<br />

Kaczyñski diese Schäden auf 32 Milliarden<br />

Euro.<br />

Bereits Ende 2004 hatte die „Treuhand“,<br />

mit dem Münchner Anwalt Michael Witti<br />

verhandelt, <strong>der</strong> vor ein paar Jahren zusammen<br />

mit dem US-Anwalt Fagan auch<br />

Überlebende <strong>der</strong> NS-Zwangsarbeit vor US-<br />

Gerichten gegen deutsche Konzerne vertreten<br />

hatte. Dann sprang <strong>der</strong> Münchner<br />

Anwalt aber wie<strong>der</strong> ab. „Das hätte auch zu<br />

unserer übrigen Mandantschaft nicht<br />

gepasst“, begründet Witti den Rückzug<br />

gegenüber Journalisten.<br />

Mitte Oktober sollte nun <strong>der</strong> zweite Anlauf<br />

starten. Aber Matthias Druba von <strong>der</strong><br />

Kanzlei Schwarz Kelwing, <strong>der</strong> zuletzt<br />

erfolgreich die Erben <strong>der</strong> jüdischen Kaufmannsfamilie<br />

Wertheim bei Prozessen<br />

gegen die Bundesregierung und den Karstadt-Konzern<br />

auf Rückgabe von Grundstücken<br />

im Zentrum Berlins vertreten hatte,<br />

sprang zwei Tage vor <strong>der</strong> groß angekündigten<br />

Pressekonferenz nun ebenfalls ab. „Ich<br />

kann <strong>der</strong> Sache mit juristischen Mitteln<br />

nicht wirklich dienen“, sagte er gegenüber<br />

Journalisten. Klagen auf Rückgabe einstigen<br />

Eigentums und auf Entschädigung<br />

seien „nicht sinnvoll“. Was solche Klagen<br />

auslösten sei jenseits dessen, „was man als<br />

Jurist vertreten kann“. Treuhand-Chef<br />

Pawelka reagierte zunächst fassungslos.<br />

Zustimmung zum Absprung des Anwalts<br />

kam dagegen von <strong>der</strong> CDU/CSUBundestagsfraktion.<br />

Erwin Marschewski, Sprecher<br />

<strong>der</strong> Vertriebenengruppe in <strong>der</strong> Fraktion,<br />

erklärte, das Treiben <strong>der</strong> Treuhand sei<br />

„Wasser auf die Mühlen <strong>der</strong> deutschfeindlichen<br />

Kräfte in Polen“ und „rechtlich und<br />

politisch falsch“. Die Treuhand habe mit<br />

ihrem aggressiven Auftreten dem polnischen<br />

Präsidentschaftskandidaten Lech<br />

Kaczyñski „noch mehr Wähler beschert“.<br />

Treuhand-Chef Pawelka aber will weitermachen.<br />

Das Projekt, auf dem Klageweg<br />

vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof<br />

in Strassburg ehemalige deutsche<br />

Immobilien in Polen zurückzufor<strong>der</strong>n,<br />

werde durch den Absprung jetzt schon <strong>der</strong><br />

zweiten prominenten Anwaltskanzlei nicht<br />

scheitern, son<strong>der</strong>n weiter fortgesetzt. Auch<br />

<strong>der</strong> Dortmun<strong>der</strong> Anwalt Gerwald Stanko,<br />

Geschäftsführer bei <strong>der</strong> „Preußischen Treuhand“,<br />

will weitermachen, fürchtet aber<br />

gleichzeitig wachsenden Druck <strong>der</strong> Aktionäre<br />

<strong>der</strong> Treuhand, was nun mit ihrem Geld<br />

wird. Gegenüber <strong>der</strong> „taz“ erklärte er: „Wie<br />

stehen wir jetzt intern da? Wie können wir<br />

das unseren Aktionären erklären?“<br />

Spannend wird auch, wie die deutsche und<br />

europäische Politik jetzt weiter agiert.<br />

Immerhin hatte es schon die rot-grüne<br />

Bundesregierung in <strong>der</strong> Hand, dem Vertriebenenverband<br />

und seinen Landsmannschaften<br />

sechs Jahrzehnte nach Kriegsende<br />

endlich die jahrzehntelange finanzielle<br />

Subventionierung aus dem Bundeshaushalt<br />

zu entziehen. Geschehen ist nichts <strong>der</strong>gleichen.<br />

Noch heute streichen die „Vertriebenenverbände“<br />

jedes Jahr Millionen an<br />

Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt ein,<br />

weitere Zuschüsse <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> und Kommunen<br />

kommen obendrauf. Der polnische<br />

Vorwurf einer staatlichen deutschen Mitwirkung<br />

bei den Umtrieben <strong>der</strong><br />

"Preußischen Treuhand" ist also mehr als<br />

begründet.<br />

Hinzu kommt: Bis heute sind gesetzliche<br />

Bestimmungen wie z.B. aus dem früheren<br />

Bundesvertriebenengesetz in Kraft, die<br />

unter an<strong>der</strong>em eine abstruse „Vererbbarkeit“<br />

des „Vertriebenenstatus“ vorsehen.<br />

Dass damit bei den betroffenen Personenkreisen<br />

auch finanzielle und materielle<br />

Revanche-Ansprüche aufrechterhalten<br />

werden, liegt auf <strong>der</strong> Hand. Seit Jahren hat<br />

es die deutsche Politik versäumt, solche<br />

revanchistischen Gesetzesklauseln und<br />

Subventionen endlich abzuschaffen.<br />

Aber auch auf europäischem Gebiet gibt es<br />

Handlungsbedarf. Eine Entschließung des<br />

europäischen Parlaments, die alle deutschen<br />

Restitutionsansprüche (Rückgabeund<br />

Entschädigungsansprüche) gegenüber<br />

Personen und Staaten in Osteuropa ein für<br />

alle Mal verwirft, wäre sicherlich ein wirksames<br />

europäisches Signal gegen hetzerische<br />

Aktivitäten wie die <strong>der</strong> Preußischen<br />

Treuhand und würde auch <strong>der</strong>en Prozessaussichten<br />

vor dem Europäischen Gerichtshof<br />

in Strassburg sicherlich beeinträchtigen.<br />

Aber bisher ist von solchen Überlegungen<br />

im EU-Parlament nichts zu hören.<br />

Warum eigentlich nicht? rül<br />

(aus: Politische Berichte vom 19.10.2005.<br />

Wir danken für das Nachdruckrecht)


"Ich sah den Namen Bosch"<br />

Zwei Bücher über eine geheime Rüstungsfabrik, ein vergessenes<br />

KZ und die Erinnerungsarbeit von Zeitzeugen<br />

Wie<strong>der</strong>entdeckt wurde das Konzentrationslager<br />

von Rudolf Mach, einem Regionalhistoriker<br />

aus Leidenschaft. In dem Buch<br />

„Muster des Erinnerns. <strong>Polnische</strong> Frauen<br />

als KZ-Häftlinge in einer Tarnfabrik von<br />

Bosch“ beschreibt er, wie seine Forschungen<br />

begonnen haben:<br />

"Als ich 1996 zum ersten Mal das sogenannte<br />

Bosch-Gelände in Kleinmachnow<br />

betrat, wusste ich noch nicht, dass dieses<br />

Areal während des Zweiten Weltkrieges<br />

einem Tochterunternehmen von Bosch<br />

gehört hatte. Leere, verwahrloste Häuser<br />

des VEB APAG, eines Betriebes aus DDR-<br />

Zeiten, <strong>der</strong> 1992 stillgelegt worden war,<br />

zogen meine Neugier an: In den Kellern<br />

lagen noch durchfeuchtete und vergammelte<br />

Akten. Ich stöberte in den verstreuten<br />

Papieren und entdeckte ein Paket, das in<br />

Packpapier eingewickelt war. Als ich es<br />

aufriss, sah ich plötzlich die Jahreszahl<br />

1942. Ich war fasziniert. Noch nie hatte ich<br />

so alte Originaldokumente gefunden und<br />

mir war, als hätte ich einen kleinen Goldschatz<br />

gehoben."<br />

Was Mach zwischen den Unterlagen <strong>der</strong><br />

DDR-Firma gefunden hatte, waren Schriftstücke<br />

<strong>der</strong> Dreilinden Maschinenbau<br />

GmbH, vor allem Versicherungsakten. Hier<br />

las er auch die Bezeichnung "KL". "Erst<br />

später begriff ich, dass ‚KL' eine Abkürzung<br />

für Konzentrationslager ist. Das war<br />

eine für mich ungeheuerliche Entdeckung.<br />

Ich begann, zu dem Komplex Zwangsarbeit<br />

und KZ-Außenlager Kleinmachnow zu<br />

recherchieren."<br />

Mach informierte die Berliner Geschichtswerkstatt<br />

e.V. und die wie<strong>der</strong>um beauftragte<br />

die Historikerin Angela Martin mit<br />

Recherchen zu <strong>der</strong> bis dahin völlig unbekannten<br />

Geschichte <strong>der</strong> Firma. Zusammen<br />

mit <strong>der</strong> Übersetzerin und Publizistin Ewa<br />

Czerwiakowski interviewte sie fast fünfzig<br />

Überlebende des Konzentrationslagers.<br />

Von Betty Glasberg<br />

Erst seit <strong>der</strong> Debatte um die "Entschädigung" für die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen<br />

des "Dritten Reichs" hat man begonnen, sich an die zahlreichen Zwangsarbeitslager<br />

und KZ-Außenstellen bei den deutschen Rüstungsbetrieben zu erinnern. Auch<br />

in Kleinmachnow, einem Berliner Vorort, wollte man lange nichts von dem KZ-<br />

Außenlager wissen, das sich hier von Sommer 1944 bis April 1945 auf dem Firmengelände<br />

<strong>der</strong> Dreilinden Maschinenbau GmbH (DLMG) befand. Diese Tarnfabrik des<br />

Bosch-Konzerns beutete gegen Kriegsende rund 2.900 ZwangsarbeiterInnen aus,<br />

darunter etwa 800 weibliche KZ-Häftlinge. Die zumeist sehr jungen Frauen kamen<br />

aus Polen und mussten unter größter Geheimhaltung Zubehör für Flugzeugmotoren<br />

produzieren.<br />

DEUTSCH GESCHICHTE-BUCHBESPRECHUNG<br />

Die Fotografin Hucky Fin Porzner hat die<br />

Zeitzeuginnen porträtiert. Nachzulesen<br />

sind die Ergebnisse dieses Projekts in zwei<br />

Buchpublikationen <strong>der</strong> Berliner Geschichtswerkstatt:<br />

Angela Martin, „Ich sah<br />

den Namen Bosch“, und „Muster des Erinnerns“,<br />

herausgegeben von Ewa Czerwiakowski<br />

und Angela Martin.<br />

Die Geschichte <strong>der</strong> DLMG reicht bis ins<br />

erste Jahr <strong>der</strong> NS-Herrschaft zurück.<br />

Bereits 1933 setzen sich Vertreter des<br />

Reichsluftfahrtministeriums und Mitarbeiter<br />

<strong>der</strong> Robert Bosch GmbH zusammen,<br />

um über eine "Ausweichfabrik" im militärisch<br />

sicheren Mitteldeutschland zu verhandeln.<br />

Bosch-Produkte waren für die<br />

Kriegspläne <strong>der</strong> Nationalsozialisten, insbeson<strong>der</strong>e<br />

für die Aufrüstung <strong>der</strong> Luftwaffe,<br />

unersetzlich. Schon in <strong>der</strong> Planungsphase<br />

des Dreilinden-Werkes hieß es, in Kleinmachnow<br />

entstehe ein industrielles Unternehmen<br />

von größter Bedeutung für die<br />

Luftfahrt: Zwei Jahre später wurden die<br />

ersten Werkshallen <strong>der</strong> DLMG in Betrieb<br />

genommen. Es waren relativ kleine Gebäude<br />

in einem Waldgebiet, denn die Industrieanlage<br />

sollte wie eine Wohnsiedlung<br />

erscheinen. Im ersten Band des Projekts<br />

beschreibt Angela Martin ausführlich die<br />

Entwicklung dieser "Schattenfabrik". Das<br />

Unternehmen expandierte schnell, alle<br />

Hin<strong>der</strong>nisse bei Erweiterungsbestrebungen<br />

wurden mit Hilfe des Reichsluftfahrtministeriums<br />

und an<strong>der</strong>er NS-Behörden ausgeräumt,<br />

außerdem wurden großzügige<br />

finanzielle Beihilfen gewährt.<br />

Während des Krieges beutete die Firma<br />

etwa 2 000 Kriegsgefangene und zivile<br />

Zwangsarbeiter aus West- und Osteuropa<br />

aus. Neben dem Werksgelände entstand<br />

eine kleine, schäbige Stadt aus Baracken<br />

für die zur Arbeit gezwungenen Menschen.<br />

Im Herbst 1944 kamen außerdem zwei<br />

Fortsetzung S. 14<br />

Janina Podoba, geb. Russiak, *1929:<br />

Dass es warm wird, dass<br />

man zu essen hat ...<br />

Ich war ein Jahr alt, als mein Vater gestorben<br />

ist. (...) Unsere Mutter hat meine<br />

Schwester und mich alleine großgezogen.<br />

Bis <strong>der</strong> Krieg ausgebrochen ist, habe ich<br />

drei Klassen <strong>der</strong> Volksschule beendet und<br />

bin dann bis 1944 in den Untergrundunterricht<br />

gegangen. Seit dem Aufstand ist<br />

mein Schicksal dem meiner Kameradinnen<br />

verblüffend ähnlich geworden: Wir<br />

alle sind den gleichen Weg gegangen. (...)<br />

Ich war völlig alleine, als man mich<br />

deportiert hat. Und ich war fünfzehn.<br />

Obwohl ich noch ein Kind war, musste<br />

ich in Kleinmachnow arbeiten wie alle<br />

an<strong>der</strong>en. Wir hatten so schrecklichen<br />

Hunger! Einmal wollte ich ein paar Kartoffelschalen<br />

aus <strong>der</strong> Mülltonne holen, da<br />

hat mich eine <strong>der</strong> Aufseherinnen, die rothaarige,<br />

die schlimmste von allen, so heftig<br />

geschlagen, dass ich die Treppe hinuntergefallen<br />

bin. In <strong>der</strong> Fabrik haben fast<br />

ausschließlich Polinnen gearbeitet, aber<br />

ich erinnere mich auch an zwei Jüdinnen,<br />

Mutter und Tochter. Eines Tages hat man<br />

sie abgeholt. Eine Aufseherin hat uns<br />

erzählt, man habe sie freigekauft. Sie<br />

haben versprochen zu schreiben, aber niemals<br />

ist ein Brief von ihnen gekommen.<br />

Sie haben sie bestimmt umgebracht. Drei<br />

Russinnen waren auch da, drei o<strong>der</strong> auch<br />

vier. Sie haben immer zusammengehalten.<br />

Im Lager hat man überhaupt nicht darüber<br />

nachgedacht, was später kommen würde.<br />

Ich habe nur geträumt, dass es warm wird,<br />

dass man zu essen hat. Alles war so entsetzlich:<br />

<strong>der</strong> Aufstand, Pruszków, Ravensbrück,<br />

dieser Stacheldraht, <strong>der</strong> Todesmarsch,<br />

die Leichen in den Straßengräben.<br />

Wir haben Gras gegessen, am<br />

Straßenrand ist kein Grashalm übrig<br />

geblieben. Ich habe immer wie<strong>der</strong> die Finger<br />

in eine Pfütze getan und sie dann<br />

abgeleckt, um etwas zu trinken. Für mich<br />

war alles schrecklich. Man kann diese<br />

Erinnerungen nicht aus dem Gedächtnis<br />

löschen. Mein Mann war auch im Lager<br />

und hat mir viel erzählt. Ich konnte nicht<br />

zuhören, ständig habe ich geweint.<br />

Ich bin mit dem letzten Transport aus Spakenberg<br />

zurückgekommen, das war 1946.<br />

Danach war ich oft und lange krank. Ich<br />

konnte keine Kin<strong>der</strong> bekommen, hatte<br />

immer wie<strong>der</strong> Fehlgeburten, dreimal hintereinan<strong>der</strong>.<br />

