Zur Innenpolitik Polens S. 3-8 - Deutsch-Polnische Gesellschaft der ...
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<strong>Zur</strong> <strong>Innenpolitik</strong> <strong>Polens</strong><br />
S. 3-8<br />
„<strong>Polnische</strong>“ statt „<strong>Deutsch</strong>e“ KZs - Ein Briefwechsel<br />
S. 17-19<br />
Ein deutsch-polnisches Fotografieprojekt<br />
S. 25
EDITORIAL/IMPRESSUM<br />
Liebe Leserin, lieber Leser!<br />
Polen ist im Umbruch, die neue nationalkonservative Min<strong>der</strong>heitsregierung möchte<br />
ein an<strong>der</strong>es Polen schaffen. Dazu will sie die bestehende III. Republik in eine neue,<br />
von allem Übergangs-Übel <strong>der</strong> Zeit von 1989-2005, „<strong>der</strong> Zeit des Paktierens von<br />
Solidarnoœæ-Aktivisten mit den Postkommunisten“, befreite patriotische und christlich-katholische<br />
IV. Republik überführen. Welche Gedanken damit verbunden sind,<br />
kann man in den Interviewauszügen mit dem Vorsitzenden des polnischen Epsikopats,<br />
Erzbischof Józef Michalik lesen, <strong>der</strong> die letzten Wahlen ausdrücklich als reinigend<br />
charakterisierte. Vorher wird in einem allgemeinen Beitrag die Regierungsarbeit<br />
skizziert und in einem zweiten Beitrag beispielhaft aufgezeigt, wie man von Seiten<br />
<strong>der</strong> neuen patriotischen Kräfte die gereinigte patriotische Demokratie versteht. Deutlich<br />
wird aber auch, dass diese angestrebten Än<strong>der</strong>ungen in Polen nicht wi<strong>der</strong>spruchslos<br />
hingenommen werden, son<strong>der</strong>n aktiv versucht wird, sie zu verhin<strong>der</strong>n. Die<br />
Zivilgesellschaft wi<strong>der</strong>spricht.<br />
Die Transformierung <strong>der</strong> Republik bringt bedenkliche, grundsätzliche Verän<strong>der</strong>ungen<br />
mit sich, die zumindestens teilweise zu Stellungnahmen zwingen. Parteilichkeit ist<br />
dann gefragt, wenn Min<strong>der</strong>heitenrechte sowie grundlegende demokratische Rechte<br />
für aus Regierungssicht an<strong>der</strong>slautende und kritische Stimmen eingeschränkt o<strong>der</strong><br />
sogar unterbunden werden sollen. Weil das auch für die deutsch-polnischen Beziehungen<br />
eine große Bedeutung hat, wird POLEN und wir diese Entwicklung aufmerksam<br />
verfolgen und gegebenenfalls kritisch kommentieren.<br />
Zu kritisieren ist weiterhin das Festhalten von deutscher Seite am Zentrum gegen Vertreibungen.<br />
Wie dieses Zentrum inhaltlich gestaltet sein soll, damit setzt sich ein ausführlicher<br />
Beitrag auseinan<strong>der</strong>. Soll die deutsche Geschichte relativiert o<strong>der</strong> sogar<br />
neu gewertet werden, ist auch in <strong>der</strong> Dokumentierung und Kommentierung eines<br />
Briefwechsels zwischen dem stellvertretenden Vorsitzenden <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n<br />
<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> BRD und <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung über die Frage: Heißt es „polnische"<br />
o<strong>der</strong> "deutsche" KZs? die Frage.<br />
Wenn auch das politische Moment in dieser Ausgabe deutlich überwiegt, lassen Sie<br />
sich nicht davon abhalten, die an<strong>der</strong>en sehr interessanten Beiträge zu lesen.<br />
Mit vielen Grüßen aus Bochum<br />
Ihr Wulf Schade<br />
Aus dem Inhalt Seite<br />
Alles auf eine Karte 3<br />
Niech nas zobacz¹ - Schaut uns an! 5-6<br />
Bewahrung <strong>der</strong> katholischen und nationalen Identität 7- 8<br />
Streit um Vertreibungszentrum geht weiter 9-11<br />
Preußische Treuhand floppt 12<br />
Ich sah den Namen Bosch 13-14<br />
Treibgut in <strong>der</strong> Europäischen Union? 15-16<br />
Am Scheideweg-Stiftung „Polnisch-<strong>Deutsch</strong> Aussöhnung“ 16<br />
Nicht nur für Polen kämpfend - Claus Weyrosta 20<br />
„Ein Teil meines Herzens“ von Wanda Przybylska 21-22<br />
Kann ich Helfen? - Freiwilligenjahr in Polen 23-24<br />
Das Galizienmuseum in Kazimierz 27<br />
Wichtige Adressen:<br />
Geschäftsführung <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> BRD: Manfred Feustel,<br />
Im Freihof 3, 46569 Hünxe, T: 02858/ 7137, Fax: 02858/ 7945<br />
Unsere <strong>Gesellschaft</strong> im Internet: http://www.polen-news.de, e-Mail: dpgbrd@polen-news.de<br />
Redaktion POLEN und wir: Wulf Schade, Wielandstraße 111, 44791 Bochum, T:<br />
0234/ 51 23 84, e-Mail: w.schade@cityweb.de<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für gute Nachbarschaft zu Polen: c/o Klaus-Ulrich Göttner, Moldaustr.<br />
21, 10319 Berlin, Fax: 01212-5-305-70-560, e-mail: vorstand@guteNachbarn.de<br />
<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong> Bielefeld e.V./Jugendforum: Postfach 101 590, 33515<br />
Bielefeld, Tel: 0179-36 11 968; Vorsitzen<strong>der</strong>: Christian Hörnlein, Tel.: 0521/ 87 32 11;<br />
e-mail: info@dpg-bielefeld.de; im Internet: www.dpg-bielefeld.de<br />
2 POLEN und wir 2/2006<br />
DEUTSCH-POLNISCHE GESELLSCHAFT<br />
DER<br />
BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND E.V.<br />
1. Vorsitzen<strong>der</strong>: Prof. Dr. Christoph Koch,<br />
Sprachwissenschaftler, Berlin - Stellv. Vorsitzen<strong>der</strong>:<br />
Dr. Friedrich Leidinger, Psychiater,<br />
Hürth - Vorstand: Henryk Dechnik, Lehrer,<br />
Düsseldorf - Manfred Feustel, Steuerberater,<br />
Hünxe - Karl Forster, Journalist, Berlin - Dr.<br />
Egon Knapp, Arzt, Schwetzingen - Susanne<br />
Kramer-Dru¿ycka, Germanistin, Bad<br />
Marienberg - Dr. Holger Politt, <strong>Gesellschaft</strong>swissenschaftler,<br />
Warschau - Wulf Schade,<br />
Slawist, Bochum<br />
Beirat: Dr. Günther Berndt - Armin Clauss -<br />
Horst Eisel - Prof. Dr. sc. Heinrich Fink -<br />
Prof. Dr. Gerhard Fischer - Dr. Franz von<br />
Hammerstein - Christoph Heubner - Witold<br />
Kaminski - Dr. Piotr £ysakowski - Hans-<br />
Richard Nevermann - Eckart Spoo<br />
Anschrift: <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
<strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land e.V., c/o<br />
Manfred Feustel, Im Freihof 3, 46569 Hünxe,<br />
Tel.: 02858/7137, Fax: 02858/7945<br />
IMPRESSUM<br />
POLEN und wir, Zeitschrift für deutsch-polnische<br />
Verständigung<br />
ISSN 0930-4584 - K 6045<br />
Heft 2/2006, 23. Jahrgang (Nr. 77)<br />
Verlag und Herausgeber: <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land<br />
e.V.<br />
Redaktion: Karl Forster, Dr. Friedrich Leidinger,<br />
Wulf Schade (V.i.S.d.P.), Prof. Dr. Eva<br />
Seeber, Werner Stenzel<br />
Redaktionsbüro: POLEN und wir, Wulf<br />
Schade, Wielandstraße 111, 44791 Bochum,<br />
Tel.: 0234/ 512384, e-mail: w.schade@<br />
online.de<br />
Lay-out: Wulf Schade, Bochum<br />
Druck und Vertrieb: Stattwerk, Essen<br />
Abonenntenverwaltung: Manfred Feustel, Im<br />
Freihof 3, 46569 Hünxe, Fax: 02858/7945<br />
Bezugspreis: Einzelheft 3,00 €, Jahres-Abonnement<br />
12 €. Inkl. Versand, Auslands-Abos<br />
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<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
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"Polen und wir" im Rahmen ihrer Mitgliedschaft<br />
Postbank Essen, Konto 342 56-430, BLZ 360<br />
100 43<br />
Namentlich gekennzeichnete Beiträge stimmen<br />
nicht immer mit <strong>der</strong> Meinung <strong>der</strong><br />
Redaktion o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Herausgeberin überein.<br />
Für unverlangt eingesandte Manusskripte<br />
o<strong>der</strong> Fotos wird keine Haftung übernommen.<br />
Redaktionsschluss <strong>der</strong> nächsten Ausgabe:<br />
15. Mai 2006<br />
Titelfoto: Aus <strong>der</strong> Serie "tropical islands"<br />
über ein deutsches Vergnügungszentrum zwischen<br />
Berlin und <strong>der</strong> Grenze zu Polen. Foto:<br />
Kai Ziegner, OSTKREUZ Schule für Fotografie<br />
(s.a. S. 23)
Alles auf eine Karte!<br />
Für die Sicherung einer parlamentarischen<br />
Mehrheit zahlte <strong>der</strong> PiS-Vorsitzende einen<br />
kleinen Preis - die Aussicht, keine Neuwahlen<br />
auszuschreiben. Im Bunde mit seinem<br />
Präsidentenbru<strong>der</strong> gelang es ihm am<br />
letzten Tag <strong>der</strong> verfassungsmäßigen Frist<br />
noch einmal, den Preis zu drücken. Die<br />
Drohung, <strong>der</strong> Präsident könnte das Parlament<br />
auflösen, zwang die kleinen Stabilitätspartner<br />
auf die Knie. Sie unterschrieben<br />
einen Blankoscheck, worauf sie im Prinzip<br />
erklärten, im Rahmen des Paktes keine Gesetzesän<strong>der</strong>ungsvorschläge<br />
gegen den PiS-<br />
Willen vorzunehmen. Das reicht einstweilen<br />
den Kaczyñski-Brü<strong>der</strong>n Jaros³aw (Vorsitzen<strong>der</strong>)<br />
und Lech (Präsident). Ob sie die<br />
Rechnung ohne Wirt gemacht haben, wird<br />
sich zeigen. Wollen sie tatsächlich ihre<br />
vierte Republik erreichen, müssten sie von<br />
jetzt an alles auf eine Karte setzen.<br />
Der Stabilitätspakt nämlich, so meinen die<br />
meisten Beobachter an <strong>der</strong> Weichsel einhellig,<br />
werde das Jahr nicht überleben.<br />
LPR und Samoobrona haben das, was sie<br />
zu bieten hatten, veräußert. Ab jetzt werden<br />
sie nur noch Klotz am Bein sein. Da das<br />
Parlament sich von nun an für geraume<br />
Zeit (bis zur Haushaltsrunde in einem Jahr)<br />
nur noch selber auflösen kann (mit einfacher<br />
Mehrheit), sind sie im strategischen<br />
Spiel <strong>der</strong> PiS-Oberen ab sofort unbrauchbar<br />
geworden, da sie einer Selbstauflösung<br />
des Parlaments bei Gefahr des eigenen<br />
Untergangs nicht zustimmen können. Eine<br />
Selbstauflösung des Parlaments - genau<br />
das wäre die gewünschte Initialzündung<br />
für die vierte Republik - ist ab sofort nur<br />
noch mit Einwilligung <strong>der</strong> PO (Bürgerplattform)<br />
möglich. Bevor es dazu kommen<br />
könnte, müsste PiS seine Hausaufgaben<br />
machen - einen national-katholischen<br />
Block schaffen. Erstes Opfer wäre die<br />
LPR, die beinahe organisch in <strong>der</strong> übermächtig<br />
gewordenen Konkurrentin aufgehen<br />
könnte. Der Samoobrona müsste <strong>der</strong><br />
Von Holger Politt<br />
Die ersten drei Monate unter neuer Regierung und die ersten Wochen unter dem<br />
neuen Präsidenten haben an und für sich wenig Überraschendes gebracht und doch<br />
ist die Verwirrung selten so groß gewesen. Das Regieren aus <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heitsposition<br />
fällt <strong>der</strong> PiS-Regierung unter Kazimierz Marcinkiewicz schwerer als vielleicht<br />
erwartet, weshalb <strong>Polens</strong> neuer Präsident frühzeitig zu erkennen gab, dass er die<br />
Option einer vorzeitigen Parlamentsauflösung, die ihm im Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />
Haushaltsverabschiedung verfassungsrechtlich ohne vorherigen Mehrheitsbeschluss<br />
des Parlaments zusteht, ernsthaft in Erwägung zog. Bis zum späten Nachmittag<br />
des 13. Februar - dann obsiegte die Option seines Zwillingsbru<strong>der</strong>s, <strong>der</strong> als<br />
PiS-Vorsitzen<strong>der</strong> mittlerweile zum starken Mann in <strong>der</strong> Politik <strong>Polens</strong> aufgestiegen<br />
ist. Ihm gelang mittels eines Stabilitätspakts, die kleineren Parteien LPR (Liga <strong>der</strong><br />
polnischen Familien) und Samoobrona ins Boot <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heitsregierung zu holen.<br />
soziale Schneid abgekauft werden, denn<br />
alleine aus dieser Positionierung heraus<br />
zieht sie noch ihre Stärke, die ihr aktuell<br />
laut Umfragen sogar ein parlamentarisches<br />
Überleben verheißen könnte. Aber die prononcierte<br />
soziale Rhetorik <strong>der</strong> Marcinkiewicz-Regierung<br />
könnte sich als stark<br />
genug erweisen, auch wenn mit Ablauf <strong>der</strong><br />
Zeit bei nüchterner Betrachtung sich herumsprechen<br />
könnte, auf welch dünnen<br />
Sand das alles gebaut wurde.<br />
Der Ministerpräsident selbst kann ab sofort<br />
nicht mehr als ein bloßer Verlegenheitskandidat<br />
gelten, als <strong>der</strong> er bei Amtsantritt nicht<br />
nur in Oppositionskreisen angesehen<br />
wurde. Einerseits ist er laut Umfragen zum<br />
beliebtesten PiS-Politiker aufgestiegen,<br />
an<strong>der</strong>erseits kann eine Auflösung des Parlaments<br />
über seinen Kopf hinweg eben<br />
auch nur noch erfolgen, wenn PiS und PO<br />
zusammengehen sollten. Für die nächsten<br />
Monate allerdings ein nicht zu erwarten<strong>der</strong><br />
Fall. Gelänge es ihm im Kabinett, seine<br />
Popularität in gefällige Politik umzumünzen,<br />
wäre er aus Sicht des national-katholischen<br />
Lagers einer <strong>der</strong> wichtigsten Garanten<br />
für die Aufrechterhaltung und den<br />
erhofften Ausbau des aktuellen Wählerhochs.<br />
Erfor<strong>der</strong>lich wären bis zum Ende<br />
des Jahres 30% +x und möglichst ein kleiner<br />
Vorsprung vor <strong>der</strong> PO-Konkurrenz.<br />
Kleiner Vorsprung, weil die zusammengenommenen<br />
60% <strong>der</strong> Wählerstimmen ausreichen<br />
könnten, um im Parlament die für<br />
Verfassungsän<strong>der</strong>ungen erfor<strong>der</strong>liche<br />
Zweidrittelmehrheit zu bekommen. Erst in<br />
einem solchen Fall, das wissen alle Akteure<br />
auf <strong>der</strong> rechten Seite nur zu gut, wäre <strong>der</strong><br />
Weg zur vierten Republik im geltenden<br />
gesetzlichen Rahmen überhaupt möglich.<br />
Sogar mehr: er wäre dann möglich und das<br />
dürfte Verlockung genug sein - nicht nur in<br />
den Köpfen <strong>der</strong> PiS-Strategen.<br />
Vierte Republik hieße formal Aufbau einer<br />
Präsidialrepublik und Einführung des<br />
POLITIK<br />
Mehrheitswahlrechts. Anstelle <strong>der</strong> heute<br />
im Parlament („verwirrenden“) existierenden<br />
Parteienvielfalt hätte es <strong>der</strong> Wähler<br />
(„<strong>der</strong> Einfachheit halber“) nur noch mit<br />
zwei großen (einzig aussichtsreichen)<br />
Wahlblöcken zu tun - einem nationalkatholischen<br />
Block (um PiS herum) und<br />
einem liberal-konservativen Block (um die<br />
PO herum). Eine Aussicht, die beim<br />
Durchschnittswähler augenblicklich gar<br />
nicht einmal so unbeliebt ist!<br />
Noch vor Jahresfrist galten PiS und PO als<br />
unzertrennbare Partner im konservativen<br />
Lager. PiS gab sich national-katholischer<br />
und erhielt kräftigen Aufwind nach dem<br />
Papsttod, die PO positionierte sich als<br />
„mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftspartei“, die an liberalen<br />
Werten nicht gänzlich vorbeikommt.<br />
Gemeinsamer Hauptfeind <strong>der</strong> beiden Gruppierungen<br />
waren die „Postkommunisten“,<br />
die ein für alle Male von den Hebeln <strong>der</strong><br />
Macht entfernt werden sollten. Und genau<br />
hier tauchte die Idee einer an<strong>der</strong>en Republik<br />
mit an<strong>der</strong>en Spielregeln auf, sollte<br />
doch eine Wie<strong>der</strong>holung von 1993 und<br />
2001, als die Linke aus <strong>der</strong> Opposition heraus<br />
an die Regierungshebel gelangte, verhin<strong>der</strong>t<br />
werden.<br />
Die Parlamentswahlen 2005 brachten so<br />
gesehen eine Enttäuschung, wurde doch<br />
die beabsichtigte Zweidrittelmehrheit deutlich<br />
verfehlt. Seitdem beherrscht ein Spiel<br />
die politische Szene, wie es vor den Wahlen<br />
kaum jemand für möglich gehalten<br />
hätte. PiS und PO stilisieren sich seit<br />
Wochen und eindrucksvoll, weil in aller<br />
Öffentlichkeit, also ungeniert zu gegenseitigen<br />
Hauptfeinden hoch. Die Inszenierung<br />
einer unglaublichen Polarisierung beginnt<br />
zu wirken. Nutznießer sind - wen sollte es<br />
wun<strong>der</strong>n - beide Gruppierungen. Hinter<br />
dem Ganzen steht aber nichts weiter als <strong>der</strong><br />
erstrebte Weg zur vierten Republik, den nur<br />
beide gemeinsam gehen können.<br />
Wie beim Kartenspiel auch besteht freilich<br />
die Gefahr des Überreizens. Etwa wenn <strong>der</strong><br />
PiS-Vorsitzende und Präsidenten-Bru<strong>der</strong><br />
die PO-Führung über <strong>Polens</strong> meistgelesenes<br />
Blatt „Gazeta Wyborcza“ des „antistaatlichen<br />
(also staatsfeindlichen) Abenteurertums“<br />
bezichtigt. Viele Beobachter<br />
meinen mittlerweile, dass sich PiS und PO<br />
(bzw. <strong>der</strong>en Führungen) nach Schlammschlachten<br />
dieses Stils in absehbarer Zeit<br />
nicht mehr auf gemeinsame politische Projekte<br />
einigen werden können. Sie geben<br />
Entwarnung und halten <strong>der</strong> Kaczyñski-<br />
Brü<strong>der</strong> vierte Republik mittlerweile eher<br />
für einen großen Bluff aus Wahlkampfzeiten.<br />
Sie übersehen nur, dass <strong>der</strong> gegenwärtig<br />
wichtigste politische Akteur <strong>Polens</strong> -<br />
das PiS-Lager - jezt alles auf eine Karte<br />
setzt. Und die Versuchung ist groß. ��<br />
POLEN und wir 2/2006 3
AUS DER „DOKUMENTATION POLEN-INFORMATION“<br />
Was geschah im April 1971?<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> neuen deutsch-polnischen<br />
Beziehungen nach dem Warschauer Vertrag<br />
vom 7. Dezember 1970 kann man hier<br />
die zunehmenden Kontakte zwischen den<br />
Län<strong>der</strong>n bzw. ihren Institutionen nachvollziehen.<br />
So findet man beispielsweise den<br />
Kulturaustausch zwischen den Städten<br />
Oberhausen und Krakau mit <strong>der</strong> erstmaligen<br />
Vorstellung preisgekrönter Filme <strong>der</strong> in<br />
beiden Städten in früheren Jahren durchgeführten<br />
Kurzfilm-Wochen als Son<strong>der</strong>programm<br />
[1971 041505.KK], wie auch die<br />
zunehmende Nutzung von Reiseangeboten<br />
nach Warschau [1971 043003.DZ]. Ebenso<br />
interessant sind die Fundstellen über den<br />
Beginn <strong>der</strong> kontroversen Ratifizierungsdebatten,<br />
die sich noch bis zum 17. Mai 1972<br />
hinzogen - das reichte bis zu Attentatsversuchen<br />
auf Politiker: "...Die Motive gleichen<br />
sich fatal: <strong>der</strong> 20jährige Gärtner Carsten<br />
Eggert, <strong>der</strong> mit einem feststehenden<br />
Messer den Bundespräsidenten umbringen<br />
wollte, <strong>der</strong> 21jährige Krankenpfleger<br />
Ekkehard Weil, <strong>der</strong> einen russischen Wachsoldaten<br />
am sowjetischen Ehrenmal<br />
anschoß, <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> in La Paz mit den<br />
Fäusten auf Außenminister Scheel losging<br />
- sie alle wollten auf ihre Weise ‚politischen<br />
Wi<strong>der</strong>stand' leisten..." [1971 041601.<br />
DZ]<br />
Parallel dazu werden die Realitäten <strong>der</strong><br />
Familienzusammenführung bzw. deutschstämmigen<br />
Aussiedler aus Polen dokumentiert.<br />
Eifrig wurde gezählt, wie viele im<br />
"Grenzdurchgangslager Friedland" ankamen.<br />
"Vor 25 Jahren [1945/46] stießen in<br />
<strong>der</strong> Nähe des kleinen Dorfes Friedland die<br />
britische, amerikanische und sowjetische<br />
Besatzungszone zusammen. Diese geographische<br />
und politische Mittelpunktslage<br />
veranlaßte damals die britische Besatzungsmacht,<br />
in diesem Dörfchen die Ställe<br />
eines Versuchsgutes <strong>der</strong> Universität Göttingen<br />
in ein Lager umzuwandeln, das ‚zur<br />
Erfassung, Verpflegung, vorläufigen<br />
Unterbringung und Weiterleitung von Vertriebenen,<br />
Flüchtlingen, Evakuierten und<br />
Heimkehrern dienen sollte'. Seitdem haben<br />
4 POLEN und wir 2/2006<br />
Von Udo Kühn<br />
Die Dokumentation Polen-Informtion besteht mittlerweile seit 36 Jahren. Sie ist ein<br />
wertvolles Findmittel für die geschichtliche wie auch politische Arbeit über die<br />
deutsch-polnischen Bezeihungen ab den 70er Jahren. Ein Griff in die "Zeitgeschichtskiste"<br />
des Monats April vor 35 Jahren för<strong>der</strong>t eine Reihe von interessanten<br />
Informationen zum deutsch-polnischen Verhältnis und über das damalige Polen zu<br />
Tage. Insgesamt 50 Artikel und Meldungen unterschiedlicher Art und Quellen liegen<br />
in <strong>der</strong> "Dokumentation Polen-Information" ausgewählt, kommentiert und archiviert<br />
vor, die damals bereits ein halbes Jahr bestand.<br />
mehr als 2,5 Millionen Menschen das Provisorium<br />
passiert..." [1971 043007.PUB].<br />
Ebenso interessant sind dann da auch<br />
Dokumente über die Heimatvertriebenen-<br />
Problematik zu finden, die scheints bis<br />
heute noch immer nicht völlig gelöst<br />
wurde. Hierzu nur eine Episode aus dem<br />
April 1971: "Der nie<strong>der</strong>sächsische Minister<br />
für Bundesangelegenheiten hat dem Lagerpersonal<br />
des Grenzdurchgangslagers Friedland<br />
verboten, unter den neuankommenden<br />
Polen-Aussiedlern Mitglie<strong>der</strong>werbung für<br />
Vertriebenenverbände zu betreiben... Der<br />
offen eingestandene Beweggrund dieser<br />
Maßnahme ist es zu verhin<strong>der</strong>n, daß die<br />
Neuankömmlinge gegen die Ostpolitik <strong>der</strong><br />
Bundesregierung indoktriniert werden..."<br />
[1971 042301.DZ].<br />
Die Informationen aus den ausgewerteten<br />
Zeitschriften finden sich so gut sortiert in<br />
knapp 30 Themenbereichen: Antisemitismus,<br />
<strong>Deutsch</strong>landpolitik <strong>Polens</strong>, Familienzusammenführung,<br />
Aussiedler, Literatur,<br />
Ostpolitik <strong>der</strong> BRD, Polen im Ausland,<br />
Wirtschaftsbeziehungen, Zentralkomitee<br />
<strong>der</strong> PVAP, Politbüro usw. usw.<br />
Aber nicht nur für Sach- son<strong>der</strong>n auch Personalinformationen<br />
ist die "DOKUMEN-<br />
TATION POLEN-INFORMATION" eine<br />
wichtige Quelle. So findet man beispielsweise<br />
zu folgenden Personen Informationen:<br />
HANS BERGER, ehemaliger deutscher<br />
Botschafter, wurde "in die Wüste<br />
geschickt", weil er gegen die Ostpolitik <strong>der</strong><br />
Bundesregierung Stimmung gemacht habe;<br />
so berichtete <strong>der</strong> "Bayernkurier", das<br />
Sprachrohr von Franz Josef Strauß (1915-<br />
1988), in einem ausführlichen Artikel<br />
[1971 040301.BAY]. Ein Presseorgan <strong>der</strong><br />
Vertriebenen setzte Anfang 1972, in <strong>der</strong><br />
heißen Phase <strong>der</strong> Ratifizierungsdebatte,<br />
noch eins drauf: "Mit Erschrecken könne<br />
man feststellen, daß die Lösung, die nach<br />
den Verträgen von Moskau und Warschau<br />
dem deutschen Volk angeboten werde, alle<br />
Ungerechtigkeiten des Versailler Vertrages<br />
weit in den Schatten stelle... ...dies erklärte<br />
<strong>der</strong> ehemalige Botschafter <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
<strong>Deutsch</strong>land beim Vatikan, Dr. Hans<br />
Berger..." [1972 011306.BBB].<br />
ANDRZEJ CZECHOWICZ sorgte für Irritationen.<br />
"...Die Demarchen folgen auf eine<br />
Periode vehementer Propaganda, die<br />
Anfang März [1971] einsetzte. Damals<br />
wurde ein polnischer Spion, Andrzej Czechowicz,<br />
tagelang benutzt, um Rolle und<br />
Funktion von Radio Free Europe in den<br />
schwärzesten Farben zu schil<strong>der</strong>n..." [1971<br />
060202.NZZ]. Das schweizer "Zeitbild"<br />
versucht zu klären, "Warum ein unentdeckter<br />
Auftrag abgebrochen wurde" [1971<br />
040701.ZB].<br />
BOLESLAW KOMINEK, Erzbischof in<br />
Breslau hat eine Einladung <strong>der</strong> Katholischen<br />
Akademie Trier angenommen, auf<br />
einer Tagung im Mai über die Situation <strong>der</strong><br />
Katholischen Kirche in Polen zu sprechen<br />
[1971 043006.PUB].<br />
GOTTHOLD RHODE (1916-1990), Professor<br />
in Mainz, wurde im damaligen Polen<br />
sehr kritisch betrachtet, hat er doch seine<br />
wissenschaftliche Tätigkeit auf dem Gebiet<br />
<strong>der</strong> Osteuropa-Forschung bereits im "Dritten<br />
Reich" begonnen. So war es 1971<br />
bemerkenswert, daß die polnische<br />
Wochenzeitung "Wiadomoœci" ein Interview<br />
mit Professor Rhode brachte [1971<br />
041507.KK]. Er gehörte dann auch <strong>der</strong><br />
gemischten Kommission von Historikern<br />
und Geographen aus Polen und <strong>der</strong> BRD<br />
an, die 1972 zwecks <strong>der</strong> Schulbuchrevision<br />
gebildet worden war [1977 0300101.<br />
POW].<br />
Als Informations- und Dokumentationsquellen<br />
wurden damals bereits folgende<br />
Zeitungen ausgewertet: Bayernkurier<br />
[BAY], Bielitz-Bialaer Beskidenbriefe<br />
(Unser Oberschlesien) [BBB], Darmstädter<br />
Echo [DE], Der Spiegel [SPI], Die Kommenden<br />
[KOM], Die Zeit [DZ], Kulturpolitische<br />
Korrespondenz [KK], Neue Zürcher<br />
Zeitung (Schweiz) [NZZ], <strong>Polnische</strong><br />
Wochenschau (Polen) [POW], Publik<br />
[PUB], Stern [ST], werk und leben [W&L],<br />
Zeitbild (Schweiz) [ZB], bis heute sind<br />
noch viel an<strong>der</strong>e dazugekommen, z.B. auch<br />
POLEN und wir.<br />
Das Originalquellenmaterial wurde dem<br />
"<strong>Deutsch</strong>en Polen-Institut" in Darmstadt<br />
als Leihgabe von <strong>der</strong> "Dokumentation<br />
Polen-Information" zur Verfügung gestellt,<br />
kann dort recherchiert und eingesehen werden.<br />
Für das "<strong>Deutsch</strong>e Polen-Institut"<br />
siehe auch im Internet unter: www.deutsches-polen-institut.de.<br />
Die Archivierung<br />
wurde im Status eines Bandkatalogs im<br />
Übergang zu einzelnen Tagesmappen vorgenommen.<br />
Für die "Dokumentation<br />
Polen-Information" siehe auch im Internet<br />
unter: www.dok-pol-inf.de. ��
POLITIK<br />
Niech nas zobacz¹!<br />
(Schaut uns an!)<br />
Trotz neuer Gesetze kein Ende <strong>der</strong> alten Vorurteile<br />
gegenüber sexuellen Min<strong>der</strong>heiten<br />
Auch Polen gehört zu den osteuropäischen<br />
Län<strong>der</strong>n, die Homosexualität als Straftatbestand<br />
aus dem Gesetzbuch gestrichen<br />