Später habe ich doch zwei<br />

Töchter zur Welt gebracht. Ich habe sie<br />

großgezogen und ausbilden lassen. ��<br />

Gespräch in Krakau am 19.10. 2000<br />

aus: „Muster des Erinnerns“<br />

POLEN und wir 2/2006 13


BUCHBESPRECHUNG-DEUTSCHE GESCHICHTE<br />

Fortsetzung von Seite 13<br />

Transporte mit jeweils etwa 400 polnischen<br />

Frauen aus dem KZ Ravensbrück nach<br />

Kleinmachnow. "Die Fabrik, in <strong>der</strong> wir<br />

arbeiten mussten, eine große Halle, lag im<br />

Wald und war von einem Zaun umgeben.<br />

Es war ein doppelter Stacheldrahtverhau,<br />

<strong>der</strong> innere stand unter Strom. Wir wurden<br />

von SS-Leuten (dem Lagerkommandanten<br />

und Aufseherinnen) bewacht. Gewohnt<br />

haben wir unterhalb <strong>der</strong> Fabrik, in Zellenstuben,<br />

etwa je 30 Frauen in einer. Wir<br />

schliefen auf Etagenpritschen. Die Kellerräume<br />

waren kalt, feucht, ohne Fenster."<br />

Das berichtete Maria Cicha, die 14 Jahre<br />

alt war, als sie in das KZ-Außenlager<br />

Kleinmachnow deportiert wurde.** Sie ist<br />

eine von sechzehn Überlebenden des Konzentrationslagers,<br />

die in dem zweisprachigen<br />

Buch „Ich sah den Namen Bosch“ zu<br />

Wort kommen. Bewacht von SS-Aufseherinnen<br />

mussten die Häftlinge zwölf Stunden<br />

am Tag schwere Arbeiten leisten. Als<br />

im April 1945 die Front nahte, wurden sie<br />

von <strong>der</strong> Firmenleitung in das KZ Sachsenhausen<br />

geschickt und von dort auf den<br />

berüchtigten "Todesmarsch" getrieben.<br />

Für viele <strong>der</strong> Zeitzeuginnen begann ihre<br />

Leidenszeit mit dem Warschauer Aufstand<br />

1944. Die meisten wurden während <strong>der</strong><br />

Erhebung <strong>der</strong> polnischen Hauptstadt gegen<br />

die deutschen Besatzer gefangen genommen<br />

und zunächst in das KZ Ravensbrück<br />

verschleppt. Dort wurden sie in einer entwürdigenden<br />

Selektion von Mitarbeitern<br />

<strong>der</strong> DLMG ausgewählt und dann nach<br />

Kleinmachnow gebracht. Fast alle Frauen<br />

schil<strong>der</strong>n auch die Nachkriegsjahre, den<br />

mühsamen Wie<strong>der</strong>anfang im völlig zerstörten<br />

Warschau, die Folgen <strong>der</strong> Lagerhaft,<br />

die bis heute andauern und sich in gescheiterten<br />

Lebensentwürfen, Ängsten und<br />

Krankheiten ausdrücken.<br />

Jedes Interview ist mit einem Fotoporträt<br />

versehen. Der sorgfältig gestaltete Band<br />

enthält zudem weiteres Bildmaterial, zum<br />

Beispiel gerettete Dokumente <strong>der</strong> Zeitzeuginnen:<br />

eine Bettkarte aus dem Krankenrevier,<br />

ein Blatt aus dem Lagergebetbuch,<br />

eine Postkarte, Kochrezepte, die die hungernden<br />

Frauen aufgeschrieben haben.<br />

Auch Funde von Rudolf Mach sind abgebildet,<br />

<strong>der</strong> auf dem Grundstück <strong>der</strong> DLMG<br />

Produktionsreste ausgegraben hat, sowie<br />

Pläne des Werks- und Lagergeländes und<br />

Fotos vom Bau <strong>der</strong> Fabrik. So wird die spezifische<br />

Geschichte des Bosch-Betriebs<br />

deutlich. Sie ist zugleich ein exemplarisches<br />

Beispiel für die Rüstungswirtschaft<br />

des NS-Staates, wie Wolfgang Benz im<br />

Vorwort schreibt.<br />

Die Resonanz auf diese Dokumentation<br />

war ausgesprochen positiv: "Ein eindrucks-<br />

14 POLEN und wir 2/2006<br />

volles Buch" schrieb zum Beispiel die<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung. Das<br />

ermutigte die Berliner Geschichtswerkstatt<br />

zu einer Fortsetzung des Projekts. Der<br />

zweite Band kam zunächst in polnischer<br />

Sprache heraus, jetzt ist er auf <strong>Deutsch</strong> in<br />

einer erweiterten Fassung unter dem Titel<br />

Muster des Erinnerns erschienen. Auch<br />

hier stehen die Erinnerungen <strong>der</strong> Zeitzeuginnen<br />

im Zentrum, dreiunddreißig Frauen<br />

berichten von ihrem Überleben im KZ<br />

Kleinmachnow. Den Interviewausschnitten<br />

sind drei Essays vorangestellt.<br />

Ewa Czerwiakowski untersucht mit ebenso<br />

großem Einfühlungsvermögen wie analytischem<br />

Verstand die Erinnerungsmuster <strong>der</strong><br />

Zeitzeuginnen. Deren Biografien wurden<br />

durch den gewaltsamen Einfluss <strong>der</strong><br />

"großen Geschichte" geradezu "gleichgeschaltet".<br />

Der Satz "Wir waren nur Nummern"<br />

ist davon nur <strong>der</strong> drastischste Ausdruck.<br />

Die Frauen schil<strong>der</strong>ten allerdings<br />

auch positive Erlebnisse, die einen beson<strong>der</strong>en<br />

Platz in ihren Berichten einnehmen.<br />

"Fast jede unserer Gesprächspartnerinnen<br />

berichtete spontan über unerwartete gute<br />

Momente: die Hilfe einer Leidensgenossin<br />

o<strong>der</strong> eine Geste von jemandem, <strong>der</strong> zu <strong>der</strong><br />

feindseligen Umgebung gehörte. Dabei<br />

geht es meistens um die heimliche Übergabe<br />

von Brot, die ein Meister o<strong>der</strong> Einrichter<br />

in <strong>der</strong> Fabrik wagte, seltener um das<br />

Verhalten einer Aufseherin o<strong>der</strong> eines Soldaten,<br />

obwohl auch solche Fälle vorkamen."<br />

Hier drückt sich ein Moment individueller<br />

Entscheidungsmöglichkeit aus, <strong>der</strong><br />

die Gleichschaltungs- und Einschüchterungsversuche<br />

des Nationalsozialismus<br />

unterlief. "Die Beispiele von Zivilcourage<br />

und damit eines freien, unreglementierten<br />

Verhaltens stellen einen wichtigen Aspekt<br />

<strong>der</strong> Geschichte totalitärer Systeme dar."<br />

Angela Martin schil<strong>der</strong>t in ihrem Beitrag<br />

"Das Gedächtnis <strong>der</strong> Archive" ihre mühsame<br />

Suche nach Dokumenten über die<br />

Fabrik in Kleinmachnow. Dabei erläutert<br />

sie auch Probleme <strong>der</strong> Archivüberlieferung.<br />

Erinnerungen von Zeitzeugen werden<br />

von <strong>der</strong> akademischen Forschung noch<br />

immer als unzuverlässig und selektiv<br />

beargwöhnt, zum Teil durchaus mit Recht.<br />

Doch auch Archive arbeiten selektiv, was<br />

die Autorin vor allem am Beispiel des<br />

Bosch-Archivs belegt. Nicht zu allen<br />

Aspekten <strong>der</strong> Firmengeschichte wurde<br />

gesammelt, etliche Dokumente gingen im<br />

Krieg verloren. Zudem sei es möglich, vermutet<br />

die Autorin, dass viele Materialien<br />

noch nicht erschlossen wurden. Die Erinnerungen<br />

<strong>der</strong> Zeitzeugen seien eine unerlässliche<br />

Ergänzung, schreibt Martin, sie<br />

zeigen exemplarisch die Verstrickung <strong>der</strong><br />

deutschen Industrie "nicht nur in die<br />

Kriegswirtschaft, son<strong>der</strong>n auch in den<br />

umfassenden nationalsozialistischen Repressionsapparat,<br />

zu dessen wichtigsten<br />

Mitteln die unterschiedlichen Formen <strong>der</strong><br />

Zwangsarbeit gehörten."<br />

Rudolf Mach befasst sich mit dem Gedächtnis<br />

des Ortes Kleinmachnow. Dort<br />

wollte zunächst niemand etwas von seinen<br />

Recherchen zur DLMG und ihre Lager<br />

wissen. Das hat sich inzwischen geän<strong>der</strong>t.<br />

So gibt es eine Gedenktafel, die an die Ausbeutung<br />

<strong>der</strong> Zwangsarbeiter erinnert; neun<br />

Überlebende des KZ und zwei zivile<br />

Zwangsarbeiter wurden vom Heimatverein<br />

zu <strong>der</strong> feierlichen Enthüllung eingeladen.<br />

"Kleinmachnow, das lange ein Ort ohne<br />

Gedächtnis zu sein schien, beginnt sich zu<br />

erinnern", schreibt Mach. Dass dies nicht<br />

zuletzt seiner unermüdlichen Arbeit zu verdanken<br />

ist, verrät er allerdings nicht in seinem<br />

ermutigenden Beitrag, man kann es<br />

nur den Anmerkungen <strong>der</strong> Herausgeberinnen<br />

entnehmen.<br />

Ise Bosch, eine Enkelin des Firmengrün<strong>der</strong>s,<br />

hat die Arbeit des Heimatvereins<br />

Kleinmachnow und <strong>der</strong> Berliner Geschichtswerkstatt<br />

mit großem Interesse<br />

verfolgt und ein Vorwort für das Buch<br />

„Muster des Erinnerns“ verfasst. Darin<br />

dankt sie den Zeitzeuginnen, ohne <strong>der</strong>en<br />

Mitarbeit die beiden Bücher nicht zustande<br />

gekommen wären: "Die Überlebenden des<br />

KZ-Außenlagers Kleinmachnow geben uns<br />

ihre Ängste preis, sie sprechen über<br />

Erniedrigungen, über zerstörte Lebensläufe,<br />

über Traumata, die sie bis heute belasten.<br />

Dazu gehört viel Mut, vor allem auch,<br />

wenn sie es gegenüber <strong>Deutsch</strong>en tun.<br />

Dafür und für ihre Hilfe, ein lange vergessenes<br />

Kapitel unserer Geschichte zu erhellen,<br />

möchte ich den Zeitzeuginnen meinen<br />

tiefsten Respekt aussprechen."<br />

Die Initiative zu <strong>der</strong> längst überfälligen<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den KZ-Außenlagern<br />

und den Erinnerungen <strong>der</strong> "vergessenen<br />

Opfer" geht häufig auf Vereine wie die<br />

Berliner Geschichtswerkstatt zurück, die<br />

sich mit ihren Projekten für die so genannte<br />

Alltagsgeschichte stark machen und<br />

dabei Methoden <strong>der</strong> Oral History verwenden.<br />

Wie sinnvoll diese Arbeit ist, belegen<br />

beide Bücher. ��<br />

* Muster des Erinnerns. <strong>Polnische</strong> Frauen<br />

als KZ-Häftlinge in einer Tarnfabrik von<br />

Bosch, herausgegeben von Ewa Czerwiakowski<br />

und Angela Martin, Berlin (Metropol<br />

Verlag) 2005, 143 Seiten, 14 Euro<br />

** Angela Martin, Ich sah den Namen<br />

Bosch. <strong>Polnische</strong> Frauen als KZ-Häftlinge<br />

in <strong>der</strong> Dreilinden Maschinenbau GmbH,<br />

Berlin (Metropol Verlag) 2002, 320 Seiten,<br />

17 Euro


Tschetschenische Flüchtlinge zwischen Polen und<br />

<strong>Deutsch</strong>land<br />

Treibgut in <strong>der</strong><br />

Europäischen Union?<br />

Seit Mai 2004 ist nun auch in Polen die<br />

DUBLIN 11-Verordnung in Kraft getreten,<br />

die vor <strong>der</strong> noch geltenden Drittstaatenregelung<br />

Vorrang hat. Diese Verordnung<br />

besagt, dass <strong>der</strong> Staat, den die Flüchtlinge<br />

in <strong>der</strong> EU als erstes erreichen, zuständig für<br />

die Durchführung des Asylverfahrens ist.<br />

In Tschetschenien herrscht seit 1994 Krieg.<br />

Mit aller Härte geht die russische Regierung<br />

gegen die Zivilbevölkerung vor, mehr<br />

als 400.000 Menschen sind seither aus <strong>der</strong><br />

Kaukasusrepublik geflohen. Seit einigen<br />

Monaten kommen viele Tschetschenen<br />

auch über Polen nach Brandenburg, um in<br />

<strong>Deutsch</strong>land o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en westlichen Staaten<br />

Schutz zu suchen. Doch wenn sie die<br />

Grenze nach <strong>Deutsch</strong>land überquert haben,<br />

erwartet sie hier kein Schutz, son<strong>der</strong>n<br />

Abschiebehaft, denn zur legalen Einreise<br />

benötigen sie ein Visum, das sie von <strong>der</strong><br />

russischen Fö<strong>der</strong>ation nicht erhalten. Nur<br />

wenn sie es schaffen, in westlichere Bundeslän<strong>der</strong><br />

o<strong>der</strong> wenigstens bis Berlin zu<br />

gelangen, wo man ihnen die illegale Einreise<br />

über Polen nicht mehr nachweisen kann,<br />

haben sie eine Chance, nicht inhaftiert zu<br />

werden.<br />

Der Umgang mit tschetschenischen Flüchtlingen<br />

beschreibt ein hochaktuelles Problem<br />

<strong>der</strong> deutschen Abschiebepoltik. Auch<br />

wenn das Thema sehr speziell ist, wird<br />

gerade daran deutlich, dass <strong>der</strong> Einsatz<br />

gegen Rassismus, Diskriminierung und für<br />

Menschenrechte weit über ein multikulturelles<br />

Fest hinausgehen muss.<br />

Tschetschenen überqueren meist in Terespol<br />

die beorussisch-polnische Grenze. Hier<br />

müssen sie einen Asylantrag stellen, da sie<br />

sonst keine Chance auf Einreise haben. Bei<br />

Von Regine M. Wörden<br />

Brandenburg liegt als eines <strong>der</strong> östlichen deutschen Bundeslän<strong>der</strong> an <strong>der</strong> polnischen<br />

Grenze. Die Außengrenze <strong>der</strong> EU wurde mit dem Beitritt zehn weiterer Staaten<br />

Richtung Osten verschoben, dennoch ist die O<strong>der</strong>Neiße-Linie, die die Grenze zwischen<br />

Polen und <strong>Deutsch</strong>land markiert, weiterhin streng bewacht. Die sogenannte<br />

Drittstaatenregelung, die bis zum Beitritt <strong>Polens</strong> zur EU galt, hat es auch bis dahin<br />

für Flüchtlinge fast unmöglich gemacht, in <strong>Deutsch</strong>land einen erfolgreichen Asylantrag<br />

zu stellen. Wurden sie beim illegalen Grenzübertritt vom Bundesgrenzschutz<br />

(BGS) festgenommen und konnte klar festgestellt werden, dass sie soeben einen <strong>der</strong><br />

Grenzflüsse überquert hatten, wurden sie in den Zellen des BGS bis zu 48 Stunden<br />

inhaftiert. Hatte Polen seine Zustimmung gegeben, wurden sie nach Polen zurückgeschoben,<br />

ohne in <strong>Deutsch</strong>land eine Chance auf das Stellen eines Asylantrags zu<br />

haben.<br />

illegaler Einreise droht Inhaftierung, ein<br />

dann gestellter Asylantrag garantiert keineswegs<br />

die Freilassung. Bei <strong>der</strong> Einreise<br />

erfolgt eine erkennungsdienstliche Behandlung<br />

und die Fluchtgründe müssen<br />

dargelegt werden. Nach <strong>der</strong> Einreise wird<br />

das polnische Asylverfahren eingeleitet,<br />

die Flüchtlinge werden in überfüllten<br />

Unterkünften untergebracht. 2004 wurden<br />

weniger als zehn Prozent <strong>der</strong> tschetschenischen<br />

Antragsteller in Polen ein Flüchtlingsstatus<br />

entsprechend <strong>der</strong> Genfer<br />

Flüchtlingskonvention (GFK) zuerkannt.<br />

Im Februar 2005 fiel die Anerkennungsquote<br />

auf nur zwei Prozent. Nur anerkannte<br />

Flüchtlinge erhalten in Polen ein Jahr<br />

soziale Unterstützung, Flüchtlinge mit<br />

einem Tolerierten-Status jedoch finden sich<br />

auf <strong>der</strong> Straße wie<strong>der</strong> und haben das Problem,<br />

Wohnung und Arbeit suchen zu müssen.<br />

Anerkannte Flüchtlinge in Polen haben<br />

zwar das Recht auf Schulbesuch, Ausbildung<br />

und eine Arbeitserlaubnis, doch ohne<br />

offizielle Meldeadresse bleiben sie ohne<br />

Sozialhilfe und ohne Krankenversicherung.<br />

Hinzu kommt, daß gerade tschetschenische<br />

Flüchtlinge aufgrund <strong>der</strong> schrecklichen<br />

Brutalität des Krieges in ihrer Heimat<br />

beson<strong>der</strong>s häufig traumatisiert sind. Eine<br />

medizinischpsychologische Versorgung<br />

gibt es selbst für polnische Staatsbürger<br />

kaum. Gerade einmal zwei Psychologen<br />

arbeiten in Polen <strong>der</strong>zeit mit Flüchtlingen.<br />

Somit geraten insbeson<strong>der</strong>e Kranke,<br />

Alleinerziehende und kin<strong>der</strong>reiche Familien<br />

aufgrund des Verlusts <strong>der</strong> finanziellen<br />

und sozialen Hilfen nach Abschluss des<br />

Asylverfahrens in eine aussichtslose Situation.<br />

DEUTSCH-POLNISCHE POLITIK<br />

Rassistische Abschiebungen<br />

Das sind jedoch nicht die einzigen Gründe,<br />

aus Richtung Polen in den Westen zu reisen.<br />

Viele möchten mit nahestehenden<br />

Angehörigen und Freunden zusammenleben<br />

können. Das ist gerade für Menschen,<br />

die Gewalterfahrungen ausgesetzt waren,<br />

beson<strong>der</strong>s wichtig. Zumal das Misstrauen<br />

unbekannten Tschetschenen gegenüber<br />

sehr groß ist, da auch Tschetschenen auf<br />

russischer Seite gegen die Bevölkerung <strong>der</strong><br />

Kaukasusrepublik kämpfen.<br />

Viele Flüchtlinge haben auch früher schon<br />

den Ausgang des Asylverfahrens in Polen<br />

gar nicht abgewartet, son<strong>der</strong>n sind Richtung<br />

Westen weitergewan<strong>der</strong>t. Im Unterschied<br />

zu <strong>der</strong> Zeit vor dem EU-Beitritt<br />

<strong>Polens</strong> ist infolge ihrer erkennungsdienstlichen<br />

Erfassung im EURODAC-System<br />

nun jedoch sofort erkennbar, wo sie in die<br />

EU eingereist sind. Somit ist eine Ausweisung<br />

nach Polen meist eine Frage <strong>der</strong> formalen<br />

Regelung. Allein in <strong>der</strong> zweiten Jahreshälfte<br />

2004 erhielt Polen insgesamt<br />

1.320 Wie<strong>der</strong>aufnahmeanträge nach dem<br />

Dublin-Verfahren aus an<strong>der</strong>en EU-Län<strong>der</strong>n,<br />

von denen 1.182 positiv beantwortet<br />

wurden. Die meisten Anträge stammten aus<br />

<strong>Deutsch</strong>land. Trotz <strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Rücküberstellung<br />

versuchen viele tschetschenische<br />

und auch an<strong>der</strong>e Flüchtlinge, weiter<br />

Richtung West- o<strong>der</strong> Nordeuropa zu ziehen.<br />

Hier haben sie Freunde, Verwandte,<br />

Bekannte. Doch die polnische-deutsche<br />

Grenze ist weiterhin stark gesichert. Überqueren<br />

die Flüchtlinge die Flüsse O<strong>der</strong> und<br />

Neiße illegal und werden im Grenzgebiet<br />

von <strong>der</strong> Bundespolizei gestellt, bringt man<br />

sie nach Eisenhüttenstadt. Hier befindet<br />

sich auf dem gleichen Gelände wie das<br />

Abschiebegefängnis die Erstaufnahmeeinrichtung<br />

für Flüchtlinge in Brandenburg.<br />

Beide liegen direkt an <strong>der</strong> polnischen<br />

Grenze. Bei den Familien werden die Frauen<br />

und Kin<strong>der</strong> im Familienhaus <strong>der</strong> Erstaufnahmeeinrichtung<br />

untergebracht, die<br />

Männer jedoch kommen in Abschiebehaft.<br />

Gemessen an den Erfahrungen, die diese<br />

Menschen gemacht haben, ist es eine psychische<br />

Zumutung, die Familien in dieser<br />

Art und Weise zu trennen. Zeitweise ist es<br />

auch schon vorgekommen, dass die min<strong>der</strong>jährigen<br />

Kin<strong>der</strong> in das Heim für alleinreisende<br />

Jugendliche in Brandenburg, ihre<br />

Eltern jedoch in die Haft gebracht wurden.<br />

Bis April 2005 stellten die Tschetschenen<br />

die größte Zahl <strong>der</strong> Häftlinge in <strong>der</strong><br />

Abschiebehaftanstalt Eisenhüttenstadt.<br />

Doch nun gehen auch hier die Zahlen<br />

zurück, immer weniger Flüchtlinge kommen<br />

über die deutsch-polnische Grenze.<br />

Fortsetzung S. 16<br />

POLEN und wir 2/2006 15


BUCHBESPRECHUNG<br />

Der Roman „Wirren“ von<br />

Henryk Sienkiewicz<br />

Vor hun<strong>der</strong>t Jahren, am 10. Dezember 1905, hat <strong>der</strong> mit dem Roman "Quo Vadis"<br />

zu Weltruhm gelangte polnische Schriftsteller Henryk Szienkiewicz den Literaturnobelpreis<br />

bekommen. Nur wenige wissen, dass <strong>der</strong> Literat in eben jenem Jahr auch<br />

seinen einzigen zeitgenössischen Roman angesiedelt hat: "Wirren".<br />

Polen im Jahr 1905. Seit mehr als 100 Jahren<br />

ist das Land eine Nation ohne Staatsgebiet,<br />

besetzt von den Teilungsmächten<br />

Preußen, Österreich und Russland. Folgt<br />

man dem kritischen Blick des Schriftstellers<br />

und glühendem Nationalisten, Henryk<br />

Szienkiewicz, hat sich sein eigener Stand,<br />

<strong>der</strong> polnische Adel, aus <strong>der</strong> Verantwortung<br />

heraus in resignierte Bequemlichkeit verzogen.<br />

Damit ist zunächst aber Schluss, als<br />

die erste Welle <strong>der</strong> Revolution über Russland<br />

hinweg bis ins besetzte Polen rollt und<br />

das Ende <strong>der</strong> zaristischen Besatzungsmacht<br />

andeutet. Im russisch besetzten Teil <strong>Polens</strong><br />

brechen Streiks aus, <strong>der</strong> polnische Landadel<br />

muss plötzlich die "eigenen" Arbeiter<br />

fürchten. In diese "Wirren" gerät nicht nur<br />

Szienkiewicz selbst, son<strong>der</strong>n auch die<br />

Hauptfigur seines Romans, <strong>der</strong> junge Guts-<br />

Fortsetzung von S. 15<br />

Die Verfahrensweise <strong>der</strong> sofortigen<br />

<strong>Zur</strong>ückschiebungen scheint sich unter den<br />

Flüchtlingen herumgesprochen zu haben.<br />

Wählen sie nun an<strong>der</strong>e Wege o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Fluchthelfer? O<strong>der</strong> gelingt eine Weiterflucht<br />

nach Westeuropa nun einfach immer<br />

seltener? Die lang gefor<strong>der</strong>te Rechtsberatung<br />

für die Menschen in Abschiebehaft ist<br />

lange Zeit vom Innenministerium untersagt<br />

worden, seit September 2005 wird sie nun<br />

angeboten. Bedingung des Innenministeriums<br />

war, dass nur in Brandenburg zugelassene<br />

Anwälte in Eisenhüttenstadt tätig werden<br />

dürfen, alle Berliner Anwältinnen, die<br />

sich engagieren wollten und auch eingehend<br />

mit <strong>der</strong> Thematik befasst sind, dürfen<br />

es nicht. Wie die Beratung läuft und angenommen<br />

wird, ist <strong>der</strong>zeit noch unklar.<br />

Im Niemandsland<br />

Die Asylanträge <strong>der</strong> Flüchtlinge werden in<br />

<strong>der</strong> Haft entgegengenommen, die Flüchtling<br />

(bleiben jedoch inhaftiert. Wessen Fingerabdrücke<br />

in Polen erfasst sind, <strong>der</strong> wird<br />

dorthin abgeschoben. Ist dies nach vier<br />

Wochen nicht erfolgt, müssen die Menschen<br />

aus <strong>der</strong> Haft entlassen werden, denn<br />

es handelt sich um eine Inhaftierung zu<br />

Verwaltungszwecken und nicht um eine<br />

Strafhaft. Nach <strong>der</strong> Freilassung tauchen<br />

16 POLEN und wir 2/2006<br />

besitzer W³adis³aw Krzycki. Der Tod seines<br />

Onkels beschert Krzycki eine illustre<br />

<strong>Gesellschaft</strong> zu Gast. Da sind die zum politischen<br />

Disput neigenden Herren Gronski<br />

und Dolhanski. Aber vor allem stürzen die<br />

drei attraktiven Damen im heiratsfähigen<br />

Alter - die Witwe Otocka, das Fräulein<br />

Marynia und eine englische Freundin,<br />

Fräulein Anney - Krzycki in turbulente<br />

Tage. Sein Herz schlägt, unter Schuldgefühlen,<br />

für das reizend herbe aber nur bürgerliche<br />

Fräulein Anney. Und dann tobt <strong>der</strong><br />

Klassenkonflikt auch noch materiell:<br />

Krzycki wird beim Besuch des Gutes seines<br />

toten Onkels, das in den Einfluss russisch-kommunistischer<br />

Agitierer gefallen<br />

ist, angeschossen, woraufhin die ganze<br />

<strong>Gesellschaft</strong> nach Warschau flieht. Dort<br />

gipfelt die Handlung: Die Revolution for-<br />

viele Tschetschenen unter, um zu Verwandten<br />

in an<strong>der</strong>e EU-Staaten zu gelangen.<br />

Was muss ein Mensch, <strong>der</strong> durch einen jahrelangen<br />

brutalen Krieg traumatisiert<br />

wurde, empfinden, wenn er in dem Land,<br />

in dem er Schutz erwartet, inhaftiert und<br />

mit Polizeigewalt wie<strong>der</strong> abgeschoben<br />

wird? Die Gefahr einer Re-Traumatisierung<br />

ist sehr hoch. Hinzu kommt, dass die<br />

Flüchtlinge größtenteils nicht psychologisch<br />

betreut werden. Die Flüchtlinge, die<br />

es geschafft haben, einen Behandlungsplatz<br />

in den Psychologischen Zentren im<br />

nahe gelegenen Berlin zu erhalten, werden<br />

oftmals trotzdem zurückgeschoben.<br />

Anfang April 2005 wurde eine tschetschenische<br />

Familie in einer <strong>der</strong> üblichen nächtlichen<br />

Aktionen an die polnische Grenze<br />

gebracht. Die Familie befand sich in psychosozialer<br />

Behandlung. In Handschellen<br />

wurden sie von <strong>der</strong> Polizei auf die polnische<br />

Seite begleitet. Der polnische Grenzschutz<br />

inhaftierte die Familie für eine<br />

Nacht, anstatt sie mit dem Zug weiter in<br />

Richtung des ihnen zugewiesenen Lagers<br />

fahren zu lassen. Am nächsten Tag wurde<br />

die Familie zu einem Bahnhof gebracht<br />

und dort stehen gelassen - ohne jegliche<br />

finanzielle Mittel. Sie sollten selber sehen,<br />

wie sie das weit entfernte Lager, das sie<br />

aufnehmen sollte, erreichen konnten. Hier<br />

<strong>der</strong>t ein unsinniges Opfer. Zwischen<br />

Krzycki und Fräulein Anney kommt es zu<br />

einem überraschenden Eklat, <strong>der</strong> einen<br />

Adelsstand von zweifelhafter Moral und<br />

festgefahrenen Vorstellungen bloßstellt.<br />

Abgesehen von Sienkiewiczs hervorragen<strong>der</strong><br />

Qualität als Erzähler erscheint das<br />

Buch zunächst wie die bloße Nabelschau<br />

einer nach außen blinden <strong>Gesellschaft</strong>sschicht.<br />

Aber wissend, dass Sienkiewicz<br />

selbst zur Zeit seiner Romanfiguren gelebt<br />

und publiziert hat, kristallisiert sich ein von<br />

<strong>der</strong> russischen Zensur zwischen die Zeilen<br />

gezwungener politischer Witz heraus.<br />

Natürlich richtet sich dieser gegen die<br />

Besatzungsmacht, was dem Buch in Polen<br />

den Ruf einer nahezu prophetischen Vorhersehung<br />

<strong>der</strong> SolidarnoϾ eingebracht hat.<br />

Die Aktualität des Buches ist für den<br />

Manesse-Verlag <strong>der</strong> Grund gewesen, den<br />

hierzulande kaum bekannten Roman in <strong>der</strong><br />

Reihe "Bibliothek <strong>der</strong> Weltliteratur" neu<br />

herauszugeben. Der Übersetzerin Karin<br />

Wolff ist es hervorragend gelungen, Szienkiewiczs<br />

reich mit Jugendstilornamenten<br />

verzierte Sprache wie<strong>der</strong>zugeben. Vor<br />

allem für Osteuropa-Interessierte ein Lesevergnügen.<br />

��<br />

"Wirren": Manesse Verlag Zürich 2005.<br />

Mit einem Nachwort von Olga Tokarzuk.<br />

ISBN 3- 7175-2072-5. EUR 22,90.<br />

zeigt sich die völlige Unfähigkeit <strong>der</strong> deutschen<br />

und <strong>der</strong> polnischen Behörden, mit<br />

traumatisierten Menschen umzugehen.<br />

Die Frage nach einer Harmonisierung des<br />

Asylrechts <strong>der</strong> europäischen Staaten stellt<br />

sich also <strong>der</strong>zeit nur auf dem Papier - faktisch<br />

sind die Anfor<strong>der</strong>ungen an die neuen<br />

Mitgliedsstaaten so gestiegen, dass diese<br />

für sie (noch) nicht erfüllbar sind. Zugleich<br />

lehnen sich die alten EU-Staaten mit dem<br />

Verweis auf die DUBLIN II-Verordnung<br />

zurück und schieben jegliche Verantwortung<br />

den neuen Mitgliedsstaaten zu, die an<br />

<strong>der</strong> EU-Außengrenze liegen. Auch hier<br />

werden immer wie<strong>der</strong> große Defizite beim<br />

Umgang mit Asylsuchenden deutlich.<br />

Somit entziehen sich die westlichen EU-<br />

Mitgliedsstaaten mit <strong>der</strong> DUBLIN 11-Verordnung<br />

ihren humanitären und völkerrechtlichen<br />

Verpflichtungen den Menschen<br />

gegenüber, die Schutz und Hilfe suchen.<br />

Der beson<strong>der</strong>en Situation traumatisierter<br />

Menschen muss ebenso Rechnung getragen<br />

werden wie einer Transparenz <strong>der</strong> Verfahren<br />

für die Betroffenen mit <strong>der</strong> Möglichkeit<br />

einer qualifizierten Beratung. ��<br />

Infos:<br />

info@fluechtlingsrat-brandenburg.de,<br />

www.fluechtlingsrat-brandenburg.de<br />

(aus: Die rote Hilfe, 32. Jg., Nr. 1.2006.<br />

Wir danken für das Nachdrucksrecht)


<strong>Polnische</strong> Lager<br />

Es handele sich um ein Wahrnehmungsproblem,<br />

schließlich wisse in <strong>Deutsch</strong>land<br />

"je<strong>der</strong>", dass die <strong>Deutsch</strong>en die Juden<br />

ermordet haben. Es sei aber bekannt, dass<br />

polnische Leser diese Formulierung "als<br />

diskriminierend empfinden" könnten, wie<strong>der</strong>holt<br />

habe man in mehreren Redaktionskonferenzen<br />

auf diese Problematik hingewiesen,<br />

es gebe die klare Anweisung, stets<br />

von "deutschen Lagern in Polen" zu schreiben.<br />

Unter großem Zeitdruck in <strong>der</strong> Redaktion<br />

sei <strong>der</strong> Fehler "durchgerutscht".<br />

Alles nur ein Lapsus? Ein technisches Versehen?<br />

Sicher, die publizierte Haltung <strong>der</strong> Süddeutschen<br />

und ihrer Redakteure zur jüngsten<br />

Vergangenheit ist eindeutig und frei<br />

vom Schatten eines revisionistischen Verdachts,<br />

aber man möchte doch annehmen,<br />

dass hier mehr als nur ein Problem <strong>der</strong> Perzeption<br />

eines unzulässig verkürzenden<br />

Attributes vorliegt. Denn natürlich meint<br />

"polnisches Lager" nicht etwa "in Polen<br />

gelegenes Lager", son<strong>der</strong>n bezeichnet eine<br />

beson<strong>der</strong>e Eigenschaft, so wie "bairische<br />

Blasmusik" o<strong>der</strong> "deutsche Wertarbeit".<br />

Und <strong>der</strong> "Lapsus" <strong>der</strong> Süddeutschen ist in<br />

einen Kontext einzuordnen, <strong>der</strong> die Annahme<br />

eines nur zufälligen Fehlers schwer<br />

macht.<br />

Am 17. November 2002 benutzte die<br />

Von Friedrich Leidinger<br />

Im Dezember 2005 schrieb die Süddeutsche Zeitung an prominenter Stelle über ein<br />

"polnisches Lager Sobibor". Der Autor dieser Zeilen schrieb einen knappen Leserbrief,<br />

Sobibor, Treblinka, Majdanek und Auschwitz seien zwar Orte in Polen, aber<br />

die dort errichteten Lager seien von <strong>Deutsch</strong>en geplant, errichtet und betrieben worden,<br />

also deutsche Lager. Nur wenige Wochen später war auf Seite Eins <strong>der</strong> Süddeutschen<br />

Zeitung in einem Artikel über die neu errichtete Gedenkstätte am historischen<br />

Ort <strong>der</strong> Wannsee-Konferenz zu lesen, im "polnischen Lager Chelmno" seien Juden<br />

ermordet worden. Ich schrieb erneut einen Brief an die Redaktion und wies auf den<br />

Wie<strong>der</strong>holungsfall hin, worauf mir <strong>der</strong> verantwortliche Redakteur antwortete, und<br />

sich für den nachlässigen Sprachgebrauch entschuldigte.<br />

Washington Post in einer Buchbesprechung<br />

mit Bezug auf Auschwitz die Formulierung<br />

"the infamous Polish concentration<br />

camp", am 20. September 2005 meldete<br />

<strong>der</strong> Australische Fernsehsen<strong>der</strong> ABC TV<br />

Leserbrief<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, in dem Beitrag "Alles ist Eitelkeit" (SZ Nr. 273 vom<br />

26./27. November 2005, Seite 15) zum 80. Geburtstag von Claude Lanzmann ist Ihrem<br />

Autor Fritz Göttler gleich zweimal das Wort von den "polnischen Lagern" bzw. dem<br />

"polnischen Lager Sobibor" in den Text geraten. Ein Versehen? Absicht? Sollte etwa<br />

auch die Redaktion <strong>der</strong> "Süddeutschen" zu denjenigen Presseorganen gehören, denen<br />

man wie<strong>der</strong> erklären muss, dass <strong>der</strong> Tod ein Meister aus <strong>Deutsch</strong>land ist? Sobibor ist<br />

zwar ein Ort in Polen, ein "polnisches Lager Sobibor" hat es jedoch nie gegeben. Sobibor<br />

war - genauso wie Auschwitz-Birkenau, Majdanek, Be³Ÿec, Treblinka und alle an<strong>der</strong>en<br />

Lager im besetzten Polen - ein deutsches Vernichtungslager. Die Formulierung Göttlers<br />

kann man wohl nur als Symptom fortgeschrittener Verdrängung und Verleugnung<br />

historischer Fakten deuten, wenn man ihm nicht Böswilligkeit unterstellen will. Intellektuelle<br />

Redlichkeit und journalistische Verantwortung hätten ihm jedenfalls eine solche<br />

Fehlleistung kaum durchgehen lassen.<br />

Mit freundlichen Grüßen, Dr. Friedrich Leidinger<br />

anlässlich des Todes von Simon Wiesenthal,<br />

dieser sei Überleben<strong>der</strong> eines "Polish<br />

concentration camp". Die kanadischen<br />

Sen<strong>der</strong> CTV Television und CTV Newsnet<br />

berichteten am 8. November 2003 über<br />

einen jüdischen Überlebenden <strong>der</strong> Shoah,<br />

<strong>der</strong> als Kind in "ein polnisches Ghetto"<br />

deportiert worden sei, und am 30. April<br />

2004 über den ehemaligen SS-Mann John<br />

Demjanuk, ein für seinen Sadismus<br />

bekannter Wachmann "im polnischen Konzentrationslager<br />

Treblinka".<br />

In <strong>der</strong> Süddeutschen erschien <strong>der</strong> Begriff<br />

vom "polnischen Lager Sobibor" in einem<br />

Beitrag zum 80. Geburtstag des Dokumentarfilmregisseurs<br />

Claude Lanzmann. Dessen<br />

Meisterwerk über die Ermordung <strong>der</strong><br />

Juden Europas "Shoah" zeigte polnische<br />

Bauern und Bahnarbeiter, die keine 40<br />

Jahre nach den Ereignissen ihre Gleichgültigkeit<br />

gegenüber dem Schicksal ihrer jüdischen<br />

Nachbarn nicht verbargen. Der Film<br />

löste damals in Polen eine heftige Debatte<br />

aus. Die (kommunistische) Partei, Regierung<br />

und Katholische Kirche fanden zum<br />

Schulterschluss gegen "antipolnische Ver-<br />

DEUTSCHE GESCHICHTE<br />

leumdung". Während <strong>der</strong> polnische Botschafter<br />

in Paris protestierte, verlieh die<br />

Anwesenheit des damaligen französischen<br />

Präsidenten François Mitterand und zahlreicher<br />

Minister seiner Regierung <strong>der</strong><br />

Uraufführung von "Shoah" 1985 in Paris<br />

beson<strong>der</strong>en Glanz. Mitterand, dessen politische<br />

Laufbahn im Dienste des mit den<br />

deutschen Besatzern Frankreichs kollaborierenden<br />

Vichy-Regimes aus heutiger<br />

Sicht zumindest umstritten ist, versuchte<br />

sich mit dieser Inszenierung an die Spitze<br />

einer geistigen Strömung zu stellen, die<br />

nicht nur in Frankreich weit verbreitet war:<br />

Die Polen seien am Holocaust zumindest<br />

insoweit schuldig, als sie tatenlos <strong>der</strong> Vernichtung<br />

ihrer jüdischen Nachbarn zugesehen<br />

hätten. Die Tageszeitung Libération<br />

schrieb aus diesem Anlass unter <strong>der</strong> Überschrift<br />

"Polen auf <strong>der</strong> Anklagebank", "alle<br />

polnischen Massenbewegungen mit Ausnahme<br />

<strong>der</strong> SolidarnoϾ hatten antisemitischen<br />

Charakter".<br />

"<strong>Polnische</strong> Ghettos", "polnische Lager" -<br />

Weiß wirklich je<strong>der</strong> bei uns, dass es sich<br />

dabei um deutsche Einrichtungen im von<br />

<strong>Deutsch</strong>land besetzten Polen handelte?<br />

Dass es bis 1940 in Polen überhaupt keine<br />

Ghettos gab, son<strong>der</strong>n dass Juden und<br />

Nichtjuden seit dem Mittelalter, dem<br />

Beginn <strong>der</strong> jüdischen Siedlung in Polen<br />

ohne räumliche Trennung benachbart lebten?<br />

Dass das "Warschauer Ghetto" kein<br />

"Ghetto" wie die Ghettos in Worms, Mainz<br />

o<strong>der</strong> Trier war, son<strong>der</strong>n ein Konzentrationslager,<br />

gebildet durch Absperren eines<br />

Stadtviertels und Ausweisung aller nichtjüdischen<br />

Bewohner sowie Deportation aller<br />

Juden aus Warschau und Umgebung dorthin?<br />

Dass das deutsche Besatzungsregime<br />

in Polen vom ersten Tag an einen rassistischen,<br />

auf ethnische Vernichtung abzielenden<br />

Charakter hatte und nichtjüdischen<br />

Polen und polnischen Juden bei nur geringer<br />

Differenzierung als "Untermenschen"<br />

ein grundsätzliches Lebensrecht absprach?<br />

Ungefähr 25.000 junge Israelis reisen jedes<br />

Jahr nach Polen. Die meisten von ihnen<br />

wissen nichts von <strong>der</strong> Blüte <strong>der</strong> jüdischen<br />