haben. Im Zuge <strong>der</strong> Regierungsneubildung<br />
im letzten Jahr in Polen hat sich jedoch die<br />
Situation für Lesben, Schwule und Transgen<strong>der</strong>s<br />
immens verschärft. Der neue Präsident,<br />
Lech Kaczynski (PiS), sprach nach<br />
seiner Wahl von einer vierten Republik,<br />
von einer neuen Zeit, die jetzt beginne.<br />
Kein Klima für „An<strong>der</strong>e“<br />
Das Wahlergebnis in Polen scheint ein Sieg<br />
für die Rechten und eine Nie<strong>der</strong>lage für das<br />
Demokratieverständnis zu sein: Durch ein<br />
stilles Bündnis <strong>der</strong> nationalkonservativen<br />
Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) mit<br />
<strong>der</strong> Samoobrona und <strong>der</strong> "Liga <strong>der</strong> polnischen<br />
Familien" (LPR) regiert nun eine<br />
Min<strong>der</strong>heitsregierung. Mit 40 Prozent verzeichnete<br />
das Land die schwächste Wahlbeteiligung<br />
seit 1989.<br />
Laut einer Meinungsumfrage betrachten<br />
fast neunzig Prozent <strong>der</strong> Polen und Polin-<br />
Von Christiane Thoms<br />
Polen gehört seit dem 1.Mai 2004 zur EU. Um dazu zugehören, musste das Land, wie<br />
alle an<strong>der</strong>en Mitgliedsstaaten auch, die Europäische Menschenrechtskonvention<br />
unterzeichnen. Mit <strong>der</strong> Umsetzung dieses Abkommens scheint es aber zu hapern.<br />
Auf Druck <strong>der</strong> Europäischen Union haben mehrere osteuropäische Beitrittskandidaten<br />
Gesetze abgeschafft, die Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminieren.<br />
Doch selbst in den Län<strong>der</strong>n, in denen gleichgeschlechtliche Liebe nicht<br />
mehr unter Strafe gestellt ist, sehen sich Homosexuelle oft mit Hass, Gewalt und<br />
Unverständnis konfrontiert. Organisationen, die sich für die Rechte von nicht-heterosexuellen<br />
Menschen einsetzen, entwickeln sich nur langsam und werden vielfach<br />
von staatlicher Seite behin<strong>der</strong>t.<br />
nen Homosexualität als etwas Unnatürliches.<br />
Menschen, die sich zu ihrer gleichgeschlechtlichen<br />
Liebe bekennen, werden als<br />
Angriff auf fundamentale Werte betrachtet.<br />
Aus Angst vor Repressalien verschweigen<br />
viele deshalb ihre sexuelle Orientierung.<br />
Die Berliner Zeitung titelte: "Es war nie<br />
einfach, in Polen schwul zu sein. Seitdem<br />
"ZOMO! Gestapo!" riefen<br />
die TeilnehmerInnen am<br />
Toleranzmarsch <strong>der</strong> brutal<br />
einschreitenden Polizei entgegen.<br />
Zuerst bewarfen<br />
Zuschauer, die Allpolnische<br />
Jugend - eine rechtsextreme<br />
Jugendorganisation, die <strong>der</strong><br />
PiS nahesteht - und Neofaschisten,<br />
die DemonstrantInnenen<br />
mit Eiern, dann schritt<br />
die Polizei gegen letztere (!)<br />
ein. 65 Personen wurden<br />
festgenommen.<br />
„Ich unterstütze Gleichheit, Freiheit und Demokratie“ - eine auf <strong>der</strong> Demonstration<br />
am 19.11.2005 in Poznañ getragene Losung - Foto: www.foto.rozbrat.org<br />
das Land einen neuen Präsidenten hat, ist<br />
es noch viel schwieriger geworden". In diesem<br />
Zeitungsartikel kommt <strong>der</strong> Chef des<br />
polnischen Schwulenverbandes, Szymon<br />
Niemiec, zu Wort: "Es geht nicht nur um<br />
die Rechte <strong>der</strong> Homosexuellen, son<strong>der</strong>n<br />
um die Demokratie an sich".<br />
Es stellt sich an dieser Stelle unweigerlich<br />
die Frage, inwiefern Organisationen, Debatten<br />
und Wertorientierungen im Stande<br />
sind, die Demokratie zu festigen. Eine<br />
große Teilhabe am Demokratisierungsprozess<br />
würde in diesem Fall bedeuten, dass<br />
die formelle Demokratie und eine aktive<br />
Zivilgesellschaft als Ort gesellschaftlicher<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungen keinen Gegensatz<br />
bilden, son<strong>der</strong>n aufeinan<strong>der</strong> angewiesen<br />
sind. Die Interessenformulierung und das<br />
politische Handeln sind dabei als Faktoren<br />
für genau diese Festigung <strong>der</strong> Demokratisierung<br />
zu sehen. Wie die in <strong>der</strong> polnischen<br />
Zivilgesellschaft formulierten Partizipationsansprüche<br />
einer sexuellen Min<strong>der</strong>heit<br />
bewertet und von <strong>der</strong> politischen <strong>Gesellschaft</strong><br />
aufgenommen und verarbeitet werden,<br />
zeigt beispielsweise die am "Toleranzmarsch"<br />
entfachte Debatte.<br />
Wie den polnischen Medien im November<br />
2005 zu entnehmen war, wurde <strong>der</strong> am<br />
internationalen Tag <strong>der</strong> Toleranz geplante<br />
"Toleranzmarsch" von offizieller Seite in<br />
Poznañ verboten. Der ordnungsgemäß<br />
angemeldete und zuerst genehmigte "Toleranzmarsch"<br />
wurde erst nach massivem<br />
Druck von Vertretern <strong>der</strong> regierenden konservativ-populistischen<br />
PiS (Recht und<br />
Gerechtigkeit) und <strong>der</strong> rechtsnationalistischen<br />
LPR (Liga <strong>der</strong> <strong>Polnische</strong>n Familien)<br />
verboten. Als Gründe für das Verbot waren<br />
die "Bedrohung <strong>der</strong> Werte" sowie die<br />
"Gefahr <strong>der</strong> öffentlichen Sicherheit" zu<br />
hören und zu lesen.<br />
Dennoch fand am 19.11.2005 eine <strong>der</strong><br />
Toleranz, Solidarität und Antidiskriminierung<br />
gewidmeten Demonstration statt, zu<br />
<strong>der</strong> die polnischen Grünen, feministische<br />
sowie lesbisch-schwule Organisationen<br />
aufgerufen hatten. Es bleiben Bil<strong>der</strong> einer<br />
von <strong>der</strong> Polizei gewaltsam aufgelösten<br />
Demonstration mit rund 65 Festgenommenen.<br />
Diese festgenommenen TeilnehmerInnen<br />
des Toleranzmarsches sind inzwischen<br />
durch ein bemerkenswertes Gerichtsurteil<br />
straffrei wie<strong>der</strong> freigelassen worden.<br />
Sowohl Polen als auch <strong>Deutsch</strong>land, Österreich,<br />
Italien und die Schweiz haben auf<br />
die durch den Toleranzmarsch entfachte<br />
Debatte entsprechend reagiert.<br />
Amnesty International (AI) zeigt sich über<br />
das intolerante Klima in Polen gegenüber<br />
Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trangen<strong>der</strong>s<br />
besorgt. In einem entsprechenden<br />
Statement spricht AI nicht nur die in Warschau<br />
verbotenen Demonstrationen in den<br />
Jahren 2004 und 2005 an, son<strong>der</strong>n gibt<br />
auch die offen homophobe Sprache <strong>der</strong><br />
polnischen PolitikerInnen, den homophoben<br />
Hass sowie die homophobe Gewalt<br />
von rechten Gruppierungen in Polen zu<br />
bedenken. Außerdem zeigt sich AI sehr<br />
besorgt über die Abschaffung <strong>der</strong> "staatlichen<br />
Behörde für Gleichbehandlung und<br />
sexuelle Min<strong>der</strong>heiten".<br />
Der vertretende Botschafter <strong>Polens</strong> in <strong>der</strong><br />
Schweiz erklärte, es gäbe keine Diskriminierung<br />
von Lesben und Schwulen in<br />
Polen. Die zuständige Behörde habe aus<br />
Rücksicht auf die Bevölkerung gehandelt,<br />
die die Grenze zwischen Pädophilie und<br />
POLEN und wir 2/2006 5
POLITIK<br />
Homosexualität nicht ziehen könne. Darauf<br />
zeigte sich die Berner Nationalrätin <strong>der</strong><br />
Sozialdemokratischen Partei (SP), Margret<br />
Kiener Nellen, entsetzt und wies darauf<br />
hin, dass in diesen Fällen <strong>der</strong> polnische<br />
Staat erst recht Aufklärungsarbeit zu leisten<br />
hätte.<br />
Eine Richtlinie des Vatikans<br />
Die rechtskonservativen Kräfte in Polen<br />
bekamen für ihren Kampf gegen „An<strong>der</strong>e“<br />
argumantative Schützenhilfe. Noch im<br />
gleichen Monat, als <strong>der</strong> „Toleranzmarsch“<br />
in Polen verboten<br />
wurde, hat <strong>der</strong> Vatikan ein<br />
umstrittenes Richtliniendokument<br />
über die Nicht-Zulassung<br />
von Homosexuellen zum Priestertum<br />
veröffentlicht, welches<br />
vom Präfekten <strong>der</strong> Kongregation<br />
für katholische Bildung, Kardinal<br />
Zenon Grocholewski,<br />
unterzeichnet wurde: "Es geht<br />
darum, ob Kandidaten, die tiefsitzende<br />
homosexuelle Tendenzen<br />
haben, für das Priesterseminar<br />
und zu den heiligen Weihen<br />
zugelassen werden sollen o<strong>der</strong><br />
nicht. (...) Der Katechismus<br />
unterscheidet zwischen homosexuellen<br />
Handlungen und<br />
homosexuellen Tendenzen.<br />
Bezüglich <strong>der</strong> homosexuellen<br />
Handlungen lehrt er, dass sie in<br />
<strong>der</strong> Heiligen Schrift als schwere<br />
Sünden bezeichnet werden. Die<br />
Überlieferung hat sie stets als in<br />
sich unsittlich und als Verstoß<br />
gegen das natürliche Gesetz betrachtet.<br />
Sie können daher in<br />
keinem Fall gebilligt werden.<br />
Die tief sitzenden homosexuellen<br />
Tendenzen, die bei einer<br />
gewissen Anzahl von Männern<br />
und Frauen vorkommen, sind<br />
ebenfalls objektiv ungeordnet<br />
und stellen oft auch für die<br />
betroffenen Personen selbst eine<br />
Prüfung dar. Diesen Personen<br />
ist mit Achtung und Takt zu<br />
begegnen; man hüte sich, sie in<br />
irgendeiner Weise ungerecht<br />
zurückzusetzen. (...)"<br />
Dieses Dokument erschien dem<br />
Vatikan scheinbar notwendig,<br />
nachdem Repräsentanten <strong>der</strong> Kirche in den<br />
USA, Brasilien, Österreich und Polen in<br />
sexuelle Skandale verwickelt waren sowie<br />
Studenten mit offensichtlich homosexuellen<br />
Neigungen als Priesteramtskandidaten<br />
in den Vereinigten Staaten akzeptiert wurden.<br />
Diese Praxis soll nach päpstlichem<br />
Willen damit aufhören.<br />
6 POLEN und wir 2/2006<br />
Die Weisungen des Vatikans blieben nicht<br />
ungehört. Scharfe Kritik erntete dieses<br />
Vatikan-Dokument beispielsweise von den<br />
italienischen ParlamentarierInnen <strong>der</strong> oppositionellen<br />
Linksdemokraten. Sie warnten<br />
vor einer "Verteufelung" <strong>der</strong> Homosexuellen.<br />
Der Präsident des italienischen<br />
Verbands für die Rechte <strong>der</strong> Homosexuellen,<br />
Grillini, gab zu bedenken, dass diese<br />
homosexuellenfeindliche Moral nicht einmal<br />
von <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> KatholikInnen<br />
geteilt werde. Die schweizer Bischofskon-<br />
Bürgerprotest gegen die Ereignisse in<br />
Poznañ am 19.11.2005<br />
Der Verlauf <strong>der</strong> Ereignisse anlässlich des (verhin<strong>der</strong>ten) Toleranzmarsches,<br />
<strong>der</strong> am 19. November 2005 in Poznañ zum Internationalen<br />
UNESCO-Tag <strong>der</strong> Toleranz stattfinden sollte, zeigt, dass in Polen<br />
sowohl das Menschenrecht wie auch die Grundlagen <strong>der</strong> Demokratie<br />
gebrochen werden. Eine <strong>der</strong> wichtigsten Grundlagen <strong>der</strong> Demokratie<br />
besteht darin, dass man keine friedlichen Demonstrationen verbieten<br />
darf, auf denen für die eigenen Ideen o<strong>der</strong> Einstellungen eingetreten<br />
wird. Der Gleichheitsmarsch hätte Bestätigung und Stütze für diese<br />
demokratischen Grundlagen sein können.<br />
Aus ideologischen Gründen hat aber die Stadtregierung den Marsch<br />
verboten. Offiziell berief sie sich auf die Sicherheit und Ordnung,<br />
aber das war nur ein Trick und Vorspiel, denn die Ordnungskräfte<br />
wurden in einer solch großen Zahl mobilisiert, dass die Demonstration<br />
ohne Schaden hätte stattfinden können. (…)<br />
Im Gegenteil: Es waren gerade die Teilnehmer des Marsches, die<br />
nicht nur von Seiten homofober und aggressiver Gegen-Demonstranten<br />
Attacken ausgesetzt waren, son<strong>der</strong>n auch - wie Zeugen aussagen -<br />
von Seiten <strong>der</strong> Polizei, die in den Polizeiautos Festgenommene schlugen.<br />
Halten wir auch fest, dass am 11. November die rechtsextreme<br />
Organisation ONR, antisemitische und rassistische Losungen schreiend,<br />
ungestört unter Begleitung <strong>der</strong> Polizei durch Czêstochowa marschierte,<br />
obwohl diese Demonstration mit Sicherheit keinen friedlichen<br />
Charakter hatte.<br />
Die Entscheidung über das Verbot des Marsches in Poznañ ist ein<br />
weiterer Schritt gegen das in <strong>der</strong> Verfassung <strong>der</strong> Republik Polen und<br />
<strong>der</strong> Europäischen Union garantierte Recht, das die Diskriminierung<br />
verbietet und allen Bürgern die Meinungs- und Versammlungsfreiheit<br />
garantiert.<br />
Wir wi<strong>der</strong>sprechen dem fortschreitenden Prozess <strong>der</strong> Beschneidung<br />
und des Bruchs <strong>der</strong> Menschenrechte in Polen ausdrücklich. Wir wollen<br />
in einem Staat leben, <strong>der</strong> die gleiche Behandlung aller Bürger<br />
ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Hautfarbe,<br />
religiöses Bekenntnis o<strong>der</strong> politische Ansichten garantiert - und<br />
diese Garantie wertschätzt. Polen ist ein Land <strong>der</strong> Diskriminierung.<br />
Damit finden wir uns nicht ab.<br />
(Dieser Protest wurde einen Tag nach <strong>der</strong> Demonstration von Hun<strong>der</strong>ten<br />
Polinnen und Polen unterschrieben und veröffentlicht;<br />
http://pl.indymedia.org/pl/2005/11/16997.shtml, 27.2.2006)<br />
ferenz hielt in ihrer Stellungnahme zum<br />
Vatikan-Dokument unter an<strong>der</strong>em fest: "Im<br />
Mittelpunkt unserer Abklärungen zur Zulassung<br />
zum Priesteramt steht nicht die<br />
sexuelle Orientierung, son<strong>der</strong>n die Bereitschaft<br />
zur konsequenten Christusnachfolge."<br />
Umberto Bossi von <strong>der</strong> rechtspopulistischen<br />
Regierungspartei Lega Nord dage-<br />
gen begrüßte den Inhalt des Dokuments<br />
und unterstrich die Schuld <strong>der</strong> Homosexuellen,<br />
die Institution <strong>der</strong> "natürlichen Familie"<br />
zu untergraben. Auch <strong>der</strong> Vorsitzende<br />
<strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en Bischofskonferenz, Kardinal<br />
Lehmann, hatte das Dokument sehr<br />
begrüßt.<br />
Diskriminierende Einstellungen<br />
in <strong>der</strong> Diskussion<br />
"Das Ende <strong>der</strong> normalen Familie", "Homo<br />
ist auch ein Mensch", "Der verachtete<br />
Homo" titelten die polnischen<br />
Zeitungen im letzten Sommer.<br />
Die Aktion "Sollen sie<br />
uns doch sehen" von <strong>der</strong><br />
Organisation "Kampagne<br />
gegen Homophobie" war<br />
wohl <strong>der</strong> erste Höhepunkt<br />
innerhalb einer Debatte, die<br />
ganz Polen beschäftigt. Auf<br />
Plakaten und in Galerien wurden<br />
Fotos lesbischer und<br />
schwuler Paare gezeigt, die<br />
sich mal scheu, mal offen in<br />
die Kamera lächelnd an den<br />
Händen hielten. Die Reaktionen<br />
waren vielsagend: In<br />
Krakau wurde eine Galerie<br />
kurz nach <strong>der</strong> Ausstellungseröffnung<br />
wie<strong>der</strong> geschlossen<br />
und Plakate mit Farbe übergossen.<br />
Zivilgesellschaftliche Akteure<br />
haben sich seit 1989 in<br />
Polen stark vermehrt und<br />
institutionalisiert. Öffentlichrechtliche<br />
sowie private<br />
Rundfunk- und Fernsehsen<strong>der</strong><br />
und einige Zeitungen<br />
sorgten bisher immer mehr<br />
für eine Spiegelung öffentlicher<br />
Debatten. Doch seit diesem<br />
Jahr hat Polen einen<br />
neuen Rundfunkrat. Mit einer<br />
Eilabstimmung im Parlament<br />
sägte die PiS die alte neunköpfige<br />
Medienaufsicht ab.<br />
Der neue fünfköpfige Rundfunkrat<br />
kontrolliert die<br />
gesamte Fernseh- und Hörfunklandschaft,<br />
vergibt Sendelizenzen<br />
an kommerzielle<br />
sowie gesellschaftliche, religiös<br />
orientierte Programme<br />
und kann in die Berichterstattung eingreifen.<br />
"Verfassungswidrig", urteilt Andzej<br />
Zoll und Verleger vieler großer Zeitungen<br />
warnen vor <strong>der</strong> Gefahr einer möglichen<br />
gelenkten Berichterstattung.<br />
Inwiefern die polnische Zivilgesellschaft<br />
frei und lebendig ist und inwiefern sie nun
zur demokratischen Konsolidierung beiträgt,<br />
zeigt beispielsweise <strong>der</strong> NGO-Sektor<br />
(NGO-Nicht-Regierungs-Organisation).<br />
Lambda, die erste Schwulen- und Lesben -<br />
organisation in Polen konstatiert in ihrem<br />
"Bericht zur Diskriminierung", dass "75<br />
Prozent <strong>der</strong> Homosexuellen in Polen ihre<br />
Neigung am Arbeitsplatz verheimlichen".<br />
Robert Biedron, <strong>der</strong> führende Aktivist <strong>der</strong><br />
Organisation und erste polnische Politiker,<br />
<strong>der</strong> sich öffentlich zu seiner sexuellen Orientierung<br />
bekannt hat, erklärte: "Das ist die<br />
Angst vor dem gesellschaftlichen Druck,<br />
dem Verlust von Anerkennung und dem,<br />
was es nach sich zieht, nämlich finanzielle<br />
Nachteile".<br />
Unter Berücksichtigung <strong>der</strong> Tatsache, dass<br />
sich innerhalb Europas verschiedene Formen<br />
<strong>der</strong> Demokratie historisch entwickelt<br />
haben, zeigt sich das Grundproblem <strong>der</strong><br />
Demokratie immer im Spannungsverhältnis<br />
zwischen Freiheit des Einzelnen und<br />
seiner Bindung an die Gesamtheit (Staat<br />
und <strong>Gesellschaft</strong>). Demokratie versteht<br />
sich somit nicht als eine Summe formaler<br />
Verfahrensvorschriften, son<strong>der</strong>n bestimmt<br />
sich von ihrem inhaltlichen Ziel her, unter<br />
den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen<br />
Bedingungen das größtmögliche<br />
Maß an Freiheit, Eigenverantwortung<br />
und sozialer Gerechtigkeit zu verwirklichen.<br />
Inwiefern besteht nun in Polen eine demokratisch<br />
politische Kultur, in <strong>der</strong> die Menschen<br />
am politischen Entscheidungsprozess<br />
teilnehmen? Sind dessen Prozeduren<br />
überhaupt durchlässig genug, um Partizipationsansprüche<br />
sozialer Gruppen und<br />
sexueller Min<strong>der</strong>heiten aufzunehmen?<br />
Polen hat mit dem Beitritt zur EU den europäischen<br />
Grundwerten von Nichtdiskriminierung,<br />
Gleichheit und <strong>der</strong> Versammlungsfreiheit<br />
zugestimmt. So verbietet<br />
Artikel 21 <strong>der</strong> Charta <strong>der</strong> Grundrechte <strong>der</strong><br />
Europäischen Union Diskriminierungen<br />
aufgrund sexueller Orientierung. Fast zwei<br />
Jahre nach dem EU-Beitritt scheint momentan<br />
die Debatte <strong>der</strong> Diskriminierung<br />
von sexuellen Min<strong>der</strong>heiten zwar sichtbar,<br />
aber noch im Anfangssumpf stecken<br />
geblieben zu sein.<br />
Wie stark die Umsetzung eines Rechts<br />
gefor<strong>der</strong>t wird, ist ein Gradmesser für die<br />
jeweilige Festigung <strong>der</strong> Demokratie. Vielleicht<br />
sind ja Kursän<strong>der</strong>ungen sehr wesentlich,<br />
um autoritäre Einstellungen und die<br />
damit verbundenen Diskriminierungen<br />
wirksam zu verarbeiten? Die öffentliche<br />
Debatte und die Enttabuisierung von<br />
Homosexualität in Polen legt dieses jedenfalls<br />
nahe. ��<br />
POLITIK-DOKUMENTATION<br />
Bewahren wir unsere katholische<br />
und nationale Identität<br />
Mit dem Vorsitzenden <strong>der</strong> Konferenz des <strong>Polnische</strong>n Episkopats,<br />
Seine Exzellenz Erzbischof Józef Michalik, Metropolit von<br />
Przemyœl, spricht Mariusz Kamieniecki.<br />
Das vergangene Jahr war reich an vielen<br />
bedeutenden Ereignissen in Polen aber<br />
auch im Ausland. Auf welches würde Exzellenz<br />
eine bedeutende Aufmerksam lenken<br />
und warum?<br />
(.....) Ein wichtiges und gleichzeitig sehr<br />
schmerzhaftes Ereignis für uns Polen wie<br />
für die ganze Welt war <strong>der</strong> Tod des Papstes.<br />
(...) (In) Polen kann man bereits diesen<br />
guten und Hoffnung erzeugenden Prozess<br />
<strong>der</strong> Reinigung erkennen, <strong>der</strong> in den Parlaments-<br />
und Präsidentschaftswahlen seinen<br />
Ausdruck fand. Es ist ein Prozess <strong>der</strong> Reinigung<br />
durch die Demaskierung einer falschen<br />
Politik, von Strukturen und Ereignissen,<br />
die sich ständig verschlimmerten und<br />
skandalträchtiger wurden, ein Prozess, <strong>der</strong><br />
sichtbare Früchte in <strong>der</strong> Belebung und <strong>der</strong><br />
Übernahme von Verantwortung durch die<br />
<strong>Gesellschaft</strong> trug. Ich denke, dass durch<br />
das Wahlergebnis einerseits <strong>der</strong> Teil <strong>der</strong><br />
politischen Szene sichtbar wurde, <strong>der</strong> den<br />
Polen näher steht, an<strong>der</strong>erseits machte er<br />
die Unreife einiger politischer Eliten deutlich,<br />
die nicht durch das aufgrund <strong>der</strong> Wahl<br />
erstandene Prisma "Was ist gut für Polen?<br />
Für das Vaterland? Was für den einfachen<br />
Menschen?" schauen können. Die Schlussfolgerung<br />
daraus ist für mich sehr einfach.<br />
Die Demut und die täglich Tugend sind eng<br />
miteinan<strong>der</strong> verbunden. Das ist ein Wert,<br />
den es ständig zu för<strong>der</strong>n gilt und den man<br />
täglich von neuem lernen muss, ohne den<br />
von Kultur im täglichen Leben, sowohl im<br />
gesellschaftlichen wie im politischen,<br />
keine Rede sein kann. (.....)<br />
[Das Ende des Jahres 2005 war mit einem<br />
Besuch <strong>der</strong> polnischen Bischöfe "ad limina<br />
Apostulorum" im Vatikan verbunden.]<br />
Einen großen Raum widmete <strong>der</strong> Heilige<br />
Vater (Benedikt XVI.-d. Übers.) in seiner<br />
Botschaft den Laien im Leben <strong>der</strong> Kirche.<br />
Er sagte u.a., dass "eine <strong>der</strong> bedeutenden<br />
Aufgaben, die sich aus dem europäischen<br />
Integrationsprozess ergibt, darin besteht,<br />
sich mutig um die Bewahrung <strong>der</strong> katholischen<br />
und nationalen Identität <strong>der</strong> Polen zu<br />
sorgen". Bedeutet das, dass die durch die<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te tief im Glauben verwurzelten<br />
und aufs Engste mit <strong>der</strong> Tradition und <strong>der</strong><br />
Kirche verbundenen Polen eine beson<strong>der</strong>e<br />
Rolle bei <strong>der</strong> Evangelisation des verweltlichten<br />
Europa spielen?<br />
Ich bin immer bemüht, nüchterner Beobachter<br />
des Lebens zu sein und ich fürchte<br />
mich vor einem Messianismus - auch in<br />
polnischer Ausgabe, <strong>der</strong> sich darin ausdrückt,<br />
dass gerade wir ein beson<strong>der</strong>es<br />
Volk sind, das eine bedeutende Mission zu<br />
erfüllen hat. Wir haben aber als Polen dieselbe<br />
Mission zu erfüllen wie alle Mensche<br />
auf <strong>der</strong> Erde, denn wir alle sind von Gott<br />
geschaffen. Diese Aufgabe besteht in <strong>der</strong><br />
Realisierung eines Ideals, das uns <strong>der</strong><br />
Schöpfer ins Herz pflanzte. Man muss sich<br />
dieser Aufgabe mehr aus dem Gefühl <strong>der</strong><br />
Verantwortung stellen und nicht aus einer<br />
höheren Warte gegenüber an<strong>der</strong>en. Dagegen<br />
verlangt, bittet und fleht das kranke<br />
Europa geradezu nach Bestätigung fester<br />
Werte und Grundsätze. Wenn man heute<br />
feststellt, dass in 17 europäischen Län<strong>der</strong>n<br />
ein demografisches Tief und ein Mangel an<br />
natürlichem Zuwachs besteht, dem eine<br />
Generation entspricht, heißt das praktisch,<br />
dass Europa ausstirbt. Und wenn man weiter<br />
feststellt, dass das Land auf dem Kontinent,<br />
das die höchste Geburtenrate besitzt,<br />
das islamische Albanien ist, so muss man<br />
ernsthaft darüber nachdenken, wohin das<br />
alles führt ....<br />
Schauen wir diesbezüglich auf Polen. Man<br />
muss nämlich ohne wenn und aber offen<br />
sagen: Polen stirbt aus! Weshalb erstarb die<br />
Liebe zum Kind? Wohin verflüchtete sich<br />
die Liebe zu Aufopferung und Mühe...?<br />
Das ist besorgniserregend, denn es erstarb<br />
nicht nur die Liebe zum empfangenen o<strong>der</strong><br />
noch nicht empfangenen Kind, son<strong>der</strong>n sie<br />
erstarb ebenso gegenüber jedem Kind und<br />
jedem Menschen. In Europa starb die Liebe<br />
zu den Kin<strong>der</strong>n, die in Afrika und an<strong>der</strong>en<br />
Kontinenten Hungers sterben. Hier gibt es<br />
Aufgaben, die es zu verwirklichen gilt. Auf<br />
dieses große menschliche Leid, das vor<br />
unseren Augen geschieht, kann man nicht<br />
gleichgültig schauen o<strong>der</strong> als Problem<br />
ignorieren, denn es existiert wirklich und<br />
berührt uns immer mehr. Der Heilige Vater,<br />
<strong>der</strong> ein Evangelium <strong>der</strong> Liebe verkündet,<br />
dient dieser Sache mit Liebe und lenkt die<br />
Aufmerksamkeit darauf, dass man über alle<br />
diese Probleme offen sprechen muss. Ich<br />
bin davon überzeugt, dass er darüber nicht<br />
nur mit uns, son<strong>der</strong>n auch mit allen Bischöfen<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Län<strong>der</strong> spricht.<br />
POLEN und wir 2/2006 7
POLITIK-DOKUMENTATION<br />
Wie soll die Kirche in Polen diese Aufgabe<br />
in Angriff nehmen?<br />
Vor allem mit Verständnis und Vertrauen<br />
den Menschen gegenüber, durch Entwicklung<br />
ihres Verantwortungsgefühls in ihren<br />
Herzen, von Vertrauen in Gott, durch das<br />
Gebet, aber auch durch die Mühe <strong>der</strong> Verkündigung<br />
<strong>der</strong> Wahrheit darüber, was gut<br />
und was schlecht ist. Ich denke, dass die in<br />
<strong>der</strong> obigen Frage zitierten Äußerungen des<br />
Papstes, meiner Meinung nach, die interessantesten<br />
unter denen waren, die Benedikt<br />
XVI. gegenüber den polnischen Bischöfen<br />
bei ihrem Besuche "ad limina Apostolorum"<br />
sprach. Es ist von großer Bedeutung,<br />
dass <strong>der</strong> Papst mit Nachdruck auf die Sorge<br />
um die Bewahrung <strong>der</strong> katholischen und<br />