Kultur während <strong>der</strong> tausendjährigen jüdischen<br />

Geschichte in Polen, die in keinem<br />

christlichen Land <strong>der</strong> Diaspora ihresgleichen<br />

findet. Sie betrachten das Land, welches<br />

sie besuchen, als Hort eines aggressiven<br />

Antisemitismus, als Stätte <strong>der</strong> Vernichtung<br />

und als Friedhof des jüdischen Volkes.<br />

Dieser Glaube wird unterstützt durch die<br />

beson<strong>der</strong>en Sicherheitsmassnahmen während<br />

<strong>der</strong> Reise. Es gibt immer noch<br />

Geschichtsstunden in israelischen Schulen,<br />

in welchen die Schüler hören, dass Polen<br />

dem Bau von Konzentrationslagern<br />

zustimmte.<br />

POLEN und wir 2/2006 17


DOKUMENTATION<br />

An die Süddeutsche Zeitung, Chefredaktion, (...) 17.1.2006<br />

Sehr geehrter Herr Kilz, sehr geehrte Damen und Herren,<br />

die journalistische Qualität Ihrer Zeitung steht in hohem Ansehen.<br />

Umso ärgerlicher ist die Erfahrung, dass Sie offenbar wie<strong>der</strong>holt<br />

in Bezug auf die deutschen Verbrechen in den während des 2.<br />

Weltkriegs besetzten Län<strong>der</strong>n Europas von "polnischen Lagern"<br />

schreiben. So konnte man heute auf <strong>der</strong> 1. Seite Ihrer Zeitung von<br />

dem "polnischen Lager Chelmno" lesen. Ein solches Lager hat es<br />

aber nie gegeben. Chelmno ist <strong>der</strong> Name eines Weilers in Zentralpolen,<br />

in dessen Nähe die deutschen Machthaber während des<br />

Krieges zehntausende jüdische Menschen transportierten, um sie<br />

sofort nach <strong>der</strong> Ankunft in Gaswagen zu ermorden. Die Opfer<br />

kamen vor allem aus dem in Lodz ("Litzmannstadt") errichteten<br />

Ghetto. Vor wenigen Wochen war in einem Beitrag zum 80.<br />

Geburtstag von Claude Lanzmann ("Alles ist Eitelkeit"; SZ Nr.<br />

273 vom 26./27. November 2005, Seite 15) gleich zweimal von<br />

den "polnischen Lagern" bzw. dem "polnischen Lager Sobibor"<br />

zu lesen. Und auch am 16.10.2004 haben Sie in einem Bericht<br />

über die Deportation einer jüdischen Frau aus dem nie<strong>der</strong>ländischen<br />

Tilburg im Jahre 1944 ("Wie<strong>der</strong> geht ein Transport ab und<br />

diesmal sind wir dabei") die Formulierung vom "polnischen<br />

Lager Sobibor" benutzt.<br />

Sind also Sobibor, Chelmno - o<strong>der</strong> gar Auschwitz-Birkenau,<br />

Majdanek, Be³Ÿec, Treblinka und alle an<strong>der</strong>en Lager im besetzten<br />

Polen - "polnische Lager" gewesen? Muss man nicht bei dem<br />

Autor solcher Begriffe fortgeschrittene Verdrängung und Verleugnung<br />

historischer Fakten o<strong>der</strong> schlicht Ahnungslosigkeit vermuten,<br />

wenn man ihm nicht Böswilligkeit unterstellen will? Aber<br />

warum steht es dann in <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung? (…)<br />

Mit freundlichen Grüßen, Dr. Friedrich Leidinger, <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land e.V.<br />

18.1.2006<br />

Sehr geehrter Herr Dr. Leidinger,<br />

Sie haben natürlich völlig Recht, und ich entschuldige mich für<br />

den nachlässigen Sprachgebrauch. Die Problematik mit <strong>der</strong> Formel<br />

"polnische Lager" ist nicht zuletzt eine <strong>der</strong> Wahrnehmung.<br />

Die deutsche Perzeption dieses Ausdrucks beinhaltet selbstverständlich,<br />

dass es deutsche Lager in Polen waren, weil je<strong>der</strong>mann<br />

weiß, dass die Judenvernichtung von den <strong>Deutsch</strong>en betrieben<br />

wurde und nicht von Polen. (...) Es gehört aber selbstverständlich<br />

zur Aufgabe <strong>der</strong> SZ als Zeitung, hier den genauen historischen<br />

Sachverhalt wie<strong>der</strong>zugeben und nicht den Volksmund. Denn wir<br />

wissen, daß polnische Leser solche Verkürzungen des Gemeinten<br />

als diskriminierend empfinden können.<br />

Wie<strong>der</strong>holt wurde daher in mehreren Konferenzen auf diese Problematik<br />

hingewiesen und seitens <strong>der</strong> Chefredaktion die klare<br />

Anweisung gegeben, stets von "deutschen Lagern in Polen" zu<br />

schreiben. Es hätte also in dem Beitrag heißen müssen: Im von<br />

den <strong>Deutsch</strong>en errichteten Lager in <strong>der</strong> Nähe des polnischen<br />

Chelmno begann schon Ende 1941 . . .<br />

Der von Ihnen zu recht monierte Beitrag auf <strong>der</strong> gestrigen Seite 1<br />

wurde, wie mir die Kollegen von <strong>der</strong> Politik mitgeteilt haben,<br />

unter großem Zeitdruck redigiert und korrigiert. Dabei ist mein<br />

Fehler durchgerutscht. (...)<br />

Mit freundlichen Grüßen, Lothar Müller<br />

18.1.2006<br />

Sehr geehrter Herr Dr. Müller, (...)<br />

Es sind nicht allein unsere polnischen Freunde hier irritiert. Deren<br />

Irritation ist auch nicht auf eine vielleicht übersteigerte nationale<br />

Empfindlichkeit zurück zu führen. Sie rührt vielmehr daher, dass<br />

das polnische Volk als ganzes Opfer des nationalsozialistischen<br />

<strong>Deutsch</strong>land geworden ist, und dass nichtjüdische Polen in ganz<br />

18 POLEN und wir 2/2006<br />

ähnlicher Weise wie jüdische Polen als "rassisch wertlos", "Untermenschen"<br />

etc. <strong>der</strong> Verfolgung und dem Terror unterlagen (siehe<br />

Martin Broszat, "200 Jahre deutsche Polenpolitik"). Die Rolle <strong>der</strong><br />

polnischen Nation als Opfer, <strong>der</strong> Verlust von Millionen von Menschen,<br />

die als Juden und Nichtjuden polnische Bürger gewesen<br />

waren, die unübersehbare Benachteiligung <strong>der</strong> polnischen NS-<br />

Opfer gegenüber NS-Opfern in den westeuropäischen Län<strong>der</strong>n<br />

und gegenüber jüdischen Opfern in allen Belangen <strong>der</strong> Entschädigung<br />

durch die Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land, alles das fügt sich in<br />

<strong>der</strong> kollektiven Erfahrung <strong>der</strong> Menschen in Polen zu einem Bild<br />

und lässt den Begriff von den "polnischen Lagern" als zynische<br />

Umdeutung <strong>der</strong> Geschichte erscheinen.<br />

Es bleibt aber noch mehr die beunruhigende Wahrnehmung, dass<br />

trotz aller Aufklärung bei einigen Menschen in <strong>Deutsch</strong>land, und<br />

bei noch viel mehr Menschen im Ausland, eine Vermutung anzutreffen<br />

ist, dass es kein Zufall sei, dass die Vernichtung in Polen<br />

stattgefunden hat, und dass "die Polen" irgendwie mitschuldig<br />

o<strong>der</strong> gar hauptschuldig gewesen seien. Solche Einschätzungen<br />

werden durch subtile Wortfehler eher geför<strong>der</strong>t, als durch plumpe<br />

Nazi-Sprüche. (...)<br />

Mit freundlichen Grüßen, Dr. Friedrich Leidinger<br />

18.1.2006<br />

Sehr geehrter Herr Dr. Leidinger, (...)<br />

3. Es kommt aber etwas hinzu, das ich gerne näher ausführen<br />

würde und hier vorläufig nur andeuten kann: Ich würde gern<br />

gegen Ihre These, die inkriminierte Formel "polnische Lager" sei<br />

immer und überall eine gefährlichere, weil subtilere Diskriminierung<br />

als offen antipolnische Propaganda, Einspruch erheben. Und<br />

zwar nicht aus historisch-politischen, son<strong>der</strong>n aus philologischen<br />

Gründen, die ich freilich für politisch relevant halte. Denn es will<br />

mir nicht recht einleuchten, daß ich mit meinem Lapsus in dem<br />

Artikel zur Neueröffnung <strong>der</strong> Daueraustellung in <strong>der</strong> Gedenkstätte<br />

Haus <strong>der</strong> Wannseekonferenz mehr Unheil angerichtet haben<br />

soll, als wenn ich z.B. in einem eigens diesem Thema gewidmeten<br />

Artikel die These vertreten hätte, <strong>der</strong> polnische Antisemitismus<br />

sei in gleicher Weise verantwortlich für den Holocaust wie<br />

die deutsche Vernichtungsmaschinerie.<br />

Sie lesen, was Ihr gutes Recht und Ihre Pflicht als Repräsentant<br />

Ihrer Organisation ist, wie ein Detektor, <strong>der</strong> Texte auf problematische<br />

Formulierungen hin durchsucht. Die innere Logik, <strong>der</strong> Sie<br />

dabei folgen, würde ich eine Hermeneutik des Verdachts nennen:<br />

dem Verdacht, es solle die polnische Geschichte umgedeutet, das<br />

Leid <strong>der</strong> polnischen Opfer <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en relativiert werden (etwa<br />

gegenüber den jüdischen Opfern). Die Fundstücke in <strong>der</strong> Presse,<br />

die Sie zu Recht inkriminieren, haben aber nicht alle das gleiche<br />

Gewicht, selbst wenn sie die identische Formel verwenden. Um<br />

beim konkreten Fall zu bleiben: Ich hätte mich noch viel mehr<br />

über mich geärgert, wenn ich die Formulierung in einem Artikel,<br />

sagen wir über einen Zirkusartisten <strong>der</strong> Nachkriegszeit verwendet<br />

hätte, dessen Eltern in einem "polnischen Lager" umgekommen<br />

wären. In diesem Fall hätte die Assoziation "ein von Polen errichtetes<br />

Lager" näher gelegen und hätte sich unkontrollierter entfalten<br />

können. In meinem Text ist das Auftauchen <strong>der</strong> Formel ärgerlich<br />

genug, aber sie wird durch den Kontext gewissermaßen ,kontrolliert'.<br />

Das ist nicht mein Verdienst, aber es ist so: die Gesamtperspektive<br />

des Artikels ist auf die bürokratische Vorbereitung<br />

und Durchführung <strong>der</strong> "Endlösung" fokussiert. Dadurch ist <strong>der</strong><br />

Weg von <strong>der</strong> Formel zu einer Lesart, die darin tatsächlich die<br />

Behauptung wahrnimmt, die Polen hätten als Subjekte <strong>der</strong> Vernichtung<br />

agiert, sehr viel weiter, als Sie anzunehmen scheinen.<br />

(...)<br />

Mit freundlichen Grüßen, Lothar Müller


Westeuropäische und amerikanische Feuilletons<br />

haben die Vorgänge vom Juni 1941<br />

im polnischen Jedwabne, als ein Mob unter<br />

deutscher Aufsicht über die jüdischen<br />

Bewohner des Kleinstädtchens mordend<br />

und sengend herfiel, ausgiebig kommentiert;<br />

zu an<strong>der</strong>en Fragen legen sie sich in<br />

<strong>der</strong> Regel größere <strong>Zur</strong>ückhaltung auf:<br />

Warum unterließen es die Regierungen <strong>der</strong><br />

USA und Großbritanniens, ihre Erkenntnisse<br />

über den Massenmord in den Menschenschlachthäusern<br />

in Auschwitz, Belzec,<br />

Sobibor, Majdanek und Treblinka zeitnah<br />

publik zu machen und zum Beispiel<br />

gezielt Transportlinien und Infrastruktur<br />

dieses Unternehmens anzugreifen? Wie<br />

verhielten sich die <strong>Gesellschaft</strong>en in Frankreich,<br />

Belgien und den Nie<strong>der</strong>landen unter<br />

deutscher Besatzung gegenüber den eigenen<br />

jüdischen Nachbarn, wie begünstigte<br />

Kollaboration die Deportation fast aller<br />

Juden mit so mör<strong>der</strong>ischer Effizienz? Die<br />

in Lanzmanns Film gezeigte Raffsucht polnischer<br />

Landproletarier, die sich unter den<br />

Bedingungen <strong>der</strong> Besatzung die Habseligkeiten<br />

ihrer fortgetriebenen jüdischen<br />

Nachbarn aneigneten, wurde zur Metapher<br />

eines "polnischen Antisemitismus". Doch<br />

in welchem Verhältnis dazu steht <strong>der</strong> massenhafte<br />

Raub jüdischen Eigentums durch<br />

deutsche Behörden, Handelsunternehmen,<br />

Banken und an<strong>der</strong>e Institutionen, eine<br />

Beute, mit <strong>der</strong> die <strong>Deutsch</strong>en in den<br />

Kriegsjahren alimentiert wurde und die die<br />

Erben <strong>der</strong> damaligen Räuber bis heute fast<br />

ungeschmälert genießen?<br />

Vor einem Jahr traf <strong>der</strong> deutsche Bundeskanzler<br />

mit dem russischen Präsidenten<br />

Putin anlässlich <strong>der</strong> Moskauer Feiern zum<br />

60. Jahrestag <strong>der</strong> Kapitulation des <strong>Deutsch</strong>en<br />

Reiches zusammen. Sie feierten das<br />

Ende eines Krieges, <strong>der</strong> vom 22. Juni 1941<br />

bis zum 9. Mai 1945 dauerte - <strong>der</strong> Zeit des<br />

Krieges zwischen dem Dritten Reich und<br />

den UdSSR. W³adys³aw Bartoszewski,<br />

Auschwitz-Überleben<strong>der</strong>, Historiker und<br />

ehemaliger polnischer Außenminister<br />

sprach auf einer Konferenz über "Fakten<br />

und Lügen im Allgemeinwissen über den<br />

Holocaust" im November 2005 in Kraków:<br />

"Dies bedeutet, dass Millionen von Menschen<br />

sich dessen nicht bewusst sind, dass<br />

1939 und 1940 - vor dem 22. Juni 1941 -<br />

Ghettos und Lager in den Gebieten errichtet<br />

worden sind, welche die Nazis okkupiert<br />

hatten, und Menschen zu Tausenden<br />

ermordet wurden."<br />

Nein, die Frage <strong>der</strong> "polnischen Lager" ist<br />

keine Frage <strong>der</strong> "political correctness" und<br />

sie berührt mehr, als subjektive Empfindlichkeiten<br />

auf polnischer Seite. Es ist die<br />

Frage nach <strong>der</strong> historischen Wahrheit. ��<br />

Am Scheideweg<br />

Von Ma³gorzata Barwicka<br />

Wird die Stiftung "Polnisch-<strong>Deutsch</strong>e Aussöhnung"<br />

Ende dieses Jahres aufgelöst und<br />

werden 200 Mil. Z³., die sich auf ihrem<br />

Konto befinden, den Spen<strong>der</strong>n zurückgegeben?<br />

O<strong>der</strong> kommt sogar jemand auf die<br />

Idee, dieses Geld anstatt für die Unterstützung<br />

<strong>der</strong> Opfer des III. Reiches für an<strong>der</strong>e<br />

Ziele einzusetzen? Wie geht es weiter mit<br />

den bisher realisierten Projekten? Am 6.<br />

Januar wurde die alte Leitung <strong>der</strong> Stiftung<br />

abberufen und eine neue berufen, aber über<br />

<strong>der</strong>en Pläne ist nicht viel bekannt. Und die<br />

inoffiziellen Informationen, die unsere<br />

Redaktion bisher erreichten, stimmen nicht<br />

optimistisch.<br />

"Wir sind beunruhigt", sagt Marian Nawrocki,<br />

<strong>der</strong> Leiter vom Verband <strong>der</strong> im III.<br />

Reich geschädigten Polen. "Die Repräsentanten<br />

unserer 16 Wojewodschaftsverbände<br />

und 32 Regionalgruppen fragen, was in <strong>der</strong><br />

Stiftung los ist. Bisher informierten wir sie<br />

einmal wöchentlich über die Arbeit <strong>der</strong><br />

Stiftung über den Stand <strong>der</strong> Auszahlung <strong>der</strong><br />

Unterstützungen und an<strong>der</strong>er Aktivitäten<br />

für und mit den Geschädigten. Seitdem <strong>der</strong><br />

Vorstand ausgewechselt worden ist, besitzen<br />

wir keinerlei Informationen darüber",<br />

erklärt er. (…)<br />

Im Namen <strong>der</strong> Stiftung steht das Wort "Versöhnung".<br />

Ein Anhänger solch einer Versöhnung<br />

war <strong>der</strong> abberufene Vorsitzende<br />

<strong>der</strong> Stiftung, Jerzy Su³ek. Als die deutsche<br />

Presse über die Politiker von PiS [nationalkonservativ,<br />

heute Regierungspartei - d.<br />

Übers.] berichtete, unterstrich sie gewöhnlich<br />

<strong>der</strong>en antideutsche Neigung. Es fehlte<br />

nicht an Stimmen, die befürchteten, dass<br />

die Büchse <strong>der</strong> Pandora geöffnet würde und<br />

sich eine Spirale gegenseitiger For<strong>der</strong>ungen<br />

entwickeln würde. Der Präsident<br />

<strong>Polens</strong> ordnete noch als Präsident Warschaus<br />

an, die Verluste zu errechnen, die<br />

die Stadt während des II. Weltkrieges erlitten<br />

hat. Einer <strong>der</strong> Autoren diese Studie war<br />

<strong>der</strong> jetzige Vorsitzende <strong>der</strong> Stiftung. Die<br />

Studie entstand quasi als Antwort auf die<br />

durch die Preußische Treuhand aufgestellten<br />

For<strong>der</strong>ungen. (…)<br />

Ende 2006 ist die bisherige Mission <strong>der</strong><br />

Stiftung erschöpft. Dann enden nämlich die<br />

Auszahlungen von Leistungen an die<br />

Opfer. Gleichzeitig verbleiben auf dem<br />

Konto <strong>der</strong> Stiftung etwa 200 Mil. Z³. (…)<br />

Der vorherige Stiftungsvorstand meinte,<br />

dass dieses Geld Teil <strong>der</strong> Spenden ist und<br />

deshalb für sozial-humanitäre Hilfe zur<br />

Verfügung stehen müsse. (…) Von April<br />

DOKUMENTATION<br />

2004 bis Dezember 2005 zahlte die Stiftung<br />

an über 60.000 Personen 33 Mil. Z³.<br />

für sozial-humanitäre Hilfe aus. (…)<br />

Historiker und Politiker streiten heute über<br />

die zukünftige Aufgabe <strong>der</strong> Stiftung. Einige<br />

möchten, dass sie in ihrer bisherigen Form<br />

nicht weiter existieren sollte, d.h. sie sollte<br />

die Auszahlung von Gel<strong>der</strong>n an die Opfer<br />

des III. Reiches einstellen. Sie sagen, dass<br />

man auf ihrer Basis ein Gegenstück zum<br />

deutschen Zentrum gegen Vertreibungen<br />

bauen soll. Die Entwicklung eines solchen<br />

antideutschen Ortes gefällt ganz offensichtlich<br />

dem Kultusminister, <strong>der</strong> sich in diesem<br />

Sinne in <strong>der</strong> "Rzeczpospolita" äußerte. (…)<br />

Die Angestellten <strong>der</strong> Stiftung, mit denen<br />

wir gesprochen haben, sind darüber verbittert,<br />

dass man ihnen das Etikett "Diebe"<br />

anklebte, die die Opfer des Nazismus ausnutzen.<br />

Sie wissen nicht, was sie erwartet,<br />

welche Politik <strong>der</strong> neue Vorstand durchführen<br />

wird. Sie fürchten sich, sich zu weit aus<br />

dem Fenster zu legen, denn es gibt das<br />

Gerücht, dass bis Ende des Jahres von 119<br />

Angestellten im Januar (bei 109 Planstellen)<br />

etwa 30 verbleiben werden. Man überlegt,<br />

ob die Entlassung eines Archivangestellten<br />

<strong>der</strong> erste Vorbote war.<br />

Seit einigen Monaten wan<strong>der</strong>t die Ausstellung<br />

"Erinnerung bewahren" durch Polen,<br />

<strong>der</strong>en Eröffnung im September letzten Jahres<br />

im Königsschloss in Warschau stattfand.<br />

Mitte Januar konnten sie die Bewohner<br />

von Szczeciñ sehen. Jedoch fielen von<br />

den über 30 Stellwänden, die die Zwangsund<br />

Sklavenarbeit während <strong>der</strong> deutschen<br />

Besatzungszeit, die polnisch-deutschen<br />

Beziehungen sowie die Tätigkeit <strong>der</strong> Stiftung<br />

für die Versöhnung zwischen Polen<br />

und <strong>Deutsch</strong>land zeigen, einige heraus. Für<br />

entbehrlich hielt <strong>der</strong> neue Stiftungsvorstand<br />

eine Stellwand, die die Parafierung<br />

des Vertrages für Ausgleichzahlungen<br />

wegen des Kursfalls zeigen, als <strong>der</strong> Euro<br />

mit dem Zloty verrechnet wurde; eine<br />

zweite, die den Gründungskongress <strong>der</strong><br />

Union <strong>der</strong> Opfer des Nazismus zeigt (ein<br />

schlechtes Zeichen für die weitere Existenz<br />

dieser Organisation); sowie - was am meisten<br />

schockiert - eine Stellwand über die<br />

Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag <strong>der</strong><br />

Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.<br />

Die neue Leitung <strong>der</strong> Stiftung beabsichtigt<br />

ganz offensichtlich an<strong>der</strong>e Akzente<br />

zu setzen, wie sie offensichtlich auch die<br />

polnisch-deutsche Versöhnung an<strong>der</strong>s versteht.<br />

��<br />

(aus: Ma³gorzata Barwicka, Fundacja<br />

Pojednanie - Kto otworzy puszkê Pandory?<br />

Na Rozdro¿u, Trybuna Nr. 40 (4854),<br />

16 Februar 2006; Übersetzung: Wulf Schade,<br />

Bochum)<br />

POLEN und wir 2/2006 19


BUCHBESPRECHUNG<br />

Nicht nur für Polen<br />

kämpfend<br />

Eine Biografie von<br />

Claus Weyrosta ist erschienen<br />

Von Hans Kumpf<br />

Claus Weyrosta ist den Lesern und Leserinnen<br />

dieser Zeitschrift als langjähriges<br />

Mitglied des Bundesvorstands <strong>der</strong><br />

<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong><br />

BRD und als Grün<strong>der</strong> des Landesverbands<br />

Baden-Württembergs bekannt.<br />

Bis 1997 agierte er im Südweststaat als<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> unseres Vereins.<br />

Doch Weyrosta war mehr als nur ein<br />

Freund <strong>Polens</strong>, <strong>der</strong> schließlich mit dem<br />

Offizierskreuz des Verdienstordens <strong>der</strong><br />

Republik Polen ausgezeichnet wurde. Jörg<br />

Palitzsch, Redakteur bei <strong>der</strong> "Bietigheimer<br />

Zeitung", hat in emsiger Fleißarbeit ein<br />

Buch geschrieben, in dem auch ein Weyro-<br />

sta-Kenner viel Neues und Interessantes<br />

entdecken kann. Da wird die Familie des<br />

am 15. März 1925 in Breslau Geborenen<br />

vorgestellt und dessen Soldatenzeit<br />

beschrieben. Über seine eigenen Erlebnisse<br />

unmittelbar nach dem Hitlerüberfall auf<br />

das östliche Nachbarland hatte Claus Weyrosta<br />

bereits in dem Sammelband "Wach<br />

auf, es ist Krieg!" (ISBN 3-9801753-2-4)<br />

berichtet.<br />

Der Vertriebene schuftete zunächst als<br />

Maurer und studierte dann Architektur -<br />

und ließ sich in Bietigheim nie<strong>der</strong>. Als<br />

SPD-Abgeordneter im Landtag von Baden-<br />

Württemberg beschäftigte er sich vornehmlich<br />

mit <strong>der</strong> Ökonomie und Ökologie.<br />

20 POLEN und wir 2/2006<br />

Ein Regierungsamt blieb dem agilen Politiker<br />

jedoch versagt - allzu gerne wäre er ja<br />

1992 Staatssekretär in <strong>der</strong> (zweiten)<br />

Großen Koalition des Südweststaats<br />

geworden. An Ideen, For<strong>der</strong>ungen und<br />

Mahnungen mangelte es Weyrosta nie, er<br />

war eine Kämpfernatur, ein "Schlachtross"<br />

eben. Doch den Kampf gegen seine vielen<br />

Krankheiten verlor er schließlich - am 27.<br />

September 2003 verstarb er. Bei <strong>der</strong> Trauerfeier<br />

in <strong>der</strong> Bietigheimer Stadtkirche<br />

nahmen langjährige politische Weggefährten<br />

teil, so auch Lothar Späth und Erhard<br />

Eppler. Eine ehrende Ansprache hielt sein<br />

"Ziehsohn", Hans Martin Bury, damals<br />

noch Staatsminister im Außenministerium.<br />

Jetzt verfasste Bury für die Biografie ein<br />

Vorwort.<br />

Jörg Palitzsch ist in seiner Rolle als Buch-<br />

autor gewiss mehr ein penibler Chronist als<br />

ein kritischer Kommentator. Er bedient<br />

sich vieler Quellen - ohne Schwierigkeiten<br />

kam er natürlich an das Zeitungsarchiv von<br />

Weyrostas neuer Heimatstadt, aber auch<br />

die vielen hinterlassenen mit zahlreichen<br />

Dokumenten gespickten Leitz-Ordner des<br />

umtriebigen Politmenschen konnte er einsehen.<br />

So erfährt man beispielsweise etliche<br />

Details aus Briefwechseln zwischen<br />

ihm und Helmut Rid<strong>der</strong>, dem ehemaligen<br />

Bundesvorsitzenden <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n<br />

<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> BRD. ��<br />

Jörg Palitzsch: Das Schlachtross - Eine<br />

Annäherung an den Sozialdemokraten<br />

Claus Weyrosta (1925-2003); Mit einem<br />

Vorwort von Hans Martin Bury, Druckund<br />

Verlagsgesellschaft Bietigheim mbH,<br />

232 Seiten, 58 Fotos, gebunden, Preis<br />

22,90, ISBN 3-931843-12-2<br />

„Als viel angenehmer erlebte Claus Weyrosta eine weitere Reise des Vorstandes<br />

<strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong>, Landesgruppe Baden-Württemberg,<br />

vom 6. bis zum 10. Juni 1995 nach Polen. Über Nürnberg, Dresden<br />

und Görlitz ging es nach Katowice. Auf dem Programm standen<br />

Gespräche mit Vertretern örtlicher Umweltschutz- und Wirtschaftsbehörden,<br />

Verwaltungen, <strong>der</strong> Gewerkschaft SolidarnoϾ und <strong>der</strong> deutschen Min<strong>der</strong>heiten.<br />

Der Rektor <strong>der</strong> Polytechnischen Hochschule in Breslau (Wroc³aw),<br />

Andrzej Wiszinieski, überreichte Claus Weyrosta die Medaille <strong>der</strong> "Polytechnika<br />

Wroc³awska". Zum 85. Jubiläum <strong>der</strong> Technischen Universität in<br />

Breslau beschwor Weyrosta den europäischen Gedanken. "Viele Turbulenzen<br />

unserer gemeinsamen leidvollen Geschichte liegen hinter uns. Europa<br />

steht vor <strong>der</strong> Tür, für uns alle eine große Hoffnung! Polen hat nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />

<strong>Deutsch</strong>lands im Westen einen stabilen, demokratischen<br />

Nachbarn bekommen und Sie sind direkter Nachbar <strong>der</strong> EU und <strong>der</strong> NATO<br />

geworden. Diese neue Nachbarschaft lässt in vielen Bereichen auf eine polnisch-deutsche<br />

Interessengemeinschaft bauen, sie gibt <strong>der</strong> Außenpolitik<br />

Ihres Landes eine wichtige Orientierung. Ich bin überzeugt, dass sich Polen<br />

längst als ein Teil dieser europäisch vereinten Seele betrachtet, auch deshalb,<br />

weil es seine gemeinsamen Werte teilt und sich ihnen seit Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />

verpflichtet fühlt. So werden Brücken gebaut. Und wir gehen gerne darüber."<br />

Bei dem Besuch in Schlesien ging es auch um ganz konkrete wirtschaftliche<br />

Hilfe. Die Woiwodschaft Oppeln erfreute sich schon mannigfaltiger<br />

Hilfe aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, trotzdem wünschte<br />

man sich noch mehr deutsche Investoren und Joint Ventures. Der Auftrag<br />

an Weyrosta: Er solle im Landkreis Ludwigsburg für die 10 000 Einwohner<br />

zählende Gemeinde Korfantów eine Partnerstadt ausfindig machen. Weyrosta<br />

selbst sah sich allerdings nicht auf die Rolle des Brautwerbers<br />

beschränkt: "Wir waren Botschafter und Kundschafter zugleich", sagte er<br />

nach <strong>der</strong> Reise.<br />

Vertieft wurde das Thema im November 1995 bei einem Essen zu Ehren des<br />

polnischen Außenministers W³adys³aw Bartoszewski, zu dem Ministerpräsident<br />

Erwin Teufel ins Neue Schloss nach Stuttgart geladen hatte. Weyrosta<br />

wagte sich wie<strong>der</strong> einmal auf das diplomatische Parkett und warb für<br />

sein Projekt eines deutsch-polnischen Jugendtreffs. Sowohl Teufel als auch<br />

Bartoszewski sicherten ausdrücklich ihre Unterstützung zu.<br />

Textauszug aus: Jörg Palitzsch: Das Schlachtross, S. 184/5


"Ein Teil meines Herzens"<br />

von Wanda Przybylska<br />

Das Leben von Wanda war von ihrem 9.<br />

Lebensjahr an, von den Kriegsereignissen<br />

geprägt. Sie beginnt das Tagebuch 1942<br />

und führt es, mit Unterbrechungen, bis<br />

Ende August 1944, bis zu ihrem Tode. Sie<br />

wurde auf <strong>der</strong> Flucht mit ihren Eltern aus<br />

dem Zentrum <strong>der</strong> Kämpfe des Warschauer<br />

Aufstandes erschossen.<br />

Dieses Tagebuch ist in vielen Län<strong>der</strong>n<br />

Europas und in Japan bereits vor 40 Jahren<br />

erschienen. In <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

<strong>Deutsch</strong>land konnte damals kein Verlag<br />

gefunden werden. "Nicht zeitgemäß" war<br />

die Begründung. Auf Initiative von Jolanta<br />

Kolczynska, Freundin von Wanda und<br />

heute aktive Mitarbeiterin im Vorstand des<br />

Verbandes <strong>der</strong> Warschauer Aufständischen,<br />

und <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> für gute Nachbarschaft<br />

zu Polen, wurde vor einigen Jahren<br />

die Übersetzung in Angriff genommen.<br />

Die Suche nach einem Verlag war zermürbend.<br />

Auf einer Konferenz <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<br />

Ponischen <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

e. V. lernte ich den Verleger Helmut<br />

Donat mit seinem Verlagsprogramm kennen.<br />

Nach Kenntnisnahme <strong>der</strong> Rohübersetzung<br />

sagte er eine Veröffentlichung zu. Es<br />

begann nun die Feinarbeit, sowohl <strong>der</strong><br />

Übersetzerinnen (Lucie Ranft und Renate<br />

Weiß) als auch des Verlegers in Zusammenarbeit<br />

mit <strong>der</strong> Schwester <strong>der</strong> Tagebuchschreiberin,<br />

Jadwiga Przybylska-Wolf.<br />

Fünf Jahre nach <strong>der</strong> Bitte von Jolanta<br />

Kolczynska zu prüfen, ob ein Erscheinen in<br />

<strong>Deutsch</strong>land möglich wäre, ist das Büchlein<br />

dankenswerter Weise durch den<br />

Donat-Verlag verlegt worden, ohne finanzielle<br />

Zuwendungen, alles auf ehrenamtlicher<br />

Grundlage. Die Ausgabe ist rundum<br />

gelungen.<br />

60 Jahre nach dem Kriegsende ist das<br />

Tagebuch nun auch in <strong>Deutsch</strong>land präsent.<br />

Der Jahrestag war Anlass, vermittelst von<br />

Veranstaltungen, Ausstellungen, Publika-<br />

Von Renate Weiß<br />

Polen wird am 1. September 1939 von Nazideutschland überfallen. Es wird besetzt.<br />

Der Krieg führt durch Polen in die Sowjetunion und <strong>der</strong> Rückzug wie<strong>der</strong> durch<br />

Polen. Fast bis zum unmittelbaren Ende des Krieges wüten die Faschisten. Hinterlassen<br />

wird ein verwüstetes Land. Kaum eine Familie ist verschont geblieben. Das<br />

Tagebuch erscheint in <strong>Deutsch</strong>land 60 Jahre nach Beendigung des II. Weltkrieges,<br />

eines Krieges, <strong>der</strong> viele Millionen Menschenleben gekostet hat. Seine unmenschliche<br />

Wirkung ist noch heute gegenwärtig. Es ist fast unmöglich, sachlich über ein solch<br />

emotionsgeladenes Büchlein zu berichten. In dem vorliegenden Tagebuch schil<strong>der</strong>t<br />

ein polnisches Mädchen seine Gefühle und Erlebnisse in dieser Zeit des Terrors und<br />