nationalen Identität <strong>der</strong> Pole hinwies.<br />
Heute herrscht ein ideologischer Krieg um<br />
die Gestalt Europas, wie wir es bauen wollen.<br />
Scheinbar gibt es bereits eine Europäische<br />
Union, das heißt eine Annäherung <strong>der</strong><br />
Län<strong>der</strong> unseres Kontinents, und das ist sehr<br />
gut, aber es dauert eine Diskussion an, ob<br />
sie ein durch eine Superregierung unifiziertes<br />
Europa sein soll, o<strong>der</strong> ein Europa, das<br />
aus <strong>der</strong> Identität <strong>der</strong> einzelnen Völker<br />
besteht. Und hier freue ich mich sehr, dass<br />
<strong>der</strong> Heilige Vater den Mut hat zu sagen:<br />
Schämt euch nicht Katholiken, Polen zu<br />
sein und bewahrt eure Identität im Glauben,<br />
weil <strong>der</strong> Katholik gegenüber jedem<br />
Menschen offen ist. Und als Katholiken<br />
müssen wir Menschen mit einem weiten<br />
Blick und großer Achtung gegenüber Gläubigen<br />
an<strong>der</strong>er Religionen und gegenüber<br />
Nichtgläubigen sein. Der Papst will uns<br />
sagen, dass wir uns als gläubige Menschen<br />
und ebenso als Polen nicht schämen müssen,<br />
dass wir dieses Volk sind. Mehr noch<br />
sind wir verpflichtet, diese Bürde auf uns<br />
zu laden, so wie Jesus sich nicht schämte,<br />
dass er Jude war und er die Bürde <strong>der</strong> Sünden<br />
dieses Volkes und unser aller auf sich<br />
lud. Auf diese Weise gab er ein Beispiel,<br />
dem wir zu folgen haben. Ja, wir haben<br />
viele Schwächen und verneinen das nicht,<br />
aber wir halten Verbindung mit unserer<br />
Erde, unserer Tradition, denn dorther<br />
stammt das Lebenselexier unserer Identität.<br />
Wenn wir das selbst zurückweisen und<br />
uns dem Willen an<strong>der</strong>er unterordnen,<br />
indem wir die "Früchte" <strong>der</strong> französischen<br />
Revolution o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>er Ideologien nutzen,<br />
die uns die verweltlichten Milieus des<br />
Westens o<strong>der</strong> Ostens anbieten, dann können<br />
wir unsere eigene Identität verlieren,<br />
die wir über Generationen entwickelt<br />
haben. Wir, die Polen, besitzen als Volk seit<br />
über Tausend Jahren bewährte Traditionen.<br />
Warum dann suchen, herumirren, wenn<br />
man in diesen schwierigen Zeiten einen<br />
festen Weg gehen kann, einen Weg, <strong>der</strong> uns<br />
8 POLEN und wir 2/2006<br />
fehlerfrei zum Ziel führt. Wenn man nun zu<br />
den Worten des Papstes, von Haus aus ein<br />
<strong>Deutsch</strong>er, zurückkehrt, kann man sie als<br />
ein Ehre für die gesamte Geschichte des<br />
polnischen Volkes und <strong>Polens</strong> verstehen.<br />
(...) (Der heilige Vater) sprach auch über<br />
die Verteidigung des menschlichen Lebens.<br />
Er dankte allen, die sich auf dem Gebiet<br />
<strong>der</strong> Erziehung und <strong>der</strong> Vorbereitung auf<br />
das Ehe- und Familienleben engagieren<br />
sowie sich für die Verteidigung des Lebens<br />
eines jeden menschlichen Wesens von<br />
Beginn <strong>der</strong> Empfängnis bis zum natürlichen<br />
Tod hin einetzen. Gleichzeitig gewinnt<br />
die "Zivilisation des Todes", auch in Polen<br />
immer mehr an Boden. Es reicht, nur an<br />
den Versuch zu erinnern, die Homosexualität<br />
zu för<strong>der</strong>n, beispielsweise durch die<br />
Organisierung so genannter Gleichheitsmärsche.<br />
Wie dringlich ist es, das menschliche<br />
Gewissen zu entwickeln - nicht nur in<br />
Polen, damit die Notwendigkeit zur ernsthaften,<br />
verantwortungsvollen und kompromisslosen<br />
Bewahrung einer Zivilisation<br />
des Lebens erkannt wird?<br />
In den letzten Monaten griff die italienische<br />
Presse, aber nicht nur sie, den Papst<br />
dafür scharf an, dass er zu Beginn <strong>der</strong><br />
Bischofssynode ausdrücklich über grundsätzliche<br />
Rechte sprach, die in <strong>der</strong> Natur<br />
des Menschen liegen, auf die man sich<br />
berufen muss und die über dem von <strong>der</strong><br />
weltlichen Gewalt festgelegte positiven<br />
Recht stehen. Der Papst sagte u.a., dass auf<br />
dieses Recht niemand Einfluss nehmen<br />
kann, denn es ist das Recht Gottes, eingeschrieben<br />
in die Natur des Menschen. Der<br />
Standpunkt des Papstes hat einigen Kreisen<br />
nicht sehr gefallen. Und hier besteht das<br />
Problem, ob <strong>der</strong> Staat o<strong>der</strong> irgendeine<br />
"fortschrittliche Gruppe", die auf die Massenmedien<br />
Einfluss haben, eine Ideologie<br />
lancieren dürfen, die danach strebt, das<br />
Naturrecht zu än<strong>der</strong>n. Kann man alle gleich<br />
stellen, kann man z.B. ein Kind einem<br />
Erwachsenen gleichstellen? ... Wenn man<br />
übe die gleiche Würde eines Kindes und<br />
eines Erwachsenen spricht, darf man nicht<br />
vergessen, dass ein Kind Schutz und Hilfe<br />
benötigt, um ein erwachsener, reifer<br />
Mensch zu werden. Heute, wo eine "kranke"<br />
Moralität auf dem Gebiet <strong>der</strong> sexuellen<br />
Ethik Mode ist, wo Europa stirbt, einzelne<br />
Län<strong>der</strong> aussterben, stellt sich die Frage <strong>der</strong><br />
Zukunft <strong>der</strong> Zivilisation. Hervorragend<br />
beschreibt dieses Problem Patrick J.<br />
Buchanan in seinem Buch "Der Tod des<br />
Westens", in dem er darlegt, wie die westliche<br />
Kultur erstirbt und mit ihr bestimmte<br />
Werte. Die Welt wurde auf den Kopf<br />
gestellt, das Falsche ersetzt das Richtige<br />
und das, was noch vor Kurzem als richtig<br />
und wahrhaftig anerkannt wurde, wird<br />
heute als erlogen bezeichnet und einige tun<br />
so, als ob sie das nicht sähen. Gleichzeitig<br />
wird die Propaganda gegen die grundlegenden<br />
Werte wie Familie, Heirat von<br />
Mann und Frau immer stärker angekurbelt.<br />
Diesem dem Menschsein und <strong>der</strong> Natur<br />
feindlichen Verständnis muss man sich mit<br />
großer Standhaftigkeit entgegenstellen.<br />
Hören wir auf uns bei den "Gleichheitsmärschen"<br />
aufzuhalten, denn dieses Spiel<br />
hat uns schon zu viel gekostet. (......) ��<br />
(Zachowajmy to¿samoœæ katolick¹ i narodow¹.<br />
Z przewodnicz¹cym Konferencji<br />
Episkopatu Poslki JE ks. abp. Józefem<br />
Michalikiem, metropolit¹ przemyskim,<br />
rozmawia Mariusz Kamieniecki, Nasz<br />
Dziennik, 7./8. Januar 2006, Nr. 6 (2416);<br />
Übersetzung: Wulf Schade, Bochum)<br />
Prof. Dr. Rita Süssmuth<br />
zur Präsidentin des <strong>Deutsch</strong>en<br />
Polen-Instituts<br />
Darmstadt gewählt<br />
Am 5. Dezember 2005 wurde Bundestagspräsidentin<br />
a.D. Prof. Dr. Rita Süssmuth<br />
zur Präsidentin des <strong>Deutsch</strong>en<br />
Polen-Instituts gewählt. Sie tritt die Nachfolge<br />
von Bürgermeister a.D. Hans<br />
Koschnick an, <strong>der</strong> nach sechsjähriger<br />
Amtszeit aus seinem Amt als Präsident<br />
des DPI ausscheidet.<br />
Als neuer zweiter Vizepräsident wurde<br />
Gotthard Romberg, vormals Geschäftsführer<br />
<strong>der</strong> Robert Bosch GmbH, Berater<br />
<strong>der</strong> Geschäftsführung, gewählt. Er folgt<br />
Dr. Peter Payer nach, <strong>der</strong> nach 15jähriger<br />
Amtszeit ebenfalls aus gesundheitlichen<br />
Gründen aus seinem Amt als Vizepräsident<br />
ausscheidet .<br />
Die Kuratoriumssitzung leitete erstmals<br />
Darmstadts Oberbürgermeister Walter<br />
Hoffmann, <strong>der</strong> als Stadtoberhaupt satzungsgemäß<br />
den Vorsitz des DPI-Kuratoriums<br />
einnimmt. Der Magistrat <strong>der</strong> Wissenschaftsstadt<br />
Darmstadt hat beschlossen,<br />
den bisherigen DPI-Präsidenten<br />
Koschnick mit <strong>der</strong> Silbernen Verdienstplakette<br />
und den bisherigen Vizepräsidenten<br />
Dr. Payer mit <strong>der</strong> Bronzenen Verdienstplakette<br />
auszuzeichnen.<br />
Gleichzeitig wurde für den Zeitraum<br />
2006-2008 ein Wissenschaftlicher Beirat<br />
am <strong>Deutsch</strong>en Polen-Institut eingerichtet,<br />
dem drei führende Historiker angehören:<br />
Prof. Dr. W³odzimierz Borodziej (Universität<br />
Warschau), Prof. Dr. Martin Schulze<br />
Wessel (Universität München) und Prof.<br />
Dr. Klaus Ziemer (Direktor des <strong>Deutsch</strong>en<br />
Historischen Instituts Warschau).<br />
www.deutsches-polen-institut.de
Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD spricht<br />
von „Unrecht <strong>der</strong> Vertreibung“<br />
Streit um Vertreibungszentrum<br />
geht weiter<br />
Die Bundeskanzlerin hat die Durchsetzung<br />
des Zentrums entgegen polnischer (und<br />
tschechischer) Proteste zur Chefsache<br />
gemacht. Wenige Tage vor ihrer Wahl erklärte<br />
sie auf einer Versammlung <strong>der</strong> „Ostund<br />
Mitteldeutschen Vereinigung“ (OMV)<br />
<strong>der</strong> Unionsparteien in Berlin: „Wenn ich<br />
zur Bundeskanzlerin gewählt werden sollte,<br />
dann werde ich mich auch ganz persönlich<br />
dieser Aufgabe verpflichtet fühlen.“<br />
(ARD-Tagesschau, 18.11.2005)<br />
Ihr Vertrauen in dieser Angelegenheit hat<br />
allerdings nicht <strong>der</strong> neue Außenminister<br />
Frank-Walter Steinmeier (SPD), <strong>der</strong> das<br />
Zentrum in <strong>der</strong> Version des BdV ablehnt. In<br />
Warschau durfte er schweigend daneben<br />
stehen, während seine Chefin mit dem polnischen<br />
Ministerpräsidenten Kazimierz<br />
Marcinkiewicz Gespräche zur Fortsetzung<br />
des „Dialogs“ über dieses Thema vereinbarte:<br />
zwischen dem deutschen „Kulturstaatsminister“<br />
Bernd Neumann (CDU) -<br />
über ihn wird berichtet, dass er 1977 als<br />
CDU-Fraktionsvorsitzen<strong>der</strong> in Bremen ein<br />
Gedicht von Erich Fried lieber verbrannt<br />
als in einer Schule behandelt wissen wollte<br />
- und dem polnischen Kulturminister Kazimierz<br />
Ujazdowski.<br />
Schwarz-rote Koalition will an<br />
das „Unrecht <strong>der</strong> Vertreibung“<br />
erinnern<br />
Schon bei den Koalitionsverhandlungen<br />
zwischen CDU/CSU und SPD war das<br />
Thema Vertreibungszentrum <strong>der</strong> Arbeitsgruppe<br />
Außenpolitik entzogen und <strong>der</strong><br />
Arbeitsgruppe Kultur zugeschoben worden,<br />
die von Bundestagspräsident Norbert<br />
Lammert (CDU) geleitet wurde. Dort<br />
einigte man sich auf eine Formulierung, die<br />
alles möglich macht: „Die Koalition<br />
bekennt sich zur gesellschaftlichen wie<br />
historischen Aufarbeitung von Zwangsmi-<br />
Von Renate Hennecke<br />
Das „Zentrum gegen Vertreibungen“, für dessen Errichtung <strong>der</strong> Bund <strong>der</strong> Vertriebenen<br />
(BdV) den politischen Segen <strong>der</strong> Bundesregierung und großzügige finanzielle<br />
Unterstützungen aus Steuermitteln for<strong>der</strong>t, habe „nichts mit einer Relativierung <strong>der</strong><br />
Geschichte zu tun“, erklärte Angela Merkel bei ihrem Antrittsbesuch in Polen am 2.<br />
Dezember 2005. Sie hat das schon früher behauptet - aber wer soll das glauben?<br />
gration, Flucht und Vertreibung“, heißt es<br />
im schwarz-roten Koalitionsvertrag. „Wir<br />
wollen im Geiste <strong>der</strong> Versöhnung auch in<br />
Berlin ein sichtbares Zeichen setzen, um -<br />
in Verbindung mit dem „Europäischen<br />
Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ über<br />
die bisher beteiligten Län<strong>der</strong> Polen,<br />
Ungarn und Slowakei hinaus - an das<br />
Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und<br />
Vertreibung für immer zu ächten.“<br />
Damit ist nun ausdrücklich formuliert, wie<br />
sehr sich das BdV-Vertreibungszentrum<br />
und das von <strong>der</strong> rot-grünen Koalition ins<br />
Leben gerufene „Europäische Netzwerk<br />
Erinnerung und Solidarität“ (dem bislang<br />
neben <strong>Deutsch</strong>land und Polen nur die Slowakische<br />
Republik und Ungarn angehören)<br />
in ihren Grundaussagen ähneln: Beide sollen<br />
die Auffassung verbreiten und durchsetzen,<br />
die zum Schutz <strong>der</strong> Nachbarlän<strong>der</strong><br />
vor erneuter Destabilisierung durch eine<br />
expansive deutsche Volkstumspolitik erfolgte<br />
Umsiedlung <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en 1945/46<br />
sei Unrecht gewesen. Nicht ohne Grund<br />
jubelte die BdV-Präsidentin Erika Steinbach<br />
schon am 16. Mai 2002, als im Bundestag<br />
<strong>der</strong> rot-grüne Antrag „Für ein europäisch<br />
ausgerichtetes Zentrum gegen Vertreibungen“<br />
(die Grundlage für das spätere<br />
„Netzwerk“ verabschiedet und ihr eigener<br />
Antrag „Zentrum gegen Vertreibungen“<br />
abgelehnt wurde: „Heute ist ein guter Tag.“<br />
Und Norbert Lammert, damals Mitinitiator<br />
des CDU/CSU-Antrags und heute Befürworter<br />
einer neuen Leitkulturdebatte, freute<br />
sich: „So viel Übereinstimmung gab es<br />
selten.“<br />
Von SPD-Politikern wie z.B. Markus Mekkel,<br />
Bundestagsabgeordneter und Vorsitzen<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> deutsch-polnischen Parlamentariergruppe<br />
und Vorkämpfer für ein „europäisches<br />
Zentrum gegen Vertreibungen“,<br />
wurde <strong>der</strong> oben zitierte Abschnitt des<br />
Koalitionsvertrages als Absage an das<br />
ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN<br />
BdV-Projekt interpretiert. Schon bald<br />
sahen sich die sozialdemokratischen Koalitionäre<br />
allerdings genötigt, vor „missverständlichen<br />
Äußerungen“ und einer<br />
„Uminterpretation des Koalitionsvertrages“<br />
zu warnen. Was soll aber missverständlich<br />
gewesen sein, wenn Angela Merkel<br />
bei <strong>der</strong> oben genanten OMV-Versammlung<br />
ganz offen erklärte: „Wir wollen im<br />
Geiste <strong>der</strong> Versöhnung mit einem Zentrum<br />
gegen Vertreibungen in Berlin ein Zeichen<br />
setzen“?<br />
Markus Meckel will mittlerweile das<br />
„sichtbare Zeichen“ in Berlin setzen,<br />
indem die Ausstellung "Flucht, Vertreibung,<br />
Integration“, die am Tage von Angela<br />
Merkels Polen-Besuch im Haus <strong>der</strong><br />
Geschichte <strong>der</strong> BRD in Bonn eröffnet<br />
wurde und im nächsten Jahr in Berlin und<br />
Leipzig gezeigt werden soll, fest in <strong>der</strong><br />
Hauptstadt installiert wird. An <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
dieser Ausstellung sollen „renommierte<br />
Wissenschaftler aus Polen und<br />
Tschechien ebenso wie <strong>der</strong> Bund <strong>der</strong> Vertriebenen“<br />
beteiligt gewesen sein. Dem<br />
Katalog <strong>der</strong> Ausstellung ist zu entnehmen,<br />
dass sich diese in den Konsens „Unrecht<br />
<strong>der</strong> Vertreibung“ nahtlos einordnet. Alles<br />
an<strong>der</strong>e wäre auch erstaunlich, denn Prof.<br />
Dr. Hermann Schäfer, bislang Präsident <strong>der</strong><br />
Stiftung „Haus <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> BRD“<br />
und verantwortlich für die Gestaltung <strong>der</strong><br />
dortigen Ausstellung, ist gleichzeitig Mitglied<br />
des Wissenschaftlichen Beirats <strong>der</strong><br />
BdV-Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“.<br />
Am 1. Februar 2006 wurde er zudem<br />
Leiter <strong>der</strong> Abteilung Kultur und Medien<br />
bei Minister Neumann (siehe oben), eine<br />
Berufung, die in <strong>der</strong> Sudetendeutschen Zeitung<br />
nachdrücklich begrüßt wurde.<br />
Für die oberste „Vertriebene“ Erika Steinbach,<br />
die als Tochter eines Besatzungssoldaten<br />
im damaligen „Westpreußen“ geboren<br />
wurde, war dagegen rasch klar, was die<br />
Formulierung im Koalitionsvertrag bedeutete.<br />
Nach dem Wahltag hatte sie zunächst<br />
befürchten müssen, dass die CDU/CSU um<br />
Abstriche an ihrem Wahlprogramm in<br />
puncto Vertreibungszentrum nicht herumkommen<br />
werde. Dort hatte es geheißen:<br />
„Wir wollen im Geiste <strong>der</strong> Versöhnung mit<br />
einem Zentrum gegen Vertreibungen in<br />
Berlin ein Zeichen setzen, um an das<br />
Unrecht von Vertreibung zu erinnern und<br />
gleichzeitig Vertreibung für immer zu ächten.“<br />
Die - fast gleich lautende - Formulierung<br />
in <strong>der</strong> Koalitionsvereinbarung verstand<br />
sie sofort als „ein klares Bekenntnis<br />
für unser Projekt“ und lobte sie als „ein<br />
Meisterstück <strong>der</strong> Psychologie“. Als Merkel<br />
in ihrer Regierungserklärung am 1. Dezember<br />
2005 die Formulierung wie<strong>der</strong>holte,<br />
erklärte Steinbach gegenüber <strong>der</strong> WELT:<br />
POLEN und wir 2/2006 9
ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN<br />
„Das war eine wun<strong>der</strong>bare Beschreibung<br />
von Frau Merkel, mit <strong>der</strong> ich gut leben<br />
kann.“<br />
Im ARD-Morgenmagazin for<strong>der</strong>te Steinbach<br />
polnische Historiker und Historikerinnen<br />
auf, an ihrem Vertreibungszentrum<br />
mitzuarbeiten. Seit langem bemüht sie<br />
sich, dem Projekt eine „europäische“ Fassade<br />
zu geben. Das hin<strong>der</strong>t sie allerdings<br />
nicht daran, hin und wie<strong>der</strong> klarzustellen,<br />
wie das gemeint ist. Als <strong>der</strong> designierte<br />
polnische Präsident Lech Kaczyñski in<br />
einem Interview in <strong>der</strong> BILD-Zeitung vom<br />
23. Oktober 2005 erklärte, „es wäre für die<br />
Beziehung unserer Län<strong>der</strong> das Beste, wenn<br />
das Vertriebenenzentrum niemals gebaut<br />
würde“, putzte ihn Steinbach rüde herunter.<br />
Kaczyñski sei nicht in <strong>Deutsch</strong>land zum<br />
Präsidenten gewählt worden, erklärte sie.<br />
Und sie mische sich ja auch nicht in polnische<br />
Angelegenheiten ein, bei <strong>der</strong> Frage<br />
des Zentrums handele es sich um eine<br />
„innerdeutsche Angelegenheit“ und „diese<br />
überzogenen nationalistischen Töne“ würden<br />
den Polen in <strong>der</strong> EU „auch nicht helfen“.<br />
Wie die Dauerausstellung im<br />
Zentrum aussehen soll<br />
Während über das Vertreibungszentrum<br />
gestritten wird, wird seltsamerweise über<br />
die konkreten Vorstellungen des BdV zu<br />
seiner inhaltlichen Gestaltung kaum ein<br />
Wort verloren. Dabei hat die „Stiftung Zentrum<br />
gegen Vertreibungen“ schon vor Jahren<br />
an alle Bundestagsabgeordneten ein<br />
Exposé für die Ständige Ausstellung verschickt,<br />
die - neben einer „Gedenkrotunde“<br />
- das Kernstück des Zentrums bilden soll.<br />
Dieses Exposé ist auch im Internet<br />
(www.z-g-v.de) abrufbar.<br />
Die vier Hauptkapitel (Teil I) befassen sich<br />
ausschließlich mit dem „Schicksalsweg <strong>der</strong><br />
deutschen Heimatvertriebenen“. Das erste<br />
Kapitel ist überschrieben „Heimatland“<br />
und umfasst die Abschnitte „Heimat in<br />
<strong>Deutsch</strong>land“ und „Heimat außerhalb von<br />
<strong>Deutsch</strong>land“. Vorgestellt werden „Städte<br />
wie Breslau, Danzig o<strong>der</strong> Königsberg<br />
ebenso wie die Weite <strong>der</strong> masurischen<br />
Landschaft, die Idylle des Riesengebirges<br />
und die soziale Ordnung <strong>der</strong> Gutswirtschaft“.<br />
Erzählt werden soll „vom alltäglichen<br />
Leben in Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg<br />
und Schlesien: von Hochzeit<br />
und Geburt, vom ersten Schultag, von<br />
Königsberger Klopsen und Thorner<br />
Kathrinchen, dem kulturellen Leben <strong>der</strong><br />
Städte, dem Leben im schlesischen Industrierevier“.<br />
Idylle <strong>der</strong> „alten Heimat“, in<br />
<strong>der</strong> alle glücklich waren und je<strong>der</strong> seinen<br />
angestammten Platz hatte, vom ostelbi-<br />
10 POLEN und wir 2/2006<br />
schen Junker bis zum polnischen Pferdeknecht.<br />
O<strong>der</strong> - im zweiten Teil - vom<br />
„Nebeneinan<strong>der</strong> und Miteinan<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Volksgruppen in den von <strong>Deutsch</strong>en<br />
bewohnten Gebieten außerhalb <strong>der</strong> deutschen<br />
Staatsgrenzen von 1937“. Auch hier<br />
soll „das alltägliche Leben in den Beziehungen<br />
zwischen <strong>der</strong> deutschen Min<strong>der</strong>heit<br />
und <strong>der</strong> herrschenden Mehrheitsgesellschaft<br />
<strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>der</strong> Darstellung“<br />
sein. Geherrscht wird offenbar nur<br />
außerhalb <strong>der</strong> deutschen Grenzen: da herrschen<br />
die slawischen Landarbeiter über die<br />
deutsch-baltischen Barone (während deutsche<br />
Gutshöfe eine soziale Ordnung aufweisen),<br />
da bedrohen tschechische Chauvinisten<br />
redliche großdeutsche Patrioten ...<br />
Dazu soll man - passen<strong>der</strong>weise - „erzählte<br />
Märchen und Geschichten“ aus <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Region im Originaldialekt hören.<br />
Emotionale Überwältigung<br />
statt Aufarbeitung<br />
<strong>der</strong> Zusammenhänge<br />
Das zweite Hauptkapitel heißt „Vogelfrei<br />
und rechtlos“. Dieser Teil soll so gestaltet<br />
werden, dass kritisches Nachdenken über<br />
die historischen Zusammenhänge gar nicht<br />
erst aufkommt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Besucher sich<br />
emotional vollständig mit den deutschen<br />
Opfern identifizieren muss. „Die Gestaltung<br />
dieses Ausstellungsteils empfindet das<br />
Entwurzeltsein und den Verlust <strong>der</strong> Menschenwürde<br />
nach. Der Besucher läuft<br />
neben einer lebensgroßen Projektion von<br />
Flüchtlings- und Vertreibungstrecks entlang.<br />
Sein Weg ist gesäumt von Gepäckstücken,<br />
die von den Flüchtlingen zurückgelassen<br />
wurden. An mehreren Stellen hat<br />
er die Möglichkeit, in einen Raum hinter<br />
<strong>der</strong> Leinwand zu treten und dort anhand<br />
von Fotos, Dokumenten und Objekten die<br />
näheren Umstände von Flucht und Vertreibung<br />
in sich aufzunehmen. Auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden<br />
Seite des Weges wird in<br />
eigenen Räumen das Ausmaß <strong>der</strong> Grausamkeit<br />
dargestellt, dem die Menschen in<br />
den Lagern, bei <strong>der</strong> Vertreibung und an<br />
ihren Heimatorten ausgesetzt waren. Auf<br />
einer Abzweigung wird das Schicksal und<br />
die Lage <strong>der</strong> Russlanddeutschen plastisch<br />
dargestellt.“<br />
Schließlich folgen die beiden Kapitel<br />
„Zuflucht“ und „Neue Wurzeln“ über die<br />
Ankunft in „West- und Mitteldeutschland“,<br />
die erlittene Not und die Gefahr <strong>der</strong> Assimilierung<br />
bzw. über die Zeit nach dem<br />
Krieg, einschließlich Lager Friedland und<br />
„Charta <strong>der</strong> Heimatvertriebenen“. Da die<br />
Beschreibung dieser beiden Kapitel in <strong>der</strong><br />
Vorlage <strong>der</strong> Stiftung zusammen weniger<br />
Platz einnimmt als das zweite Kapitel<br />
allein, sollen sie auch hier nur erwähnt<br />
werden.<br />
Auch auf Teil II des Exposés - Überschrift:<br />
„Vertreibungen europäischer Völker im 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t" - haben die Planer <strong>der</strong> Ausstellung<br />
nicht viel Mühe verwendet. Fünfeinhalb<br />
Jahre nach <strong>der</strong> ersten Veröffentlichung<br />
des Exposés besteht dieser Teil noch<br />
immer im Wesentlichen aus einer wahllos<br />
zusammengewürfelten Tabelle mit verschiedensten<br />
historischen Ereignissen und<br />
<strong>der</strong> lapidaren Ankündigung: „Anhand <strong>der</strong><br />
folgenden tabellarischen Übersicht wird<br />
mit mo<strong>der</strong>nen musealen Mitteln die<br />
Geschichte <strong>der</strong> europäischen Völkervertreibungen<br />
dargestellt. Das Konzept für<br />
diesen Teil <strong>der</strong> Dauerausstellung ist in<br />
Bearbeitung.“<br />
Das Böse ist immer und überall<br />
Bleiben noch Einleitung und Schluss. Der<br />
„Prolog“ beginnt mit <strong>der</strong> Frage: „Warum<br />
Vertreibungen?“ Wer erwartet, Konkretes<br />
über die Umstände, die zu Grunde liegenden<br />
Konflikte, die Ziele, kurz die Vorgeschichte<br />
und Zusammenhänge konkreter<br />
Vertreibungen zu erfahren, sieht sich<br />
getäuscht. In dem Konzept <strong>der</strong> Stiftung<br />
„Zentrum gegen Vertreibungen“ für ihre<br />
Dauerausstellung wird ein Grund gleichermaßen<br />
für alle Vertreibungen seit 1848 verantwortlich<br />
gemacht.<br />
Anfang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, heißt es da,<br />
sei <strong>der</strong> Nationalismus entstanden und <strong>der</strong><br />
habe in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
dazu geführt, dass sich bei Politikern<br />
und Bevölkerung mehr und mehr die Auffassung<br />
verfestigte, Frieden sei nur in<br />
einem ethnisch homogenen Nationalstaat<br />
möglich. „Von dieser Überzeugung zur<br />
Vertreibung war es nur ein kleiner Schritt.<br />
In gemischt besiedelten Gebieten und bei<br />
kriegerischen Grenzverschiebungen wurden<br />
Vertreibungen nun als das geeignete<br />
Mittel angesehen, ein zukünftig friedliches<br />
Zusammenleben zu gewährleisten.“ Dazu<br />
seien eine „Radikalisierung <strong>der</strong> Ideologien“<br />
und die „gewachsenen technischen<br />
Möglichkeiten“ gekommen. Das Ende vom<br />
Lied: „Allein 20 Millionen <strong>Deutsch</strong>e wurden<br />
zwischen 1918 und 1950 entwurzelt“ -<br />
angeblich nur deshalb, weil sie die falsche<br />
Nationalität besaßen.<br />
Haben also Hitler, die deutsche Wehrmacht,<br />
die SS, SA und Einsatzgruppen nur<br />
zu radikal den Frieden geliebt, als sie<br />
Europa unterwarfen, um „Lebensraum“ für<br />
die deutsche Nation zu schaffen? War es<br />
übermäßige Friedensliebe, die zum Holocaust<br />
führte und die Fe<strong>der</strong> beim Nie<strong>der</strong>schreiben<br />
<strong>der</strong> monströsen Germanisierungspläne<br />
<strong>der</strong> Nazis führte?
War es umgekehrt ganz abwegig, wenn<br />
Polen, Tschechen, Ungarn und Jugoslawen<br />
glaubten, ohne die Einmischung <strong>der</strong> „Herrenrasse“<br />
und ihre Volkstumspolitik würden<br />
sie friedlicher leben können?<br />
Im „Zentrum gegen Vertreibungen“ soll<br />
man die Ursachen von Vertreibungen verstehen,<br />
indem man auf einer Europakarte<br />
am Fußboden - ohne Grenzen! - spazieren<br />
geht und dabei „Zitate aus <strong>der</strong> Entstehungszeit<br />
des Nationalismus über den<br />
Zusammenhang von Nationalität, Rasse<br />
und Sprache in jeweils <strong>der</strong> Sprache des<br />
Landes (hört), auf dem <strong>der</strong> Besucher gerade<br />
steht“.<br />
Das Ziel ist durchschaubar: Nationalismus<br />
gab und gibt es überall, soll <strong>der</strong> Besucher<br />
schließen, eine Seuche, die ganz Europa<br />
gleichermaßen befallen hatte. Wer hat da<br />
das Recht, den <strong>Deutsch</strong>en etwas vorzuwerfen?<br />
Das „Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong><br />
Vertreibungen“<br />
Nach <strong>der</strong> Absolution kommt <strong>der</strong> Aufbau<br />
<strong>der</strong> Opferrolle. In dem großen Raum, dessen<br />
Fußboden die begehbare Europakarte<br />
bildet, soll ein kleinerer Raum eingebaut<br />
werden. Darin befinden sich zwei Kartentische<br />
und eine große Europakarte an <strong>der</strong><br />
Wand. Auf <strong>der</strong> ersten Karte sind „Vertreibungen<br />
bis 1933“, auf <strong>der</strong> zweiten „Vertreibungen<br />
1933 - 1945“ und auf <strong>der</strong> dritten<br />
„Vertreibungen 1944 - 1950“ zu sehen. Da<br />
es sich um eine mo<strong>der</strong>ne Ausstellung handelt,<br />
soll auch alles interaktiv sein. Auf<br />
Knopfdruck kann man auf den Karten "die<br />
unterschiedlichen Bevölkerungsbewegungen,<br />
sortiert nach Volksgruppen" sehen.<br />
Auch for<strong>der</strong>t „die Größe und Anordnung<br />
<strong>der</strong> Karten die Besucher heraus, sie<br />
gemeinsam zu betrachten und sich darüber<br />
zu verständigen, was als nächstes zu sehen<br />
sein soll“<br />
Was aber gibt es zu sehen?<br />
Auf <strong>der</strong> ersten Karte („Vertreibungen bis<br />
1933“) sieht man z.B. gewaltsame Bevölkerungsverschiebungen<br />
auf <strong>der</strong> Grundlage<br />
von Verträgen zwischen Bulgarien, Griechenland<br />
und <strong>der</strong> Türkei 1913, den Völkermord<br />
an den Armeniern 1914/15, „Millionen<br />
Menschen, die durch den Russischen<br />
Bürgerkrieg (1918 - 1921) entwurzelt und<br />
in die Emigration getrieben wurden“ (Bürgerkrieg?<br />
Waren die Angehörigen <strong>der</strong> 18<br />
Interventionsarmeen alle russische Bürger?),<br />
die Zwangsumsiedlung von Griechen<br />
und Türken nach dem Vertrag von<br />
Lausanne 1923.<br />
Und: „Die mittelbaren Vertreibungen <strong>Deutsch</strong>er<br />
aus <strong>der</strong> II. <strong>Polnische</strong>n Republik als<br />
Folge <strong>der</strong> neuen Grenzen nach 1918 waren<br />
bereits Vorboten <strong>der</strong> Massenvertreibungen<br />
ab 1945.“ Damit wird angedeutet, dass die<br />
Umsiedlung 1945/46 nicht Folge <strong>der</strong> NS-<br />
Verbrechen, son<strong>der</strong>n schon lange vorher<br />
geplant gewesen sei.<br />
In <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> zweiten Karte<br />
heißt es: „Nicht nur als Mittel, son<strong>der</strong>n als<br />
Ziel <strong>der</strong> Politik verstand das nationalsozialistische<br />
<strong>Deutsch</strong>land die Vertreibung<br />
nicht-deutscher und die Ermordung ‚nichtarischer'<br />
Bevölkerung.“ Genannt werden:<br />
- die Entrechtung, Deportation und Vernichtung<br />
<strong>der</strong> europäischen Juden durch<br />
„das nationalsozialistische <strong>Deutsch</strong>land“<br />
- die Vertreibung von 450.000 Polen und<br />
Polinnen aus „Westpreußen“ und dem<br />
Ein Buch zum Thema: „Größte<br />
Härte...“, Verbrechen <strong>der</strong> Wehrmacht<br />
in Polen, September/Oktober 1939,<br />
Osnabrück 2005<br />
(s.a. POLEN und wir, 1/2006, S. 7)<br />
„Wartheland“ in das besetzte "Generalgouvernement"<br />
- die Ermordung von Sinti und Roma<br />
- die Umsiedlung <strong>der</strong> Volksdeutschen unter<br />
dem Motto „Heim ins Reich“.<br />
Aus <strong>der</strong> Tschechoslowakei wurde demnach<br />
niemand vertrieben (das entspricht <strong>der</strong><br />
Darstellung <strong>der</strong> Sudetendeutschen Landsmannschaft).<br />
Und auf sowjetischem Gebiet<br />
hat offenbar nur Stalin sich Vertreibungen<br />
zuschulden kommen lassen: 900.000 Wolgadeutsche<br />
waren seine Opfer, und „1944<br />
(wurden) die kleinen islamischen Völker<br />
asiatischer Herkunft im Nordkaukasus und<br />
die Krimtataren von Stalin aus ihren Siedlungsgebieten<br />
deportiert“. Hat denn die<br />
ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN<br />
Wehrmacht überhaupt niemanden vertrieben,<br />
als sie 1941 über die Sowjetunion herfiel<br />
und eine Spur von Vernichtung und<br />
verbrannter Erde hinter sich her zog?<br />
Der Inhalt <strong>der</strong> dritten Karte (1944 - 1950)<br />
lässt sich sehr kurz zusammenfassen:<br />
„Mehr als 15 Millionen <strong>Deutsch</strong>e waren<br />
am Ende Opfer“ <strong>der</strong> territorialen Neuordnung<br />
Europas durch die Alliierten.<br />
Die Darstellung <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en als Opfer<br />
<strong>der</strong> „größten ethnischen Säuberung <strong>der</strong><br />
Menschheitsgeschichte“, wie es Vertriebenenpolitiker<br />
an an<strong>der</strong>er Stelle gern formulieren,<br />
ist <strong>der</strong> eine Inhalt dieser Inszenierung,<br />
die Nivellierung aller Unterschiede<br />
<strong>der</strong> zweite. Der Holocaust wird zu einer<br />
Episode unter vielen. Und die Umsiedlung<br />
<strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en hat keine an<strong>der</strong>e Vorgeschichte<br />
als alle an<strong>der</strong>en Vertreibungen.<br />
Mit <strong>der</strong> Vorgeschichte braucht man sich<br />
ohnehin nicht auseinan<strong>der</strong>zusetzen, denn<br />
das Motto <strong>der</strong> deutschen Opferdebatte lautet:<br />
„Vertreibungen sind immer Unrecht,<br />
egal was vorher geschah.“<br />
Dass es sich bei dem Zentrum um ein durch<br />
und durch deutschnationales Projekt handelt,<br />
zeigt schließlich auch <strong>der</strong> - in dem<br />
Exposé sehr kurz gehaltene - Epilog am<br />
Schluss. Noch einmal wird alles unter dem<br />
Etikett eines anonymen "Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>der</strong><br />
Vertreibung" in einen Topf zusammengerührt.<br />
Dann folgt die Rechtfertigung <strong>der</strong><br />
ganzen Angelegenheit als Veranstaltung<br />
zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Menschenrechte, speziell<br />
des "Rechtes auf die Heimat", das die<br />
Vertriebenenverbände seit Jahrzehnten zur<br />
Begründung ihrer Ansprüche an die von<br />
ihnen so genannten „Vertreiberstaaten“<br />
heranziehen. In <strong>der</strong> Ausstellung wollen sie<br />
dazu Video-Aufnahmen von „aktuellen<br />
Vertreibungen“ missbrauchen.<br />
"Es wäre das Beste ...<br />
wenn das Vertriebenenzentrum niemals<br />
gebaut würde.“ Das gilt nicht nur für die<br />
Beziehungen zu unseren Nachbarlän<strong>der</strong>n,<br />
son<strong>der</strong>n auch für das politische Klima in<br />
<strong>Deutsch</strong>land selbst. Der kritische Blick auf<br />
die geplante Ausführung <strong>der</strong> Dauerausstellung<br />
als Kernstück des Zentrums zeigt,<br />
dass hier sehr wohl Geschichte umgeschrieben<br />
werden soll, allen gegenteiligen<br />
Beteuerungen zum Trotz. ��<br />
Dies ist die aktualisierte Fassung eines<br />
Artikels, <strong>der</strong> zuerst in den <strong>Deutsch</strong>-Tschechischen<br />
Nachrichten Nr. 69 vom 18.<br />
November 2005 erschien (www.deutschtschechische-nachrichten.de;renate.hennecke@netsurf.de).<br />
POLEN und wir 2/2006 11
DEUTSCHE ANSPRÜCHE<br />
Prominente Anwälte ziehen sich zurück<br />
"Preußische Treuhand" floppt<br />
Die in Düsseldorf beheimatete „Preußische Treuhand“, eine Vorfeldorganisation<br />
mehrerer Vertriebenenverbände, die durch Klagen vor internationalen Gerichten<br />
die Rückgabe ehemaliger deutscher Besitztümer in Polen und an<strong>der</strong>en osteuropäischen<br />
Län<strong>der</strong>n erzwingen will, die 1945 als Kompensation für die deutschen Kriegsverbrechen<br />
enteignet worden waren, hat erneut eine ernsthafte Schlappe hinnehmen<br />
müssen: Die Anwälte laufen ihr davon. Aber die Kampagne soll weitergehen.<br />
Ende September 2005, kurz nach den Bundestagswahlen,<br />
hatte die „Treuhand“ angekündigt,<br />
sie habe jetzt eine "namhafte<br />
Kanzlei" gewonnen, um die Klagen ihrer<br />
Aktionäre vor polnischen und europäischen<br />
Gerichten zu vertreten (Berliner Zeitung,<br />
30.9.05). Mitte Oktober werde man<br />
Einzelheiten auf einer Pressekonferenz in<br />
Berlin mitteilen. Doch daraus wurde erst<br />
mal nichts. Die groß angekündigte Pressekonferenz<br />
wurde einen Tag vorher sangund<br />
klanglos abgesagt.<br />
Im Dezember 2000 hatten die Ostpreussische<br />
und die Schlesische Landsmannschaft<br />
des „Bundes <strong>der</strong> Vertriebenen“<br />
(BdV) die „Preußische Treuhand GmbH“<br />
gegründet, die ein Jahr später in eine Kommanditgesellschaft<br />
auf Aktien umgewandelt<br />
wurde, um durch Klagen vor Gerichten<br />
eine „Rückgabe des im Osten von den Vertreiberstaaten<br />
völkerrechtswidrig konfiszierten<br />
Eigentums“ von deutschen Junkern,<br />
Firmen usw. zu erzwingen.<br />
Zwar distanzierten sich nicht nur Vertreter<br />
<strong>der</strong> rot-grünen Bundesregierung und Bundespräsident<br />
Köhler von <strong>der</strong> „Treuhand“,<br />
auch die CDU/CSU und <strong>der</strong> BdV hielten<br />
nach außen hin Distanz zu den Aktivitäten<br />
<strong>der</strong> „Treuhand“. Tatsächlich aber kennt<br />
man sich und kooperiert bis heute insbeson<strong>der</strong>e<br />
mit <strong>der</strong> CDU/CSU und dem BdV<br />
bestens. So residiert die „Treuhand“ bis<br />
heute in <strong>der</strong> NRW-Filiale <strong>der</strong> ostpreussischen<br />
Landsmannschaft in Düsseldorf.<br />
„Treuhand“ Chef Pawelka ist CDU-Mitglied<br />
und erst vor einem Jahr, also lange<br />
nach Bekanntwerden <strong>der</strong> Aktivitäten <strong>der</strong><br />
„Treuhand“, erneut von seiner Partei aufgestelltes<br />
und auch direkt gewähltes Ratsmitglied<br />
in Leverkusen geworden. Im Aufsichtsrat<br />
<strong>der</strong> „Treuhand“ sitzt u.a. Hans-<br />
Günther Parplies, stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong><br />
des BdV. Entsprechend groß waren<br />
und sind die Sorgen in Polen und an<strong>der</strong>en<br />
Staaten, dass die Aktivitäten <strong>der</strong> „Treuhand“<br />
keineswegs Absichten einiger weniger<br />
Spinner sind, son<strong>der</strong>n eine Erpressungskampagne<br />
einflussreicher deutscher<br />
Kreise mit möglicherweise weit reichenden<br />
Folgen. Der damalige Warschauer Bürger-<br />
12 POLEN und wir 2/2006<br />
meister Lech Kaczyñski - inzwischen polnischer<br />
Staatspräsident - hatte ebenso wie<br />
das polnische Parlament nicht nur eine<br />
<strong>Zur</strong>ückweisung solcher Ansprüche verlangt,<br />
son<strong>der</strong>n im Gegenzug polnische Entschädigungsfor<strong>der</strong>ungen<br />
für die deutschen<br />
Kriegsverbrechen und Verwüstungen angekündigt.<br />
Allein für Warschau bezifferte<br />
Kaczyñski diese Schäden auf 32 Milliarden<br />
Euro.<br />
Bereits Ende 2004 hatte die „Treuhand“,<br />
mit dem Münchner Anwalt Michael Witti<br />
verhandelt, <strong>der</strong> vor ein paar Jahren zusammen<br />
mit dem US-Anwalt Fagan auch<br />
Überlebende <strong>der</strong> NS-Zwangsarbeit vor US-<br />
Gerichten gegen deutsche Konzerne vertreten<br />
hatte. Dann sprang <strong>der</strong> Münchner<br />
Anwalt aber wie<strong>der</strong> ab. „Das hätte auch zu<br />
unserer übrigen Mandantschaft nicht<br />
gepasst“, begründet Witti den Rückzug<br />
gegenüber Journalisten.<br />
Mitte Oktober sollte nun <strong>der</strong> zweite Anlauf<br />
starten. Aber Matthias Druba von <strong>der</strong><br />
Kanzlei Schwarz Kelwing, <strong>der</strong> zuletzt<br />
erfolgreich die Erben <strong>der</strong> jüdischen Kaufmannsfamilie<br />
Wertheim bei Prozessen<br />
gegen die Bundesregierung und den Karstadt-Konzern<br />
auf Rückgabe von Grundstücken<br />
im Zentrum Berlins vertreten hatte,<br />
sprang zwei Tage vor <strong>der</strong> groß angekündigten<br />
Pressekonferenz nun ebenfalls ab. „Ich<br />
kann <strong>der</strong> Sache mit juristischen Mitteln<br />
nicht wirklich dienen“, sagte er gegenüber<br />
Journalisten. Klagen auf Rückgabe einstigen<br />
Eigentums und auf Entschädigung<br />
seien „nicht sinnvoll“. Was solche Klagen<br />
auslösten sei jenseits dessen, „was man als<br />
Jurist vertreten kann“. Treuhand-Chef<br />
Pawelka reagierte zunächst fassungslos.<br />
Zustimmung zum Absprung des Anwalts<br />
kam dagegen von <strong>der</strong> CDU/CSUBundestagsfraktion.<br />
Erwin Marschewski, Sprecher<br />
<strong>der</strong> Vertriebenengruppe in <strong>der</strong> Fraktion,<br />
erklärte, das Treiben <strong>der</strong> Treuhand sei<br />
„Wasser auf die Mühlen <strong>der</strong> deutschfeindlichen<br />
Kräfte in Polen“ und „rechtlich und<br />
politisch falsch“. Die Treuhand habe mit<br />
ihrem aggressiven Auftreten dem polnischen<br />
Präsidentschaftskandidaten Lech<br />
Kaczyñski „noch mehr Wähler beschert“.<br />
Treuhand-Chef Pawelka aber will weitermachen.<br />
Das Projekt, auf dem Klageweg<br />
vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof<br />
in Strassburg ehemalige deutsche<br />
Immobilien in Polen zurückzufor<strong>der</strong>n,<br />
werde durch den Absprung jetzt schon <strong>der</strong><br />
zweiten prominenten Anwaltskanzlei nicht<br />
scheitern, son<strong>der</strong>n weiter fortgesetzt. Auch<br />
<strong>der</strong> Dortmun<strong>der</strong> Anwalt Gerwald Stanko,<br />
Geschäftsführer bei <strong>der</strong> „Preußischen Treuhand“,<br />
will weitermachen, fürchtet aber<br />
gleichzeitig wachsenden Druck <strong>der</strong> Aktionäre<br />
<strong>der</strong> Treuhand, was nun mit ihrem Geld<br />
wird. Gegenüber <strong>der</strong> „taz“ erklärte er: „Wie<br />
stehen wir jetzt intern da? Wie können wir<br />
das unseren Aktionären erklären?“<br />
Spannend wird auch, wie die deutsche und<br />
europäische Politik jetzt weiter agiert.<br />
Immerhin hatte es schon die rot-grüne<br />
Bundesregierung in <strong>der</strong> Hand, dem Vertriebenenverband<br />
und seinen Landsmannschaften<br />
sechs Jahrzehnte nach Kriegsende<br />
endlich die jahrzehntelange finanzielle<br />
Subventionierung aus dem Bundeshaushalt<br />
zu entziehen. Geschehen ist nichts <strong>der</strong>gleichen.<br />
Noch heute streichen die „Vertriebenenverbände“<br />
jedes Jahr Millionen an<br />
Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt ein,<br />
weitere Zuschüsse <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> und Kommunen<br />
kommen obendrauf. Der polnische<br />
Vorwurf einer staatlichen deutschen Mitwirkung<br />
bei den Umtrieben <strong>der</strong><br />
"Preußischen Treuhand" ist also mehr als<br />
begründet.<br />
Hinzu kommt: Bis heute sind gesetzliche<br />
Bestimmungen wie z.B. aus dem früheren<br />
Bundesvertriebenengesetz in Kraft, die<br />
unter an<strong>der</strong>em eine abstruse „Vererbbarkeit“<br />
des „Vertriebenenstatus“ vorsehen.<br />
Dass damit bei den betroffenen Personenkreisen<br />
auch finanzielle und materielle<br />
Revanche-Ansprüche aufrechterhalten<br />
werden, liegt auf <strong>der</strong> Hand. Seit Jahren hat<br />
es die deutsche Politik versäumt, solche<br />
revanchistischen Gesetzesklauseln und<br />
Subventionen endlich abzuschaffen.<br />
Aber auch auf europäischem Gebiet gibt es<br />
Handlungsbedarf. Eine Entschließung des<br />
europäischen Parlaments, die alle deutschen<br />
Restitutionsansprüche (Rückgabeund<br />
Entschädigungsansprüche) gegenüber<br />
Personen und Staaten in Osteuropa ein für<br />
alle Mal verwirft, wäre sicherlich ein wirksames<br />
europäisches Signal gegen hetzerische<br />
Aktivitäten wie die <strong>der</strong> Preußischen<br />
Treuhand und würde auch <strong>der</strong>en Prozessaussichten<br />
vor dem Europäischen Gerichtshof<br />
in Strassburg sicherlich beeinträchtigen.<br />
Aber bisher ist von solchen Überlegungen<br />
im EU-Parlament nichts zu hören.<br />
Warum eigentlich nicht? rül<br />
(aus: Politische Berichte vom 19.10.2005.<br />
Wir danken für das Nachdruckrecht)
"Ich sah den Namen Bosch"<br />
Zwei Bücher über eine geheime Rüstungsfabrik, ein vergessenes<br />
KZ und die Erinnerungsarbeit von Zeitzeugen<br />
Wie<strong>der</strong>entdeckt wurde das Konzentrationslager<br />
von Rudolf Mach, einem Regionalhistoriker<br />
aus Leidenschaft. In dem Buch<br />
„Muster des Erinnerns. <strong>Polnische</strong> Frauen<br />
als KZ-Häftlinge in einer Tarnfabrik von<br />
Bosch“ beschreibt er, wie seine Forschungen<br />
begonnen haben:<br />
"Als ich 1996 zum ersten Mal das sogenannte<br />
Bosch-Gelände in Kleinmachnow<br />
betrat, wusste ich noch nicht, dass dieses<br />
Areal während des Zweiten Weltkrieges<br />
einem Tochterunternehmen von Bosch<br />
gehört hatte. Leere, verwahrloste Häuser<br />
des VEB APAG, eines Betriebes aus DDR-<br />
Zeiten, <strong>der</strong> 1992 stillgelegt worden war,<br />
zogen meine Neugier an: In den Kellern<br />
lagen noch durchfeuchtete und vergammelte<br />
Akten. Ich stöberte in den verstreuten<br />
Papieren und entdeckte ein Paket, das in<br />
Packpapier eingewickelt war. Als ich es<br />
aufriss, sah ich plötzlich die Jahreszahl<br />
1942. Ich war fasziniert. Noch nie hatte ich<br />
so alte Originaldokumente gefunden und<br />
mir war, als hätte ich einen kleinen Goldschatz<br />
gehoben."<br />
Was Mach zwischen den Unterlagen <strong>der</strong><br />
DDR-Firma gefunden hatte, waren Schriftstücke<br />
<strong>der</strong> Dreilinden Maschinenbau<br />
GmbH, vor allem Versicherungsakten. Hier<br />
las er auch die Bezeichnung "KL". "Erst<br />
später begriff ich, dass ‚KL' eine Abkürzung<br />
für Konzentrationslager ist. Das war<br />
eine für mich ungeheuerliche Entdeckung.<br />
Ich begann, zu dem Komplex Zwangsarbeit<br />
und KZ-Außenlager Kleinmachnow zu<br />
recherchieren."<br />
Mach informierte die Berliner Geschichtswerkstatt<br />
e.V. und die wie<strong>der</strong>um beauftragte<br />
die Historikerin Angela Martin mit<br />
Recherchen zu <strong>der</strong> bis dahin völlig unbekannten<br />
Geschichte <strong>der</strong> Firma. Zusammen<br />
mit <strong>der</strong> Übersetzerin und Publizistin Ewa<br />
Czerwiakowski interviewte sie fast fünfzig<br />
Überlebende des Konzentrationslagers.<br />
Von Betty Glasberg<br />
Erst seit <strong>der</strong> Debatte um die "Entschädigung" für die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen<br />
des "Dritten Reichs" hat man begonnen, sich an die zahlreichen Zwangsarbeitslager<br />
und KZ-Außenstellen bei den deutschen Rüstungsbetrieben zu erinnern. Auch<br />
in Kleinmachnow, einem Berliner Vorort, wollte man lange nichts von dem KZ-<br />
Außenlager wissen, das sich hier von Sommer 1944 bis April 1945 auf dem Firmengelände<br />
<strong>der</strong> Dreilinden Maschinenbau GmbH (DLMG) befand. Diese Tarnfabrik des<br />
Bosch-Konzerns beutete gegen Kriegsende rund 2.900 ZwangsarbeiterInnen aus,<br />
darunter etwa 800 weibliche KZ-Häftlinge. Die zumeist sehr jungen Frauen kamen<br />
aus Polen und mussten unter größter Geheimhaltung Zubehör für Flugzeugmotoren<br />
produzieren.<br />
DEUTSCH GESCHICHTE-BUCHBESPRECHUNG<br />
Die Fotografin Hucky Fin Porzner hat die<br />
Zeitzeuginnen porträtiert. Nachzulesen<br />
sind die Ergebnisse dieses Projekts in zwei<br />
Buchpublikationen <strong>der</strong> Berliner Geschichtswerkstatt:<br />
Angela Martin, „Ich sah<br />
den Namen Bosch“, und „Muster des Erinnerns“,<br />
herausgegeben von Ewa Czerwiakowski<br />
und Angela Martin.<br />
Die Geschichte <strong>der</strong> DLMG reicht bis ins<br />
erste Jahr <strong>der</strong> NS-Herrschaft zurück.<br />
Bereits 1933 setzen sich Vertreter des<br />
Reichsluftfahrtministeriums und Mitarbeiter<br />
<strong>der</strong> Robert Bosch GmbH zusammen,<br />
um über eine "Ausweichfabrik" im militärisch<br />
sicheren Mitteldeutschland zu verhandeln.<br />
Bosch-Produkte waren für die<br />
Kriegspläne <strong>der</strong> Nationalsozialisten, insbeson<strong>der</strong>e<br />
für die Aufrüstung <strong>der</strong> Luftwaffe,<br />
unersetzlich. Schon in <strong>der</strong> Planungsphase<br />
des Dreilinden-Werkes hieß es, in Kleinmachnow<br />
entstehe ein industrielles Unternehmen<br />
von größter Bedeutung für die<br />
Luftfahrt: Zwei Jahre später wurden die<br />
ersten Werkshallen <strong>der</strong> DLMG in Betrieb<br />
genommen. Es waren relativ kleine Gebäude<br />
in einem Waldgebiet, denn die Industrieanlage<br />
sollte wie eine Wohnsiedlung<br />
erscheinen. Im ersten Band des Projekts<br />
beschreibt Angela Martin ausführlich die<br />
Entwicklung dieser "Schattenfabrik". Das<br />
Unternehmen expandierte schnell, alle<br />
Hin<strong>der</strong>nisse bei Erweiterungsbestrebungen<br />
wurden mit Hilfe des Reichsluftfahrtministeriums<br />
und an<strong>der</strong>er NS-Behörden ausgeräumt,<br />
außerdem wurden großzügige<br />
finanzielle Beihilfen gewährt.<br />
Während des Krieges beutete die Firma<br />
etwa 2 000 Kriegsgefangene und zivile<br />
Zwangsarbeiter aus West- und Osteuropa<br />
aus. Neben dem Werksgelände entstand<br />
eine kleine, schäbige Stadt aus Baracken<br />
für die zur Arbeit gezwungenen Menschen.<br />
Im Herbst 1944 kamen außerdem zwei<br />
Fortsetzung S. 14<br />
Janina Podoba, geb. Russiak, *1929:<br />
Dass es warm wird, dass<br />
man zu essen hat ...<br />
Ich war ein Jahr alt, als mein Vater gestorben<br />
ist. (...) Unsere Mutter hat meine<br />
Schwester und mich alleine großgezogen.<br />
Bis <strong>der</strong> Krieg ausgebrochen ist, habe ich<br />
drei Klassen <strong>der</strong> Volksschule beendet und<br />
bin dann bis 1944 in den Untergrundunterricht<br />
gegangen. Seit dem Aufstand ist<br />
mein Schicksal dem meiner Kameradinnen<br />
verblüffend ähnlich geworden: Wir<br />
alle sind den gleichen Weg gegangen. (...)<br />
Ich war völlig alleine, als man mich<br />
deportiert hat. Und ich war fünfzehn.<br />
Obwohl ich noch ein Kind war, musste<br />
ich in Kleinmachnow arbeiten wie alle<br />
an<strong>der</strong>en. Wir hatten so schrecklichen<br />
Hunger! Einmal wollte ich ein paar Kartoffelschalen<br />
aus <strong>der</strong> Mülltonne holen, da<br />
hat mich eine <strong>der</strong> Aufseherinnen, die rothaarige,<br />
die schlimmste von allen, so heftig<br />
geschlagen, dass ich die Treppe hinuntergefallen<br />
bin. In <strong>der</strong> Fabrik haben fast<br />
ausschließlich Polinnen gearbeitet, aber<br />
ich erinnere mich auch an zwei Jüdinnen,<br />
Mutter und Tochter. Eines Tages hat man<br />
sie abgeholt. Eine Aufseherin hat uns<br />
erzählt, man habe sie freigekauft. Sie<br />
haben versprochen zu schreiben, aber niemals<br />
ist ein Brief von ihnen gekommen.<br />
Sie haben sie bestimmt umgebracht. Drei<br />
Russinnen waren auch da, drei o<strong>der</strong> auch<br />
vier. Sie haben immer zusammengehalten.<br />
Im Lager hat man überhaupt nicht darüber<br />
nachgedacht, was später kommen würde.<br />
Ich habe nur geträumt, dass es warm wird,<br />
dass man zu essen hat. Alles war so entsetzlich:<br />
<strong>der</strong> Aufstand, Pruszków, Ravensbrück,<br />
dieser Stacheldraht, <strong>der</strong> Todesmarsch,<br />
die Leichen in den Straßengräben.<br />
Wir haben Gras gegessen, am<br />
Straßenrand ist kein Grashalm übrig<br />
geblieben. Ich habe immer wie<strong>der</strong> die Finger<br />
in eine Pfütze getan und sie dann<br />
abgeleckt, um etwas zu trinken. Für mich<br />
war alles schrecklich. Man kann diese<br />
Erinnerungen nicht aus dem Gedächtnis<br />
löschen. Mein Mann war auch im Lager<br />
und hat mir viel erzählt. Ich konnte nicht<br />
zuhören, ständig habe ich geweint.<br />
Ich bin mit dem letzten Transport aus Spakenberg<br />
zurückgekommen, das war 1946.<br />
Danach war ich oft und lange krank. Ich<br />
konnte keine Kin<strong>der</strong> bekommen, hatte<br />
immer wie<strong>der</strong> Fehlgeburten, dreimal hintereinan<strong>der</strong>.<br />
Später habe ich doch zwei<br />
Töchter zur Welt gebracht. Ich habe sie<br />
großgezogen und ausbilden lassen. ��<br />
Gespräch in Krakau am 19.10. 2000<br />
aus: „Muster des Erinnerns“<br />
POLEN und wir 2/2006 13
BUCHBESPRECHUNG-DEUTSCHE GESCHICHTE<br />
Fortsetzung von Seite 13<br />
Transporte mit jeweils etwa 400 polnischen<br />
Frauen aus dem KZ Ravensbrück nach<br />
Kleinmachnow. "Die Fabrik, in <strong>der</strong> wir<br />
arbeiten mussten, eine große Halle, lag im<br />
Wald und war von einem Zaun umgeben.<br />
Es war ein doppelter Stacheldrahtverhau,<br />
<strong>der</strong> innere stand unter Strom. Wir wurden<br />
von SS-Leuten (dem Lagerkommandanten<br />
und Aufseherinnen) bewacht. Gewohnt<br />
haben wir unterhalb <strong>der</strong> Fabrik, in Zellenstuben,<br />
etwa je 30 Frauen in einer. Wir<br />
schliefen auf Etagenpritschen. Die Kellerräume<br />
waren kalt, feucht, ohne Fenster."<br />
Das berichtete Maria Cicha, die 14 Jahre<br />
alt war, als sie in das KZ-Außenlager<br />
Kleinmachnow deportiert wurde.** Sie ist<br />
eine von sechzehn Überlebenden des Konzentrationslagers,<br />
die in dem zweisprachigen<br />
Buch „Ich sah den Namen Bosch“ zu<br />
Wort kommen. Bewacht von SS-Aufseherinnen<br />
mussten die Häftlinge zwölf Stunden<br />
am Tag schwere Arbeiten leisten. Als<br />
im April 1945 die Front nahte, wurden sie<br />
von <strong>der</strong> Firmenleitung in das KZ Sachsenhausen<br />
geschickt und von dort auf den<br />
berüchtigten "Todesmarsch" getrieben.<br />
Für viele <strong>der</strong> Zeitzeuginnen begann ihre<br />
Leidenszeit mit dem Warschauer Aufstand<br />
1944. Die meisten wurden während <strong>der</strong><br />
Erhebung <strong>der</strong> polnischen Hauptstadt gegen<br />
die deutschen Besatzer gefangen genommen<br />
und zunächst in das KZ Ravensbrück<br />
verschleppt. Dort wurden sie in einer entwürdigenden<br />
Selektion von Mitarbeitern<br />
<strong>der</strong> DLMG ausgewählt und dann nach<br />
Kleinmachnow gebracht. Fast alle Frauen<br />
schil<strong>der</strong>n auch die Nachkriegsjahre, den<br />
mühsamen Wie<strong>der</strong>anfang im völlig zerstörten<br />