<strong>der</strong> Qualen für das polnische Volk.<br />

tionen über das Grauen jener Zeit nachzudenken.<br />

Beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Jugend sollte mit<br />

diesem Tagebuch die Unmenschlichkeit<br />

dieses Krieges und <strong>der</strong> Kriege überhaupt<br />

nahegebracht werden.<br />

Im Geleitwort zur deutschen Ausgabe<br />

schreibt Hans Koschnick: "Hatte uns das<br />

Tagebuch <strong>der</strong> Anne Frank vor Jahrzehnten<br />

Anstoß zu einem solchen Nachdenken<br />

gegeben, es handelte von einer jungen jüdischen<br />

Heranwachsenden im Pubertätsalter,<br />

die über Monate hinweg in Amsterdam in<br />

einem Versteck leben musste und<br />

schließlich doch kurz vor <strong>der</strong> Befreiung im<br />

KZ Bergen-Belsen verstarb, so wird mit<br />

diesem hier vorliegenden Werk die Erfahrens-<br />

und Gedankenwelt einer gleichartigen<br />

polnischen Heranwachsenden aufgezeigt.<br />

Eindringlich werden sichtbar, mit<br />

welchen Belastungen und Empfindungen<br />

BUCHBESPRECHUNG<br />

die Lebensspanne dieser zur Frau Heranreifenden<br />

beschwert wird. Auch hier geht<br />

es um die authentische Wie<strong>der</strong>gabe einer<br />

Lebenssituation."<br />

Ein Leben mit dem Krieg<br />

Mit 12 Jahren beginnt Wanda das Tagebuch<br />

als "ein Teil ihres Herzens" zu schreiben.<br />

Sie ist ein ganz normales Mädchen mit<br />

Flausen im Kopf, aber auch mit Träumen.<br />

Immer wie<strong>der</strong> schreibt sie sich ihre Seele<br />

frei von den schrecklichen Erlebnissen des<br />

Krieges. Ihre Betrachtungen gehen weit<br />

über die Gedankenwelt einer 12 jährigen in<br />

friedlichen Zeiten hinaus. Sie stellt sich<br />

und ihren Freundinnen solche Fragen, wie:<br />

Was ist Glück? Was ist Wahrheit? Wozu<br />

sind Träume wichtig?<br />

Ihre Träume nehmen am Ende ihres Tagebuches,<br />

das so je beendet wurde, Gestalt<br />

an. Ein Aufsatz zeigt wie sie sich Warschau<br />

20 Jahre nach dem Kriege vorstellt. Sie<br />

nutzt auch die Briefform, um Ihre Gedanken<br />

zu äußern. Im Sommer 1942 schreibt<br />

sie an eine Freundin: ".....Danusia, hast Du<br />

schon gehört, wie sanft die Kiefern säuseln?<br />

Was hast Du in dem Moment<br />

gedacht? Hast Du irgendwann an unser<br />

Vaterland gedacht? ...... Ich sah, wie <strong>der</strong><br />

Krieg tobte und die um unser Vaterland<br />

kämpfenden Soldaten. Ich sah sehr viel<br />

Blut, Elend und Hunger. Ich sah vor Kälte<br />

Sterbende, hörte ihr Stöhnen und Weinen.<br />

Was dachtest Du an diesem traurigen Tag?"<br />

Das Mädchen ist 12 Jahre! Worüber<br />

machen sich unsere 12 Jahre alten Kin<strong>der</strong>,<br />

Enkel Gedanken?<br />

In ihrem Tagebuch werden die Ereignisse<br />

im Land und in Warschau reflektiert. Am<br />

24. April 1943 berichtet sie kurz über den<br />

Ghettoaufstand: "Schon seit einer Woche<br />

tobt ein erbitterter Kampf. Die Juden leisten<br />

im Ghetto Wi<strong>der</strong>stand. Alle paar<br />

Sekunden sind Kanonenschüsse und<br />

Gewehrschüsse zu hören."<br />

Nur ein paar Tage später am 3. Mai 1943<br />

äußert sie sich zum <strong>Polnische</strong>n Nationalfeiertag,<br />

dem Tag <strong>der</strong> Verfassung: "Heute<br />

gehe ich nicht zur Schule, denn es ist Feiertag.<br />

Es ist <strong>der</strong> 3. Mai, für die Polen ein<br />

großes Fest. Schon drei Jahre lang wurde<br />

dieser Feiertag nicht begangen. Wir, in den<br />

illegalen Schulen, feiern ihn trotzdem."<br />

<strong>Zur</strong> Arbeit im Untergrund gehörten illegale<br />

Schulen, sogar Universitäten. In <strong>der</strong> gleichen<br />

Notiz kommt sie noch einmal auf den<br />

Wie<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Juden im Ghetto zurück.<br />

"Es ist wahr, es sind nur noch sehr wenige,<br />

und sie verteidigen sich mit letzter Kraft.<br />

Fast das gesamte Ghetto brennt." Es wurde<br />

dem Erdboden gleich gemacht.<br />

Im zweiten Teil des Tagebuchs, nachdem<br />

POLEN und wir 2/2006 21


BUCHBESPRECHUNGEN<br />

sie etwa ein Jahr die Eintragungen unterbrochen<br />

hatte, schil<strong>der</strong>t sie die Zeit kurz<br />

vor dem Warschauer Aufstand, <strong>der</strong> am 1.<br />

August 1944 begann und den Warschauer<br />

Aufstand selbst. Am 24. Juli 1944 schreibt<br />

sie: "Es beginnt heiß zu werden, aber<br />

eigentlich ist es schon heiß. Der Krieg<br />

kommt eiligen Schritts daher. Die Bolschewisten<br />

scheinen Flügel zu haben, und die<br />

<strong>Deutsch</strong>en ebenso, nur dass sie fliehen."<br />

Wanda befindet sich zu dieser Zeit in<br />

Otwock bei Bekannten. "Ich schaue zu den<br />

Sternen und sehne mich nach Warschau. ...<br />

Warschau wurde bombardiert. Jeden<br />

Abend denke ich an meine Mutter, an meinen<br />

Vater, ... an die, die ich liebe und die in<br />

Gefahr sind! Ich denke an sie und sorge<br />

mich. ..." Nach Warschau zurückgekehrt<br />

beschreibt sie die Situation. "Nein - es ist<br />

schrecklich die ganze Woche über fielen<br />

Bomben. .... Nicht mehr lange und die<br />

Stunde des Blutvergießens ist da. Nicht<br />

mehr lange, und die Stunde des Kampfes<br />

schlägt....."<br />

Dienstag, den ersten August, ist es so weit.<br />

Die Nie<strong>der</strong>schrift zeugt von Angst, aber<br />

auch davon, wie sich Wanda selbst Mut<br />

macht. "Nach fünf Jahren flattern wie<strong>der</strong><br />

die weiß-roten Fahnen im Wind, beim Aufhängen<br />

je<strong>der</strong> Fahne klatschen wir. Angeblich<br />

geht alles einigermaßen, wahrscheinlich<br />

kann man sogar sagen, es geht gut"<br />

Tina Stroheker:<br />

"Lodzer Wörterbuch"<br />

Von Hans Kumpf<br />

Die Verständigung mit Polen ist <strong>der</strong> 1958<br />

in Ulm geborenen und nun in Eislingen<br />

bei Göppingen wohnenden Schriftstellerin<br />

Tina Stroheker eine Herzensangelegenheit.<br />

In ihren beiden Büchern "<strong>Polnische</strong>s<br />

Journal" und "Pommes Frites in<br />

Gleiwitz. Eine poetische Topographie<br />

<strong>Polens</strong>" vermittelte sie auf oft amüsante<br />

Weise viel Wissensreiches und Nachdenkenswertes<br />

über unser Nachbarland.<br />

Auch im "Lodzer Wörterbuch" kommen<br />

Historie, Gegenwärtiges sowie Sprachkundliches<br />

nicht zu kurz. 2002 nahm sie in<br />

Stuttgarts Partnerstadt ein Stipendium als<br />

Stadtschreiberin wahr. Nach dem ABC<br />

geordnet reiht Tina Stroheker Episoden<br />

und Eindrücke hintereinan<strong>der</strong> - beginnend<br />

mit "Ankunft", "Boot", "Brunnen", "Champignons",<br />

"Dreieinigkeit", "Erinnerung",<br />

endend mit "Wun<strong>der</strong>", "Xylophon",<br />

"Yesterday", "Zeit" und "Zwischen". Wie<strong>der</strong>kehrendes<br />

Thema ist das Spannungsfeld<br />

zwischen Polen, Juden und <strong>Deutsch</strong>en in<br />

<strong>der</strong> Textilstadt. An diesem Prosa-Bändchen<br />

fallen lyrische Verkürzungen auf, vielfach<br />

22 POLEN und wir 2/2006<br />

Wanda beschreibt das Auf und Ab des<br />

Kampfes <strong>der</strong> polnischen Kämpfer. Am 28.<br />

August kommt sie auf dem Hof ihres<br />

Wohnhauses wie<strong>der</strong> einmal in eine lebensbedrohliche<br />

Situation. Ihr Mantel beginnt<br />

zu brennen. Sie wirft ihn geistesgegenwärtig<br />

weg. Am 29 August ist die letzte Eintragung<br />

im Tagebuch und am 4. September<br />

stirbt Wanda auf <strong>der</strong> Flucht mit ihren Eltern<br />

und ihrer Schwester aus dem Zentrum <strong>der</strong><br />

Kämpfe.<br />

Das Buch wird vorgestellt<br />

Es ist den Mitglie<strong>der</strong>n unserer <strong>Gesellschaft</strong><br />

eine Herzenssache, vor allem <strong>der</strong> Jugend<br />

unserer Tage die Gedanken und Träume<br />

von Wanda nahe zu bringen, uns für eine<br />

friedliche und freundschaftliche Nachbarschaft<br />

einzusetzen. Deshalb freut es uns<br />

sehr, dass am 26. März 2006 in Bremen,<br />

am Erscheinungsort des Büchleins, im<br />

Theater eine Lesung stattfinden wird.<br />

Organisiert wird sie von dem Verleger Helmut<br />

Donat. Veranstalter ist die dortige<br />

<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong>. Teilnehmen<br />

wird auch Hans Koschnick Die<br />

Lesung selbst erfolgt durch Schauspieler<br />

des Theaters. An <strong>der</strong> Veranstaltung werden<br />

die ältere Schwester von Wanda, Jadwiga<br />

Przybylska-Wolf und die Freundin Jolanta<br />

Kolczyñska als Zeitzeugen teilnehmen.<br />

Beide waren aktiv an den Kämpfen des<br />

Sätze ohne Verben. Knapp und hart.<br />

Jeweils auf <strong>der</strong> linken Seite findet man den<br />

deutschen Urtext, daneben die Übersetzung<br />

von Tina Strohekers Freundin S³awa<br />

Lisiecka. Wer die vielen Andeutungen<br />

selbst nicht entschlüsseln kann, dem stehen<br />

im Anhang zahlreiche und detaillierte<br />

Fragen<br />

Warschauer Aufstandes beteiligt. Sie werden<br />

am 24. März in Berlin anreisen und<br />

von Lucie Ranft, Mitglied unserer <strong>Gesellschaft</strong><br />

nach Bremen begleitet. Nach <strong>der</strong><br />

Rückkehr aus Bremen, sind in Berlin unter<br />

Beteiligung dieser beiden Zeitzeugen<br />

Lesungen vorgesehen.<br />

Am 28. März 16.00 Uhr ist mit dem Lichtenberger<br />

Kulturverein e. V. in <strong>der</strong> KULT-<br />

Schule in Berlin Lichtenberg, Sewanstr. Nr.<br />

43, 10319 Berlin die erste Lesung vereinbart.<br />

Ebenso ist in <strong>der</strong> Reihe: "Literatur in<br />

Weißensee" eine Veranstaltung am 29.03.<br />

2006, 19.00 Uhr im Kulturverein<br />

Weißensee, Frei-Zeit-Haus Pistoriusstr. Nr.<br />

23, vorgesehen. Am 30.03 2006, 11.00 Uhr<br />

wird in <strong>der</strong> Anna-Seghers-Bibliothek in<br />

Berlin Hohenschönhausen unter Teilnahme<br />

von Schülern eine Lesung stattfinden.<br />

Darüber hinaus sind noch einmal in <strong>der</strong><br />

Zeit vom 8. bis 12. Mai 2006 eine Woche<br />

Lesungen, wie<strong>der</strong> mit den beiden Zeitzeuginnen<br />

vorgesehen. Zum Beginn dieser<br />

Woche wird am 8. Mai, 19.00 Uhr am Tag<br />

<strong>der</strong> Befreiung, eine Lesung im <strong>Polnische</strong>n<br />

Institut Berlin, Burgstr. 27, sein. Außerdem<br />

sind an vier bis fünf Schulen Lesungen<br />

geplant.<br />

Im Sinne von Wanda möchten wir so mit<br />

unseren Aktivitäten für eine menschliche<br />

Welt wirken. ��<br />

Erklärungen zur Verfügung. Kurzweilig<br />

und unbequem, eine lesenswerte Literatur.<br />

Tina Stroheker: "Lodzer Wörterbuch -<br />

S³ownik ³ódzki", 160 Seiten, kartoniert,<br />

Eislinger Edition (ISBN 3-929947-38-2 und<br />

Bibliotheka "Tygiel Kultury", £ódŸ (ISBN<br />

83-88552-33-3) ��<br />

Präsident K. wird eine Frau. Wahrheit o<strong>der</strong> Lüge? Der Gast vor Plakaten.<br />

Die Brü<strong>der</strong> K. haben den Mond gestohlen. Wahrheit o<strong>der</strong> Lüge? Wer fragt,<br />

wird nicht verraten. Noch nicht? Die Hiesigen verstehen die Anspielungen,<br />

ich brauche Hilfe, erst dann kann ich Jola Kwaœniewska grüßen und die<br />

Buben Jacek und Placek, die vor Jahren im Film den Mond stahlen. Meine<br />

Fragen sind an<strong>der</strong>s: Wo sitzen die Schachspieler aus dem Altstadtpark winters?<br />

Warum schwankt am Plac Wolnoœci <strong>der</strong> Boden, wenn eine Trambahn<br />

vorbei fährt? Wieso kann Frau Maria ihrer Tochter das Studium nicht bezahlen?<br />

Was tut die Alte vor <strong>der</strong> Marienkirche mit dem, was sie aufhebt, Papierfetzen,<br />

Laub, Kippen und Dosen? Warum ist die Verkäuferin feinster Eclairs,<br />

Cremerouladen und Windbeutel schlecht gelaunt? Warum gibt es in Baluty<br />

so viele Hunde? Warum existiert kein Museum über die Geschichte <strong>der</strong> Lodzer<br />

Juden? Warum mag ich den Stary Rynek so? Wen sucht das steinerne<br />

Hündchen an <strong>der</strong> Fassade <strong>der</strong> Villa Kin<strong>der</strong>mann? Warum mußte Zbyszek,<br />

<strong>der</strong> Dichter, so früh sterben? Warum sind diese Fragen so durcheinan<strong>der</strong>?<br />

(Auszug von Tina Stohekers "Lodzer Wörterbuch", Seite 26)


Ich interessierte mich bereits seit langem<br />

für die Prozesse in den osteuropäischen<br />

Län<strong>der</strong>n, insbeson<strong>der</strong>e für mein Nachbarland<br />

Polen. Dieses Interesse deckt sich<br />

auch mit meinem Wunsch, an <strong>der</strong> Europauniversität<br />

Viadrina Frankfurt (O<strong>der</strong>) zu studieren.<br />

Das Finden einer richtigen Entsendeorganisation<br />

für<br />

den EuropäischenFreiwilligendienst<br />

(EVS) hat<br />

einige Zeit<br />

in Anspruchgenommen<br />

und die vielenorganisatorischen<br />

Sachen haben<br />

nur<br />

durch hartnäckiges<br />

Nachhaken<br />

geklappt.<br />

Doch letztendlich hat alles funktioniert.<br />

Die Vorbereitungsseminare haben über<br />

Rechte und Pflichten, Versicherungen und<br />

Schutz aufgeklärt, sowie sich aber größtenteils<br />

mit <strong>der</strong> psychischen Vorbereitung<br />

befasst.<br />

Und dann ging alles sehr schnell. Der Zug<br />

brachte mich in ein Leben, das bis heute<br />

wie ein Schnelldurchlauf an mir vorbeigerauscht<br />

ist. Wir waren zwölf neue Freiwillige<br />

aus aller Herren Län<strong>der</strong> gewesen, die<br />

Mitte September das stille Örtchen Sorkwity<br />

bei unserer Aufnahmeorganisation<br />

Camp Rodowo in den Masuren erreichten.<br />

Nach einem zweiwöchigen Sprachkurs<br />

wurde es ernst.<br />

Wir Masurschen Freiwilligen werden auf<br />

kleine Städtchen verteilt, die im Winter von<br />

beson<strong>der</strong>s hoher Arbeitslosigkeit und<br />

Mogê pomóc?<br />

(Kann ich Helfen?)<br />

Erfahrungsbericht einer 20-jährigen<br />

europäischen Freiwilligen in den Masuren<br />

Von Franziska Schnei<strong>der</strong><br />

Als auf dem Bahnsteig die Türen des Zuges nach Polen meine Eltern und mich mit<br />

drei dicken Taschen am 17. September 2005 trennten, fühlte ich mich wie ein verlassenes,<br />

abgestoßenes Vögelchen, das von einer auf die an<strong>der</strong>e Sekunde fliegen können<br />

muss. Es war mein eigener Wille nach dreizehn Jahren Schule und Abitur endlich die<br />

Welt kennen zu lernen und meine eigenen Erfahrungen zu sammeln. Lehrbücher<br />

hatte ich genug gewälzt und zugehört habe ich auch lange genug. Es wurde Zeit für<br />

mich, endlich meinen Lebensdurst an <strong>der</strong> Welt zu stillen.<br />

Armut betroffen sind. Ich hatte mich für<br />

Miko³ajki entschieden. Dieser Touristenanziehungspunkt<br />

im Sommer gleicht im Winter<br />

einem zurückgezogenen Dörfchen.<br />

Die richtige Wahl<br />

Wie wird sich meine Arbeit gestalten? Wie<br />

werde ich aufgenommen? In was für eine<br />

Kin<strong>der</strong>gartengruppe in Miko³ajki - Foto: Franziska Schnei<strong>der</strong><br />