Warschau, die Folgen <strong>der</strong> Lagerhaft,<br />
die bis heute andauern und sich in gescheiterten<br />
Lebensentwürfen, Ängsten und<br />
Krankheiten ausdrücken.<br />
Jedes Interview ist mit einem Fotoporträt<br />
versehen. Der sorgfältig gestaltete Band<br />
enthält zudem weiteres Bildmaterial, zum<br />
Beispiel gerettete Dokumente <strong>der</strong> Zeitzeuginnen:<br />
eine Bettkarte aus dem Krankenrevier,<br />
ein Blatt aus dem Lagergebetbuch,<br />
eine Postkarte, Kochrezepte, die die hungernden<br />
Frauen aufgeschrieben haben.<br />
Auch Funde von Rudolf Mach sind abgebildet,<br />
<strong>der</strong> auf dem Grundstück <strong>der</strong> DLMG<br />
Produktionsreste ausgegraben hat, sowie<br />
Pläne des Werks- und Lagergeländes und<br />
Fotos vom Bau <strong>der</strong> Fabrik. So wird die spezifische<br />
Geschichte des Bosch-Betriebs<br />
deutlich. Sie ist zugleich ein exemplarisches<br />
Beispiel für die Rüstungswirtschaft<br />
des NS-Staates, wie Wolfgang Benz im<br />
Vorwort schreibt.<br />
Die Resonanz auf diese Dokumentation<br />
war ausgesprochen positiv: "Ein eindrucks-<br />
14 POLEN und wir 2/2006<br />
volles Buch" schrieb zum Beispiel die<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung. Das<br />
ermutigte die Berliner Geschichtswerkstatt<br />
zu einer Fortsetzung des Projekts. Der<br />
zweite Band kam zunächst in polnischer<br />
Sprache heraus, jetzt ist er auf <strong>Deutsch</strong> in<br />
einer erweiterten Fassung unter dem Titel<br />
Muster des Erinnerns erschienen. Auch<br />
hier stehen die Erinnerungen <strong>der</strong> Zeitzeuginnen<br />
im Zentrum, dreiunddreißig Frauen<br />
berichten von ihrem Überleben im KZ<br />
Kleinmachnow. Den Interviewausschnitten<br />
sind drei Essays vorangestellt.<br />
Ewa Czerwiakowski untersucht mit ebenso<br />
großem Einfühlungsvermögen wie analytischem<br />
Verstand die Erinnerungsmuster <strong>der</strong><br />
Zeitzeuginnen. Deren Biografien wurden<br />
durch den gewaltsamen Einfluss <strong>der</strong><br />
"großen Geschichte" geradezu "gleichgeschaltet".<br />
Der Satz "Wir waren nur Nummern"<br />
ist davon nur <strong>der</strong> drastischste Ausdruck.<br />
Die Frauen schil<strong>der</strong>ten allerdings<br />
auch positive Erlebnisse, die einen beson<strong>der</strong>en<br />
Platz in ihren Berichten einnehmen.<br />
"Fast jede unserer Gesprächspartnerinnen<br />
berichtete spontan über unerwartete gute<br />
Momente: die Hilfe einer Leidensgenossin<br />
o<strong>der</strong> eine Geste von jemandem, <strong>der</strong> zu <strong>der</strong><br />
feindseligen Umgebung gehörte. Dabei<br />
geht es meistens um die heimliche Übergabe<br />
von Brot, die ein Meister o<strong>der</strong> Einrichter<br />
in <strong>der</strong> Fabrik wagte, seltener um das<br />
Verhalten einer Aufseherin o<strong>der</strong> eines Soldaten,<br />
obwohl auch solche Fälle vorkamen."<br />
Hier drückt sich ein Moment individueller<br />
Entscheidungsmöglichkeit aus, <strong>der</strong><br />
die Gleichschaltungs- und Einschüchterungsversuche<br />
des Nationalsozialismus<br />
unterlief. "Die Beispiele von Zivilcourage<br />
und damit eines freien, unreglementierten<br />
Verhaltens stellen einen wichtigen Aspekt<br />
<strong>der</strong> Geschichte totalitärer Systeme dar."<br />
Angela Martin schil<strong>der</strong>t in ihrem Beitrag<br />
"Das Gedächtnis <strong>der</strong> Archive" ihre mühsame<br />
Suche nach Dokumenten über die<br />
Fabrik in Kleinmachnow. Dabei erläutert<br />
sie auch Probleme <strong>der</strong> Archivüberlieferung.<br />
Erinnerungen von Zeitzeugen werden<br />
von <strong>der</strong> akademischen Forschung noch<br />
immer als unzuverlässig und selektiv<br />
beargwöhnt, zum Teil durchaus mit Recht.<br />
Doch auch Archive arbeiten selektiv, was<br />
die Autorin vor allem am Beispiel des<br />
Bosch-Archivs belegt. Nicht zu allen<br />
Aspekten <strong>der</strong> Firmengeschichte wurde<br />
gesammelt, etliche Dokumente gingen im<br />
Krieg verloren. Zudem sei es möglich, vermutet<br />
die Autorin, dass viele Materialien<br />
noch nicht erschlossen wurden. Die Erinnerungen<br />
<strong>der</strong> Zeitzeugen seien eine unerlässliche<br />
Ergänzung, schreibt Martin, sie<br />
zeigen exemplarisch die Verstrickung <strong>der</strong><br />
deutschen Industrie "nicht nur in die<br />
Kriegswirtschaft, son<strong>der</strong>n auch in den<br />
umfassenden nationalsozialistischen Repressionsapparat,<br />
zu dessen wichtigsten<br />
Mitteln die unterschiedlichen Formen <strong>der</strong><br />
Zwangsarbeit gehörten."<br />
Rudolf Mach befasst sich mit dem Gedächtnis<br />
des Ortes Kleinmachnow. Dort<br />
wollte zunächst niemand etwas von seinen<br />
Recherchen zur DLMG und ihre Lager<br />
wissen. Das hat sich inzwischen geän<strong>der</strong>t.<br />
So gibt es eine Gedenktafel, die an die Ausbeutung<br />
<strong>der</strong> Zwangsarbeiter erinnert; neun<br />
Überlebende des KZ und zwei zivile<br />
Zwangsarbeiter wurden vom Heimatverein<br />
zu <strong>der</strong> feierlichen Enthüllung eingeladen.<br />
"Kleinmachnow, das lange ein Ort ohne<br />
Gedächtnis zu sein schien, beginnt sich zu<br />
erinnern", schreibt Mach. Dass dies nicht<br />
zuletzt seiner unermüdlichen Arbeit zu verdanken<br />
ist, verrät er allerdings nicht in seinem<br />
ermutigenden Beitrag, man kann es<br />
nur den Anmerkungen <strong>der</strong> Herausgeberinnen<br />
entnehmen.<br />
Ise Bosch, eine Enkelin des Firmengrün<strong>der</strong>s,<br />
hat die Arbeit des Heimatvereins<br />
Kleinmachnow und <strong>der</strong> Berliner Geschichtswerkstatt<br />
mit großem Interesse<br />
verfolgt und ein Vorwort für das Buch<br />
„Muster des Erinnerns“ verfasst. Darin<br />
dankt sie den Zeitzeuginnen, ohne <strong>der</strong>en<br />
Mitarbeit die beiden Bücher nicht zustande<br />
gekommen wären: "Die Überlebenden des<br />
KZ-Außenlagers Kleinmachnow geben uns<br />
ihre Ängste preis, sie sprechen über<br />
Erniedrigungen, über zerstörte Lebensläufe,<br />
über Traumata, die sie bis heute belasten.<br />
Dazu gehört viel Mut, vor allem auch,<br />
wenn sie es gegenüber <strong>Deutsch</strong>en tun.<br />
Dafür und für ihre Hilfe, ein lange vergessenes<br />
Kapitel unserer Geschichte zu erhellen,<br />
möchte ich den Zeitzeuginnen meinen<br />
tiefsten Respekt aussprechen."<br />
Die Initiative zu <strong>der</strong> längst überfälligen<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den KZ-Außenlagern<br />
und den Erinnerungen <strong>der</strong> "vergessenen<br />
Opfer" geht häufig auf Vereine wie die<br />
Berliner Geschichtswerkstatt zurück, die<br />
sich mit ihren Projekten für die so genannte<br />
Alltagsgeschichte stark machen und<br />
dabei Methoden <strong>der</strong> Oral History verwenden.<br />
Wie sinnvoll diese Arbeit ist, belegen<br />
beide Bücher. ��<br />
* Muster des Erinnerns. <strong>Polnische</strong> Frauen<br />
als KZ-Häftlinge in einer Tarnfabrik von<br />
Bosch, herausgegeben von Ewa Czerwiakowski<br />
und Angela Martin, Berlin (Metropol<br />
Verlag) 2005, 143 Seiten, 14 Euro<br />
** Angela Martin, Ich sah den Namen<br />
Bosch. <strong>Polnische</strong> Frauen als KZ-Häftlinge<br />
in <strong>der</strong> Dreilinden Maschinenbau GmbH,<br />
Berlin (Metropol Verlag) 2002, 320 Seiten,<br />
17 Euro
Tschetschenische Flüchtlinge zwischen Polen und<br />
<strong>Deutsch</strong>land<br />
Treibgut in <strong>der</strong><br />
Europäischen Union?<br />
Seit Mai 2004 ist nun auch in Polen die<br />
DUBLIN 11-Verordnung in Kraft getreten,<br />
die vor <strong>der</strong> noch geltenden Drittstaatenregelung<br />
Vorrang hat. Diese Verordnung<br />
besagt, dass <strong>der</strong> Staat, den die Flüchtlinge<br />
in <strong>der</strong> EU als erstes erreichen, zuständig für<br />
die Durchführung des Asylverfahrens ist.<br />
In Tschetschenien herrscht seit 1994 Krieg.<br />
Mit aller Härte geht die russische Regierung<br />
gegen die Zivilbevölkerung vor, mehr<br />
als 400.000 Menschen sind seither aus <strong>der</strong><br />
Kaukasusrepublik geflohen. Seit einigen<br />
Monaten kommen viele Tschetschenen<br />
auch über Polen nach Brandenburg, um in<br />
<strong>Deutsch</strong>land o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en westlichen Staaten<br />
Schutz zu suchen. Doch wenn sie die<br />
Grenze nach <strong>Deutsch</strong>land überquert haben,<br />
erwartet sie hier kein Schutz, son<strong>der</strong>n<br />
Abschiebehaft, denn zur legalen Einreise<br />
benötigen sie ein Visum, das sie von <strong>der</strong><br />
russischen Fö<strong>der</strong>ation nicht erhalten. Nur<br />
wenn sie es schaffen, in westlichere Bundeslän<strong>der</strong><br />
o<strong>der</strong> wenigstens bis Berlin zu<br />
gelangen, wo man ihnen die illegale Einreise<br />
über Polen nicht mehr nachweisen kann,<br />
haben sie eine Chance, nicht inhaftiert zu<br />
werden.<br />
Der Umgang mit tschetschenischen Flüchtlingen<br />
beschreibt ein hochaktuelles Problem<br />
<strong>der</strong> deutschen Abschiebepoltik. Auch<br />
wenn das Thema sehr speziell ist, wird<br />
gerade daran deutlich, dass <strong>der</strong> Einsatz<br />
gegen Rassismus, Diskriminierung und für<br />
Menschenrechte weit über ein multikulturelles<br />
Fest hinausgehen muss.<br />
Tschetschenen überqueren meist in Terespol<br />
die beorussisch-polnische Grenze. Hier<br />
müssen sie einen Asylantrag stellen, da sie<br />
sonst keine Chance auf Einreise haben. Bei<br />
Von Regine M. Wörden<br />
Brandenburg liegt als eines <strong>der</strong> östlichen deutschen Bundeslän<strong>der</strong> an <strong>der</strong> polnischen<br />
Grenze. Die Außengrenze <strong>der</strong> EU wurde mit dem Beitritt zehn weiterer Staaten<br />
Richtung Osten verschoben, dennoch ist die O<strong>der</strong>Neiße-Linie, die die Grenze zwischen<br />
Polen und <strong>Deutsch</strong>land markiert, weiterhin streng bewacht. Die sogenannte<br />
Drittstaatenregelung, die bis zum Beitritt <strong>Polens</strong> zur EU galt, hat es auch bis dahin<br />
für Flüchtlinge fast unmöglich gemacht, in <strong>Deutsch</strong>land einen erfolgreichen Asylantrag<br />
zu stellen. Wurden sie beim illegalen Grenzübertritt vom Bundesgrenzschutz<br />
(BGS) festgenommen und konnte klar festgestellt werden, dass sie soeben einen <strong>der</strong><br />
Grenzflüsse überquert hatten, wurden sie in den Zellen des BGS bis zu 48 Stunden<br />
inhaftiert. Hatte Polen seine Zustimmung gegeben, wurden sie nach Polen zurückgeschoben,<br />
ohne in <strong>Deutsch</strong>land eine Chance auf das Stellen eines Asylantrags zu<br />
haben.<br />
illegaler Einreise droht Inhaftierung, ein<br />
dann gestellter Asylantrag garantiert keineswegs<br />
die Freilassung. Bei <strong>der</strong> Einreise<br />
erfolgt eine erkennungsdienstliche Behandlung<br />
und die Fluchtgründe müssen<br />
dargelegt werden. Nach <strong>der</strong> Einreise wird<br />
das polnische Asylverfahren eingeleitet,<br />
die Flüchtlinge werden in überfüllten<br />
Unterkünften untergebracht. 2004 wurden<br />
weniger als zehn Prozent <strong>der</strong> tschetschenischen<br />
Antragsteller in Polen ein Flüchtlingsstatus<br />
entsprechend <strong>der</strong> Genfer<br />
Flüchtlingskonvention (GFK) zuerkannt.<br />
Im Februar 2005 fiel die Anerkennungsquote<br />
auf nur zwei Prozent. Nur anerkannte<br />
Flüchtlinge erhalten in Polen ein Jahr<br />
soziale Unterstützung, Flüchtlinge mit<br />
einem Tolerierten-Status jedoch finden sich<br />
auf <strong>der</strong> Straße wie<strong>der</strong> und haben das Problem,<br />
Wohnung und Arbeit suchen zu müssen.<br />
Anerkannte Flüchtlinge in Polen haben<br />
zwar das Recht auf Schulbesuch, Ausbildung<br />
und eine Arbeitserlaubnis, doch ohne<br />
offizielle Meldeadresse bleiben sie ohne<br />
Sozialhilfe und ohne Krankenversicherung.<br />
Hinzu kommt, daß gerade tschetschenische<br />
Flüchtlinge aufgrund <strong>der</strong> schrecklichen<br />
Brutalität des Krieges in ihrer Heimat<br />
beson<strong>der</strong>s häufig traumatisiert sind. Eine<br />
medizinischpsychologische Versorgung<br />
gibt es selbst für polnische Staatsbürger<br />
kaum. Gerade einmal zwei Psychologen<br />
arbeiten in Polen <strong>der</strong>zeit mit Flüchtlingen.<br />
Somit geraten insbeson<strong>der</strong>e Kranke,<br />
Alleinerziehende und kin<strong>der</strong>reiche Familien<br />
aufgrund des Verlusts <strong>der</strong> finanziellen<br />
und sozialen Hilfen nach Abschluss des<br />
Asylverfahrens in eine aussichtslose Situation.<br />
DEUTSCH-POLNISCHE POLITIK<br />
Rassistische Abschiebungen<br />
Das sind jedoch nicht die einzigen Gründe,<br />
aus Richtung Polen in den Westen zu reisen.<br />
Viele möchten mit nahestehenden<br />
Angehörigen und Freunden zusammenleben<br />
können. Das ist gerade für Menschen,<br />
die Gewalterfahrungen ausgesetzt waren,<br />
beson<strong>der</strong>s wichtig. Zumal das Misstrauen<br />
unbekannten Tschetschenen gegenüber<br />
sehr groß ist, da auch Tschetschenen auf<br />
russischer Seite gegen die Bevölkerung <strong>der</strong><br />
Kaukasusrepublik kämpfen.<br />
Viele Flüchtlinge haben auch früher schon<br />
den Ausgang des Asylverfahrens in Polen<br />
gar nicht abgewartet, son<strong>der</strong>n sind Richtung<br />
Westen weitergewan<strong>der</strong>t. Im Unterschied<br />
zu <strong>der</strong> Zeit vor dem EU-Beitritt<br />
<strong>Polens</strong> ist infolge ihrer erkennungsdienstlichen<br />
Erfassung im EURODAC-System<br />
nun jedoch sofort erkennbar, wo sie in die<br />
EU eingereist sind. Somit ist eine Ausweisung<br />
nach Polen meist eine Frage <strong>der</strong> formalen<br />
Regelung. Allein in <strong>der</strong> zweiten Jahreshälfte<br />
2004 erhielt Polen insgesamt<br />
1.320 Wie<strong>der</strong>aufnahmeanträge nach dem<br />
Dublin-Verfahren aus an<strong>der</strong>en EU-Län<strong>der</strong>n,<br />
von denen 1.182 positiv beantwortet<br />
wurden. Die meisten Anträge stammten aus<br />
<strong>Deutsch</strong>land. Trotz <strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Rücküberstellung<br />
versuchen viele tschetschenische<br />
und auch an<strong>der</strong>e Flüchtlinge, weiter<br />
Richtung West- o<strong>der</strong> Nordeuropa zu ziehen.<br />
Hier haben sie Freunde, Verwandte,<br />
Bekannte. Doch die polnische-deutsche<br />
Grenze ist weiterhin stark gesichert. Überqueren<br />
die Flüchtlinge die Flüsse O<strong>der</strong> und<br />
Neiße illegal und werden im Grenzgebiet<br />
von <strong>der</strong> Bundespolizei gestellt, bringt man<br />
sie nach Eisenhüttenstadt. Hier befindet<br />
sich auf dem gleichen Gelände wie das<br />
Abschiebegefängnis die Erstaufnahmeeinrichtung<br />
für Flüchtlinge in Brandenburg.<br />
Beide liegen direkt an <strong>der</strong> polnischen<br />
Grenze. Bei den Familien werden die Frauen<br />
und Kin<strong>der</strong> im Familienhaus <strong>der</strong> Erstaufnahmeeinrichtung<br />
untergebracht, die<br />
Männer jedoch kommen in Abschiebehaft.<br />
Gemessen an den Erfahrungen, die diese<br />
Menschen gemacht haben, ist es eine psychische<br />
Zumutung, die Familien in dieser<br />
Art und Weise zu trennen. Zeitweise ist es<br />
auch schon vorgekommen, dass die min<strong>der</strong>jährigen<br />
Kin<strong>der</strong> in das Heim für alleinreisende<br />
Jugendliche in Brandenburg, ihre<br />
Eltern jedoch in die Haft gebracht wurden.<br />
Bis April 2005 stellten die Tschetschenen<br />
die größte Zahl <strong>der</strong> Häftlinge in <strong>der</strong><br />
Abschiebehaftanstalt Eisenhüttenstadt.<br />
Doch nun gehen auch hier die Zahlen<br />
zurück, immer weniger Flüchtlinge kommen<br />
über die deutsch-polnische Grenze.<br />
Fortsetzung S. 16<br />
POLEN und wir 2/2006 15
BUCHBESPRECHUNG<br />
Der Roman „Wirren“ von<br />
Henryk Sienkiewicz<br />
Vor hun<strong>der</strong>t Jahren, am 10. Dezember 1905, hat <strong>der</strong> mit dem Roman "Quo Vadis"<br />
zu Weltruhm gelangte polnische Schriftsteller Henryk Szienkiewicz den Literaturnobelpreis<br />
bekommen. Nur wenige wissen, dass <strong>der</strong> Literat in eben jenem Jahr auch<br />
seinen einzigen zeitgenössischen Roman angesiedelt hat: "Wirren".<br />
Polen im Jahr 1905. Seit mehr als 100 Jahren<br />
ist das Land eine Nation ohne Staatsgebiet,<br />
besetzt von den Teilungsmächten<br />
Preußen, Österreich und Russland. Folgt<br />
man dem kritischen Blick des Schriftstellers<br />
und glühendem Nationalisten, Henryk<br />
Szienkiewicz, hat sich sein eigener Stand,<br />
<strong>der</strong> polnische Adel, aus <strong>der</strong> Verantwortung<br />
heraus in resignierte Bequemlichkeit verzogen.<br />
Damit ist zunächst aber Schluss, als<br />
die erste Welle <strong>der</strong> Revolution über Russland<br />
hinweg bis ins besetzte Polen rollt und<br />
das Ende <strong>der</strong> zaristischen Besatzungsmacht<br />
andeutet. Im russisch besetzten Teil <strong>Polens</strong><br />
brechen Streiks aus, <strong>der</strong> polnische Landadel<br />
muss plötzlich die "eigenen" Arbeiter<br />
fürchten. In diese "Wirren" gerät nicht nur<br />
Szienkiewicz selbst, son<strong>der</strong>n auch die<br />
Hauptfigur seines Romans, <strong>der</strong> junge Guts-<br />
Fortsetzung von S. 15<br />
Die Verfahrensweise <strong>der</strong> sofortigen<br />
<strong>Zur</strong>ückschiebungen scheint sich unter den<br />
Flüchtlingen herumgesprochen zu haben.<br />
Wählen sie nun an<strong>der</strong>e Wege o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Fluchthelfer? O<strong>der</strong> gelingt eine Weiterflucht<br />
nach Westeuropa nun einfach immer<br />
seltener? Die lang gefor<strong>der</strong>te Rechtsberatung<br />
für die Menschen in Abschiebehaft ist<br />
lange Zeit vom Innenministerium untersagt<br />
worden, seit September 2005 wird sie nun<br />
angeboten. Bedingung des Innenministeriums<br />
war, dass nur in Brandenburg zugelassene<br />
Anwälte in Eisenhüttenstadt tätig werden<br />
dürfen, alle Berliner Anwältinnen, die<br />
sich engagieren wollten und auch eingehend<br />
mit <strong>der</strong> Thematik befasst sind, dürfen<br />
es nicht. Wie die Beratung läuft und angenommen<br />
wird, ist <strong>der</strong>zeit noch unklar.<br />
Im Niemandsland<br />
Die Asylanträge <strong>der</strong> Flüchtlinge werden in<br />
<strong>der</strong> Haft entgegengenommen, die Flüchtling<br />
(bleiben jedoch inhaftiert. Wessen Fingerabdrücke<br />
in Polen erfasst sind, <strong>der</strong> wird<br />
dorthin abgeschoben. Ist dies nach vier<br />
Wochen nicht erfolgt, müssen die Menschen<br />
aus <strong>der</strong> Haft entlassen werden, denn<br />
es handelt sich um eine Inhaftierung zu<br />
Verwaltungszwecken und nicht um eine<br />
Strafhaft. Nach <strong>der</strong> Freilassung tauchen<br />
16 POLEN und wir 2/2006<br />
besitzer W³adis³aw Krzycki. Der Tod seines<br />
Onkels beschert Krzycki eine illustre<br />
<strong>Gesellschaft</strong> zu Gast. Da sind die zum politischen<br />
Disput neigenden Herren Gronski<br />
und Dolhanski. Aber vor allem stürzen die<br />
drei attraktiven Damen im heiratsfähigen<br />
Alter - die Witwe Otocka, das Fräulein<br />
Marynia und eine englische Freundin,<br />
Fräulein Anney - Krzycki in turbulente<br />
Tage. Sein Herz schlägt, unter Schuldgefühlen,<br />
für das reizend herbe aber nur bürgerliche<br />
Fräulein Anney. Und dann tobt <strong>der</strong><br />
Klassenkonflikt auch noch materiell:<br />
Krzycki wird beim Besuch des Gutes seines<br />
toten Onkels, das in den Einfluss russisch-kommunistischer<br />
Agitierer gefallen<br />
ist, angeschossen, woraufhin die ganze<br />
<strong>Gesellschaft</strong> nach Warschau flieht. Dort<br />
gipfelt die Handlung: Die Revolution for-<br />
viele Tschetschenen unter, um zu Verwandten<br />
in an<strong>der</strong>e EU-Staaten zu gelangen.<br />
Was muss ein Mensch, <strong>der</strong> durch einen jahrelangen<br />
brutalen Krieg traumatisiert<br />
wurde, empfinden, wenn er in dem Land,<br />
in dem er Schutz erwartet, inhaftiert und<br />
mit Polizeigewalt wie<strong>der</strong> abgeschoben<br />
wird? Die Gefahr einer Re-Traumatisierung<br />
ist sehr hoch. Hinzu kommt, dass die<br />
Flüchtlinge größtenteils nicht psychologisch<br />
betreut werden. Die Flüchtlinge, die<br />
es geschafft haben, einen Behandlungsplatz<br />
in den Psychologischen Zentren im<br />
nahe gelegenen Berlin zu erhalten, werden<br />
oftmals trotzdem zurückgeschoben.<br />
Anfang April 2005 wurde eine tschetschenische<br />
Familie in einer <strong>der</strong> üblichen nächtlichen<br />
Aktionen an die polnische Grenze<br />
gebracht. Die Familie befand sich in psychosozialer<br />
Behandlung. In Handschellen<br />
wurden sie von <strong>der</strong> Polizei auf die polnische<br />
Seite begleitet. Der polnische Grenzschutz<br />
inhaftierte die Familie für eine<br />
Nacht, anstatt sie mit dem Zug weiter in<br />
Richtung des ihnen zugewiesenen Lagers<br />
fahren zu lassen. Am nächsten Tag wurde<br />
die Familie zu einem Bahnhof gebracht<br />
und dort stehen gelassen - ohne jegliche<br />
finanzielle Mittel. Sie sollten selber sehen,<br />
wie sie das weit entfernte Lager, das sie<br />
aufnehmen sollte, erreichen konnten. Hier<br />
<strong>der</strong>t ein unsinniges Opfer. Zwischen<br />
Krzycki und Fräulein Anney kommt es zu<br />
einem überraschenden Eklat, <strong>der</strong> einen<br />
Adelsstand von zweifelhafter Moral und<br />
festgefahrenen Vorstellungen bloßstellt.<br />
Abgesehen von Sienkiewiczs hervorragen<strong>der</strong><br />
Qualität als Erzähler erscheint das<br />
Buch zunächst wie die bloße Nabelschau<br />
einer nach außen blinden <strong>Gesellschaft</strong>sschicht.<br />
Aber wissend, dass Sienkiewicz<br />
selbst zur Zeit seiner Romanfiguren gelebt<br />
und publiziert hat, kristallisiert sich ein von<br />
<strong>der</strong> russischen Zensur zwischen die Zeilen<br />
gezwungener politischer Witz heraus.<br />
Natürlich richtet sich dieser gegen die<br />
Besatzungsmacht, was dem Buch in Polen<br />
den Ruf einer nahezu prophetischen Vorhersehung<br />
<strong>der</strong> SolidarnoϾ eingebracht hat.<br />
Die Aktualität des Buches ist für den<br />
Manesse-Verlag <strong>der</strong> Grund gewesen, den<br />
hierzulande kaum bekannten Roman in <strong>der</strong><br />
Reihe "Bibliothek <strong>der</strong> Weltliteratur" neu<br />
herauszugeben. Der Übersetzerin Karin<br />
Wolff ist es hervorragend gelungen, Szienkiewiczs<br />
reich mit Jugendstilornamenten<br />
verzierte Sprache wie<strong>der</strong>zugeben. Vor<br />
allem für Osteuropa-Interessierte ein Lesevergnügen.<br />
��<br />
"Wirren": Manesse Verlag Zürich 2005.<br />
Mit einem Nachwort von Olga Tokarzuk.<br />
ISBN 3- 7175-2072-5. EUR 22,90.<br />
zeigt sich die völlige Unfähigkeit <strong>der</strong> deutschen<br />
und <strong>der</strong> polnischen Behörden, mit<br />
traumatisierten Menschen umzugehen.<br />
Die Frage nach einer Harmonisierung des<br />
Asylrechts <strong>der</strong> europäischen Staaten stellt<br />
sich also <strong>der</strong>zeit nur auf dem Papier - faktisch<br />
sind die Anfor<strong>der</strong>ungen an die neuen<br />
Mitgliedsstaaten so gestiegen, dass diese<br />
für sie (noch) nicht erfüllbar sind. Zugleich<br />
lehnen sich die alten EU-Staaten mit dem<br />
Verweis auf die DUBLIN II-Verordnung<br />
zurück und schieben jegliche Verantwortung<br />
den neuen Mitgliedsstaaten zu, die an<br />
<strong>der</strong> EU-Außengrenze liegen. Auch hier<br />
werden immer wie<strong>der</strong> große Defizite beim<br />
Umgang mit Asylsuchenden deutlich.<br />
Somit entziehen sich die westlichen EU-<br />
Mitgliedsstaaten mit <strong>der</strong> DUBLIN 11-Verordnung<br />
ihren humanitären und völkerrechtlichen<br />
Verpflichtungen den Menschen<br />
gegenüber, die Schutz und Hilfe suchen.<br />
Der beson<strong>der</strong>en Situation traumatisierter<br />
Menschen muss ebenso Rechnung getragen<br />
werden wie einer Transparenz <strong>der</strong> Verfahren<br />
für die Betroffenen mit <strong>der</strong> Möglichkeit<br />
einer qualifizierten Beratung. ��<br />
Infos:<br />
info@fluechtlingsrat-brandenburg.de,<br />
www.fluechtlingsrat-brandenburg.de<br />
(aus: Die rote Hilfe, 32. Jg., Nr. 1.2006.<br />
Wir danken für das Nachdrucksrecht)
<strong>Polnische</strong> Lager<br />
Es handele sich um ein Wahrnehmungsproblem,<br />
schließlich wisse in <strong>Deutsch</strong>land<br />
"je<strong>der</strong>", dass die <strong>Deutsch</strong>en die Juden<br />
ermordet haben. Es sei aber bekannt, dass<br />
polnische Leser diese Formulierung "als<br />
diskriminierend empfinden" könnten, wie<strong>der</strong>holt<br />
habe man in mehreren Redaktionskonferenzen<br />
auf diese Problematik hingewiesen,<br />
es gebe die klare Anweisung, stets<br />
von "deutschen Lagern in Polen" zu schreiben.<br />
Unter großem Zeitdruck in <strong>der</strong> Redaktion<br />
sei <strong>der</strong> Fehler "durchgerutscht".<br />
Alles nur ein Lapsus? Ein technisches Versehen?<br />
Sicher, die publizierte Haltung <strong>der</strong> Süddeutschen<br />
und ihrer Redakteure zur jüngsten<br />
Vergangenheit ist eindeutig und frei<br />
vom Schatten eines revisionistischen Verdachts,<br />
aber man möchte doch annehmen,<br />
dass hier mehr als nur ein Problem <strong>der</strong> Perzeption<br />
eines unzulässig verkürzenden<br />
Attributes vorliegt. Denn natürlich meint<br />
"polnisches Lager" nicht etwa "in Polen<br />
gelegenes Lager", son<strong>der</strong>n bezeichnet eine<br />
beson<strong>der</strong>e Eigenschaft, so wie "bairische<br />
Blasmusik" o<strong>der</strong> "deutsche Wertarbeit".<br />
Und <strong>der</strong> "Lapsus" <strong>der</strong> Süddeutschen ist in<br />
einen Kontext einzuordnen, <strong>der</strong> die Annahme<br />
eines nur zufälligen Fehlers schwer<br />
macht.<br />
Am 17. November 2002 benutzte die<br />
Von Friedrich Leidinger<br />
Im Dezember 2005 schrieb die Süddeutsche Zeitung an prominenter Stelle über ein<br />
"polnisches Lager Sobibor". Der Autor dieser Zeilen schrieb einen knappen Leserbrief,<br />
Sobibor, Treblinka, Majdanek und Auschwitz seien zwar Orte in Polen, aber<br />
die dort errichteten Lager seien von <strong>Deutsch</strong>en geplant, errichtet und betrieben worden,<br />
also deutsche Lager. Nur wenige Wochen später war auf Seite Eins <strong>der</strong> Süddeutschen<br />
Zeitung in einem Artikel über die neu errichtete Gedenkstätte am historischen<br />
Ort <strong>der</strong> Wannsee-Konferenz zu lesen, im "polnischen Lager Chelmno" seien Juden<br />
ermordet worden. Ich schrieb erneut einen Brief an die Redaktion und wies auf den<br />
Wie<strong>der</strong>holungsfall hin, worauf mir <strong>der</strong> verantwortliche Redakteur antwortete, und<br />
sich für den nachlässigen Sprachgebrauch entschuldigte.<br />
Washington Post in einer Buchbesprechung<br />
mit Bezug auf Auschwitz die Formulierung<br />
"the infamous Polish concentration<br />
camp", am 20. September 2005 meldete<br />
<strong>der</strong> Australische Fernsehsen<strong>der</strong> ABC TV<br />
Leserbrief<br />
Sehr geehrte Damen und Herren, in dem Beitrag "Alles ist Eitelkeit" (SZ Nr. 273 vom<br />
26./27. November 2005, Seite 15) zum 80. Geburtstag von Claude Lanzmann ist Ihrem<br />
Autor Fritz Göttler gleich zweimal das Wort von den "polnischen Lagern" bzw. dem<br />
"polnischen Lager Sobibor" in den Text geraten. Ein Versehen? Absicht? Sollte etwa<br />
auch die Redaktion <strong>der</strong> "Süddeutschen" zu denjenigen Presseorganen gehören, denen<br />
man wie<strong>der</strong> erklären muss, dass <strong>der</strong> Tod ein Meister aus <strong>Deutsch</strong>land ist? Sobibor ist<br />
zwar ein Ort in Polen, ein "polnisches Lager Sobibor" hat es jedoch nie gegeben. Sobibor<br />
war - genauso wie Auschwitz-Birkenau, Majdanek, Be³Ÿec, Treblinka und alle an<strong>der</strong>en<br />
Lager im besetzten Polen - ein deutsches Vernichtungslager. Die Formulierung Göttlers<br />
kann man wohl nur als Symptom fortgeschrittener Verdrängung und Verleugnung<br />
historischer Fakten deuten, wenn man ihm nicht Böswilligkeit unterstellen will. Intellektuelle<br />
Redlichkeit und journalistische Verantwortung hätten ihm jedenfalls eine solche<br />
Fehlleistung kaum durchgehen lassen.<br />
Mit freundlichen Grüßen, Dr. Friedrich Leidinger<br />
anlässlich des Todes von Simon Wiesenthal,<br />
dieser sei Überleben<strong>der</strong> eines "Polish<br />
concentration camp". Die kanadischen<br />
Sen<strong>der</strong> CTV Television und CTV Newsnet<br />
berichteten am 8. November 2003 über<br />
einen jüdischen Überlebenden <strong>der</strong> Shoah,<br />
<strong>der</strong> als Kind in "ein polnisches Ghetto"<br />
deportiert worden sei, und am 30. April<br />
2004 über den ehemaligen SS-Mann John<br />
Demjanuk, ein für seinen Sadismus<br />
bekannter Wachmann "im polnischen Konzentrationslager<br />
Treblinka".<br />
In <strong>der</strong> Süddeutschen erschien <strong>der</strong> Begriff<br />
vom "polnischen Lager Sobibor" in einem<br />
Beitrag zum 80. Geburtstag des Dokumentarfilmregisseurs<br />
Claude Lanzmann. Dessen<br />
Meisterwerk über die Ermordung <strong>der</strong><br />
Juden Europas "Shoah" zeigte polnische<br />
Bauern und Bahnarbeiter, die keine 40<br />
Jahre nach den Ereignissen ihre Gleichgültigkeit<br />
gegenüber dem Schicksal ihrer jüdischen<br />
Nachbarn nicht verbargen. Der Film<br />
löste damals in Polen eine heftige Debatte<br />
aus. Die (kommunistische) Partei, Regierung<br />
und Katholische Kirche fanden zum<br />
Schulterschluss gegen "antipolnische Ver-<br />
DEUTSCHE GESCHICHTE<br />
leumdung". Während <strong>der</strong> polnische Botschafter<br />
in Paris protestierte, verlieh die<br />
Anwesenheit des damaligen französischen<br />
Präsidenten François Mitterand und zahlreicher<br />
Minister seiner Regierung <strong>der</strong><br />
Uraufführung von "Shoah" 1985 in Paris<br />
beson<strong>der</strong>en Glanz. Mitterand, dessen politische<br />
Laufbahn im Dienste des mit den<br />
deutschen Besatzern Frankreichs kollaborierenden<br />
Vichy-Regimes aus heutiger<br />
Sicht zumindest umstritten ist, versuchte<br />
sich mit dieser Inszenierung an die Spitze<br />
einer geistigen Strömung zu stellen, die<br />
nicht nur in Frankreich weit verbreitet war:<br />
Die Polen seien am Holocaust zumindest<br />
insoweit schuldig, als sie tatenlos <strong>der</strong> Vernichtung<br />
ihrer jüdischen Nachbarn zugesehen<br />
hätten. Die Tageszeitung Libération<br />
schrieb aus diesem Anlass unter <strong>der</strong> Überschrift<br />
"Polen auf <strong>der</strong> Anklagebank", "alle<br />
polnischen Massenbewegungen mit Ausnahme<br />
<strong>der</strong> SolidarnoϾ hatten antisemitischen<br />
Charakter".<br />
"<strong>Polnische</strong> Ghettos", "polnische Lager" -<br />
Weiß wirklich je<strong>der</strong> bei uns, dass es sich<br />
dabei um deutsche Einrichtungen im von<br />
<strong>Deutsch</strong>land besetzten Polen handelte?<br />
Dass es bis 1940 in Polen überhaupt keine<br />
Ghettos gab, son<strong>der</strong>n dass Juden und<br />
Nichtjuden seit dem Mittelalter, dem<br />
Beginn <strong>der</strong> jüdischen Siedlung in Polen<br />
ohne räumliche Trennung benachbart lebten?<br />
Dass das "Warschauer Ghetto" kein<br />
"Ghetto" wie die Ghettos in Worms, Mainz<br />
o<strong>der</strong> Trier war, son<strong>der</strong>n ein Konzentrationslager,<br />
gebildet durch Absperren eines<br />
Stadtviertels und Ausweisung aller nichtjüdischen<br />
Bewohner sowie Deportation aller<br />
Juden aus Warschau und Umgebung dorthin?<br />
Dass das deutsche Besatzungsregime<br />
in Polen vom ersten Tag an einen rassistischen,<br />
auf ethnische Vernichtung abzielenden<br />
Charakter hatte und nichtjüdischen<br />
Polen und polnischen Juden bei nur geringer<br />
Differenzierung als "Untermenschen"<br />
ein grundsätzliches Lebensrecht absprach?<br />
Ungefähr 25.000 junge Israelis reisen jedes<br />
Jahr nach Polen. Die meisten von ihnen<br />
wissen nichts von <strong>der</strong> Blüte <strong>der</strong> jüdischen<br />
Kultur während <strong>der</strong> tausendjährigen jüdischen<br />
Geschichte in Polen, die in keinem<br />
christlichen Land <strong>der</strong> Diaspora ihresgleichen<br />
findet. Sie betrachten das Land, welches<br />
sie besuchen, als Hort eines aggressiven<br />
Antisemitismus, als Stätte <strong>der</strong> Vernichtung<br />
und als Friedhof des jüdischen Volkes.<br />
Dieser Glaube wird unterstützt durch die<br />
beson<strong>der</strong>en Sicherheitsmassnahmen während<br />
<strong>der</strong> Reise. Es gibt immer noch<br />
Geschichtsstunden in israelischen Schulen,<br />
in welchen die Schüler hören, dass Polen<br />
dem Bau von Konzentrationslagern<br />
zustimmte.<br />
POLEN und wir 2/2006 17
DOKUMENTATION<br />
An die Süddeutsche Zeitung, Chefredaktion, (...) 17.1.2006<br />
Sehr geehrter Herr Kilz, sehr geehrte Damen und Herren,<br />
die journalistische Qualität Ihrer Zeitung steht in hohem Ansehen.<br />
Umso ärgerlicher ist die Erfahrung, dass Sie offenbar wie<strong>der</strong>holt<br />
in Bezug auf die deutschen Verbrechen in den während des 2.<br />
Weltkriegs besetzten Län<strong>der</strong>n Europas von "polnischen Lagern"<br />
schreiben. So konnte man heute auf <strong>der</strong> 1. Seite Ihrer Zeitung von<br />
dem "polnischen Lager Chelmno" lesen. Ein solches Lager hat es<br />
aber nie gegeben. Chelmno ist <strong>der</strong> Name eines Weilers in Zentralpolen,<br />
in dessen Nähe die deutschen Machthaber während des<br />
Krieges zehntausende jüdische Menschen transportierten, um sie<br />
sofort nach <strong>der</strong> Ankunft in Gaswagen zu ermorden. Die Opfer<br />
kamen vor allem aus dem in Lodz ("Litzmannstadt") errichteten<br />
Ghetto. Vor wenigen Wochen war in einem Beitrag zum 80.<br />
Geburtstag von Claude Lanzmann ("Alles ist Eitelkeit"; SZ Nr.<br />
273 vom 26./27. November 2005, Seite 15) gleich zweimal von<br />
den "polnischen Lagern" bzw. dem "polnischen Lager Sobibor"<br />
zu lesen. Und auch am 16.10.2004 haben Sie in einem Bericht<br />
über die Deportation einer jüdischen Frau aus dem nie<strong>der</strong>ländischen<br />
Tilburg im Jahre 1944 ("Wie<strong>der</strong> geht ein Transport ab und<br />
diesmal sind wir dabei") die Formulierung vom "polnischen<br />
Lager Sobibor" benutzt.<br />
Sind also Sobibor, Chelmno - o<strong>der</strong> gar Auschwitz-Birkenau,<br />
Majdanek, Be³Ÿec, Treblinka und alle an<strong>der</strong>en Lager im besetzten<br />
Polen - "polnische Lager" gewesen? Muss man nicht bei dem<br />
Autor solcher Begriffe fortgeschrittene Verdrängung und Verleugnung<br />
historischer Fakten o<strong>der</strong> schlicht Ahnungslosigkeit vermuten,<br />
wenn man ihm nicht Böswilligkeit unterstellen will? Aber<br />
warum steht es dann in <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung? (…)<br />
Mit freundlichen Grüßen, Dr. Friedrich Leidinger, <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land e.V.<br />
18.1.2006<br />
Sehr geehrter Herr Dr. Leidinger,<br />
Sie haben natürlich völlig Recht, und ich entschuldige mich für<br />
den nachlässigen Sprachgebrauch. Die Problematik mit <strong>der</strong> Formel<br />
"polnische Lager" ist nicht zuletzt eine <strong>der</strong> Wahrnehmung.<br />
Die deutsche Perzeption dieses Ausdrucks beinhaltet selbstverständlich,<br />
dass es deutsche Lager in Polen waren, weil je<strong>der</strong>mann<br />
weiß, dass die Judenvernichtung von den <strong>Deutsch</strong>en betrieben<br />
wurde und nicht von Polen. (...) Es gehört aber selbstverständlich<br />
zur Aufgabe <strong>der</strong> SZ als Zeitung, hier den genauen historischen<br />
Sachverhalt wie<strong>der</strong>zugeben und nicht den Volksmund. Denn wir<br />
wissen, daß polnische Leser solche Verkürzungen des Gemeinten<br />
als diskriminierend empfinden können.<br />
Wie<strong>der</strong>holt wurde daher in mehreren Konferenzen auf diese Problematik<br />
hingewiesen und seitens <strong>der</strong> Chefredaktion die klare<br />
Anweisung gegeben, stets von "deutschen Lagern in Polen" zu<br />
schreiben. Es hätte also in dem Beitrag heißen müssen: Im von<br />
den <strong>Deutsch</strong>en errichteten Lager in <strong>der</strong> Nähe des polnischen<br />
Chelmno begann schon Ende 1941 . . .<br />
Der von Ihnen zu recht monierte Beitrag auf <strong>der</strong> gestrigen Seite 1<br />
wurde, wie mir die Kollegen von <strong>der</strong> Politik mitgeteilt haben,<br />
unter großem Zeitdruck redigiert und korrigiert. Dabei ist mein<br />
Fehler durchgerutscht. (...)<br />
Mit freundlichen Grüßen, Lothar Müller<br />
18.1.2006<br />
Sehr geehrter Herr Dr. Müller, (...)<br />
Es sind nicht allein unsere polnischen Freunde hier irritiert. Deren<br />
Irritation ist auch nicht auf eine vielleicht übersteigerte nationale<br />
Empfindlichkeit zurück zu führen. Sie rührt vielmehr daher, dass<br />
das polnische Volk als ganzes Opfer des nationalsozialistischen<br />
<strong>Deutsch</strong>land geworden ist, und dass nichtjüdische Polen in ganz<br />
18 POLEN und wir 2/2006<br />
ähnlicher Weise wie jüdische Polen als "rassisch wertlos", "Untermenschen"<br />
etc. <strong>der</strong> Verfolgung und dem Terror unterlagen (siehe<br />
Martin Broszat, "200 Jahre deutsche Polenpolitik"). Die Rolle <strong>der</strong><br />
polnischen Nation als Opfer, <strong>der</strong> Verlust von Millionen von Menschen,<br />
die als Juden und Nichtjuden polnische Bürger gewesen<br />
waren, die unübersehbare Benachteiligung <strong>der</strong> polnischen NS-<br />
Opfer gegenüber NS-Opfern in den westeuropäischen Län<strong>der</strong>n<br />
und gegenüber jüdischen Opfern in allen Belangen <strong>der</strong> Entschädigung<br />
durch die Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land, alles das fügt sich in<br />
<strong>der</strong> kollektiven Erfahrung <strong>der</strong> Menschen in Polen zu einem Bild<br />
und lässt den Begriff von den "polnischen Lagern" als zynische<br />
Umdeutung <strong>der</strong> Geschichte erscheinen.<br />
Es bleibt aber noch mehr die beunruhigende Wahrnehmung, dass<br />
trotz aller Aufklärung bei einigen Menschen in <strong>Deutsch</strong>land, und<br />
bei noch viel mehr Menschen im Ausland, eine Vermutung anzutreffen<br />
ist, dass es kein Zufall sei, dass die Vernichtung in Polen<br />
stattgefunden hat, und dass "die Polen" irgendwie mitschuldig<br />
o<strong>der</strong> gar hauptschuldig gewesen seien. Solche Einschätzungen<br />
werden durch subtile Wortfehler eher geför<strong>der</strong>t, als durch plumpe<br />
Nazi-Sprüche. (...)<br />
Mit freundlichen Grüßen, Dr. Friedrich Leidinger<br />
18.1.2006<br />
Sehr geehrter Herr Dr. Leidinger, (...)<br />
3. Es kommt aber etwas hinzu, das ich gerne näher ausführen<br />
würde und hier vorläufig nur andeuten kann: Ich würde gern<br />
gegen Ihre These, die inkriminierte Formel "polnische Lager" sei<br />
immer und überall eine gefährlichere, weil subtilere Diskriminierung<br />
als offen antipolnische Propaganda, Einspruch erheben. Und<br />
zwar nicht aus historisch-politischen, son<strong>der</strong>n aus philologischen<br />
Gründen, die ich freilich für politisch relevant halte. Denn es will<br />
mir nicht recht einleuchten, daß ich mit meinem Lapsus in dem<br />
Artikel zur Neueröffnung <strong>der</strong> Daueraustellung in <strong>der</strong> Gedenkstätte<br />
Haus <strong>der</strong> Wannseekonferenz mehr Unheil angerichtet haben<br />
soll, als wenn ich z.B. in einem eigens diesem Thema gewidmeten<br />
Artikel die These vertreten hätte, <strong>der</strong> polnische Antisemitismus<br />
sei in gleicher Weise verantwortlich für den Holocaust wie<br />
die deutsche Vernichtungsmaschinerie.<br />
Sie lesen, was Ihr gutes Recht und Ihre Pflicht als Repräsentant<br />
Ihrer Organisation ist, wie ein Detektor, <strong>der</strong> Texte auf problematische<br />
Formulierungen hin durchsucht. Die innere Logik, <strong>der</strong> Sie<br />
dabei folgen, würde ich eine Hermeneutik des Verdachts nennen:<br />
dem Verdacht, es solle die polnische Geschichte umgedeutet, das<br />
Leid <strong>der</strong> polnischen Opfer <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en relativiert werden (etwa<br />
gegenüber den jüdischen Opfern). Die Fundstücke in <strong>der</strong> Presse,<br />
die Sie zu Recht inkriminieren, haben aber nicht alle das gleiche<br />
Gewicht, selbst wenn sie die identische Formel verwenden. Um<br />
beim konkreten Fall zu bleiben: Ich hätte mich noch viel mehr<br />
über mich geärgert, wenn ich die Formulierung in einem Artikel,<br />
sagen wir über einen Zirkusartisten <strong>der</strong> Nachkriegszeit verwendet<br />
hätte, dessen Eltern in einem "polnischen Lager" umgekommen<br />
wären. In diesem Fall hätte die Assoziation "ein von Polen errichtetes<br />
Lager" näher gelegen und hätte sich unkontrollierter entfalten<br />
können. In meinem Text ist das Auftauchen <strong>der</strong> Formel ärgerlich<br />
genug, aber sie wird durch den Kontext gewissermaßen ,kontrolliert'.<br />
Das ist nicht mein Verdienst, aber es ist so: die Gesamtperspektive<br />
des Artikels ist auf die bürokratische Vorbereitung<br />
und Durchführung <strong>der</strong> "Endlösung" fokussiert. Dadurch ist <strong>der</strong><br />
Weg von <strong>der</strong> Formel zu einer Lesart, die darin tatsächlich die<br />
Behauptung wahrnimmt, die Polen hätten als Subjekte <strong>der</strong> Vernichtung<br />
agiert, sehr viel weiter, als Sie anzunehmen scheinen.<br />
(...)<br />
Mit freundlichen Grüßen, Lothar Müller
Westeuropäische und amerikanische Feuilletons<br />
haben die Vorgänge vom Juni 1941<br />
im polnischen Jedwabne, als ein Mob unter<br />
deutscher Aufsicht über die jüdischen<br />
Bewohner des Kleinstädtchens mordend<br />
und sengend herfiel, ausgiebig kommentiert;<br />
zu an<strong>der</strong>en Fragen legen sie sich in<br />
<strong>der</strong> Regel größere <strong>Zur</strong>ückhaltung auf:<br />
Warum unterließen es die Regierungen <strong>der</strong><br />
USA und Großbritanniens, ihre Erkenntnisse<br />
über den Massenmord in den Menschenschlachthäusern<br />
in Auschwitz, Belzec,<br />
Sobibor, Majdanek und Treblinka zeitnah<br />
publik zu machen und zum Beispiel<br />
gezielt Transportlinien und Infrastruktur<br />
dieses Unternehmens anzugreifen? Wie<br />
verhielten sich die <strong>Gesellschaft</strong>en in Frankreich,<br />
Belgien und den Nie<strong>der</strong>landen unter<br />
deutscher Besatzung gegenüber den eigenen<br />
jüdischen Nachbarn, wie begünstigte<br />
Kollaboration die Deportation fast aller<br />
Juden mit so mör<strong>der</strong>ischer Effizienz? Die<br />
in Lanzmanns Film gezeigte Raffsucht polnischer<br />
Landproletarier, die sich unter den<br />
Bedingungen <strong>der</strong> Besatzung die Habseligkeiten<br />
ihrer fortgetriebenen jüdischen<br />
Nachbarn aneigneten, wurde zur Metapher<br />
eines "polnischen Antisemitismus". Doch<br />
in welchem Verhältnis dazu steht <strong>der</strong> massenhafte<br />
Raub jüdischen Eigentums durch<br />
deutsche Behörden, Handelsunternehmen,<br />
Banken und an<strong>der</strong>e Institutionen, eine<br />
Beute, mit <strong>der</strong> die <strong>Deutsch</strong>en in den<br />
Kriegsjahren alimentiert wurde und die die<br />
Erben <strong>der</strong> damaligen Räuber bis heute fast<br />
ungeschmälert genießen?<br />
Vor einem Jahr traf <strong>der</strong> deutsche Bundeskanzler<br />
mit dem russischen Präsidenten<br />
Putin anlässlich <strong>der</strong> Moskauer Feiern zum<br />
60. Jahrestag <strong>der</strong> Kapitulation des <strong>Deutsch</strong>en<br />
Reiches zusammen. Sie feierten das<br />
Ende eines Krieges, <strong>der</strong> vom 22. Juni 1941<br />
bis zum 9. Mai 1945 dauerte - <strong>der</strong> Zeit des<br />
Krieges zwischen dem Dritten Reich und<br />
den UdSSR. W³adys³aw Bartoszewski,<br />
Auschwitz-Überleben<strong>der</strong>, Historiker und<br />
ehemaliger polnischer Außenminister<br />
sprach auf einer Konferenz über "Fakten<br />
und Lügen im Allgemeinwissen über den<br />
Holocaust" im November 2005 in Kraków:<br />
"Dies bedeutet, dass Millionen von Menschen<br />
sich dessen nicht bewusst sind, dass<br />
1939 und 1940 - vor dem 22. Juni 1941 -<br />
Ghettos und Lager in den Gebieten errichtet<br />
worden sind, welche die Nazis okkupiert<br />
hatten, und Menschen zu Tausenden<br />
ermordet wurden."<br />
Nein, die Frage <strong>der</strong> "polnischen Lager" ist<br />
keine Frage <strong>der</strong> "political correctness" und<br />
sie berührt mehr, als subjektive Empfindlichkeiten<br />
auf polnischer Seite. Es ist die<br />
Frage nach <strong>der</strong> historischen Wahrheit. ��<br />
Am Scheideweg<br />
Von Ma³gorzata Barwicka<br />
Wird die Stiftung "Polnisch-<strong>Deutsch</strong>e Aussöhnung"<br />
Ende dieses Jahres aufgelöst und<br />
werden 200 Mil. Z³., die sich auf ihrem<br />
Konto befinden, den Spen<strong>der</strong>n zurückgegeben?<br />
O<strong>der</strong> kommt sogar jemand auf die<br />
Idee, dieses Geld anstatt für die Unterstützung<br />
<strong>der</strong> Opfer des III. Reiches für an<strong>der</strong>e<br />
Ziele einzusetzen? Wie geht es weiter mit<br />
den bisher realisierten Projekten? Am 6.<br />
Januar wurde die alte Leitung <strong>der</strong> Stiftung<br />
abberufen und eine neue berufen, aber über<br />
<strong>der</strong>en Pläne ist nicht viel bekannt. Und die<br />
inoffiziellen Informationen, die unsere<br />
Redaktion bisher erreichten, stimmen nicht<br />
optimistisch.<br />
"Wir sind beunruhigt", sagt Marian Nawrocki,<br />
<strong>der</strong> Leiter vom Verband <strong>der</strong> im III.<br />
Reich geschädigten Polen. "Die Repräsentanten<br />
unserer 16 Wojewodschaftsverbände<br />
und 32 Regionalgruppen fragen, was in <strong>der</strong><br />
Stiftung los ist. Bisher informierten wir sie<br />
einmal wöchentlich über die Arbeit <strong>der</strong><br />
Stiftung über den Stand <strong>der</strong> Auszahlung <strong>der</strong><br />
Unterstützungen und an<strong>der</strong>er Aktivitäten<br />
für und mit den Geschädigten. Seitdem <strong>der</strong><br />
Vorstand ausgewechselt worden ist, besitzen<br />
wir keinerlei Informationen darüber",<br />
erklärt er. (…)<br />
Im Namen <strong>der</strong> Stiftung steht das Wort "Versöhnung".<br />
Ein Anhänger solch einer Versöhnung<br />
war <strong>der</strong> abberufene Vorsitzende<br />
<strong>der</strong> Stiftung, Jerzy Su³ek. Als die deutsche<br />
Presse über die Politiker von PiS [nationalkonservativ,<br />
heute Regierungspartei - d.<br />
Übers.] berichtete, unterstrich sie gewöhnlich<br />
<strong>der</strong>en antideutsche Neigung. Es fehlte<br />
nicht an Stimmen, die befürchteten, dass<br />
die Büchse <strong>der</strong> Pandora geöffnet würde und<br />
sich eine Spirale gegenseitiger For<strong>der</strong>ungen<br />
entwickeln würde. Der Präsident<br />
<strong>Polens</strong> ordnete noch als Präsident Warschaus<br />
an, die Verluste zu errechnen, die<br />
die Stadt während des II. Weltkrieges erlitten<br />
hat. Einer <strong>der</strong> Autoren diese Studie war<br />
<strong>der</strong> jetzige Vorsitzende <strong>der</strong> Stiftung. Die<br />
Studie entstand quasi als Antwort auf die<br />
durch die Preußische Treuhand aufgestellten<br />
For<strong>der</strong>ungen. (…)<br />
Ende 2006 ist die bisherige Mission <strong>der</strong><br />
Stiftung erschöpft. Dann enden nämlich die<br />
Auszahlungen von Leistungen an die<br />
Opfer. Gleichzeitig verbleiben auf dem<br />
Konto <strong>der</strong> Stiftung etwa 200 Mil. Z³. (…)<br />
Der vorherige Stiftungsvorstand meinte,<br />
dass dieses Geld Teil <strong>der</strong> Spenden ist und<br />
deshalb für sozial-humanitäre Hilfe zur<br />
Verfügung stehen müsse. (…) Von April<br />
DOKUMENTATION<br />
2004 bis Dezember 2005 zahlte die Stiftung<br />
an über 60.000 Personen 33 Mil. Z³.<br />
für sozial-humanitäre Hilfe aus. (…)<br />
Historiker und Politiker streiten heute über<br />
die zukünftige Aufgabe <strong>der</strong> Stiftung. Einige<br />
möchten, dass sie in ihrer bisherigen Form<br />
nicht weiter existieren sollte, d.h. sie sollte<br />
die Auszahlung von Gel<strong>der</strong>n an die Opfer<br />
des III. Reiches einstellen. Sie sagen, dass<br />
man auf ihrer Basis ein Gegenstück zum<br />
deutschen Zentrum gegen Vertreibungen<br />
bauen soll. Die Entwicklung eines solchen<br />
antideutschen Ortes gefällt ganz offensichtlich<br />
dem Kultusminister, <strong>der</strong> sich in diesem<br />
Sinne in <strong>der</strong> "Rzeczpospolita" äußerte. (…)<br />
Die Angestellten <strong>der</strong> Stiftung, mit denen<br />
wir gesprochen haben, sind darüber verbittert,<br />
dass man ihnen das Etikett "Diebe"<br />
anklebte, die die Opfer des Nazismus ausnutzen.<br />
Sie wissen nicht, was sie erwartet,<br />
welche Politik <strong>der</strong> neue Vorstand durchführen<br />
wird. Sie fürchten sich, sich zu weit aus<br />
dem Fenster zu legen, denn es gibt das<br />
Gerücht, dass bis Ende des Jahres von 119<br />
Angestellten im Januar (bei 109 Planstellen)<br />
etwa 30 verbleiben werden. Man überlegt,<br />
ob die Entlassung eines Archivangestellten<br />
<strong>der</strong> erste Vorbote war.<br />
Seit einigen Monaten wan<strong>der</strong>t die Ausstellung<br />
"Erinnerung bewahren" durch Polen,<br />
<strong>der</strong>en Eröffnung im September letzten Jahres<br />
im Königsschloss in Warschau stattfand.<br />
Mitte Januar konnten sie die Bewohner<br />
von Szczeciñ sehen. Jedoch fielen von<br />
den über 30 Stellwänden, die die Zwangsund<br />
Sklavenarbeit während <strong>der</strong> deutschen<br />
Besatzungszeit, die polnisch-deutschen<br />
Beziehungen sowie die Tätigkeit <strong>der</strong> Stiftung<br />
für die Versöhnung zwischen Polen<br />
und <strong>Deutsch</strong>land zeigen, einige heraus. Für<br />
entbehrlich hielt <strong>der</strong> neue Stiftungsvorstand<br />
eine Stellwand, die die Parafierung<br />
des Vertrages für Ausgleichzahlungen<br />
wegen des Kursfalls zeigen, als <strong>der</strong> Euro<br />
mit dem Zloty verrechnet wurde; eine<br />
zweite, die den Gründungskongress <strong>der</strong><br />
Union <strong>der</strong> Opfer des Nazismus zeigt (ein<br />
schlechtes Zeichen für die weitere Existenz<br />
dieser Organisation); sowie - was am meisten<br />
schockiert - eine Stellwand über die<br />
Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag <strong>der</strong><br />
Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.<br />
Die neue Leitung <strong>der</strong> Stiftung beabsichtigt<br />
ganz offensichtlich an<strong>der</strong>e Akzente<br />
zu setzen, wie sie offensichtlich auch die<br />
polnisch-deutsche Versöhnung an<strong>der</strong>s versteht.<br />
��<br />
(aus: Ma³gorzata Barwicka, Fundacja<br />
Pojednanie - Kto otworzy puszkê Pandory?<br />
Na Rozdro¿u, Trybuna Nr. 40 (4854),<br />
16 Februar 2006; Übersetzung: Wulf Schade,<br />
Bochum)<br />
POLEN und wir 2/2006 19
BUCHBESPRECHUNG<br />
Nicht nur für Polen<br />
kämpfend<br />
Eine Biografie von<br />
Claus Weyrosta ist erschienen<br />
Von Hans Kumpf<br />
Claus Weyrosta ist den Lesern und Leserinnen<br />
dieser Zeitschrift als langjähriges<br />
Mitglied des Bundesvorstands <strong>der</strong><br />
<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong><br />
BRD und als Grün<strong>der</strong> des Landesverbands<br />
Baden-Württembergs bekannt.<br />
Bis 1997 agierte er im Südweststaat als<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> unseres Vereins.<br />
Doch Weyrosta war mehr als nur ein<br />
Freund <strong>Polens</strong>, <strong>der</strong> schließlich mit dem<br />
Offizierskreuz des Verdienstordens <strong>der</strong><br />
Republik Polen ausgezeichnet wurde. Jörg<br />
Palitzsch, Redakteur bei <strong>der</strong> "Bietigheimer<br />
Zeitung", hat in emsiger Fleißarbeit ein<br />
Buch geschrieben, in dem auch ein Weyro-<br />
sta-Kenner viel Neues und Interessantes<br />
entdecken kann. Da wird die Familie des<br />
am 15. März 1925 in Breslau Geborenen<br />
vorgestellt und dessen Soldatenzeit<br />
beschrieben. Über seine eigenen Erlebnisse<br />
unmittelbar nach dem Hitlerüberfall auf<br />
das östliche Nachbarland hatte Claus Weyrosta<br />
bereits in dem Sammelband "Wach<br />
auf, es ist Krieg!" (ISBN 3-9801753-2-4)<br />
berichtet.<br />
Der Vertriebene schuftete zunächst als<br />
Maurer und studierte dann Architektur -<br />
und ließ sich in Bietigheim nie<strong>der</strong>. Als<br />
SPD-Abgeordneter im Landtag von Baden-<br />
Württemberg beschäftigte er sich vornehmlich<br />
mit <strong>der</strong> Ökonomie und Ökologie.<br />
20 POLEN und wir 2/2006<br />
Ein Regierungsamt blieb dem agilen Politiker<br />
jedoch versagt - allzu gerne wäre er ja<br />
1992 Staatssekretär in <strong>der</strong> (zweiten)<br />
Großen Koalition des Südweststaats<br />
geworden. An Ideen, For<strong>der</strong>ungen und<br />
Mahnungen mangelte es Weyrosta nie, er<br />
war eine Kämpfernatur, ein "Schlachtross"<br />
eben. Doch den Kampf gegen seine vielen<br />
Krankheiten verlor er schließlich - am 27.<br />
September 2003 verstarb er. Bei <strong>der</strong> Trauerfeier<br />
in <strong>der</strong> Bietigheimer Stadtkirche<br />
nahmen langjährige politische Weggefährten<br />
teil, so auch Lothar Späth und Erhard<br />
Eppler. Eine ehrende Ansprache hielt sein<br />
"Ziehsohn", Hans Martin Bury, damals<br />