Gastfamilie werde ich kommen? Werde ich<br />

mich jemals in einem an<strong>der</strong>en Land einleben<br />

o<strong>der</strong> werde ich als eine deutsche Touristin<br />

abgestempelt? Mittlerweile haben sich<br />

diese ersten Ängste und Überlegungen in<br />

einem ausgefüllten, organisierten Leben in<br />

Miko³ajki geklärt. Ich wurde überall mit<br />

einem freundlichen Lächeln aufgenommen<br />

und man bemüht sich so gut es geht, mich<br />

zu unterstützen. Es wird sich, wenn es<br />

nicht an<strong>der</strong>s geht, mit Händen und Füßen<br />

unterhalten. Das Interesse, das die Menschen<br />

an mir und meinem Leben bekunden,<br />

zeigt mir, dass ich nicht als eine deutsche<br />

Touristin aufgenommen werde. Die Achtung,<br />

die mir entgegengebracht wird, weil<br />

ich fast ein Jahr aus meinem Heimatland in<br />

ein an<strong>der</strong>es Land gehe, gibt mir genug<br />

BEGEGNUNGEN<br />

Kraft, meine eigene Sehnsucht nach <strong>der</strong><br />

Familie zu lin<strong>der</strong>n.<br />

Ich bin sehr glücklich mit meinen Projekten<br />

und meinen Aufgaben in dieser kleinen<br />

Stadt. Beson<strong>der</strong>s hervorzuheben an dem<br />

EVS in Miko³ajki ist, dass ich viele Möglichkeiten<br />

habe, in verschiedenen Einrichtungen<br />

tätig zu werden. Die Projekte setzten<br />

keine unüberwindbaren Grenzen. Ich<br />

arbeite zwei Mal die Woche in einer Fünfjährigen<br />

Kin<strong>der</strong>gartengruppe und in einer<br />

Tagesbeschäftigungsstätte für behin<strong>der</strong>te<br />

Menschen. Dort kann ich meiner Kreativität<br />

freien Lauf lassen und lerne, mich mit<br />

<strong>der</strong> polnischen Sprache mehr und mehr zu<br />

verständigen. Eine Arbeit, die mir oft zeigt,<br />

wie schön und gleichzeitig auch hart das<br />

Leben sein kann. Wenn ich nachmittags<br />

geschafft vom Kin<strong>der</strong>geschrei in mein<br />

Zimmer komme, bewun<strong>der</strong>e ich den Job<br />

einer Kin<strong>der</strong>gärtnerin, die sich jeden Tag<br />

darum bemüht, die Kin<strong>der</strong> auf das Leben<br />

vorzubereiten. Die Erfahrung, dass meine<br />

Hilfe gern angenommen wird und einfacher<br />

menschlicher Kontakt einen so mit<br />

Glück erfüllen kann, habe ich in den 13<br />

Jahren Schule nie gemacht.<br />

Den Grossteil meiner restlichen Arbeitszeit<br />

befinde ich mich im "Marion Dönhoff<br />

Lyzeum". Gräfin Marion Dönhoff war<br />

Chefredakteurin und Herausgeberin <strong>der</strong><br />

Wochenzeitung "Die Zeit". Sie hatte sich<br />

als Antifaschistin beson<strong>der</strong>s für die Verständigung<br />

<strong>Deutsch</strong>lands mit den Völkern<br />

Osteuropas eingesetzt. Hierin sehe ich<br />

meine Aufgabe auch als eine Vermittlung<br />

<strong>der</strong> Kenntnisse von Geschichte und Gegenwart<br />

bei<strong>der</strong> Völker. Das Wissen übereinan<strong>der</strong><br />

steht an erster Stelle und ich versuche<br />

als <strong>Deutsch</strong>e, Vorurteile und Misstrauen<br />

gegenüber <strong>Deutsch</strong>land aufzuklären und<br />

bestenfalls abzubauen. Mir werden alle<br />

Türen offen gehalten, damit ich einen realistischen<br />

Eindruck von meinem Nachbarland<br />

Polen bekomme. Durch die sehr gute<br />

sprachliche Ausbildung in <strong>Deutsch</strong> und<br />

Englisch, hat sich die Schule einen Namen<br />

gemacht. Ich gebe unter an<strong>der</strong>em auch den<br />

Schülern die Möglichkeit einer <strong>Deutsch</strong>konversation.<br />

Lei<strong>der</strong> sind durch den vorrangigen<br />

Erwerb von Sprachkenntnissen,<br />

jegliche künstlerisch, kreativen Fächer verbannt<br />

worden. Aber da die Schüler enormes<br />

Interesse und Talent aufweisen, haben<br />

wir Europäischen Freiwilligen mit zwei<br />

Lehrern <strong>der</strong> Schule eine Musikgruppe und<br />

eine Theatergruppe gegründet.<br />

Ich versuche auch mein Interesse an <strong>der</strong><br />

gemeinsamen Geschichte unserer beidenrVölker<br />

und das Miteinan<strong>der</strong> auf <strong>der</strong><br />

Basis <strong>der</strong> gegenseitigen Akzeptanz und<br />

Kooperation in einem historischen Projekt<br />

zum Ausdruck zu bringen. Zusammen mit<br />

POLEN und wir 2/2006 23


BEGEGNUNGEN<br />

einem Europäischen Freiwilligen aus<br />

Frankreich habe ich mich mit dem sehr vernachlässigten<br />

jüdischen Friedhof in<br />

Miko³ajki beschäftigt. Wir haben einige<br />

interessierte Bürger von Miko³ajki zur Mitarbeit<br />

gewonnen und mit <strong>der</strong> Unterstützung<br />

des Marion-Dönhoff-Lyzeums ein Projekt<br />

<strong>der</strong> Restauration und geschichtlichen Aufarbeitung<br />

organisiert.<br />

Nicht nur Spielen<br />

und Beschäftigung<br />

Die jüdische Stiftung "Fundacji Ochrony<br />

Dziedzictwa ¯ydowskiego" bietet ein Projekt<br />

speziell für Schulen an, in dem darauf<br />

Wert gelegt wird, diese wichtigen Erinnerungen<br />

an die und Mahnung aus <strong>der</strong><br />

Geschichte mit Jugendlichen aufzuarbeiten<br />

und sie in die Pflege des Geländes einzubeziehen.<br />

Wir versuchen das Interesse <strong>der</strong><br />

BürgerInnen von Miko³ajki auf das historische<br />

Erbe zu lenken und hoffen, dass das<br />

Projekt nicht nur formelle, son<strong>der</strong>n lebendige<br />

Form annimmt. In den lokalen Medien<br />

haben wir unser Projekt bereits vorgestellt.<br />

Aktuelle Diskussionen und die politischen<br />

Entwicklungen in Polen versuche ich zu<br />

beobachten, sowie Probleme und<br />

Umgangsweisen <strong>der</strong> Menschen zu verstehen.<br />

Ich möchte den Menschen in<br />

Miko³ajki zeigen, dass es nicht nur Touristengruppen<br />

gibt, die das wun<strong>der</strong>schön<br />

gelegene Städtchen im Sommer bevölkern<br />

und zum Leben erwecken, son<strong>der</strong>n auch<br />

Radtour <strong>der</strong> guten<br />

Nachbarschaft<br />

2006 finden wie<strong>der</strong> die von <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

für gute Nachbarschaft zu Polen<br />

organisierten, inzwischen traditionellen<br />

Radtouren statt, die mit ihren polnischen<br />

Partnern vom LZS Gorzów organisiert<br />

werden:<br />

Vom 24.06.-01.07.2006 die Radtour <strong>der</strong><br />

guten Nachbarschaft nach Mielno an<br />

<strong>der</strong> Ostsee und<br />

vom 22. - 29.07.2006 das Fahrrad und<br />

Wan<strong>der</strong>camp in Kaszuby (Kaschubien);<br />

diese wald- und seenreiche Landschaft<br />

befindet sich südwestlich von Gdañsk/<br />

Danzig.<br />

Der TeilnehmerInnenbetrag enthält die Leistungen<br />

während <strong>der</strong> Radtour bzw. während<br />

des Camps und 10,- Euro Organisationsaufwand<br />

für die <strong>Gesellschaft</strong> für gute<br />

Nachbarschaft. Die Teilnehmergebühren<br />

betragen:<br />

- Radtour <strong>der</strong> guten Nachbarschaft 330,-<br />

Euro p.P.;<br />

- Fahrrad- und Wan<strong>der</strong>camp 310,- Euro<br />

p.P., zusätzlich fallen hier 60,- Euro als<br />

24 POLEN und wir 2/2006<br />

lernbegeisterte Auslän<strong>der</strong>. Es lässt sich<br />

schwer in einem Satz zusammenfassen,<br />

wie viel ich bisher erfahren habe. Vor allem<br />

die polnischen Mentalitäten, Kulturen und<br />

Lebensverhältnisse werden mir in einer<br />

sonst schwer möglichen Ansicht gezeigt.<br />

Das gemeinsame Wohnen mit einer polnischen<br />

Gastfamilie, die vielen Gespräche<br />

mit Lehrern, aber auch einfach einer Verkäuferin,<br />

eröffnen mir einen lebendigen<br />

Blick in polnische Verhältnisse. Ich erfahre<br />

und lerne auf direktem Weg und kann<br />

durch eigene Initiative die Mentalitäten<br />

und Traditionen miterleben. Für neun<br />

Monate in einem an<strong>der</strong>en Land zu leben,<br />

heißt, einen direkten Blick in die Landesund<br />

Kommunalpolitik, die Familienverhältnisse,<br />

den Lebensstandard und die Traditionen<br />

zu erhalten.<br />

Rücksichtnahme und<br />

gegenseitige Verständigung<br />

Ich sehe meine Aufgabe darin, den europäischen<br />

Gedanken nach Polen zu tragen und<br />

dazu beizutragen, dass er verfestigt und<br />

weiterentwickelt wird. Durch meine Arbeit<br />

führe ich Nationen zueinan<strong>der</strong> und kann<br />

einen weltoffeneren und globalen Blick auf<br />

die Welt för<strong>der</strong>n. Die geschlossene<br />

Gemeinschaft, die gegenseitige Hilfe und<br />

Rücksichtsnahme, die Freuden über Kleinigkeiten<br />

im Leben zeigen mir Tag für Tag,<br />

dass Liebe und Frieden gegenüber allen<br />

Menschen das Leben enorm erleichtern<br />

Transportkosten für den Bus an (jedoch<br />

nur, wenn alle Teilnehmer den Bus auch<br />

nutzen). Für das Fahrrad- und Wan<strong>der</strong>camp<br />

ist eine Mindestteilnehmerzahl von 25<br />

erfor<strong>der</strong>lich. Da unsere polnischen Partner<br />

zur Bindung <strong>der</strong> Quartiere Vorauszahlungen<br />

leisten müssen, sind wie<strong>der</strong> Ratenzahlungen<br />

fällig.<br />

Weitere Informationen kann man auch im<br />

Internet unter www.gutenachbarn.de finden.<br />

Wir bitten alle, die das Internet nutzen,<br />

uns mit <strong>der</strong> Anmeldung ihre Email-Adressen<br />

mitzuteilen, damit wir Informationen<br />

effektiver verbreiten können. Geplant ist,<br />

Email-Nutzern die Rundschreiben und sonstigen<br />

Informationen nur noch online<br />

zukommen zu lassen.<br />

Anmeldung/Rückfragen: Mirko Buggel,<br />

Gustav-Kurtze-Promenade 58, 15344<br />

Strausberg, Tel.: 03341/486561, Email:<br />

m.buggel@guteNachbarn.de<br />

Sprachradtouren 2006<br />

Seit 2003 fanden 11 "Sprachradtouren" am<br />

Wochenende statt. Wie bisher freuen wir<br />

uns über jede Person, die gern gemütliches<br />

Radfahren mit dem Erlernen und Anwen-<br />

können. Vielleicht liegt es hier auch an den<br />

sehr eisigen Temperaturen, dass man sich<br />

mehr Herzenswärme entgegenbringt. Doch<br />

selbst diese Kälte draußen, entzündet in<br />

mir ein Feuer. Ein Feuer <strong>der</strong> Lust zu Helfen<br />

und dafür einfach nur ein breites, aber noch<br />

ungeschminktes Kin<strong>der</strong>lächeln entgegen<br />

zu nehmen.<br />

Ein Lächeln für die Welt<br />

Heute sehe ich, dass sich die Zugtüren am<br />

Beginn meiner Reise nicht geschlossen,<br />

son<strong>der</strong>n mir die Richtung in mein zukünftiges<br />

Leben gezeigt haben. Trotz aller Sehnsüchte,<br />

Missverständnisse und Schwierigkeiten,<br />

habe ich in diesen fünf Monaten so<br />

viel gelernt, gesehen und selber ausprobiert,<br />

dass ich einen Europäischen Freiwilligendienst<br />

nur jedem ans Herz legen kann.<br />

Die Chancen, sich selbst zu verwirklichen<br />

und zu erfahren wie das Leben in an<strong>der</strong>en<br />

Län<strong>der</strong>n ist, ohne das Gefühl alleine dazustehen,<br />

ist eine Bereicherung für das ganze<br />

Leben. Doch nicht nur das, auch die Freiheit,<br />

sein Leben selbst zu gestalten und die<br />

Zeit zu nutzen, über sich und seine Zukunft<br />

nachzudenken, ist gerade in <strong>der</strong> schwierigen<br />

Zeit heute ein großes Privileg. Die<br />

Herzenswärme, die Freundlichkeit und die<br />

vielen lächelnden Kin<strong>der</strong>gesichter kann<br />

mir keiner aus meinen Erinnerungen nehmen<br />

und ich bin mir sicher, dass ich hier<br />

Hilfe und Freunde für mein Leben gefunden<br />

habe. ��<br />

den <strong>der</strong> für RadfahrerInnen wichtigen polnischen<br />

Redewendungen, dem Kennenlernen<br />

<strong>der</strong> polnischen grenznahen Regionen<br />

und dem Erleben einer angenehmen Atmosphäre<br />

in einer Gruppe von max. 8 Personen<br />

verbinden möchte. Die Touren beginnen<br />

jeweils am Sonnabend in einer grenznahen<br />

Stadt, führen über max. 50 km auf<br />

meist schwach befahrenen Strassen zu<br />

einer preiswerten Unterkunft und am Sonntag<br />

über ebenfalls max. 50 km zu einem<br />

grenznahen Bahnhof. In den Pausen<br />

beschäftigen wir uns z.B. mit Themen wie<br />

"Im Restaurant", "Erkundigung nach dem<br />

Weg", "Im Hotel". Vielen gelang es, die<br />

Angst, einen Polen in dessen Muttersprache<br />

anzusprechen, zu überwinden.<br />

Termine: April, Kostrzyn - Sulecin -<br />

Frankfurt/O, ca. 100 km<br />

Mai: Schwedt - Chojna - Bad Freienwalde,<br />

(einzige Tour für Radler ohne Polnischkenntnisse),<br />

ca. 85-90 km<br />

Juni o<strong>der</strong> Juli, Kostrzyn - Osno Lubuskie<br />

- Kostrzyn, pro Tag ca. 40 km u.a.<br />

Interessenten wenden sich bitte an<br />

Michael Dressel, Tel. 030-9328645, e-<br />

Mail: michadressel@t-online.de ��


NEULANDPOGRANICZE<br />

Fotografieprojekt <strong>der</strong> OSTKREUZ Schule für<br />

Fotografie & Gestaltung Berlin<br />

„Woher kommt noch mal ihr Kollege?“,<br />

Krzysztof Dorniak beugt sich verstohlen<br />

hinüber zu Ula, einer polnischen Fotostudentin,<br />

die gerade Fragen ihres deutschen<br />

Kollegen Peter übersetzt hat. „Aus <strong>der</strong><br />

DDR“, sagt sie und Krzysztof Doniak<br />

lacht. „Na dann ist er ja so was wie ein Bru<strong>der</strong>“,<br />

sagt <strong>der</strong> Baggerfahrer aus Bogatynia<br />

(dt. Reichenau) und nippt an seinem kalt<br />

gewordenen Kaffee.<br />

Krzysztof Dorniak, Mitte 40 und Vater von<br />

vier Kin<strong>der</strong>n, ist Operator im Braunkohletagebau<br />

von Bogatynia, dem größten Kohleför<strong>der</strong>gebiet<br />

an <strong>der</strong> polnisch-deutschen<br />

Grenze. Mit seinem tonnenschweren Baggerkran<br />

bricht er Lehm und Kohle aus dem<br />

Boden. Ein Großteil davon wird im Kraftwerk<br />

<strong>der</strong> polnischen Kleinstadt zu Strom<br />

umgewandelt und auch nach <strong>Deutsch</strong>land<br />

Von Kai Ziegner<br />

Seit November 2004 arbeiten 15 deutsche und polnische Fotografiestudentinnen und<br />

-studenten gemeinsam an einem Fotografieprojekt über das Grenzgebiet zwischen<br />

<strong>Deutsch</strong>land und Polen. Dabei stehen Themen wie Lebensträume, Existenz, Vorurteile<br />

o<strong>der</strong> Vertreibung im Mittelpunkt. Von Mai bis Oktober 2006 zeigen die Studenten<br />

ihre Arbeiten im Rahmen einer ungewöhnlichen Ausstellung auf <strong>der</strong> neuen<br />

Stadtbrücke zwischen Görlitz und Zgorzelec. Dazu werden Fotografien großformatig<br />

vergrößert, wetterfest gemacht und so auf <strong>der</strong> Brücke installiert, dass Interessierte<br />

die Ausstellung als frei begehbare Galerie zwischen den Grenzstädten besuchen<br />

können. <strong>Zur</strong>zeit suchen die Studentinnen noch nach Unterstützung und Kooperationspartnern.<br />

Foto: Urszula Wolek, OSTKREUZ Schule für Fotografie<br />

geliefert. Krzysztof Dorniak steht im Mittelpunkt<br />

einer Reportage über den Kohlebergbau<br />

in Polen, die Peter, Student an <strong>der</strong><br />

Ostkreuzschule, für das Projekt NEU-<br />

LANDPOGRANICZE machen möchte. 14<br />

Tage lang will <strong>der</strong> junge, deutsche Fotograf<br />

den Baggerfahrer, seine Kollegen und ihre<br />

Familien mit <strong>der</strong> Kamera begleiten und so<br />

eine Geschichte über Bogatynia und die<br />

Braunkohle erzählen. Ohne die Hilfe seiner<br />

polnischen Kommilitonin Ula, die auch an<br />

<strong>der</strong> Ostkreuzschule in Berlin studiert, wäre<br />

er wohl nie bis in das Wohnzimmer von<br />

Krzysztof Dorniak vorgedrungen. Die<br />

Sprache hat dem Fotografen die Türen<br />

geöffnet.<br />

Begegnungen und Kooperationen wie<br />

diese machen den Charakter des Fotografieprojektes<br />

NEULANDPOGRANICZE<br />

BEGEGNUNGEN<br />

aus. Über ihre Bil<strong>der</strong> und durch die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit Sprache und Kultur,<br />

finden die jungen Leute zu einem Verständnis<br />

füreinan<strong>der</strong>, das ihren Eltern o<strong>der</strong><br />

Großeltern oft verwehrt geblieben ist.<br />

Das Projekt haben die Studenten und Studentinnen<br />

in Eigenregie entwickelt. Ute<br />

Mahler, Leiterin <strong>der</strong> Fotoklasse, renommierte<br />

Porträtfotografin und Gründungsmitglied<br />

<strong>der</strong> Berliner Fotoagentur OST-<br />

KREUZ, unterstützt sie in <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong><br />