noch Staatsminister im Außenministerium.<br />
Jetzt verfasste Bury für die Biografie ein<br />
Vorwort.<br />
Jörg Palitzsch ist in seiner Rolle als Buch-<br />
autor gewiss mehr ein penibler Chronist als<br />
ein kritischer Kommentator. Er bedient<br />
sich vieler Quellen - ohne Schwierigkeiten<br />
kam er natürlich an das Zeitungsarchiv von<br />
Weyrostas neuer Heimatstadt, aber auch<br />
die vielen hinterlassenen mit zahlreichen<br />
Dokumenten gespickten Leitz-Ordner des<br />
umtriebigen Politmenschen konnte er einsehen.<br />
So erfährt man beispielsweise etliche<br />
Details aus Briefwechseln zwischen<br />
ihm und Helmut Rid<strong>der</strong>, dem ehemaligen<br />
Bundesvorsitzenden <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n<br />
<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> BRD. ��<br />
Jörg Palitzsch: Das Schlachtross - Eine<br />
Annäherung an den Sozialdemokraten<br />
Claus Weyrosta (1925-2003); Mit einem<br />
Vorwort von Hans Martin Bury, Druckund<br />
Verlagsgesellschaft Bietigheim mbH,<br />
232 Seiten, 58 Fotos, gebunden, Preis<br />
22,90, ISBN 3-931843-12-2<br />
„Als viel angenehmer erlebte Claus Weyrosta eine weitere Reise des Vorstandes<br />
<strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong>, Landesgruppe Baden-Württemberg,<br />
vom 6. bis zum 10. Juni 1995 nach Polen. Über Nürnberg, Dresden<br />
und Görlitz ging es nach Katowice. Auf dem Programm standen<br />
Gespräche mit Vertretern örtlicher Umweltschutz- und Wirtschaftsbehörden,<br />
Verwaltungen, <strong>der</strong> Gewerkschaft SolidarnoϾ und <strong>der</strong> deutschen Min<strong>der</strong>heiten.<br />
Der Rektor <strong>der</strong> Polytechnischen Hochschule in Breslau (Wroc³aw),<br />
Andrzej Wiszinieski, überreichte Claus Weyrosta die Medaille <strong>der</strong> "Polytechnika<br />
Wroc³awska". Zum 85. Jubiläum <strong>der</strong> Technischen Universität in<br />
Breslau beschwor Weyrosta den europäischen Gedanken. "Viele Turbulenzen<br />
unserer gemeinsamen leidvollen Geschichte liegen hinter uns. Europa<br />
steht vor <strong>der</strong> Tür, für uns alle eine große Hoffnung! Polen hat nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />
<strong>Deutsch</strong>lands im Westen einen stabilen, demokratischen<br />
Nachbarn bekommen und Sie sind direkter Nachbar <strong>der</strong> EU und <strong>der</strong> NATO<br />
geworden. Diese neue Nachbarschaft lässt in vielen Bereichen auf eine polnisch-deutsche<br />
Interessengemeinschaft bauen, sie gibt <strong>der</strong> Außenpolitik<br />
Ihres Landes eine wichtige Orientierung. Ich bin überzeugt, dass sich Polen<br />
längst als ein Teil dieser europäisch vereinten Seele betrachtet, auch deshalb,<br />
weil es seine gemeinsamen Werte teilt und sich ihnen seit Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />
verpflichtet fühlt. So werden Brücken gebaut. Und wir gehen gerne darüber."<br />
Bei dem Besuch in Schlesien ging es auch um ganz konkrete wirtschaftliche<br />
Hilfe. Die Woiwodschaft Oppeln erfreute sich schon mannigfaltiger<br />
Hilfe aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, trotzdem wünschte<br />
man sich noch mehr deutsche Investoren und Joint Ventures. Der Auftrag<br />
an Weyrosta: Er solle im Landkreis Ludwigsburg für die 10 000 Einwohner<br />
zählende Gemeinde Korfantów eine Partnerstadt ausfindig machen. Weyrosta<br />
selbst sah sich allerdings nicht auf die Rolle des Brautwerbers<br />
beschränkt: "Wir waren Botschafter und Kundschafter zugleich", sagte er<br />
nach <strong>der</strong> Reise.<br />
Vertieft wurde das Thema im November 1995 bei einem Essen zu Ehren des<br />
polnischen Außenministers W³adys³aw Bartoszewski, zu dem Ministerpräsident<br />
Erwin Teufel ins Neue Schloss nach Stuttgart geladen hatte. Weyrosta<br />
wagte sich wie<strong>der</strong> einmal auf das diplomatische Parkett und warb für<br />
sein Projekt eines deutsch-polnischen Jugendtreffs. Sowohl Teufel als auch<br />
Bartoszewski sicherten ausdrücklich ihre Unterstützung zu.<br />
Textauszug aus: Jörg Palitzsch: Das Schlachtross, S. 184/5
"Ein Teil meines Herzens"<br />
von Wanda Przybylska<br />
Das Leben von Wanda war von ihrem 9.<br />
Lebensjahr an, von den Kriegsereignissen<br />
geprägt. Sie beginnt das Tagebuch 1942<br />
und führt es, mit Unterbrechungen, bis<br />
Ende August 1944, bis zu ihrem Tode. Sie<br />
wurde auf <strong>der</strong> Flucht mit ihren Eltern aus<br />
dem Zentrum <strong>der</strong> Kämpfe des Warschauer<br />
Aufstandes erschossen.<br />
Dieses Tagebuch ist in vielen Län<strong>der</strong>n<br />
Europas und in Japan bereits vor 40 Jahren<br />
erschienen. In <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
<strong>Deutsch</strong>land konnte damals kein Verlag<br />
gefunden werden. "Nicht zeitgemäß" war<br />
die Begründung. Auf Initiative von Jolanta<br />
Kolczynska, Freundin von Wanda und<br />
heute aktive Mitarbeiterin im Vorstand des<br />
Verbandes <strong>der</strong> Warschauer Aufständischen,<br />
und <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> für gute Nachbarschaft<br />
zu Polen, wurde vor einigen Jahren<br />
die Übersetzung in Angriff genommen.<br />
Die Suche nach einem Verlag war zermürbend.<br />
Auf einer Konferenz <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<br />
Ponischen <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
e. V. lernte ich den Verleger Helmut<br />
Donat mit seinem Verlagsprogramm kennen.<br />
Nach Kenntnisnahme <strong>der</strong> Rohübersetzung<br />
sagte er eine Veröffentlichung zu. Es<br />
begann nun die Feinarbeit, sowohl <strong>der</strong><br />
Übersetzerinnen (Lucie Ranft und Renate<br />
Weiß) als auch des Verlegers in Zusammenarbeit<br />
mit <strong>der</strong> Schwester <strong>der</strong> Tagebuchschreiberin,<br />
Jadwiga Przybylska-Wolf.<br />
Fünf Jahre nach <strong>der</strong> Bitte von Jolanta<br />
Kolczynska zu prüfen, ob ein Erscheinen in<br />
<strong>Deutsch</strong>land möglich wäre, ist das Büchlein<br />
dankenswerter Weise durch den<br />
Donat-Verlag verlegt worden, ohne finanzielle<br />
Zuwendungen, alles auf ehrenamtlicher<br />
Grundlage. Die Ausgabe ist rundum<br />
gelungen.<br />
60 Jahre nach dem Kriegsende ist das<br />
Tagebuch nun auch in <strong>Deutsch</strong>land präsent.<br />
Der Jahrestag war Anlass, vermittelst von<br />
Veranstaltungen, Ausstellungen, Publika-<br />
Von Renate Weiß<br />
Polen wird am 1. September 1939 von Nazideutschland überfallen. Es wird besetzt.<br />
Der Krieg führt durch Polen in die Sowjetunion und <strong>der</strong> Rückzug wie<strong>der</strong> durch<br />
Polen. Fast bis zum unmittelbaren Ende des Krieges wüten die Faschisten. Hinterlassen<br />
wird ein verwüstetes Land. Kaum eine Familie ist verschont geblieben. Das<br />
Tagebuch erscheint in <strong>Deutsch</strong>land 60 Jahre nach Beendigung des II. Weltkrieges,<br />
eines Krieges, <strong>der</strong> viele Millionen Menschenleben gekostet hat. Seine unmenschliche<br />
Wirkung ist noch heute gegenwärtig. Es ist fast unmöglich, sachlich über ein solch<br />
emotionsgeladenes Büchlein zu berichten. In dem vorliegenden Tagebuch schil<strong>der</strong>t<br />
ein polnisches Mädchen seine Gefühle und Erlebnisse in dieser Zeit des Terrors und<br />
<strong>der</strong> Qualen für das polnische Volk.<br />
tionen über das Grauen jener Zeit nachzudenken.<br />
Beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Jugend sollte mit<br />
diesem Tagebuch die Unmenschlichkeit<br />
dieses Krieges und <strong>der</strong> Kriege überhaupt<br />
nahegebracht werden.<br />
Im Geleitwort zur deutschen Ausgabe<br />
schreibt Hans Koschnick: "Hatte uns das<br />
Tagebuch <strong>der</strong> Anne Frank vor Jahrzehnten<br />
Anstoß zu einem solchen Nachdenken<br />
gegeben, es handelte von einer jungen jüdischen<br />
Heranwachsenden im Pubertätsalter,<br />
die über Monate hinweg in Amsterdam in<br />
einem Versteck leben musste und<br />
schließlich doch kurz vor <strong>der</strong> Befreiung im<br />
KZ Bergen-Belsen verstarb, so wird mit<br />
diesem hier vorliegenden Werk die Erfahrens-<br />
und Gedankenwelt einer gleichartigen<br />
polnischen Heranwachsenden aufgezeigt.<br />
Eindringlich werden sichtbar, mit<br />
welchen Belastungen und Empfindungen<br />
BUCHBESPRECHUNG<br />
die Lebensspanne dieser zur Frau Heranreifenden<br />
beschwert wird. Auch hier geht<br />
es um die authentische Wie<strong>der</strong>gabe einer<br />
Lebenssituation."<br />
Ein Leben mit dem Krieg<br />
Mit 12 Jahren beginnt Wanda das Tagebuch<br />
als "ein Teil ihres Herzens" zu schreiben.<br />
Sie ist ein ganz normales Mädchen mit<br />
Flausen im Kopf, aber auch mit Träumen.<br />
Immer wie<strong>der</strong> schreibt sie sich ihre Seele<br />
frei von den schrecklichen Erlebnissen des<br />
Krieges. Ihre Betrachtungen gehen weit<br />
über die Gedankenwelt einer 12 jährigen in<br />
friedlichen Zeiten hinaus. Sie stellt sich<br />
und ihren Freundinnen solche Fragen, wie:<br />
Was ist Glück? Was ist Wahrheit? Wozu<br />
sind Träume wichtig?<br />
Ihre Träume nehmen am Ende ihres Tagebuches,<br />
das so je beendet wurde, Gestalt<br />
an. Ein Aufsatz zeigt wie sie sich Warschau<br />
20 Jahre nach dem Kriege vorstellt. Sie<br />
nutzt auch die Briefform, um Ihre Gedanken<br />
zu äußern. Im Sommer 1942 schreibt<br />
sie an eine Freundin: ".....Danusia, hast Du<br />
schon gehört, wie sanft die Kiefern säuseln?<br />
Was hast Du in dem Moment<br />
gedacht? Hast Du irgendwann an unser<br />
Vaterland gedacht? ...... Ich sah, wie <strong>der</strong><br />
Krieg tobte und die um unser Vaterland<br />
kämpfenden Soldaten. Ich sah sehr viel<br />
Blut, Elend und Hunger. Ich sah vor Kälte<br />
Sterbende, hörte ihr Stöhnen und Weinen.<br />
Was dachtest Du an diesem traurigen Tag?"<br />
Das Mädchen ist 12 Jahre! Worüber<br />
machen sich unsere 12 Jahre alten Kin<strong>der</strong>,<br />
Enkel Gedanken?<br />
In ihrem Tagebuch werden die Ereignisse<br />
im Land und in Warschau reflektiert. Am<br />
24. April 1943 berichtet sie kurz über den<br />
Ghettoaufstand: "Schon seit einer Woche<br />
tobt ein erbitterter Kampf. Die Juden leisten<br />
im Ghetto Wi<strong>der</strong>stand. Alle paar<br />
Sekunden sind Kanonenschüsse und<br />
Gewehrschüsse zu hören."<br />
Nur ein paar Tage später am 3. Mai 1943<br />
äußert sie sich zum <strong>Polnische</strong>n Nationalfeiertag,<br />
dem Tag <strong>der</strong> Verfassung: "Heute<br />
gehe ich nicht zur Schule, denn es ist Feiertag.<br />
Es ist <strong>der</strong> 3. Mai, für die Polen ein<br />
großes Fest. Schon drei Jahre lang wurde<br />
dieser Feiertag nicht begangen. Wir, in den<br />
illegalen Schulen, feiern ihn trotzdem."<br />
<strong>Zur</strong> Arbeit im Untergrund gehörten illegale<br />
Schulen, sogar Universitäten. In <strong>der</strong> gleichen<br />
Notiz kommt sie noch einmal auf den<br />
Wie<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Juden im Ghetto zurück.<br />
"Es ist wahr, es sind nur noch sehr wenige,<br />
und sie verteidigen sich mit letzter Kraft.<br />
Fast das gesamte Ghetto brennt." Es wurde<br />
dem Erdboden gleich gemacht.<br />
Im zweiten Teil des Tagebuchs, nachdem<br />
POLEN und wir 2/2006 21
BUCHBESPRECHUNGEN<br />
sie etwa ein Jahr die Eintragungen unterbrochen<br />
hatte, schil<strong>der</strong>t sie die Zeit kurz<br />
vor dem Warschauer Aufstand, <strong>der</strong> am 1.<br />
August 1944 begann und den Warschauer<br />
Aufstand selbst. Am 24. Juli 1944 schreibt<br />
sie: "Es beginnt heiß zu werden, aber<br />
eigentlich ist es schon heiß. Der Krieg<br />
kommt eiligen Schritts daher. Die Bolschewisten<br />
scheinen Flügel zu haben, und die<br />
<strong>Deutsch</strong>en ebenso, nur dass sie fliehen."<br />
Wanda befindet sich zu dieser Zeit in<br />
Otwock bei Bekannten. "Ich schaue zu den<br />
Sternen und sehne mich nach Warschau. ...<br />
Warschau wurde bombardiert. Jeden<br />
Abend denke ich an meine Mutter, an meinen<br />
Vater, ... an die, die ich liebe und die in<br />
Gefahr sind! Ich denke an sie und sorge<br />
mich. ..." Nach Warschau zurückgekehrt<br />
beschreibt sie die Situation. "Nein - es ist<br />
schrecklich die ganze Woche über fielen<br />
Bomben. .... Nicht mehr lange und die<br />
Stunde des Blutvergießens ist da. Nicht<br />
mehr lange, und die Stunde des Kampfes<br />
schlägt....."<br />
Dienstag, den ersten August, ist es so weit.<br />
Die Nie<strong>der</strong>schrift zeugt von Angst, aber<br />
auch davon, wie sich Wanda selbst Mut<br />
macht. "Nach fünf Jahren flattern wie<strong>der</strong><br />
die weiß-roten Fahnen im Wind, beim Aufhängen<br />
je<strong>der</strong> Fahne klatschen wir. Angeblich<br />
geht alles einigermaßen, wahrscheinlich<br />
kann man sogar sagen, es geht gut"<br />
Tina Stroheker:<br />
"Lodzer Wörterbuch"<br />
Von Hans Kumpf<br />
Die Verständigung mit Polen ist <strong>der</strong> 1958<br />
in Ulm geborenen und nun in Eislingen<br />
bei Göppingen wohnenden Schriftstellerin<br />
Tina Stroheker eine Herzensangelegenheit.<br />
In ihren beiden Büchern "<strong>Polnische</strong>s<br />
Journal" und "Pommes Frites in<br />
Gleiwitz. Eine poetische Topographie<br />
<strong>Polens</strong>" vermittelte sie auf oft amüsante<br />
Weise viel Wissensreiches und Nachdenkenswertes<br />
über unser Nachbarland.<br />
Auch im "Lodzer Wörterbuch" kommen<br />
Historie, Gegenwärtiges sowie Sprachkundliches<br />
nicht zu kurz. 2002 nahm sie in<br />
Stuttgarts Partnerstadt ein Stipendium als<br />
Stadtschreiberin wahr. Nach dem ABC<br />
geordnet reiht Tina Stroheker Episoden<br />
und Eindrücke hintereinan<strong>der</strong> - beginnend<br />
mit "Ankunft", "Boot", "Brunnen", "Champignons",<br />
"Dreieinigkeit", "Erinnerung",<br />
endend mit "Wun<strong>der</strong>", "Xylophon",<br />
"Yesterday", "Zeit" und "Zwischen". Wie<strong>der</strong>kehrendes<br />
Thema ist das Spannungsfeld<br />
zwischen Polen, Juden und <strong>Deutsch</strong>en in<br />
<strong>der</strong> Textilstadt. An diesem Prosa-Bändchen<br />
fallen lyrische Verkürzungen auf, vielfach<br />
22 POLEN und wir 2/2006<br />
Wanda beschreibt das Auf und Ab des<br />
Kampfes <strong>der</strong> polnischen Kämpfer. Am 28.<br />
August kommt sie auf dem Hof ihres<br />
Wohnhauses wie<strong>der</strong> einmal in eine lebensbedrohliche<br />
Situation. Ihr Mantel beginnt<br />
zu brennen. Sie wirft ihn geistesgegenwärtig<br />
weg. Am 29 August ist die letzte Eintragung<br />
im Tagebuch und am 4. September<br />
stirbt Wanda auf <strong>der</strong> Flucht mit ihren Eltern<br />
und ihrer Schwester aus dem Zentrum <strong>der</strong><br />
Kämpfe.<br />
Das Buch wird vorgestellt<br />
Es ist den Mitglie<strong>der</strong>n unserer <strong>Gesellschaft</strong><br />
eine Herzenssache, vor allem <strong>der</strong> Jugend<br />
unserer Tage die Gedanken und Träume<br />
von Wanda nahe zu bringen, uns für eine<br />
friedliche und freundschaftliche Nachbarschaft<br />
einzusetzen. Deshalb freut es uns<br />
sehr, dass am 26. März 2006 in Bremen,<br />
am Erscheinungsort des Büchleins, im<br />
Theater eine Lesung stattfinden wird.<br />
Organisiert wird sie von dem Verleger Helmut<br />
Donat. Veranstalter ist die dortige<br />
<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong>. Teilnehmen<br />
wird auch Hans Koschnick Die<br />
Lesung selbst erfolgt durch Schauspieler<br />
des Theaters. An <strong>der</strong> Veranstaltung werden<br />
die ältere Schwester von Wanda, Jadwiga<br />
Przybylska-Wolf und die Freundin Jolanta<br />
Kolczyñska als Zeitzeugen teilnehmen.<br />
Beide waren aktiv an den Kämpfen des<br />
Sätze ohne Verben. Knapp und hart.<br />
Jeweils auf <strong>der</strong> linken Seite findet man den<br />
deutschen Urtext, daneben die Übersetzung<br />
von Tina Strohekers Freundin S³awa<br />
Lisiecka. Wer die vielen Andeutungen<br />
selbst nicht entschlüsseln kann, dem stehen<br />
im Anhang zahlreiche und detaillierte<br />
Fragen<br />
Warschauer Aufstandes beteiligt. Sie werden<br />
am 24. März in Berlin anreisen und<br />
von Lucie Ranft, Mitglied unserer <strong>Gesellschaft</strong><br />
nach Bremen begleitet. Nach <strong>der</strong><br />
Rückkehr aus Bremen, sind in Berlin unter<br />
Beteiligung dieser beiden Zeitzeugen<br />
Lesungen vorgesehen.<br />
Am 28. März 16.00 Uhr ist mit dem Lichtenberger<br />
Kulturverein e. V. in <strong>der</strong> KULT-<br />
Schule in Berlin Lichtenberg, Sewanstr. Nr.<br />
43, 10319 Berlin die erste Lesung vereinbart.<br />
Ebenso ist in <strong>der</strong> Reihe: "Literatur in<br />
Weißensee" eine Veranstaltung am 29.03.<br />
2006, 19.00 Uhr im Kulturverein<br />
Weißensee, Frei-Zeit-Haus Pistoriusstr. Nr.<br />
23, vorgesehen. Am 30.03 2006, 11.00 Uhr<br />
wird in <strong>der</strong> Anna-Seghers-Bibliothek in<br />
Berlin Hohenschönhausen unter Teilnahme<br />
von Schülern eine Lesung stattfinden.<br />
Darüber hinaus sind noch einmal in <strong>der</strong><br />
Zeit vom 8. bis 12. Mai 2006 eine Woche<br />
Lesungen, wie<strong>der</strong> mit den beiden Zeitzeuginnen<br />
vorgesehen. Zum Beginn dieser<br />
Woche wird am 8. Mai, 19.00 Uhr am Tag<br />
<strong>der</strong> Befreiung, eine Lesung im <strong>Polnische</strong>n<br />
Institut Berlin, Burgstr. 27, sein. Außerdem<br />
sind an vier bis fünf Schulen Lesungen<br />
geplant.<br />
Im Sinne von Wanda möchten wir so mit<br />
unseren Aktivitäten für eine menschliche<br />
Welt wirken. ��<br />
Erklärungen zur Verfügung. Kurzweilig<br />
und unbequem, eine lesenswerte Literatur.<br />
Tina Stroheker: "Lodzer Wörterbuch -<br />
S³ownik ³ódzki", 160 Seiten, kartoniert,<br />
Eislinger Edition (ISBN 3-929947-38-2 und<br />
Bibliotheka "Tygiel Kultury", £ódŸ (ISBN<br />
83-88552-33-3) ��<br />
Präsident K. wird eine Frau. Wahrheit o<strong>der</strong> Lüge? Der Gast vor Plakaten.<br />
Die Brü<strong>der</strong> K. haben den Mond gestohlen. Wahrheit o<strong>der</strong> Lüge? Wer fragt,<br />
wird nicht verraten. Noch nicht? Die Hiesigen verstehen die Anspielungen,<br />
ich brauche Hilfe, erst dann kann ich Jola Kwaœniewska grüßen und die<br />
Buben Jacek und Placek, die vor Jahren im Film den Mond stahlen. Meine<br />
Fragen sind an<strong>der</strong>s: Wo sitzen die Schachspieler aus dem Altstadtpark winters?<br />
Warum schwankt am Plac Wolnoœci <strong>der</strong> Boden, wenn eine Trambahn<br />
vorbei fährt? Wieso kann Frau Maria ihrer Tochter das Studium nicht bezahlen?<br />
Was tut die Alte vor <strong>der</strong> Marienkirche mit dem, was sie aufhebt, Papierfetzen,<br />
Laub, Kippen und Dosen? Warum ist die Verkäuferin feinster Eclairs,<br />
Cremerouladen und Windbeutel schlecht gelaunt? Warum gibt es in Baluty<br />
so viele Hunde? Warum existiert kein Museum über die Geschichte <strong>der</strong> Lodzer<br />
Juden? Warum mag ich den Stary Rynek so? Wen sucht das steinerne<br />
Hündchen an <strong>der</strong> Fassade <strong>der</strong> Villa Kin<strong>der</strong>mann? Warum mußte Zbyszek,<br />
<strong>der</strong> Dichter, so früh sterben? Warum sind diese Fragen so durcheinan<strong>der</strong>?<br />
(Auszug von Tina Stohekers "Lodzer Wörterbuch", Seite 26)
Ich interessierte mich bereits seit langem<br />
für die Prozesse in den osteuropäischen<br />
Län<strong>der</strong>n, insbeson<strong>der</strong>e für mein Nachbarland<br />
Polen. Dieses Interesse deckt sich<br />
auch mit meinem Wunsch, an <strong>der</strong> Europauniversität<br />
Viadrina Frankfurt (O<strong>der</strong>) zu studieren.<br />
Das Finden einer richtigen Entsendeorganisation<br />
für<br />
den EuropäischenFreiwilligendienst<br />
(EVS) hat<br />
einige Zeit<br />
in Anspruchgenommen<br />
und die vielenorganisatorischen<br />
Sachen haben<br />
nur<br />
durch hartnäckiges<br />
Nachhaken<br />
geklappt.<br />
Doch letztendlich hat alles funktioniert.<br />
Die Vorbereitungsseminare haben über<br />
Rechte und Pflichten, Versicherungen und<br />
Schutz aufgeklärt, sowie sich aber größtenteils<br />
mit <strong>der</strong> psychischen Vorbereitung<br />
befasst.<br />
Und dann ging alles sehr schnell. Der Zug<br />
brachte mich in ein Leben, das bis heute<br />
wie ein Schnelldurchlauf an mir vorbeigerauscht<br />
ist. Wir waren zwölf neue Freiwillige<br />
aus aller Herren Län<strong>der</strong> gewesen, die<br />
Mitte September das stille Örtchen Sorkwity<br />
bei unserer Aufnahmeorganisation<br />
Camp Rodowo in den Masuren erreichten.<br />
Nach einem zweiwöchigen Sprachkurs<br />
wurde es ernst.<br />
Wir Masurschen Freiwilligen werden auf<br />
kleine Städtchen verteilt, die im Winter von<br />
beson<strong>der</strong>s hoher Arbeitslosigkeit und<br />
Mogê pomóc?<br />
(Kann ich Helfen?)<br />
Erfahrungsbericht einer 20-jährigen<br />
europäischen Freiwilligen in den Masuren<br />
Von Franziska Schnei<strong>der</strong><br />
Als auf dem Bahnsteig die Türen des Zuges nach Polen meine Eltern und mich mit<br />
drei dicken Taschen am 17. September 2005 trennten, fühlte ich mich wie ein verlassenes,<br />
abgestoßenes Vögelchen, das von einer auf die an<strong>der</strong>e Sekunde fliegen können<br />
muss. Es war mein eigener Wille nach dreizehn Jahren Schule und Abitur endlich die<br />
Welt kennen zu lernen und meine eigenen Erfahrungen zu sammeln. Lehrbücher<br />
hatte ich genug gewälzt und zugehört habe ich auch lange genug. Es wurde Zeit für<br />
mich, endlich meinen Lebensdurst an <strong>der</strong> Welt zu stillen.<br />
Armut betroffen sind. Ich hatte mich für<br />
Miko³ajki entschieden. Dieser Touristenanziehungspunkt<br />
im Sommer gleicht im Winter<br />
einem zurückgezogenen Dörfchen.<br />
Die richtige Wahl<br />
Wie wird sich meine Arbeit gestalten? Wie<br />
werde ich aufgenommen? In was für eine<br />
Kin<strong>der</strong>gartengruppe in Miko³ajki - Foto: Franziska Schnei<strong>der</strong><br />
Gastfamilie werde ich kommen? Werde ich<br />
mich jemals in einem an<strong>der</strong>en Land einleben<br />
o<strong>der</strong> werde ich als eine deutsche Touristin<br />
abgestempelt? Mittlerweile haben sich<br />
diese ersten Ängste und Überlegungen in<br />
einem ausgefüllten, organisierten Leben in<br />
Miko³ajki geklärt. Ich wurde überall mit<br />
einem freundlichen Lächeln aufgenommen<br />
und man bemüht sich so gut es geht, mich<br />
zu unterstützen. Es wird sich, wenn es<br />
nicht an<strong>der</strong>s geht, mit Händen und Füßen<br />
unterhalten. Das Interesse, das die Menschen<br />
an mir und meinem Leben bekunden,<br />
zeigt mir, dass ich nicht als eine deutsche<br />
Touristin aufgenommen werde. Die Achtung,<br />
die mir entgegengebracht wird, weil<br />
ich fast ein Jahr aus meinem Heimatland in<br />
ein an<strong>der</strong>es Land gehe, gibt mir genug<br />
BEGEGNUNGEN<br />
Kraft, meine eigene Sehnsucht nach <strong>der</strong><br />
Familie zu lin<strong>der</strong>n.<br />
Ich bin sehr glücklich mit meinen Projekten<br />
und meinen Aufgaben in dieser kleinen<br />
Stadt. Beson<strong>der</strong>s hervorzuheben an dem<br />
EVS in Miko³ajki ist, dass ich viele Möglichkeiten<br />
habe, in verschiedenen Einrichtungen<br />
tätig zu werden. Die Projekte setzten<br />
keine unüberwindbaren Grenzen. Ich<br />
arbeite zwei Mal die Woche in einer Fünfjährigen<br />
Kin<strong>der</strong>gartengruppe und in einer<br />
Tagesbeschäftigungsstätte für behin<strong>der</strong>te<br />
Menschen. Dort kann ich meiner Kreativität<br />
freien Lauf lassen und lerne, mich mit<br />
<strong>der</strong> polnischen Sprache mehr und mehr zu<br />
verständigen. Eine Arbeit, die mir oft zeigt,<br />
wie schön und gleichzeitig auch hart das<br />
Leben sein kann. Wenn ich nachmittags<br />
geschafft vom Kin<strong>der</strong>geschrei in mein<br />
Zimmer komme, bewun<strong>der</strong>e ich den Job<br />
einer Kin<strong>der</strong>gärtnerin, die sich jeden Tag<br />
darum bemüht, die Kin<strong>der</strong> auf das Leben<br />
vorzubereiten. Die Erfahrung, dass meine<br />
Hilfe gern angenommen wird und einfacher<br />
menschlicher Kontakt einen so mit<br />
Glück erfüllen kann, habe ich in den 13<br />
Jahren Schule nie gemacht.<br />
Den Grossteil meiner restlichen Arbeitszeit<br />
befinde ich mich im "Marion Dönhoff<br />
Lyzeum". Gräfin Marion Dönhoff war<br />
Chefredakteurin und Herausgeberin <strong>der</strong><br />
Wochenzeitung "Die Zeit". Sie hatte sich<br />
als Antifaschistin beson<strong>der</strong>s für die Verständigung<br />
<strong>Deutsch</strong>lands mit den Völkern<br />
Osteuropas eingesetzt. Hierin sehe ich<br />
meine Aufgabe auch als eine Vermittlung<br />
<strong>der</strong> Kenntnisse von Geschichte und Gegenwart<br />
bei<strong>der</strong> Völker. Das Wissen übereinan<strong>der</strong><br />
steht an erster Stelle und ich versuche<br />
als <strong>Deutsch</strong>e, Vorurteile und Misstrauen<br />
gegenüber <strong>Deutsch</strong>land aufzuklären und<br />
bestenfalls abzubauen. Mir werden alle<br />
Türen offen gehalten, damit ich einen realistischen<br />
Eindruck von meinem Nachbarland<br />
Polen bekomme. Durch die sehr gute<br />
sprachliche Ausbildung in <strong>Deutsch</strong> und<br />
Englisch, hat sich die Schule einen Namen<br />
gemacht. Ich gebe unter an<strong>der</strong>em auch den<br />
Schülern die Möglichkeit einer <strong>Deutsch</strong>konversation.<br />
Lei<strong>der</strong> sind durch den vorrangigen<br />
Erwerb von Sprachkenntnissen,<br />
jegliche künstlerisch, kreativen Fächer verbannt<br />
worden. Aber da die Schüler enormes<br />
Interesse und Talent aufweisen, haben<br />
wir Europäischen Freiwilligen mit zwei<br />
Lehrern <strong>der</strong> Schule eine Musikgruppe und<br />
eine Theatergruppe gegründet.<br />
Ich versuche auch mein Interesse an <strong>der</strong><br />
gemeinsamen Geschichte unserer beidenrVölker<br />
und das Miteinan<strong>der</strong> auf <strong>der</strong><br />
Basis <strong>der</strong> gegenseitigen Akzeptanz und<br />
Kooperation in einem historischen Projekt<br />
zum Ausdruck zu bringen. Zusammen mit<br />
POLEN und wir 2/2006 23
BEGEGNUNGEN<br />
einem Europäischen Freiwilligen aus<br />
Frankreich habe ich mich mit dem sehr vernachlässigten<br />
jüdischen Friedhof in<br />
Miko³ajki beschäftigt. Wir haben einige<br />
interessierte Bürger von Miko³ajki zur Mitarbeit<br />
gewonnen und mit <strong>der</strong> Unterstützung<br />
des Marion-Dönhoff-Lyzeums ein Projekt<br />
<strong>der</strong> Restauration und geschichtlichen Aufarbeitung<br />
organisiert.<br />
Nicht nur Spielen<br />
und Beschäftigung<br />
Die jüdische Stiftung "Fundacji Ochrony<br />
Dziedzictwa ¯ydowskiego" bietet ein Projekt<br />
speziell für Schulen an, in dem darauf<br />
Wert gelegt wird, diese wichtigen Erinnerungen<br />
an die und Mahnung aus <strong>der</strong><br />
Geschichte mit Jugendlichen aufzuarbeiten<br />