Bil<strong>der</strong> und gibt Anregungen für die Projektarbeit.<br />

Alles an<strong>der</strong>e obliegt <strong>der</strong> Tatkraft<br />

und dem Engagement <strong>der</strong> StudentInnen.<br />

<strong>Polnische</strong> Partner suchen und finden, Themen<br />

recherchieren, Unterstützer und Geldgeber<br />

überzeugen o<strong>der</strong> das Konzept für die<br />

Ausstellung entwickeln, alles ist Teil <strong>der</strong><br />

Ausbildung in <strong>der</strong> Fachklasse an <strong>der</strong> Ostkreuzschule.<br />

Die Schule hat sich zum Ziel<br />

gesetzt, eine neue Generation von Fotografen<br />

und Fotografinnen heranzubilden, die<br />

auch jenseits von Kameratechnik und<br />

Computern Wege finden, Stellung zu<br />

beziehen und Meinungen in Bildform zum<br />

Ausdruck zu bringen.<br />

„Kannst Du mir einen Brief schreiben,<br />

damit ich ins Ballhaus reinkomme?“, fragt<br />

Mariusz Forecki, Fotografiestudent aus<br />

Poznañ, in seiner Email an die deutsche<br />

Studentin Dorothee. Forecki will einen<br />

Ball in Bad Muskau fotografieren, Englisch<br />

spricht er, nur eben <strong>Deutsch</strong> nicht.<br />

Nach zwei Telefonaten mit <strong>der</strong> deutschen<br />

Veranstalterin des Balls und einer schriftlichen<br />

Bitte um Fotoerlaubnis kann Mariusz<br />

Forecki seine Bil<strong>der</strong> machen.<br />

Ein Jahr ist inzwischen vergangen, die meisten<br />

StudentInnen haben ihre Arbeiten<br />

schon abgeschlossen. Jetzt kommt die<br />

schwierigste Phase des Projektes, die<br />

gemeinsame Fotoauswahl, <strong>der</strong> Kampf um<br />

lieb gewordene Bil<strong>der</strong>. Mitte April muss<br />

die Auswahl stehen, denn ein Teil <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong><br />

soll im Rahmen von Wan<strong>der</strong>ausstellungen<br />

im Grenzgebiet, in <strong>Deutsch</strong>land und<br />

Polen gezeigt werden. Nicht alle StudentInnen<br />

haben während <strong>der</strong> 12 Monate an<br />

das Projekt geglaubt. Jetzt, wenige Wochen<br />

vor <strong>der</strong> Präsentation sind auch die ärgsten<br />

Zweifler und Zweiflerinnen wie<strong>der</strong> versöhnt.<br />

„Wenn es das Projekt nicht gäbe,<br />

wäre ich nie nach Polen gefahren“, sagt die<br />

Studentin Dorothee während einer Unterrichtsstunde<br />

an <strong>der</strong> Berliner Fotoschule. ��<br />

Kontakt: OSTKREUZ Schule für Fotografie<br />

& Gestaltung Berlin, Fachklasse<br />

Ute Mahler, Tel. 030. 927 944 14,<br />

www.ostkreuzschule.de<br />

OSTKREUZ, Agentur <strong>der</strong> Fotografen<br />

Berlin, Geschäftsführer Werner Mahler,<br />

Tel. 030.473 739 3, www.ostkreuz.de<br />

POLEN und wir 2/2006 25


AUSSTELLUNG<br />

"Polenbegeisterung. <strong>Deutsch</strong>e und Polen<br />

nach dem Novemberaufstand 1830"<br />

Eine Ausstellung im <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Jahr 2005/2006<br />

Anlässlich des "<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Jahres 2005/2006" zeigen das Königliche<br />

Schloss in Warschau und das Museum Europäischer Kulturen - Staatliche Museen<br />

zu Berlin die Ausstellung "Polenbegeisterung. <strong>Deutsch</strong>e und Polen nach dem Novemberaufstand<br />

1830". Die Ausstellung thematisiert den polnischen Novemberaufstand<br />

von 1830, <strong>der</strong> sich am 29. November 2005 zum 175. Male jährte. Sie zeigt die Dramatik<br />

des Aufstandsgeschehens und die Reflexionen in Europa und vor allem in<br />

<strong>Deutsch</strong>land auf dieses Ereignis. Dazu zählt die großartige Solidarität mit den Trägern<br />

dieser Freiheitsbewegung, die nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung aus Polen durch<br />

<strong>Deutsch</strong>land in an<strong>der</strong>e europäische Län<strong>der</strong> insbeson<strong>der</strong>e nach Frankreich fliehen<br />

mussten.<br />

Die Ausstellung zeigt ca. 250 Exponate<br />

von mehr als 40 Leihgebern aus Polen,<br />

<strong>Deutsch</strong>land, <strong>der</strong> Schweiz und Frankreich.<br />

Darunter sind so hochkarätige Objekte wie<br />

<strong>der</strong> Autograph <strong>der</strong> "Polonia-Ouvertüre"<br />

von Richard Wagner, die unmittelbar im<br />

Los des Frankfurter Frauen- und Mädchenvereins zur<br />

Unterstützung <strong>der</strong> verbannten Polen, 1832<br />

© Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main<br />

Zusammenhang mit diesen Ereignissen<br />

komponiert wurde. Ebenso eindrücklich ist<br />

das Gemälde "Finis Poloniae 1831 o<strong>der</strong><br />

Der Polen Abschied vom Vaterlande" von<br />

Dietrich Monten aus <strong>der</strong> Alten Nationalgalerie<br />

<strong>der</strong> Staatlichen Museen zu Berlin, das<br />

prägnanteste Beispiel für die deutsche Solidarität.<br />

Nachdem die Ausstellung im Dezember<br />

26 POLEN und wir 2/2006<br />

und Januar in Warschau gezeigt wurde,<br />

wird sie vom 3. März bis 30. April in Berlin<br />

zu sehen sein. Geöffnet ist sie täglich<br />

außer Monat von 10 bis 18 Uhr.<br />

Ergänzend zu dieser großen Ausstellung<br />

findet eine kleine Ausstellung mit dem<br />

Titel „Ein europäischerFreiheitskämpfer<br />

- Ludwik Mieroslawski<br />

1814-1878“<br />

statt. Der sich Zeit<br />

seines Lebens als<br />

Pole fühlende Ludwik<br />

Mieros³awski,<br />

als Sohn einer französischen<br />

Mutter<br />

und eines polnischen<br />

Vaters 1814 in<br />

Nemours geboren,<br />

wirkte in den 1840er<br />

Jahren an mehreren<br />

Orten Europas als<br />

Anführer revolutionärer<br />

Aufstände.<br />

Weit über Polen hinaus<br />

gilt <strong>der</strong> General,<br />

Schriftsteller und Publizist Mieros³awski<br />

als Kopf eines Freiheits- und Unabhängigkeitswillens,<br />

nicht zuletzt, da er sein Engagement<br />

für eine freie polnische Nation mit<br />

einer frühen Form von Internationalität<br />

verbunden hatte. Zudem stand Ludwik<br />

Mieros³awski in Kontakt mit herausragenden<br />

Persönlichkeiten seiner Zeit, so zum<br />

Beispiel mit Bettina von Arnim, die sich<br />

während seiner Berliner Inhaftierung für<br />

ihn einsetzte, und Alexan<strong>der</strong> von Humboldt.<br />

Diese exponierte Biografie des polnischen<br />

Freiheitskämpfers, <strong>der</strong> Fußnoten in<br />

den Geschichtsbüchern <strong>Polens</strong>, <strong>Deutsch</strong>lands,<br />

Frankreichs und Italiens hinterlassen<br />

hat, zeigt das Museum Europäischer Kulturen<br />

in <strong>der</strong> Kabinettausstellung in <strong>der</strong> Alten<br />

Nationalgalerie Berlin: Geöffnet täglich<br />

ausser Montags von 10 bis 18 Uhr, Donnerstags<br />

bis 22 Uhr. Die Eröffnung dieser<br />

Ausstellung findet am 28.3. um 18<br />

Uhr mit einem Vortrag von Daniela<br />

Fuchs statt. Aber auch das weitere<br />

Begleitprogramm ist interessant. Es reicht<br />

von historischen Vorträgen über einen<br />

musikalisch-literarischen Abend bis zu<br />

kulinarischen Reiseberichten. Nähere<br />

Informationen und das aktuelle Programm<br />

unter http://www.smb.spk-berlin.de/ smb<br />

/sammlungen/details.php?objID=10&la<br />

ng=de kfo.<br />

Bereits zur Eröffnung im März beteiligt<br />

sich die „<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land e.V. -<br />

<strong>Gesellschaft</strong> für gute Nachbarschaft zu<br />

Polen“ am <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Tag im<br />

Museum europäischer Kulturen, bei dem<br />

sich Vereine, die sich für eine aktive und<br />

partnerschaftliche deutsch-polnische<br />

Nachbarschaft einsetzen, präsentieren.<br />

Ebenso beteiligt sie sich an dem interessanten<br />

Rahmenprogramm <strong>der</strong> Ausstellung:<br />

Samstag, 8. April, 15 Uhr: Unter<br />

dem Titel "Touren durch die Ersatz-<br />

Stadt - Polen in Berlin", wird ein Film<br />

über das Ankommen in Berlin und ein<br />

Projekt des <strong>Polnische</strong>s Sozialrates<br />

gezeigt. Es gibt Orte, die dürfen bei<br />

einer Stadtrundfahrt nicht fehlen - wie<br />

<strong>der</strong> Potsdamer Platz und die Alte Nationalgalerie.<br />

Richtig interessant wird es,<br />

wenn Maciej Berlin und Beata Waldek<br />

diese Orte als Ausgangspunkt für die<br />

Diskussion mit <strong>der</strong> Künstlerin Gülsün<br />

Karamustafa um Grenzen, Märkte,<br />

Vertragsarbeit und soziale Themen von<br />

Polen in Berlin aufsuchen. Im<br />

Anschluss an diese Veranstaltung findet<br />

eine Führung durch die Ausstellung<br />

statt. kfo.��<br />

Eine Information für unsere Abonnentinnen und Abonnenten von POLEN und wir<br />

sowie an die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> BRD e.V.<br />

Der Bezugspreis für das Jahresabonnement von POLEN und wir und <strong>der</strong> Mitgliedsbeitrag für<br />

2006 werden unmittelbar nach Erscheinen dieser Ausgabe eingezogen. Mitglie<strong>der</strong> und Abonnenten,<br />

die noch keinen Lastschrifteinzug erteilt haben, bitten wir um möglichst umgehende Überweisung<br />

auf das Konto <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>: Nr. 34256430, Postbank Essen, BLZ: 36010043. Wir bitten auch<br />

um Überweisung Ihrer Spende auf dasselbe Konto.


Ein sehenswertes Museum in Krakau<br />

Das Galizienmuseum<br />

in Kazimierz<br />

Die Konzeption und Zusammenstellung<br />

<strong>der</strong> Ausstellung bedurfte einer zwölf Jahre<br />

andauernden kreativen Zusammenarbeit<br />

zwischen dem britischen Fotografen Chris<br />

Schwarz und seinem Landsmann Professor<br />

Jonathan Webber. Das ausgestellte Bildmaterial<br />

ist während jahrelanger Reisen durch<br />

galizische Dörfer und Städte gesammelt<br />

worden und soll eine völlig neue Perspektive<br />

auf die jüdische Vergangenheit <strong>Polens</strong>,<br />

die fast nur noch in Form von Ruinen weiter<br />

existiert, eröffnen. Aus den diversen<br />

Relikten jüdischen Lebens und jüdischer<br />

Kultur, die heute noch zu sehen sind, soll<br />

ein Bild entstehen und Hilfestellung geleistet<br />

werden, die Spuren zu interpretieren,<br />

begreifbar zu machen.<br />

Die Ausstellung versteht sich dabei nicht<br />

als historisch im konventionellen Sinne, es<br />

werden keine Bil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Zeit vor dem<br />

zweiten Weltkrieg gezeigt. Vielmehr sollen<br />

Aufnahmen von Ruinen wie von restaurierten<br />

Orten, von kleinen versteckten Hinweisen<br />

auf die jüdsch-galizische Geschichte<br />

den Blick schärfen für das, was heute noch<br />

Von Karl Forster<br />

sichtbar ist, und erahnen lassen, was einmal<br />

war.<br />

Die Ausstellung "Spuren <strong>der</strong> Erinnerung -<br />

Eine Fotoausstellung in Gedenken <strong>der</strong><br />

Juden Galiziens" besteht aus 150 großformatigen<br />

Farbfotografien, präsentiert in<br />

fünf Teilen, entsprechend verschiedener<br />

möglicher Herangehensweisen an die Thematik:<br />

Traurigkeit in <strong>der</strong> Konfrontation mit<br />

den Ruinen; Interesse an <strong>der</strong> ursprünglichen<br />

Kultur; Entsetzen über die Vernichtungsmaschinerie<br />

und schließlich Anerkennung<br />

für das Bemühen, die Spuren <strong>der</strong><br />

Erinnerung zu erhalten. So sind am Schluss<br />

<strong>der</strong> Ausstellung einige Menschen zu sehen,<br />

die am Gedenken und <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>belebung<br />

<strong>der</strong> jüdischen Vergangenheit <strong>Polens</strong> beteiligt<br />

sind. Dass dabei neben ehemaligen<br />

Auschwitz-Häftlingen, deutschen, polnischen<br />

und israelischen Jugendlichen, plötzlich<br />

auch Helmut Kohl bei seinem Auschwitz-Besuch<br />

gezeigt wird, ist wohl<br />

weniger ein ironischer Hinweis auf dessen<br />

problematische Visite <strong>der</strong> Gedenkstätte - er<br />

absolvierte den Pflichtbesuch in solcher<br />

BEGEGNUNGEN<br />

Etwas ungewöhnlich erscheint es auf den ersten Blick schon, dass ausgerechnet ein britischer Fotograf im ehemals jüdischen<br />

Stadtteil von Krakau, Kazimierz, ein Museum des jüdischen Galizien eröffnet. Chris Schwarz war nach Polen gereist, um bauliche<br />

Überreste jüdischer Kultur und Zivilisation im polnischen Galizien zu dokumentieren. Dabei entstand <strong>der</strong> Wunsch, das<br />

Ergebnis in einer Ausstellung in Krakau zu präsentieren. Im Herzen von Kazimierz, gleich neben <strong>der</strong> berühmten Szeroka Strasse,<br />

auf <strong>der</strong> die beeindruckendsten und wichtigsten jüdischen Bauten Krakaus wie die Alte Synagoge, die Remuh Synagoge und<br />

die alte "Poper" Synagoge zu finden sind, entstand im Jahre 2004 in <strong>der</strong> 920 Quadratmeter großen Fabrikhalle einer ehemaligen<br />

Möbelfabrik das Museum.<br />

Eile, dass selbst Fotografen Mühe hatten,<br />

mitzukommen - als die in Polen häufig<br />

anzutreffende Naivität im Bezug auf seine<br />

Politik gegenüber Polen.<br />

Interessant wie die an<strong>der</strong>en Fotos ist dann<br />

auch das Begleitprogramm. Das reicht von<br />

Vorträgen über "Hitlers List" (die unerwünschte<br />

jüdische Intelligenz) über Hebräisch-<br />

und Jiddisch-Kurse bis zu kostenlosem<br />

Englisch-Unterreich für die Kin<strong>der</strong><br />

des Stadtteils Kazimierz.<br />

Nun ist auch ein Katalog zu <strong>der</strong> Ausstellung<br />

"Spuren <strong>der</strong> Erinnerung" erschienen<br />

unter dem Titel "Photographing Traces of<br />

Memory: A Contemporary View of the<br />

Jewish Past in Polish Galicia". Er umfasst<br />

190 Seiten mit über 70 Farbfotos <strong>der</strong> Ausstellung<br />

"Traces of Memory" und ist für 29<br />

Euro auch über die Internetseite des Museums<br />

zu beziehen. Wer die Ausstellung<br />

selbst besuchen will, kann dies täglich<br />

(ohne Ruhetag) in <strong>der</strong> Zeit zwischen 9 und<br />

20 Uhr tun. ��<br />

Das Foto oben stammt aus<br />

<strong>der</strong> Ausstellung<br />

POLEN und wir 2/2006 27


K6045<br />

Verlag <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

<strong>der</strong> Bundesrepulik <strong>Deutsch</strong>land e.V<br />

C/o Manfred Feustel<br />

Im Freihof 3, 46569 Hünxe<br />

K6045<br />

DPAG<br />

Postvertriebsstück<br />

Entgeld bezahlt<br />

Verlag <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepulik <strong>Deutsch</strong>land e.V<br />

C/o Manfred<br />

E i n l a d u n g<br />

Die <strong>Gesellschaft</strong> für gute Nachbarschaft zu Polen - Regionalverband <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n<br />

<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land e.V. lädt in Zusammenarbeit mit dem Verein<br />

"ideenfluß" e.V. in Görlitz alle Mitglie<strong>der</strong> und Interessenten ganz herzlich zum<br />

7. <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Gespräch<br />

"Görlitz und Zgorzelec auf dem Weg zur<br />

Kulturhauptstadt Europas"<br />

am 10./11. Juni 2006 nach Görlitz ein.<br />

Eine Diskussionsrunde wird sich mit <strong>der</strong> Konzeption <strong>der</strong> beiden Grenzstädte<br />

im Wettbewerb um die Kulturhauptstadt Europas 2010 befassen,<br />

eine an<strong>der</strong>e mit den Erfahrungen in <strong>der</strong> grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />

im Rahmen <strong>der</strong> Kommunalgemeinschaft Euroregion Neiße.<br />

Am Sonntag wollen wir in einer Stadtführung Görlitz und Zgorzelec<br />

kennen lernen.<br />

Der Teilnahmebeitrag beträgt 15,- €. Übernachtungsmöglichkeiten werden im Hotel "Jan"<br />

in Zgorzelec/Ludwigsdorf für ca. 40,00 € reserviert.<br />

Fahrtkosten und Unterbringung hat je<strong>der</strong> Teilnehmer bzw. jede Teilnehmerin selbst zu tragen.<br />

Anmeldungen werden bis 30.4.2006 bei<br />

Dr. Stephan Wohanka Werner Stenzel<br />

Nordbahnstraße 9 Galileistraße 26<br />

13359 Berlin 12435 Berlin<br />

Tel.: 030-4947119 Tel./Fax: 030-5334303<br />

e-mail: Stwohanka@aol.com<br />

o<strong>der</strong> Edeltraut Wolf, Dresden (Edeltraut.Wolf@rpdd.sachsen.de) erbeten.

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