und sie in die Pflege des Geländes einzubeziehen.<br />
Wir versuchen das Interesse <strong>der</strong><br />
BürgerInnen von Miko³ajki auf das historische<br />
Erbe zu lenken und hoffen, dass das<br />
Projekt nicht nur formelle, son<strong>der</strong>n lebendige<br />
Form annimmt. In den lokalen Medien<br />
haben wir unser Projekt bereits vorgestellt.<br />
Aktuelle Diskussionen und die politischen<br />
Entwicklungen in Polen versuche ich zu<br />
beobachten, sowie Probleme und<br />
Umgangsweisen <strong>der</strong> Menschen zu verstehen.<br />
Ich möchte den Menschen in<br />
Miko³ajki zeigen, dass es nicht nur Touristengruppen<br />
gibt, die das wun<strong>der</strong>schön<br />
gelegene Städtchen im Sommer bevölkern<br />
und zum Leben erwecken, son<strong>der</strong>n auch<br />
Radtour <strong>der</strong> guten<br />
Nachbarschaft<br />
2006 finden wie<strong>der</strong> die von <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
für gute Nachbarschaft zu Polen<br />
organisierten, inzwischen traditionellen<br />
Radtouren statt, die mit ihren polnischen<br />
Partnern vom LZS Gorzów organisiert<br />
werden:<br />
Vom 24.06.-01.07.2006 die Radtour <strong>der</strong><br />
guten Nachbarschaft nach Mielno an<br />
<strong>der</strong> Ostsee und<br />
vom 22. - 29.07.2006 das Fahrrad und<br />
Wan<strong>der</strong>camp in Kaszuby (Kaschubien);<br />
diese wald- und seenreiche Landschaft<br />
befindet sich südwestlich von Gdañsk/<br />
Danzig.<br />
Der TeilnehmerInnenbetrag enthält die Leistungen<br />
während <strong>der</strong> Radtour bzw. während<br />
des Camps und 10,- Euro Organisationsaufwand<br />
für die <strong>Gesellschaft</strong> für gute<br />
Nachbarschaft. Die Teilnehmergebühren<br />
betragen:<br />
- Radtour <strong>der</strong> guten Nachbarschaft 330,-<br />
Euro p.P.;<br />
- Fahrrad- und Wan<strong>der</strong>camp 310,- Euro<br />
p.P., zusätzlich fallen hier 60,- Euro als<br />
24 POLEN und wir 2/2006<br />
lernbegeisterte Auslän<strong>der</strong>. Es lässt sich<br />
schwer in einem Satz zusammenfassen,<br />
wie viel ich bisher erfahren habe. Vor allem<br />
die polnischen Mentalitäten, Kulturen und<br />
Lebensverhältnisse werden mir in einer<br />
sonst schwer möglichen Ansicht gezeigt.<br />
Das gemeinsame Wohnen mit einer polnischen<br />
Gastfamilie, die vielen Gespräche<br />
mit Lehrern, aber auch einfach einer Verkäuferin,<br />
eröffnen mir einen lebendigen<br />
Blick in polnische Verhältnisse. Ich erfahre<br />
und lerne auf direktem Weg und kann<br />
durch eigene Initiative die Mentalitäten<br />
und Traditionen miterleben. Für neun<br />
Monate in einem an<strong>der</strong>en Land zu leben,<br />
heißt, einen direkten Blick in die Landesund<br />
Kommunalpolitik, die Familienverhältnisse,<br />
den Lebensstandard und die Traditionen<br />
zu erhalten.<br />
Rücksichtnahme und<br />
gegenseitige Verständigung<br />
Ich sehe meine Aufgabe darin, den europäischen<br />
Gedanken nach Polen zu tragen und<br />
dazu beizutragen, dass er verfestigt und<br />
weiterentwickelt wird. Durch meine Arbeit<br />
führe ich Nationen zueinan<strong>der</strong> und kann<br />
einen weltoffeneren und globalen Blick auf<br />
die Welt för<strong>der</strong>n. Die geschlossene<br />
Gemeinschaft, die gegenseitige Hilfe und<br />
Rücksichtsnahme, die Freuden über Kleinigkeiten<br />
im Leben zeigen mir Tag für Tag,<br />
dass Liebe und Frieden gegenüber allen<br />
Menschen das Leben enorm erleichtern<br />
Transportkosten für den Bus an (jedoch<br />
nur, wenn alle Teilnehmer den Bus auch<br />
nutzen). Für das Fahrrad- und Wan<strong>der</strong>camp<br />
ist eine Mindestteilnehmerzahl von 25<br />
erfor<strong>der</strong>lich. Da unsere polnischen Partner<br />
zur Bindung <strong>der</strong> Quartiere Vorauszahlungen<br />
leisten müssen, sind wie<strong>der</strong> Ratenzahlungen<br />
fällig.<br />
Weitere Informationen kann man auch im<br />
Internet unter www.gutenachbarn.de finden.<br />
Wir bitten alle, die das Internet nutzen,<br />
uns mit <strong>der</strong> Anmeldung ihre Email-Adressen<br />
mitzuteilen, damit wir Informationen<br />
effektiver verbreiten können. Geplant ist,<br />
Email-Nutzern die Rundschreiben und sonstigen<br />
Informationen nur noch online<br />
zukommen zu lassen.<br />
Anmeldung/Rückfragen: Mirko Buggel,<br />
Gustav-Kurtze-Promenade 58, 15344<br />
Strausberg, Tel.: 03341/486561, Email:<br />
m.buggel@guteNachbarn.de<br />
Sprachradtouren 2006<br />
Seit 2003 fanden 11 "Sprachradtouren" am<br />
Wochenende statt. Wie bisher freuen wir<br />
uns über jede Person, die gern gemütliches<br />
Radfahren mit dem Erlernen und Anwen-<br />
können. Vielleicht liegt es hier auch an den<br />
sehr eisigen Temperaturen, dass man sich<br />
mehr Herzenswärme entgegenbringt. Doch<br />
selbst diese Kälte draußen, entzündet in<br />
mir ein Feuer. Ein Feuer <strong>der</strong> Lust zu Helfen<br />
und dafür einfach nur ein breites, aber noch<br />
ungeschminktes Kin<strong>der</strong>lächeln entgegen<br />
zu nehmen.<br />
Ein Lächeln für die Welt<br />
Heute sehe ich, dass sich die Zugtüren am<br />
Beginn meiner Reise nicht geschlossen,<br />
son<strong>der</strong>n mir die Richtung in mein zukünftiges<br />
Leben gezeigt haben. Trotz aller Sehnsüchte,<br />
Missverständnisse und Schwierigkeiten,<br />
habe ich in diesen fünf Monaten so<br />
viel gelernt, gesehen und selber ausprobiert,<br />
dass ich einen Europäischen Freiwilligendienst<br />
nur jedem ans Herz legen kann.<br />
Die Chancen, sich selbst zu verwirklichen<br />
und zu erfahren wie das Leben in an<strong>der</strong>en<br />
Län<strong>der</strong>n ist, ohne das Gefühl alleine dazustehen,<br />
ist eine Bereicherung für das ganze<br />
Leben. Doch nicht nur das, auch die Freiheit,<br />
sein Leben selbst zu gestalten und die<br />
Zeit zu nutzen, über sich und seine Zukunft<br />
nachzudenken, ist gerade in <strong>der</strong> schwierigen<br />
Zeit heute ein großes Privileg. Die<br />
Herzenswärme, die Freundlichkeit und die<br />
vielen lächelnden Kin<strong>der</strong>gesichter kann<br />
mir keiner aus meinen Erinnerungen nehmen<br />
und ich bin mir sicher, dass ich hier<br />
Hilfe und Freunde für mein Leben gefunden<br />
habe. ��<br />
den <strong>der</strong> für RadfahrerInnen wichtigen polnischen<br />
Redewendungen, dem Kennenlernen<br />
<strong>der</strong> polnischen grenznahen Regionen<br />
und dem Erleben einer angenehmen Atmosphäre<br />
in einer Gruppe von max. 8 Personen<br />
verbinden möchte. Die Touren beginnen<br />
jeweils am Sonnabend in einer grenznahen<br />
Stadt, führen über max. 50 km auf<br />
meist schwach befahrenen Strassen zu<br />
einer preiswerten Unterkunft und am Sonntag<br />
über ebenfalls max. 50 km zu einem<br />
grenznahen Bahnhof. In den Pausen<br />
beschäftigen wir uns z.B. mit Themen wie<br />
"Im Restaurant", "Erkundigung nach dem<br />
Weg", "Im Hotel". Vielen gelang es, die<br />
Angst, einen Polen in dessen Muttersprache<br />
anzusprechen, zu überwinden.<br />
Termine: April, Kostrzyn - Sulecin -<br />
Frankfurt/O, ca. 100 km<br />
Mai: Schwedt - Chojna - Bad Freienwalde,<br />
(einzige Tour für Radler ohne Polnischkenntnisse),<br />
ca. 85-90 km<br />
Juni o<strong>der</strong> Juli, Kostrzyn - Osno Lubuskie<br />
- Kostrzyn, pro Tag ca. 40 km u.a.<br />
Interessenten wenden sich bitte an<br />
Michael Dressel, Tel. 030-9328645, e-<br />
Mail: michadressel@t-online.de ��
NEULANDPOGRANICZE<br />
Fotografieprojekt <strong>der</strong> OSTKREUZ Schule für<br />
Fotografie & Gestaltung Berlin<br />
„Woher kommt noch mal ihr Kollege?“,<br />
Krzysztof Dorniak beugt sich verstohlen<br />
hinüber zu Ula, einer polnischen Fotostudentin,<br />
die gerade Fragen ihres deutschen<br />
Kollegen Peter übersetzt hat. „Aus <strong>der</strong><br />
DDR“, sagt sie und Krzysztof Doniak<br />
lacht. „Na dann ist er ja so was wie ein Bru<strong>der</strong>“,<br />
sagt <strong>der</strong> Baggerfahrer aus Bogatynia<br />
(dt. Reichenau) und nippt an seinem kalt<br />
gewordenen Kaffee.<br />
Krzysztof Dorniak, Mitte 40 und Vater von<br />
vier Kin<strong>der</strong>n, ist Operator im Braunkohletagebau<br />
von Bogatynia, dem größten Kohleför<strong>der</strong>gebiet<br />
an <strong>der</strong> polnisch-deutschen<br />
Grenze. Mit seinem tonnenschweren Baggerkran<br />
bricht er Lehm und Kohle aus dem<br />
Boden. Ein Großteil davon wird im Kraftwerk<br />
<strong>der</strong> polnischen Kleinstadt zu Strom<br />
umgewandelt und auch nach <strong>Deutsch</strong>land<br />
Von Kai Ziegner<br />
Seit November 2004 arbeiten 15 deutsche und polnische Fotografiestudentinnen und<br />
-studenten gemeinsam an einem Fotografieprojekt über das Grenzgebiet zwischen<br />
<strong>Deutsch</strong>land und Polen. Dabei stehen Themen wie Lebensträume, Existenz, Vorurteile<br />
o<strong>der</strong> Vertreibung im Mittelpunkt. Von Mai bis Oktober 2006 zeigen die Studenten<br />
ihre Arbeiten im Rahmen einer ungewöhnlichen Ausstellung auf <strong>der</strong> neuen<br />
Stadtbrücke zwischen Görlitz und Zgorzelec. Dazu werden Fotografien großformatig<br />
vergrößert, wetterfest gemacht und so auf <strong>der</strong> Brücke installiert, dass Interessierte<br />
die Ausstellung als frei begehbare Galerie zwischen den Grenzstädten besuchen<br />
können. <strong>Zur</strong>zeit suchen die Studentinnen noch nach Unterstützung und Kooperationspartnern.<br />
Foto: Urszula Wolek, OSTKREUZ Schule für Fotografie<br />
geliefert. Krzysztof Dorniak steht im Mittelpunkt<br />
einer Reportage über den Kohlebergbau<br />
in Polen, die Peter, Student an <strong>der</strong><br />
Ostkreuzschule, für das Projekt NEU-<br />
LANDPOGRANICZE machen möchte. 14<br />
Tage lang will <strong>der</strong> junge, deutsche Fotograf<br />
den Baggerfahrer, seine Kollegen und ihre<br />
Familien mit <strong>der</strong> Kamera begleiten und so<br />
eine Geschichte über Bogatynia und die<br />
Braunkohle erzählen. Ohne die Hilfe seiner<br />
polnischen Kommilitonin Ula, die auch an<br />
<strong>der</strong> Ostkreuzschule in Berlin studiert, wäre<br />
er wohl nie bis in das Wohnzimmer von<br />
Krzysztof Dorniak vorgedrungen. Die<br />
Sprache hat dem Fotografen die Türen<br />
geöffnet.<br />
Begegnungen und Kooperationen wie<br />
diese machen den Charakter des Fotografieprojektes<br />
NEULANDPOGRANICZE<br />
BEGEGNUNGEN<br />
aus. Über ihre Bil<strong>der</strong> und durch die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Sprache und Kultur,<br />
finden die jungen Leute zu einem Verständnis<br />
füreinan<strong>der</strong>, das ihren Eltern o<strong>der</strong><br />
Großeltern oft verwehrt geblieben ist.<br />
Das Projekt haben die Studenten und Studentinnen<br />
in Eigenregie entwickelt. Ute<br />
Mahler, Leiterin <strong>der</strong> Fotoklasse, renommierte<br />
Porträtfotografin und Gründungsmitglied<br />
<strong>der</strong> Berliner Fotoagentur OST-<br />
KREUZ, unterstützt sie in <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong><br />
Bil<strong>der</strong> und gibt Anregungen für die Projektarbeit.<br />
Alles an<strong>der</strong>e obliegt <strong>der</strong> Tatkraft<br />
und dem Engagement <strong>der</strong> StudentInnen.<br />
<strong>Polnische</strong> Partner suchen und finden, Themen<br />
recherchieren, Unterstützer und Geldgeber<br />
überzeugen o<strong>der</strong> das Konzept für die<br />
Ausstellung entwickeln, alles ist Teil <strong>der</strong><br />
Ausbildung in <strong>der</strong> Fachklasse an <strong>der</strong> Ostkreuzschule.<br />
Die Schule hat sich zum Ziel<br />
gesetzt, eine neue Generation von Fotografen<br />
und Fotografinnen heranzubilden, die<br />
auch jenseits von Kameratechnik und<br />
Computern Wege finden, Stellung zu<br />
beziehen und Meinungen in Bildform zum<br />
Ausdruck zu bringen.<br />
„Kannst Du mir einen Brief schreiben,<br />
damit ich ins Ballhaus reinkomme?“, fragt<br />
Mariusz Forecki, Fotografiestudent aus<br />
Poznañ, in seiner Email an die deutsche<br />
Studentin Dorothee. Forecki will einen<br />
Ball in Bad Muskau fotografieren, Englisch<br />
spricht er, nur eben <strong>Deutsch</strong> nicht.<br />
Nach zwei Telefonaten mit <strong>der</strong> deutschen<br />
Veranstalterin des Balls und einer schriftlichen<br />
Bitte um Fotoerlaubnis kann Mariusz<br />
Forecki seine Bil<strong>der</strong> machen.<br />
Ein Jahr ist inzwischen vergangen, die meisten<br />
StudentInnen haben ihre Arbeiten<br />
schon abgeschlossen. Jetzt kommt die<br />
schwierigste Phase des Projektes, die<br />
gemeinsame Fotoauswahl, <strong>der</strong> Kampf um<br />
lieb gewordene Bil<strong>der</strong>. Mitte April muss<br />
die Auswahl stehen, denn ein Teil <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong><br />
soll im Rahmen von Wan<strong>der</strong>ausstellungen<br />
im Grenzgebiet, in <strong>Deutsch</strong>land und<br />
Polen gezeigt werden. Nicht alle StudentInnen<br />
haben während <strong>der</strong> 12 Monate an<br />
das Projekt geglaubt. Jetzt, wenige Wochen<br />
vor <strong>der</strong> Präsentation sind auch die ärgsten<br />
Zweifler und Zweiflerinnen wie<strong>der</strong> versöhnt.<br />
„Wenn es das Projekt nicht gäbe,<br />
wäre ich nie nach Polen gefahren“, sagt die<br />
Studentin Dorothee während einer Unterrichtsstunde<br />
an <strong>der</strong> Berliner Fotoschule. ��<br />
Kontakt: OSTKREUZ Schule für Fotografie<br />
& Gestaltung Berlin, Fachklasse<br />
Ute Mahler, Tel. 030. 927 944 14,<br />
www.ostkreuzschule.de<br />
OSTKREUZ, Agentur <strong>der</strong> Fotografen<br />
Berlin, Geschäftsführer Werner Mahler,<br />
Tel. 030.473 739 3, www.ostkreuz.de<br />
POLEN und wir 2/2006 25
AUSSTELLUNG<br />
"Polenbegeisterung. <strong>Deutsch</strong>e und Polen<br />
nach dem Novemberaufstand 1830"<br />
Eine Ausstellung im <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Jahr 2005/2006<br />
Anlässlich des "<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Jahres 2005/2006" zeigen das Königliche<br />
Schloss in Warschau und das Museum Europäischer Kulturen - Staatliche Museen<br />
zu Berlin die Ausstellung "Polenbegeisterung. <strong>Deutsch</strong>e und Polen nach dem Novemberaufstand<br />
1830". Die Ausstellung thematisiert den polnischen Novemberaufstand<br />
von 1830, <strong>der</strong> sich am 29. November 2005 zum 175. Male jährte. Sie zeigt die Dramatik<br />
des Aufstandsgeschehens und die Reflexionen in Europa und vor allem in<br />
<strong>Deutsch</strong>land auf dieses Ereignis. Dazu zählt die großartige Solidarität mit den Trägern<br />
dieser Freiheitsbewegung, die nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung aus Polen durch<br />
<strong>Deutsch</strong>land in an<strong>der</strong>e europäische Län<strong>der</strong> insbeson<strong>der</strong>e nach Frankreich fliehen<br />
mussten.<br />
Die Ausstellung zeigt ca. 250 Exponate<br />
von mehr als 40 Leihgebern aus Polen,<br />
<strong>Deutsch</strong>land, <strong>der</strong> Schweiz und Frankreich.<br />
Darunter sind so hochkarätige Objekte wie<br />
<strong>der</strong> Autograph <strong>der</strong> "Polonia-Ouvertüre"<br />
von Richard Wagner, die unmittelbar im<br />
Los des Frankfurter Frauen- und Mädchenvereins zur<br />
Unterstützung <strong>der</strong> verbannten Polen, 1832<br />
© Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main<br />
Zusammenhang mit diesen Ereignissen<br />
komponiert wurde. Ebenso eindrücklich ist<br />
das Gemälde "Finis Poloniae 1831 o<strong>der</strong><br />
Der Polen Abschied vom Vaterlande" von<br />
Dietrich Monten aus <strong>der</strong> Alten Nationalgalerie<br />
<strong>der</strong> Staatlichen Museen zu Berlin, das<br />
prägnanteste Beispiel für die deutsche Solidarität.<br />
Nachdem die Ausstellung im Dezember<br />
26 POLEN und wir 2/2006<br />
und Januar in Warschau gezeigt wurde,<br />
wird sie vom 3. März bis 30. April in Berlin<br />
zu sehen sein. Geöffnet ist sie täglich<br />
außer Monat von 10 bis 18 Uhr.<br />
Ergänzend zu dieser großen Ausstellung<br />
findet eine kleine Ausstellung mit dem<br />
Titel „Ein europäischerFreiheitskämpfer<br />
- Ludwik Mieroslawski<br />
1814-1878“<br />
statt. Der sich Zeit<br />
seines Lebens als<br />
Pole fühlende Ludwik<br />
Mieros³awski,<br />
als Sohn einer französischen<br />
Mutter<br />
und eines polnischen<br />
Vaters 1814 in<br />
Nemours geboren,<br />
wirkte in den 1840er<br />
Jahren an mehreren<br />
Orten Europas als<br />
Anführer revolutionärer<br />
Aufstände.<br />
Weit über Polen hinaus<br />
gilt <strong>der</strong> General,<br />
Schriftsteller und Publizist Mieros³awski<br />
als Kopf eines Freiheits- und Unabhängigkeitswillens,<br />
nicht zuletzt, da er sein Engagement<br />
für eine freie polnische Nation mit<br />
einer frühen Form von Internationalität<br />
verbunden hatte. Zudem stand Ludwik<br />
Mieros³awski in Kontakt mit herausragenden<br />
Persönlichkeiten seiner Zeit, so zum<br />
Beispiel mit Bettina von Arnim, die sich<br />
während seiner Berliner Inhaftierung für<br />
ihn einsetzte, und Alexan<strong>der</strong> von Humboldt.<br />
Diese exponierte Biografie des polnischen<br />
Freiheitskämpfers, <strong>der</strong> Fußnoten in<br />
den Geschichtsbüchern <strong>Polens</strong>, <strong>Deutsch</strong>lands,<br />
Frankreichs und Italiens hinterlassen<br />
hat, zeigt das Museum Europäischer Kulturen<br />
in <strong>der</strong> Kabinettausstellung in <strong>der</strong> Alten<br />
Nationalgalerie Berlin: Geöffnet täglich<br />
ausser Montags von 10 bis 18 Uhr, Donnerstags<br />
bis 22 Uhr. Die Eröffnung dieser<br />
Ausstellung findet am 28.3. um 18<br />
Uhr mit einem Vortrag von Daniela<br />
Fuchs statt. Aber auch das weitere<br />
Begleitprogramm ist interessant. Es reicht<br />
von historischen Vorträgen über einen<br />
musikalisch-literarischen Abend bis zu<br />
kulinarischen Reiseberichten. Nähere<br />
Informationen und das aktuelle Programm<br />
unter http://www.smb.spk-berlin.de/ smb<br />
/sammlungen/details.php?objID=10&la<br />
ng=de kfo.<br />
Bereits zur Eröffnung im März beteiligt<br />
sich die „<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
<strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land e.V. -<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für gute Nachbarschaft zu<br />
Polen“ am <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Tag im<br />
Museum europäischer Kulturen, bei dem<br />
sich Vereine, die sich für eine aktive und<br />
partnerschaftliche deutsch-polnische<br />
Nachbarschaft einsetzen, präsentieren.<br />
Ebenso beteiligt sie sich an dem interessanten<br />
Rahmenprogramm <strong>der</strong> Ausstellung:<br />
Samstag, 8. April, 15 Uhr: Unter<br />
dem Titel "Touren durch die Ersatz-<br />
Stadt - Polen in Berlin", wird ein Film<br />
über das Ankommen in Berlin und ein<br />
Projekt des <strong>Polnische</strong>s Sozialrates<br />
gezeigt. Es gibt Orte, die dürfen bei<br />
einer Stadtrundfahrt nicht fehlen - wie<br />
<strong>der</strong> Potsdamer Platz und die Alte Nationalgalerie.<br />
Richtig interessant wird es,<br />
wenn Maciej Berlin und Beata Waldek<br />
diese Orte als Ausgangspunkt für die<br />
Diskussion mit <strong>der</strong> Künstlerin Gülsün<br />
Karamustafa um Grenzen, Märkte,<br />
Vertragsarbeit und soziale Themen von<br />
Polen in Berlin aufsuchen. Im<br />
Anschluss an diese Veranstaltung findet<br />
eine Führung durch die Ausstellung<br />
statt. kfo.��<br />
Eine Information für unsere Abonnentinnen und Abonnenten von POLEN und wir<br />
sowie an die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> BRD e.V.<br />
Der Bezugspreis für das Jahresabonnement von POLEN und wir und <strong>der</strong> Mitgliedsbeitrag für<br />
2006 werden unmittelbar nach Erscheinen dieser Ausgabe eingezogen. Mitglie<strong>der</strong> und Abonnenten,<br />
die noch keinen Lastschrifteinzug erteilt haben, bitten wir um möglichst umgehende Überweisung<br />
auf das Konto <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>: Nr. 34256430, Postbank Essen, BLZ: 36010043. Wir bitten auch<br />
um Überweisung Ihrer Spende auf dasselbe Konto.
Ein sehenswertes Museum in Krakau<br />
Das Galizienmuseum<br />
in Kazimierz<br />
Die Konzeption und Zusammenstellung<br />
<strong>der</strong> Ausstellung bedurfte einer zwölf Jahre<br />
andauernden kreativen Zusammenarbeit<br />
zwischen dem britischen Fotografen Chris<br />
Schwarz und seinem Landsmann Professor<br />
Jonathan Webber. Das ausgestellte Bildmaterial<br />
ist während jahrelanger Reisen durch<br />
galizische Dörfer und Städte gesammelt<br />
worden und soll eine völlig neue Perspektive<br />
auf die jüdische Vergangenheit <strong>Polens</strong>,<br />
die fast nur noch in Form von Ruinen weiter<br />
existiert, eröffnen. Aus den diversen<br />
Relikten jüdischen Lebens und jüdischer<br />
Kultur, die heute noch zu sehen sind, soll<br />
ein Bild entstehen und Hilfestellung geleistet<br />
werden, die Spuren zu interpretieren,<br />
begreifbar zu machen.<br />
Die Ausstellung versteht sich dabei nicht<br />
als historisch im konventionellen Sinne, es<br />
werden keine Bil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Zeit vor dem<br />
zweiten Weltkrieg gezeigt. Vielmehr sollen<br />
Aufnahmen von Ruinen wie von restaurierten<br />
Orten, von kleinen versteckten Hinweisen<br />
auf die jüdsch-galizische Geschichte<br />
den Blick schärfen für das, was heute noch<br />
Von Karl Forster<br />
sichtbar ist, und erahnen lassen, was einmal<br />
war.<br />
Die Ausstellung "Spuren <strong>der</strong> Erinnerung -<br />
Eine Fotoausstellung in Gedenken <strong>der</strong><br />
Juden Galiziens" besteht aus 150 großformatigen<br />
Farbfotografien, präsentiert in<br />
fünf Teilen, entsprechend verschiedener<br />
möglicher Herangehensweisen an die Thematik:<br />
Traurigkeit in <strong>der</strong> Konfrontation mit<br />
den Ruinen; Interesse an <strong>der</strong> ursprünglichen<br />
Kultur; Entsetzen über die Vernichtungsmaschinerie<br />
und schließlich Anerkennung<br />
für das Bemühen, die Spuren <strong>der</strong><br />
Erinnerung zu erhalten. So sind am Schluss<br />
<strong>der</strong> Ausstellung einige Menschen zu sehen,<br />
die am Gedenken und <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>belebung<br />
<strong>der</strong> jüdischen Vergangenheit <strong>Polens</strong> beteiligt<br />
sind. Dass dabei neben ehemaligen<br />
Auschwitz-Häftlingen, deutschen, polnischen<br />
und israelischen Jugendlichen, plötzlich<br />
auch Helmut Kohl bei seinem Auschwitz-Besuch<br />
gezeigt wird, ist wohl<br />
weniger ein ironischer Hinweis auf dessen<br />
problematische Visite <strong>der</strong> Gedenkstätte - er<br />
absolvierte den Pflichtbesuch in solcher<br />
BEGEGNUNGEN<br />
Etwas ungewöhnlich erscheint es auf den ersten Blick schon, dass ausgerechnet ein britischer Fotograf im ehemals jüdischen<br />
Stadtteil von Krakau, Kazimierz, ein Museum des jüdischen Galizien eröffnet. Chris Schwarz war nach Polen gereist, um bauliche<br />
Überreste jüdischer Kultur und Zivilisation im polnischen Galizien zu dokumentieren. Dabei entstand <strong>der</strong> Wunsch, das<br />
Ergebnis in einer Ausstellung in Krakau zu präsentieren. Im Herzen von Kazimierz, gleich neben <strong>der</strong> berühmten Szeroka Strasse,<br />
auf <strong>der</strong> die beeindruckendsten und wichtigsten jüdischen Bauten Krakaus wie die Alte Synagoge, die Remuh Synagoge und<br />
die alte "Poper" Synagoge zu finden sind, entstand im Jahre 2004 in <strong>der</strong> 920 Quadratmeter großen Fabrikhalle einer ehemaligen<br />
Möbelfabrik das Museum.<br />
Eile, dass selbst Fotografen Mühe hatten,<br />
mitzukommen - als die in Polen häufig<br />
anzutreffende Naivität im Bezug auf seine<br />
Politik gegenüber Polen.<br />
Interessant wie die an<strong>der</strong>en Fotos ist dann<br />
auch das Begleitprogramm. Das reicht von<br />
Vorträgen über "Hitlers List" (die unerwünschte<br />
jüdische Intelligenz) über Hebräisch-<br />
und Jiddisch-Kurse bis zu kostenlosem<br />
Englisch-Unterreich für die Kin<strong>der</strong><br />
des Stadtteils Kazimierz.<br />
Nun ist auch ein Katalog zu <strong>der</strong> Ausstellung<br />
"Spuren <strong>der</strong> Erinnerung" erschienen<br />
unter dem Titel "Photographing Traces of<br />
Memory: A Contemporary View of the<br />
Jewish Past in Polish Galicia". Er umfasst<br />
190 Seiten mit über 70 Farbfotos <strong>der</strong> Ausstellung<br />
"Traces of Memory" und ist für 29<br />
Euro auch über die Internetseite des Museums<br />
zu beziehen. Wer die Ausstellung<br />
selbst besuchen will, kann dies täglich<br />
(ohne Ruhetag) in <strong>der</strong> Zeit zwischen 9 und<br />
20 Uhr tun. ��<br />
Das Foto oben stammt aus<br />
<strong>der</strong> Ausstellung<br />
POLEN und wir 2/2006 27
K6045<br />
Verlag <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
<strong>der</strong> Bundesrepulik <strong>Deutsch</strong>land e.V<br />
C/o Manfred Feustel<br />
Im Freihof 3, 46569 Hünxe<br />
K6045<br />
DPAG<br />
Postvertriebsstück<br />
Entgeld bezahlt<br />
Verlag <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepulik <strong>Deutsch</strong>land e.V<br />
C/o Manfred<br />
E i n l a d u n g<br />
Die <strong>Gesellschaft</strong> für gute Nachbarschaft zu Polen - Regionalverband <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n<br />
<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land e.V. lädt in Zusammenarbeit mit dem Verein<br />
"ideenfluß" e.V. in Görlitz alle Mitglie<strong>der</strong> und Interessenten ganz herzlich zum<br />
7. <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Gespräch<br />
"Görlitz und Zgorzelec auf dem Weg zur<br />
Kulturhauptstadt Europas"<br />
am 10./11. Juni 2006 nach Görlitz ein.<br />
Eine Diskussionsrunde wird sich mit <strong>der</strong> Konzeption <strong>der</strong> beiden Grenzstädte<br />
im Wettbewerb um die Kulturhauptstadt Europas 2010 befassen,<br />
eine an<strong>der</strong>e mit den Erfahrungen in <strong>der</strong> grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Kommunalgemeinschaft Euroregion Neiße.<br />
Am Sonntag wollen wir in einer Stadtführung Görlitz und Zgorzelec<br />
kennen lernen.<br />
Der Teilnahmebeitrag beträgt 15,- €. Übernachtungsmöglichkeiten werden im Hotel "Jan"<br />
in Zgorzelec/Ludwigsdorf für ca. 40,00 € reserviert.<br />
Fahrtkosten und Unterbringung hat je<strong>der</strong> Teilnehmer bzw. jede Teilnehmerin selbst zu tragen.<br />
Anmeldungen werden bis 30.4.2006 bei<br />
Dr. Stephan Wohanka Werner Stenzel<br />
Nordbahnstraße 9 Galileistraße 26<br />
13359 Berlin 12435 Berlin<br />
Tel.: 030-4947119 Tel./Fax: 030-5334303<br />
e-mail: Stwohanka@aol.com<br />
o<strong>der</strong> Edeltraut Wolf, Dresden (Edeltraut.Wolf@rpdd.sachsen.de) erbeten.